Das Ende einer Freundschaft

verdachtManche Bücher sind krass. Die möchte ich eigentlich gleich wieder weglegen. Und kann dann  doch nicht von ihnen lassen. Wie von Michael Northrops Roman Schieflage. Der ist krass, sowohl in Bezug auf die Story als auch krass in Bezug auf die Sprache.

Der 15-jährige Ich-Erzähler Micheal ist nicht gerade ein Glückskind. Das fängt schon mit dem falschgeschriebenen Namen an, den sein Vater kurz nach seiner Geburt verbockt hat. Später hat dieser Vater Mike so geschlagen, dass er ein schiefes Gesicht zurückbehalten hat. Und eine Leuchte in der Schule ist er auch nicht. In der Highschool steckt er in der 10F, einem Sammelbecken für die Loser seines Jahrgangs. Am liebsten hängt er mit seinen Kumpels Tommy, Mixer und Bones ab. Auch die drei stehen nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Als Tommy eines Tages von einem Lehrer wegen eines Sprachproblems gequält wird, rastet er aus und verschwindet.
Wenig später fängt der Englischlehrer Haberman im Unterricht mit den anderen Schülern das Buch Verbrechen und Strafe von Dostojewski an. Dazu bringt er eine Tonne mit, in dem irgendetwas steckt, was die Schüler erraten sollen. Er weckt den Verdacht von Mike, Mixer und Bones, als diese nach dem Unterricht die schwere Tonne zum Auto tragen sollen. Da Tommy nicht wieder auftaucht, nicht ans Handy geht und schließlich die Polizei nach ihm sucht, steigern sich die Jungs in die Vermutung hinein, der Lehrer hätte ihren Freund umgebracht und in die Tonne gestopft. Da sie mit niemanden über ihren Verdacht sprechen, kommt es schließlich zur Katastrophe.

Northrop zeichnet die Geschichte von einer Jungen-Clique, die nicht viel vom Leben zu erwarten hat. Mike hat keine Chance bei den Mädchen, Bones neigt zu Gewaltausbrüchen, Mixer klaut. Die Jungs trinken Alkohol, probieren Drogen aus, allerdings auch das ohne „Erfolg“. Und sie verweigern die Mitarbeit im Unterricht. Durch die Ich-Perspektive von Mike ist man direkt in seiner Denke und seiner Gefühlslage. Man leidet mit Mike mit, wenn er vergeblich versucht, Mädchen kennenzulernen, wenn er Bones beim Vögeln beobachtet, wenn er sich Sorgen um Tommy macht. Die Lektüre von Dostojewski stellt zusammen mit dem Unterrichtsexperiment von Haberman für ihn quasi einen Tritt in den Allerwertesten dar, der ihn aus seiner Lethargie holen soll. Zur Läuterung kommt es allerdings erst nach einem gewalttätigen Komplett-Absturz, aus dem Mike die Schlussfolgerung zieht, dass auch Freundschaften ein Verfallsdatum haben und nicht für immer halten.

Seine durchaus krassen Erlebnisse und Gedanken schildert Mike in einer ebenso krassen Jugendsprache. Die hat Übersetzer Ulrich Thiele mit viele Gespür für Umgangssprache mitreißend umgesetzt. Der „Vollpfosten“ gehört dabei eher noch zu den harmlosen Ausdrücken. Mike flucht, beleidigt, ist politisch nicht im geringsten korrekt – alles, was er doof findet, ist „schwul“. Das mag in einem Jugendbuch extrem klingen, passt aber perfekt zu Mike und seinem Leben am Rande der Gesellschaft. Es macht den Jungen authentisch und glaubwürdig, egal, ob man so einen Sprachgebrauch im Buch verwerflich findet. Hinter dieser Sprache jedoch entdeckt man einen Jungen, der natürlich genauso lern- und entwicklungsfähig ist wie alle anderen, die sich vermeintlich gewählter ausdrücken, und der sich im Laufe des Romans vom verunsicherten Teenager zu einem zwar verurteilten, aber sensibilisierten jungen Erwachsenen wandelt.

Schieflage ist ein Buch über Jungs für Jungs. Es bietet jede Menge Diskussionsstoff, wie man mit Verdächtigungen, Scheinbarem, Vermutungen und Vorurteilen umgehen sollte – und was für Konsequenz drohen, wenn die Lage eskaliert. So lösen sich Mikes Vorurteile Homosexuellen gegenüber schließlich auf, und man weiß, dass er das Wort „schwul“ nie wieder als Beleidigung benutzen wird. So zeigt Michael Northrop feinfühlig, dass ein Wandel möglich ist – wenn auch unter Schmerzen. Und das macht Hoffnung für alle Jugendlichen, die ähnlich wie Mike, Mixer und Bones meinen, nicht viel vom Leben erwarten zu dürfen.

PS: Ein schöner Nebeneffekt von Schieflage ist, dass man Lust auf Dostojewskis Verbrechen und Strafe bekommt…

Michael Northrop: Schieflage, Übersetzung: Ulrich Thiele, Loewe Verlag, 2013, 240 Seiten,  ab 13, 6,95 Euro

Beruf: Geheimagentin

rubyIhr Name ist Redfort. Ruby Redfort. Und sie kann ganz eindeutig mit James Bond mithalten. Auch ohne Waffen, Martinis oder schnelle Autos. Dafür ist das Teenage-Girl auch noch etwas zu jung. Ihr reichen Bananenmilch, ein Fahrrad und ein wacher Geist. Mit dem gewann Ruby bereits im Alter von sieben die Junior-Codeknacker-Meisterschaften und erfand bereits ein Jahr später ein Rätsel, an dem sich selbst Harvard Professoren die Zähne ausbissen.

Ruby lebt in den 70er Jahren im Städtchen Twinford an der Ostküste der USA, sammelt Telefone in Muschel-, Donut- oder Eichhörnchenform und ist definitiv nicht auf den Kopf gefallen. Ganz im Gegenteil.  Rätsel, Geheimschriften und Codes sind ihre größte Leidenschaft. Mit ihrem besten Freund Clancy Crew kommuniziert sie mit verschlüsselten Botschaften. Die besten Voraussetzungen, Karriere als Geheimagentin zu machen. Daran denkt Ruby zunächst zwar gar nicht, doch bevor sie auch nur mit den Fingern schnippen kann, hat die Geheimorganisation Spektrum sie rekrutiert. Sie soll bei der Verhinderung eines geplanten Verbrechens helfen. Hier mehr zu erzählen, wäre allerdings unverzeihlich, denn die Spannung wäre dahin.
Nur so viel noch: Es geht um viel Gold, eine Buddha-Statue aus Jade, eine fiese Verbrecherbande und einen Geheimagenten, der als Butler bei den Redforts arbeitet und ein Auge auf Ruby hat.

Das Herrliche an diesem dicken Schmöker ist ganz eindeutig die junge Heldin. Sie ist vorlaut, frech, hat immer einen Spruch auf den Lippen – und dem T-Shirt. Sie kann kombinieren, traut sich was und schreckt auch vor Einbrüchen nicht zurück, wenn sie der Sache dienen. Ruby ist der Prototyp eines unabhängigen, selbständigen Mädchens, die sich weder von bräsigen Eltern, die so rein gar nichts raffen, noch von gefährlichen Gangstern aufhalten lässt. Ruby ist cool, weiß aber auch die bodenständige Unterstützung ihres Freundes Clancy zu schätzen. Sie taugt durchaus als Vorbild – sich nämlich eine eigene Meinung zu bilden und den eigenen Weg zu gehen.

Lauren Child schreibt in einem lockeren Stil, dessen Witz und Ironie Anne Braun wunderbar ins Deutsche geholt hat, so dass man die über 400 Seiten einfach rauschhaft herunterliest. Denn bereits die prologartige Kindheitsgeschichte Rubys hat so ein Suchtpotential, dass man das Buch nicht mehr aus den Händen legt, bis das Abenteuer ausgestanden ist. Wenn man dann wieder zu Atem gekommen ist, kann man nur hoffen, dass die nächsten Fälle der Ruby Redfort nicht allzu lange auf sich warten lassen werden. Für Leseratten ist dieser rasante Serienauftakt jedenfalls ein gefundenes Fressen.

Übrigens, das verschmitzte halbe Portrait von Ruby auf dem Cover finde ich ja ganz großartig – es hat mich an die Mädchenbücher aus den 70er Jahren erinnert, die ich damals verschlungen habe. Ruby Redfort hat mir somit ein Stück meiner Kindheit zurückgebracht. Und das ist herrlich.

Lauren Child: Ruby Redfort – Gefährlicher als Gold, Übersetzung: Anne Braun, Fischer KJB,  2013, 448 Seiten, ab 12, 14,99 Euro

Die Schatten des ersten Weltkriegs

ersten WeltkriegRelativ neuen Erkenntnissen der Genforschung zufolge übertragen sich traumatische Erlebnisse nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf die Enkel und möglicherweise sogar auf die Urenkel. Die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges sind verhältnismäßig gut erforscht, die des ersten hingegen scheinen mehr und mehr aus unserem Fokus zu verschwinden. Doch spätestens im kommenden Jahr, wenn sich der Ausbruch des ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal jährt, werden wir mit Dokumentationen, Spielfilmen, Serien wie Parade’s End und Büchern dazu überrollt werden.
Ein erstes Buch für Jugendlich zu dem Thema ist gerade herausgekommen: Feldpost für Pauline von Maja Nielsen. Es ist aus dem gleichnamigen Hörspiel entstanden, das 2009 mit dem Deutschen Kinderhörspielpreis ausgezeichnet wurde.

Die 14-jährige Pauline bekommt eines Tages Post: einen Feldpostbrief aus dem Jahr 1916 aus Verdun. Die Überraschung ist natürlich groß, fast hundert Jahre Verspätung für einen Brief kommt auch nicht alle Tage vor. Mühsam entziffert Pauline die in Sütterlin geschriebene Nachricht eines gewissen Wilhelm an Pauline, in diesem Fall die Urgroßmutter des Mädchens. Die Liebeserklärung von Wilhelm weckt Paulines Neugierde, was damals in den düstersten Zeiten des ersten Weltkrieges eigentlich geschehen ist und was es mit der Geschichte um Wilhelm und Pauline eigentlich auf sich hat.
Das Mädchen Pauline trifft sich mit ihrer Großmutter Lieschen, und gemeinsam stöbern Großmutter und Enkelin in alten Briefen und Paulines Tagebuch. Großmutter erzählt, was sie von ihrer Mutter weiß, und so wird der Schrecken des Großen Krieges wieder lebendig. Wilhelm schreibt in Briefen vom Drill in der Kaserne, vom Leben im Schützengraben, von der Materialschlacht in Verdun. Pauline notiert in ihrem Tagebuch, wie von schrecklich verletzt die Soldaten sind, die sie zu versorgen hat, und welche Angst sie um den geliebten Wilhelm hat. Die Liebe für einander und Wilhelms Liebe zur Musik trägt die beiden durch die Kriegsjahre.
Eingebettet in die gegenwärtige Geschichte der jungen Pauline, die eine begnadete Cello-Spielerin und gerade unglücklich in Nick verliebt ist, entsteht eine Verbindung zu den Geschehnissen von vor hundert Jahren. Wilhelm spielte Cello und rettete sich damit vor den Franzosen, Pauline hat diese Leidenschaft von ihm geerbt. Durch die Nachmittage mit der Großmutter wird ihr bewusst, was im Leben wirklich zählt.

Die Schrecken des ersten Weltkrieges sind in Feldpost für Pauline durchaus drastisch geschildert. Die Idee, über Feldbriefe und Tagebuch-Einträge die Stimmen aus der Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, funktioniert gut, zumal Maja Nielsen durch die Rahmenhandlung einen Bezug zur heutigen Lage Deutschlands als Kriegsteilnehmer in Afghanistan zieht. Sie schärft damit nicht nur das Bewusstsein für die deutsche Geschichte, sondern auch für die Soldaten, die heute am Hindukusch kämpfen.
Dieses Anliegen finde ich so wichtig, dass ich hier über die manchmal etwas betuliche Erzählart hinwegsehen konnte. Das Mädchen Pauline erzählt mir in ihrer Ich-Perspektive hin und wieder zu aufgesetzt jugendlich.

Feldpost für Pauline
 ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie man den Teenies von heute auch den ersten Weltkrieg näher bringen kann. Und dass der auf die eine oder andere Art immer noch in uns nachwirkt, dürfte unbezweifelbar sein.

Maja Nielsen: Feldpost für Pauline, Gerstenberg Verlag, 2013, 96 Seiten, ab 13, 9,95 Euro

Haustier-Chaos

drachenHaustiere machen glücklich, heißt es. Das kennt man von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Vögeln und durchaus auch Fischen. Aber kann man das auch von Drachen sagen?

Der etwa 9-jährige Edward in dem Roman Drachensitter von Josh Lacey hat da so seine Zweifel. Sein Onkel Morton hat seinen Drachen bei ihm abgegeben und ist in den Urlaub verschwunden. Eine „Pflegeanleitung“ hat er nicht dagelassen. Und nun benimmt sich das Urzeitvieh ziemlich rüpelhaft: Es frisst den Kühlschrank leer, brennt Löcher in Gardinen und Teppiche, hinterlässt Kackhäufchen in Schuhen. Alles ziemlich unschön.
In seiner Verzweiflung schreibt Edward seinem Onkel E-Mails und bittet um Hilfe. Doch Onkel Morton ist wie vom Erdboden verschluckt – und bis er sich nach gefühlten hundert Mails endlich meldet, geht es der Nachbarkatze an den Kragen, wird der Briefträger in die Flucht geschlagen und die Feuerwehr rückt an. Edwards Mutter sammelt derweil alle Quittungen der zerstörten Dinge, die sie sich von ihrem Bruder ersetzen lassen will. Dabei ist der Drache mit einem relativ einfachen Snack zu zähmen …

Josh Laceys kurzer Roman gehört zum Genre humoristische E-Mail-Geschichten, bei denen jede Mail mit einem frechen Schwarzweißbild von Gary Parsons illustriert ist. Die kurzen Mails lassen sich gut vorlesen, sind aber auch für Erstleser in der klaren, einfachen Übersetzung von Anu Stohner gut geeignet. Edwards Abenteuer mit seinem Drachen-Haustier sind kurzweilig, wundervoll lustig und ein ganz charmanter Leserspaß für Jungs.
Und wer dann noch nicht genug hat von Drachen und ihren Eigenarten: Teil zwei, Der Drachensitter hebt ab, kommt schon in den nächsten Tagen in die Buchläden und verspricht genauso vergnüglich zu werden …

Josh Lacey: Der Drachensitter, Übersetzung: Anu Stohner, Illustrationen: Garry Parsons, Sauerländer, 2013, 64 Seiten,  ab 6, 9,99 Euro

Psycho in Bologna

lucarelliNeulich in Florenz bin ich durch die verbliebenen Buchhandlungen der Innenstadt gezogen und über den neuesten Krimi von Carlo Lucarelli gestolpert. Ich musste ihn mitnehmen – den Krimi, nicht Signor Lucarelli – denn Ende der 90er Jahre habe ich mal seine zwei Jugendkrimis übersetzt und dann so gut wie alles von ihm verschlungen. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass in Il Sogno di Volare, das noch nicht auf deutsch übersetzt ist (was aber nicht mehr lange dauern kann…), Grazia Negro wieder ermittelt. Sie hatte vor 16 Jahren bereit in Der grüne Leguan einen Serienmörder zur Strecke gebracht und dabei ihren derzeitigen Freund Simone kennengelernt. Beide Figuren trifft man jetzt wieder, in einer Beziehung, die auf der Kippe steht und nur noch von dem fast schon verzweifelten Wunsch nach einem Kind zusammengehalten wird. Dementsprechend übel ist Grazia drauf. Sie spritzt sich Hormone, um eine künstliche Befruchtung vorzubereiten, und sollte eigentlich jeglichen Stress vermeiden. Was sie natürlich nicht tut, denn die Befindlichkeiten einer Ermittlerin treten hinter der Jagd nach einem Serienmörder natürlich erstmal zurück. Der Mörder, der aus der Ich-Perspektive erzählt, offenbart sich bereits in den ersten Zeilen als psychisch ziemlich gestört. Sein erstes Opfer zerfleischt er förmlich, auch bei den nächsten geht er nicht gerade zimperlich vor, will er doch die Herzen seiner Opfer fressen. An den Tatorten lässt er Geifer wie von einem tollwütigen Hund zurück. Nichts für schwache Nerven also. Grazia und ihre Kollegen vermuten zunächst eine mafiös-orientierte Tat, doch die nächsten Opfer führen in die Misere der Wohnungswirtschaft, der illegalen Einwanderer und schließlich in die Reihen der Polizei selbst. Mehr kann ich hier eigentlich gar nicht schreiben, denn Lucarelli droht allen, die den Plot spoilern, ihnen das Herz herauszureißen … und das möchte ich dann doch nicht riskieren. Aber soviel kann erzählt werden: Lucarelli bleibt sich als Hardcore-Krimi-Noir-Autor treu. Die Morde sind drastisch, die Sprache ist derbe und durchaus vulgär, was aber die Realität perfekt wiedergibt. Grazias Frust über die scheiternde Beziehung zu Simone ist glaubhaft und mitfühlend dargestellt, man leidet mit der jetzt 30-Jährigen mit. Zudem bindet Lucarelli auch seinen Faible für Musik wieder in die Geschichte ein, hat er doch den Song Il Sogno di Volare von Andrea Buffa nicht nur zum Titel gemacht, sondern auch als wiederkehrendes Motiv und geschickte Spur in den Roman eingebaut. Das Miträtseln um den Täter gelingt, und ab circa zwei Dritteln des Buches steigt im Leser eine Ahnung auf, die so gruselig ist, dass man es nicht wirklich glauben will. Der Plot ist gekonnt und spannungssteigernd gewoben, und die verschiedenen Erzählperspektiven sind stimmig. Auch die Kritik an den italienischen Lebensverhältnissen zwischen Prekariat und mafiösen Strukturen kommt nicht zu kurz. Man gruselt sich also nicht nur aufgrund der Morde und psychotischer Mörder… Für mich war Il Sogno di Volare zwischen all den vielen schönen Kinder- und Jugendbüchern seit langer Zeit mal wieder ein perfekt gemachter und gelungener Ausflug in das Krimi-Genre, der mich nicht mehr losgelassen und mir den Flug von Florenz nach Berlin extrem verkürzt hat. Genauso möchte ich Krimis haben … Jetzt bin ich nur noch gespannt, wann das Buch auf Deutsch vorliegt. Das werde ich dann hier verlinken. Für alle, die Italienisch können, ist diese Geschichte allerbeste Unterhaltung zum Mitfiebern.

Update am 20.06.2014 lucarelli

Lucarellis Thriller erscheint am 19. August 2014 unter dem Titel Bestie in der Übersetzung von Karin Fleischanderl beim Folio Verlag. Am 11. September liest Lucarelli dann in Hamburg im Rahmen des Harbourfont Literaturfestivals – ich sollte hingehen …

Carlo Lucarelli: Bestie, Übersetzung: Karin Fleischanderl, Folio Verlag, 2014, 288 Seiten, 19,90 Euro

Carlo Lucarelli: Il Sogno di Volare, Einaudi, 2013, 260 Seiten, 21,95 Euro (auf italienisch!)

Zukunftsvisionen

klimakatastropheÜber nichts reden wir so gern wie das Wetter. Der düsterste Winter seit Jahrzehnten liegt hinter uns, der März ließ uns mit dem Schnee lange nicht an Frühling denken. Die Nerven lagen schon ziemlich blank, was das Wetter anging. Jetzt stöhnen wir wieder unter der Hitze. Das Klima, kaum etwas beschäftigt uns so und das täglich und eigentlich rund um die Uhr.

Nur der Klimawandel scheint uns ziemlich egal zu sein. Zu fern scheinen die Konsequenzen unseres Treibens noch zu sein. Dass wir sehenden Auges auf die Klimakatastrophe zusteuern zeigt der nachdenklich machende Comic Die große Transformation. Hierin kommen die neun Experten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) zu Wort, die von 2008 bis Februar 2013 Mitglieder in diesem Gremium waren. Die Professorinnen und Professoren beschäftigen sich intensiv mit dem Wandel des Erdklimas, sei es in den Bereichen der Physik, der Geobiologie, der Erdsystemanlyse, oder auch als Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler oder als Luft- und Raumfahrttechniker oder Energiewirtschafter.

In neun Kapiteln erklären sie die Zusammenhänge von Wirtschaft, Politik, Energiegewinnung, Welternährung, Finanzen, Technik, Klima – und warum wir uns dringend verändern müssen und das weltweit. 2050 werden neun Milliarden Menschen auf der Erde leben, die, wenn wir so weiter machen wie bisher, nicht mit ausreichend Nahrungsmitteln, Energie und sauberem Wasser versorgt werden können. Allein diese Vorstellung ist bedrückend. Zumal es jetzt schon ganz klar ist, dass kein Land der Welt diese Mega-Aufgabe allein bewältigen kann. Es geht nur gemeinsam. Die Verzahnung der Probleme legen die Experten sehr verständlich offen, so dass man in der Konsequenz die Regierungschefs aller Länder in einen Raum einschließen und den Schlüssel wegwerfen möchte, bis diese zur Besinnung gekommen sind und sich auf einen gemeinsamen Rettungsplan verständigt haben.

Denn was die WBGU-Experten auch ganz deutlich machen, ist die Tatsache, das die Wissenschaft die Lage der Welt bis ins Detail analysiert, durchgerechnet und untersucht hat. Man weiß genau, was passieren wird – wir merken es momentan an außergewöhnlichen Wetterveränderungen oder Überschwemmungen, die in den kommenden Jahren nicht weniger werden – und man weiß auch, was getan werden müsste, um den endgültigen Kollaps zu vermeiden. Die Wissenschaft und die Technik haben Lösungen, die machbar und jetzt noch bezahlbar sind. Dass es die Weltrettung nicht umsonst gibt, sollte eigentlich jedem klar sein, nur wird die Vogel-Strauß-Mentalität uns in Zukunft Unsummen kosten, die man jetzt noch einsparen könnte.

Die von einem Zeichner-Team klassisch schwarzweißen Panels vermitteln mit ihrer Mischung aus Comic-Zeichnungen und Infografiken sowohl die jeweilige Arbeit der Experten als auch die Inhalte und Erkenntnisse aus deren Fachgebieten.
Wer sich bis jetzt nur am Rande mit dem Klimawandel beschäftigt hat, dem sei Die große Transformation wärmstens ans Herz gelegt. Hier wird das vielleicht wichtigste Thema unserer Zeit nicht in drögem Polit-Ton in einem unverständlichem Kauderwelsch abgehandelt, sondern in eindrücklichen Bildern und verständlichen Texten für alle nachvollziehbar gemacht.

Die Konsequenzen sind für jeden Menschen nach dieser Lektüre eigentlich offensichtlich: Energiesparen, das Auto stehen lassen, bewusst einkaufen, Ressourcen schonen, der Wegwerfgesellschaft eine Absage erteilen, weniger Fleisch konsumieren, Strom aus erneuerbaren Energie beziehen und, falls man doch viel fliegen oder Auto fahren muss, den eigenen CO2-Ausstoß durch den Kauf von Emissionszertifikaten ausgleichen.
Das sind im Grunde keine allzu großen Opfer, die wir da bringen müssen. Man muss es nur tun und sich seines Handelns bewusst werden. Und wenn jeder seinen kleinen Teil dazu beträgt, ist es womöglich noch nicht zu spät.

Unsere Kinder, Nichten, Neffen, Enkel und alle, die nach uns kommen, hätten dann noch die Chance auf eine einigermaßen intakte Welt und ein Leben, bei dem die elementaren Grundbedürfnisse noch befriedigt werden können. Dafür den eigenen Egoismus einzuschränken sollte eigentlich selbstverständlich sein und uns ganz leicht fallen.

Alexandra Hamann/Claudia Zea-Schmidt/Reinhold Leinfelder (Hg.): Die große Transformation Klima – kriegen wir die Kurve?Jacoby & Stuart, 2013, 144 Seiten, 14,95 Euro

 

[Jugendrezension] Die Gabe, 100 Wünsche zu erfüllen

wünsche99 und mein Wunsch ist ein spannendes Buch bei dem man schon fast denkt, dass man die Geschichte selber miterlebt.

In dem Buch geht es um ein Mädchen namens Aurora. Aurora wohnt in Rom in Italien und ist sehr vernarrt in Bücher. Eines Tages entdeckt sie die ihr noch unbekannte Buchhandlung „Magica“ und möchte sie sofort erkunden. In der Buchhandlung empfängt sie eine Angestellte voller Entsetzen. Sie erklärt Aurora, dass „Magica“ eine magische Buchhandlung ist und dass sich Magier unter die Menschen gemischt haben, um ihnen ein wenig unter die Arme zu greifen. Damit Aurora die Magier nicht an die Menschen verrät, bekommt sie die Gabe, 100 Wünsche zu erfüllen. Das ist die Ursache für viele fröhliche Ereignisse in Auroras weiterem Leben. Aber Aurora bekommt auch ein paar Probleme …

Diese Geschichte führt dich nach Rom, wo dir viele Sehenswürdigkeiten beschrieben werden, sowie nach Paris, dem Ziel von Auroras Klassenfahrt. Dort wirst du die Mona Lisa bewundern und oben auf dem Eiffelturm stehen.

Meine Lieblingsszene in diesem Buch ist die, in der einer von Auroras Freunden Aurora durch völlig unsinnige Sachen von ihrer Flugangst ablenkt.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, allerdings hat es am Anfang etwas gebraucht, bis es gezündet hat. Besonders gut fand ich die Stelle, in der Aurora jemanden in der Stadt herumführt. Aber ich werde nicht verraten wen, das musst du schon selber lesen.

Ich würde das Buch auf jeden Fall weiterempfehlen an 10- bis 13-Jährige. Für Jüngere wird das Buch wahrscheinlich etwas schwerer zu verstehen sein.

Lissy01 (11)

Erica Bertelegni: 99 und (m)ein Wunsch, Übersetzung: Ulrike Schimming, Fischer KJB, 2013, 400 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

Das Leben ist (k)ein stinkender Kanal

fische fütternEine gute Geschichte legt auf den ersten Seiten einen Köder aus. Einen Köder, den der Leser schluckt und der ihn dann bei der Stange hält. Einen extrem guten Köder gibt es in der Geschichte Fische füttern von Fabio Genovesi.

Der anfangs 14-jährige Protagonist Fiorenzo geht mit seinen Freunden Stefano und Silvia in dem öden toskanischen Kaff Muglione fischen. Doch diesmal nicht wie gewöhnlich mit der Angel, sondern mit einem Megaböller. Damit wollen sie das angebliche Kanalmonster erlegen. Den Megaböller haben sie aus sechs Böllern, „Modell Magnum, Profiqualität“, zusammengebaut und gut mit Isolierband umwickelt. Fiorenzo soll den Böller werfen, vorher jedoch bis zehn zählen, damit die brennende Lunte im Wasser nicht absäuft. Bei acht explodiert der Böller.

Den Rest der Geschichte, die fünf Jahre später spielt, berichtet Fiorenzo als Ich-Erzähler folglich einhändig. Seine aussichtsreiche Radsportkarriere fand nach dem dramatischen Böller-Vorfall ein jähes Ende, sein Vater und Trainer ist am Boden zerstört, nicht so sehr wegen der fehlenden Hand des Sohnes, als wegen des verpassten Ruhms als Radsportler. Fiorenzo ist so was wie der Loser schlechthin. Nichts in seinem Leben scheint glatt und erfolgreich zu verlaufen. Seine Mutter starb unvermittelt mit 43. In der Schule versaut er sich kurz vor dem Abi sämtliche Noten, mit seiner Band „Metal Devastation“ wird er auf einem Schülerband-Konzert von der Bühne gebuht, noch bevor er einen Ton singen konnte. Als sein Vater dann den radsportbegabten Teenager Mirko aus Molise bei sich aufnimmt und trainiert, verliert Fiorenzo auch noch sein Zuhause.

Der kleine Champion, wie Mirko nur genannt wird, gewinnt jedes Radrennen. Ein Naturtalent sozusagen. Der Vater platzt vor Stolz. Und Fiorenzo zieht wütend in die Kammer des väterlichen Anglerladens und schläft zwischen nagenden Würmern, die als Fischfutter dienen. In seiner Wut trichtert er Mirko, der dem Anschein nach nicht besonders helle ist und Nachhilfe bei Fiorenzo nimmt, eine perverse Interpretation eines D’Annunzio-Gedichtes ein.
Diese wiederum ruft die 32-jährige Tiziana auf den Plan, eine Akademikerin, die im Ausland hätte Karriere machen können, doch aus Liebe zu einem Typen in ihr Heimatdorf zurückgekehrt ist. Der Typ allerdings hat mittlerweile Frau und Kind, und nun sitzt Tiziana allein im Büro der Jugendinfo des Dorfes, in das sich nie ein Jugendlicher verirrt und das stattdessen von vier alten Herren als Treffpunkt und Bar „missbraucht“ wird. Nebenbei gibt sie Mirko Englischnachhilfe, tröstet ihre Mitbewohnerin und betreibt einen Blog, der jedoch nur von drei Menschen gelesen wird.
Als Mirko ihr von der D’Annunzio-Interpretation erzählt, sucht Tiziana Fiorenzo auf, damit dieser dem Jungen nicht solche Flausen in den Kopf setzt. Zwischen Tiziana, die sich selbst für eine blöde Kuh hält, und Fiorenzo entspinnt sich eine Liebesaffäre, die ihren Höhepunkt in einer skurril-schönen Fast-Sex-Szenen hat.

Während Fiorenzo weiterhin alles versucht, um Mirko aus dem Leben des Vaters zu verjagen, landen die vier Alten der Jugendinfo in der Lokalpresse, weil sie einen Raubüberfall verhindert und daraufhin eine Bürgerwehr gegründet haben. So wollten sie sich gegen eine altenfeindliche Jugendbande schützen, behauptet einer der vier, allerdings mehr aus Jux, weil er schlecht geschlafen hat.
Diese Behauptung nehmen die Bandkollegen von Fiorenzo nun wiederum zum Anlass, Altenfeindliche Parolen an Dorfwände zu schmieren und die eine symbolische Senioren-Puppe am Friedhof aufzuhängen. Die Bürgerwehr schreitet ein und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Nach der Lektüre des Romans Fische füttern,  den das bewährte Übersetzer-Team Rita Seuß und Walter Kögler überaus schmackhaft eingedeutscht hat, kann man nicht mehr behaupten, auf dem Land in der Toskana läge der Hund begraben. Zwar handelt es sich bei Muglione nicht um das Idyll mit Hügeln und Zypressen und Weinbergen, sondern um ein hässliches Dorf bei Pisa mit stinkenden, trüben Kanälen, einer Müllhalde und jeder Menge Langeweile, und doch tobt hier das Leben auf seine ganz besonderes skurrile und schräge Art. Das beweist Fabio Genovesi, indem er geschickt verflochten und aus verschiedenen Perspektiven vom Erwachsenwerden der drei jungen Menschen – Fiorenzo, Mirko und Tiziana – berichtet, die mit Schicksalsschlägen, falschen Entscheidungen, Talent, Unsicherheit, Blauäugigkeit, Unwissenheit, Dummheit, Mut und Eigensinn ihren Weg ins Erwachsenenleben finden. Genovesi bricht dabei mit einigen konventionellen Ansichten, lässt die 32-Jährigen durchaus mit einem 19-Jährigen zusammenkommen, macht nebenbei einen schwulen Photoshop-Experten zum Papstberater und verteufelt Italo-Rock. Diese Dinge konterkarieren das gängige klischeehafte Italienbild in unserem Land ganz wunderbar. Das ist nicht die liebliche Toskana; das ist nicht die heile Welt; das ist nicht die klassische Liebesgeschichte; das ist das ganze, dreckige, aussichtslose Elend, das die jungen Italiener gerade erleben, denen dann oftmals nur noch die Emigration bleibt. Das ist zwar alles andere als schön, aber das auf diese komisch-ironische Art zu lesen tut verdammt gut. Denn die Helden von Fische füttern zerbrechen trotz aller Rückschläge und Zweifel nicht, sondern strahlen einen Lebensmut und eine Lebenslust aus, die ansteckend wirkt und einen das schätzen lässt, was man sonst als selbstverständlich übersieht.

Wer das Idealbild von Italien liebt, wird dieses Buch hassen. Wer Italien liebt, wird auch dieses Buch lieben. Ich jedenfalls liebe es.

Fabio Genovesi: Fische füttern, Übersetzung: Rita Seuß und Walter Kögler, Lübbe Verlag, 2012, 430 Seiten, 19,99 Euro (9,99 Euro als Taschenbuch demnächst)

Alles auf Anfang

gedächtnisverlustVielleicht gibt es manchmal wirklich diese Tage, an denen man alles Alte über Bord werfen und wieder ganz von vorne anfangen möchte. Einfach mal die Reset-Taste drücken. Alles auf Anfang.

Die junge Französin Eloise bekommt in der Graphic Novel Wie ein leeres Blatt von Boulet und Pénélope Bagieu diese Gelegenheit. Allerdings auf eine sehr erschreckende Art: Sie sitzt in Paris auf einer Bank und weiß plötzlich nicht mehr, wer sie ist. Name, Adresse, Beruf – alles ist aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Was sie auf der Bank macht, ist ihr rätselhaft. Nicht mal an die Tasche neben sich kann sie sich erinnern. Immerhin findet sie darin einen Ausweis mit Name und Adresse sowie einen Haustürschlüssel. So macht sie sich auf, durch eine unbekannte Stadt, in ein unbekanntes Viertel, in ein unbekanntes Wohnhaus mit einem unbekannten Eingangscode. Nichts weckt die Erinnerung in ihr. Nicht mal das Stockwerk, in dem sie wohnt, fällt ihr wieder ein.
Als sie schließlich in einer kleinen Wohnung mit Katze steht, geht das Rätselraten weiter: Wer ist Eloise? Nach und nach durchforscht sie die Wohnräume, schaut sich Kleider, Bücher, DVDs und CDs an, forscht im Handy. Nichts weckt Erinnerungen, alles bleibt rätselhaft und unpersönlich.
Eloise weigert sich zunächst, zum Arzt zu gehen. Zu groß ist die Angst, für verrückt erklärt zu werden.
Ein Anruf einer Arbeitskollegin bringt sie immerhin zu ihrem Job. Doch auch dort, in einer großen Buchhandlung, kehrt die Erinnerung nicht zurück, und sie muss sich ihre Arbeit neu erschließen. Als das nicht besonders gut klappt, weiht sie eine Kollegin ein. Diese klärt sie peau à peau über ihr altes Leben auf. Eloise merkt, dass sie mit den Freunden von damals nichts mehr anfangen kann, zu oberflächlich und nichtssagend kommen ihr diese Menschen vor.

Wie ein leeres Blatt von Boulet und Pénélope Bagieu kommt zunächst wie eine etwas merkwürdige Krankengeschichte daher: Gedächtnisverlust auf der Bank. Als Leser rätselt man lange Zeit damit, was diese Amnesie wohl ausgelöst haben kann und leidet mit der Protagonistin mit, die sich plötzlich ganz neuen Herausforderungen stellen muss. Das was eigentlich selbstverständlich war und über das man nicht mehr im Geringsten nachdenkt, wird zu einem schier unüberwindbaren Hindernis.
Eloise‘ Versuche, die eigene Identität wiederzufinden, werden von ihrer Phantasie begleitet, was alles sein könnte: Sie probiert anhand der Sachen in ihrer Wohnung verschiedene Tätigkeiten aus – kann sie Musik machen, malen, stricken? Nichts davon scheint sie zu beherrschen. Sie bemalt eine Wand mit ihren „Forschungsergebnissen“ – und kommt schließlich zu einer fast erschreckenden Erkenntnis: Ihr Leben war so mainstreamig und durchschnittlich, dass es in seiner Belanglosigkeit einfach nicht existent war.

Diese Wendung von der scheinbaren Krankheitsgeschichte zu einer wahrlich philosophischen Grundfrage ist überraschend und herrlich. Wer bin ich? ist – neben Woher komme ich? und Wohin gehe ich? – wohl eine der dringendsten Fragen der Menschen. Diese in einem knallbunten Comic zu verpacken ist ein kühnes Unterfangen, aber, wie Boulet und Pénélope Bagieu zeigen, vortrefflich gelungen. Denn als Leser scannt man im Laufe von Eloise‘ Identitätssuche automatisch das eigene Leben, fragt sich nicht nur, was man im Fall eines Gedächtnisverlustes selbst getan hätte, sondern auch inwiefern man selbst zum gesichtslosen Mainstream gehört oder seine eigene Persönlichkeit hegt und pflegt.

Auch wenn der Comic bei Carlsen als „Graphic Novel für Frauen“ läuft, sollten sich Männer von der Lektüre nicht abschrecken lassen, den die Frage Wer bin ich? ist wahrlich nicht geschlechtergebunden. Und vielleicht traut sich manche/r ja nach der Lektüre den einen oder anderen Neuanfang.

Boulet/Pénélope Bagieu:Wie ein leeres Blatt, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Carlsen, 2013,208 Seiten, 17,90 Euro

Helden der Berge

valle mairaVor einem Jahr verbrachte ich meinen Urlaub im piemontesischen Valle Maira und zog mit einer geführten Wandertruppe auf dem Weitwanderweg GTA von Ort zu Ort. Steile An- und Abstieg, grandiose Ausblicke, Murmeltiere, kaum Touristen, leckeres Essen. Schöner kann ich mir Ferien eigentlich nicht vorstellen. Wären da nicht die vielen verlassenen und verfallenen Häuser und Dörfer gewesen, sichtbare Zeichen, dass hier etwas im Argen liegt. Die italienischen Westalpen, zu denen das Valle Maira gehört, leiden seit Jahrzehnten unter der Abwanderung der Bevölkerung in die Städte in der Ebene. Denn dort gibt es Arbeit und eine funktionierende Infrastruktur, die das Leben leichter und angenehmer machen. Und doch existiert auch ein Gegentrend, der der Rückkehrer.

Über diese Menschen hat der bayerische Fotograf Jörg Waste den eindrucksvollen Bildband Rimango herausgegeben, den ich im Frühjahr lektoriert habe. Mit der Kamera erkundete Waste das Valle Maira, sprach mit Alteingesessenen, Rückkehrern und Neu-Gebirglern. Entstanden sind berührende Schwarzweiß-Fotografien, die Verlassenes und Verfallendes dokumentieren, Berge im Nebel und im Schnee zeigen, vor allem aber die Menschen, die bleiben, um das Tal wieder zu beleben. Diese Menschen erzählen in kurzen Texten von ihrem Leben am und mit dem Berg und aus welchen Gründen sie in das Valle Maira zurückgekehrt oder geblieben sind. So erfährt man unter anderem vom Alltag eines Hüttenwirts, eines Künstlers, von Ziegenhirten und Käsern, einer Diplom-Psychologin, eines Bergführers, eines Bauhandwerkers.

So unterschiedlich die Lebensentwürfe und Beweggründe der Bergbewohner sind, um so deutlicher wird in ihren Statements, wer den Takt in ihrem Leben angibt. Das sind weniger die Aufgeregheiten und Pseudowichtigkeiten, die in den Großstädten herrschen, sondern die Berge selbst. Jahreszeiten und Wetter bestimmen die Regeln des Zusammenlebens von Mensch und Berg und schärfen den Blick fürs Wesentliche. Die Portraitierten sind zutiefst geerdete Menschen, die auf ihre ganz eigene Art versuchen, ein Stück unseres wunderschönen Planeten zu retten und für die Nachkommen zu erhalten. Für mich sind diese Menschen die wahren Helden der Berge.

Die dokumentarischen Fotos von Jörg Waste idealisieren nicht, sondern zeigen die Mühen und die viele Arbeit, die in diesem einfachen, oftmals auch entbehrungsreichen Leben stecken. Und sie zeigen die Lebensfreude und die Schönheit, die in einem italienischen Landstrich herrscht, an dem bis jetzt der Massentourismus noch vorbeigegangen ist. Bleibt zu hoffen, dass die Mühen dieser Gebirgler von Besuchern, Nachbarn und Behörden so geschätzt und gewürdigt werden, wie sie es verdient haben. Jörg Wastes Dokumentation trägt auf jeden Fall dazu bei, das Bewusstsein für diese Menschen, ihre Taten und ihre Heimat zu schärfen.

Jörg Waste (Hg.): Rimango in Valle Maira – Ich bleibe im Valle Maira. Lebensperspektiven in einem rauen Land, Vorwort von Werner Bätzing, Übersetzung: Giovanna Comollo (italienisch/deutsch), assafar, 2013, 156 Seiten, 29,90 Euro

Eine Vorschau des Buches und Bestellmöglichkeit gibt es hier.

I <3 Großstadttiere

tiereDie Großstadt ist ein Dschungel – altbekannt ist das allemal. Auch dass sich nicht nur Menschen, sondern jede Menge Tiere in der Stadt herumtreiben ist eigentlich nicht besonders neu. Skurrile Nachrichten über Vierbeiner schwirren spätestens im Sommerloch wieder durch die Medien.

Doch nun hat die Künstlerin Nadia Budde unsere tierischen Nachbarn auf eine ganz schräge Art gewürdigt und zwar im Buch Großstadttiere. Darin stellt sie 24 Tierarten vor, die die großen Städte wie New York, Zürich, Berlin, Neu Delhi, Bukarest bevölkern. Sei es Waschbär, Fuchs, Schabe, Regenwurm oder Wildschwein, zu jedem Tier erzählt sie eine kleine, zumeist sehr ungewöhnliche Geschichte. Außer bei den Schaben. Zu diesen Krabbeltieren, die in ihren I-love-Stadtname-T-Shirts die Metropolen der Welt stürmen, gibt es scheinbar nichts zu sagen. In allen anderen Geschichten steckt ein wahrer Kern, manches ist aber auch wunderbar gaga – beispielsweise die Therapiegruppe der Großstadtregenwürmer. Man bekommt sofort Mitleid mit den Sitzriesen und möchte ihren zu Hilfe eilen und gleich mal den Asphalt aufreißen. Auch das Schicksal der Pariser Ratten ist herzergreifend, doch zeigt sich hier vor allem der Sprachwitz, mit dem Budde ihre Texte würzt.

Nadia Budde verleiht den Tieren nicht nur ein persönliches Gesicht, sondern gleich einen ganzen Charakter. Die Eigenwilligkeit der Fledermäuse in Austin/Texas ist fast ein Symbol für die Eigenwilligkeit dieses Bilderschatzes. Dick schwarz umrandet kommen Tiere und auch Menschen daher. Vor zitronenfaltergelben, taubenblauen, eichhörnchenroten, regenwurmrosanen Hintergründen schauen sie lieb, treuherzig, fies, hinterhältig, harmlos, naiv, freundlich, verschlagen, böse, treudoof, traurig, genervt … und dem Leser und Betrachter geht das Herz auf. Man hat sie auf einen Schlag alle lieb – auch die Wölfe aus Moskau, die die Einkaufstüten plündern.

Ganz nebenbei hält Budde dann noch einen Kurs in gelingender Fotografie ab, indem sie einen Exkurs über das Phänomen „Turm auf dem Kopf“ als Folge des Fototourismus einbaut. Sie braucht nur ein paar wenige Sätze und fünf Illustrationen dazu – und mit Sicherheit wird keiner der Leser danach mehr Fotos mit solchen Auswüchsen schießen. Genialer geht’s kaum.

Großstadttiere ist ein herrlich schlauer Spaß, der mit viel Herz alle Bewohner der Städte würdigt und ihnen ihren Raum zugesteht. Die Menschen ermahnt die Autorin mit einem Augenzwinkern, ab und an das Auto stehen zu lassen und stattdessen das Fahrrad zu nehmen – und vielleicht doch mal auf fiese Taubenspikes zu verzichten. In diesem Sinne ist Großstadttiere ein grandioses Bilderbuch für jedes Alter.

Nadia Budde: Großstadttiere, Jacoby & Stuart,  2013, 140 Seiten,  ab 9, 18 Euro

Traumhaft

silberEigentlich, ja, eigentlich wollte ich auf diesem Blog keine Bücher vorstellen, die schon auf der Bestsellerliste stehen, weil die dann ja bereits eine stattliche Anzahl an Lesern gefunden haben, und ich den Büchern, die nicht diese Aufmerksamkeit erfahren, ein Forum bieten möchte. Wenn  solche Bücher später auf diesen Listen auftauchen, freue ich mich natürlich. Momentan sind das drei – John Greens Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Raquel Palacios Wunder und Janet Foxleys Munkel Trogg.
Kerstin Giers Trilogie-Auftakt-Roman Silber – Das erste Buch der Träume stand schon auf der Bestsellerliste, bevor ich auch nur die erste Zeile gelesen hatte. Also hätte ich ihn mir eigentlich sparen können. Doch da die Edelstein-Trilogie von Kerstin Gier völlig an mir vorbeigegangen ist und ich nun doch neugierig war, was es mit dieser Autorin auf sich hat, fing ich an zu lesen. Und konnte nicht mehr aufhören.

Die Geschichte um Liv in London mit ihrer neuen Patchwork-Familie und der geheimnisvollen Boys-Clique, die durch Träume wandelt, will ich hier gar nicht wiederholen. Denn die findet sich schon in unendlicher Zahl im Netz. Spannend ist die mainstream-taugliche Mischung aus Mystery, High-School-Gossip-Abschlussball-Szenerie und clever-nerdigen Außenseiter-Heldin alle mal. Gar keine Frage. Da frage ich mich eher, ob ich hier eigentlich noch einen neuen Aspekt zu diesem Buch beitragen kann.

Vielleicht soviel: Das, was mich neben der gut geplotteten Geschichte, schon auf den ersten Seiten in den Bann gezogen hat, war die einwandfreie Erzählart. Liv berichtete zwar als Ich-Erzählerin von ihren Erlebnissen – ich sage hier „zwar“, denn Ich-Erzählungen im Jugendbuch sind seit einem gefühlten Jahrzehnt so en vogue, dass man andere Perspektiven wirklich mit der Lupe suchen muss. Meist sind diese Ich-Erzählungen dann auch noch im Präsens geschrieben, was bei mir momentan mehr oder weniger allergische Reaktionen auslöst. Kerstin Gier jedoch schreibt in der Vergangenheitsform, was mich  dann auch mit der  Ich-Perspektive versöhnt. Denn so ist zumindest ein gewisser zeitlicher Abstand zu der Handlung gewahrt, und ich muss mich nicht mit der Protagonistin zwangsidentifizieren oder mir über die erzählte Gegenwart, die im Moment meiner Lektüre ja eigentlich schon längst wieder Vergangenheit ist – oder zumindest nicht meine eigene Zeit ist, den Kopf zerbrechen.
Im Fall von Liv hält Gier die  Ich-Perspektive perfekt durch. Alle Infos kommen in der richtigen Dosis zum richtigen Moment von den richtigen Figuren. Das bekommen nicht alle Autoren so nonchalant hin. All dies kombiniert Gier mit klarer Sprache und Syntax, die dem Lesefluss keine Stolpersteine in den Weg legt. Die Portion Humor und die Prise Selbstironie, mit denen sie Liv ausstattet, machen die Heldin zu einer absolut liebenswerten Figur. Eigentlich sind alle Figuren im Roman liebenswert, was vielleicht der einzige Kritikpunkt sein könnte – denn es gibt kein wirkliches Ekel, von einer Figur mal abgesehen. Hier hätte man sich ein bisschen weniger Heile-Patchwork-Welt wünschen können. Aber schließlich handelt es sich bei Silber nicht um einen sozialkritischen Problemroman, sondern um ein kurzweiliges Mystery-Abenteuer, bei dem alle Zutaten stimmen.

Diese Betonung von handwerklichem Können mag sich vielleicht banal anhören. Doch mittlerweile kommen mir immer mehr Bücher unter, in denen genau dieses Handwerk zu wünschen übrig lässt (über diese Bücher blogge ich dann nicht, weil ich sie meistens nicht mal zu Ende lese). Umso mehr schätze ich daher einwandfrei erzählte Geschichten und ziehe meinen Hut vor dieser tatsächlich schwierigen Aufgabe, die sehr viel Disziplin und Aufmerksamkeit erfordert. In anderen Romanen wechselt beispielsweise die Perspektive  so oft, dass einem fast schwindelig wird und man den Überblick verliert, wer gerade erzählt. Vieles wird einfach behauptet und nicht durch die Figuren gezeigt. All diese Fehler sucht man bei Kerstin Gier vergeblich. Zum Glück. Denn durch ihren geschmeidigen Text kann man den Inhalt von Silber umso ungestörter genießen.

Man taucht von der ersten Seite in Livs Welt ein und erst auf der letzten Seite wieder daraus auf. Besser geht es wirklich nicht. Das Fiese an der letzten Seite ist allerdings der letzte Satz: ein makelloser Cliffhanger, der sofort das Verlangen nach Teil zwei schürt. Vermutlich müssen alle Silber-Infizierte jetzt erst einmal ein Jahr auf den neuen Stoff warten. Das ist zwar bitter, aber genauso eine Wirkung wünsche ich mir von guter Unterhaltungsliteratur: Man kann gar nicht genug davon bekommen.

Kerstin Gier: Silber – Das erste Buch der Träume, Fischer FJB, 2013, 416 Seiten, ab 14, 18,99 Euro

Die Poesie der sexuellen Identitätsfindung

liebeDas Leben ist verwirrend. Umso mehr, wenn man nicht den angeblichen Standards der Gesellschaft entspricht. Das erfährt die 17-jährige Anna im Roman Über ein Mädchen. Geschrieben hat die zarte Coming-of-age-Geschichte die Australierin Joanne Horniman.

Anna arbeitet in einer Buchhandlung und verliebt sich bei einem Popkonzert in die Musikerin Flynn. Der Zufall will, dass sich die beiden Mädchen in einem Cafè wiedersehen. Vorsichtig nimmt Anna Kontakt auf – denn sie weiß schon seit ihrem sechsten Lebensjahr, dass sie Mädchen mag. Und Flynn ist genau der Typ Frau, der Anna fasziniert: Sie ist geheimnisvoll, frech, unberechenbar. Die Mädchen kreisen umeinander, Flynn kommt und geht, wie es ihr gefällt. Anna ist verunsichert, denn sie kann sich bei Flynn nicht sicher sein, ob sie wirklich bei ihr bleiben wird, während sie selbst immer mehr für die andere brennt und ohne sie nicht mehr sein kann.

Nach und nach erzählt Anna ihre Familiengeschichte – die Eltern sind geschieden, die kleine Schwester Molly ist lernbehindert, der Vater hat eine neue Freundin, in die sich Anna anfangs auf den ersten Blick verliebt hatte. Über allem hadert die Ich-Erzählerin mit ihrer „Andersartigkeit“. Sie wagt es nicht, sich der Mutter anzuvertrauen.
Stattdessen bekommt sie Depressionen, liest Finnigans Wake, trägt schwarz, überwirft sich mit ihrem besten Freund und fühlt sich völlig verloren. Sie schmeißt das Studium und zieht in eine andere Stadt – wo sie schließlich Flynn trifft und neue Zuversicht schöpft. Doch Flynn ist nicht nur das leidenschaftliche Mädchen mit der Gitarre, sondern auch sie hat ihre dunklen Seiten.

Auf den ersten Seiten von Über ein Mädchen dachte ich zunächst noch, das würde eine ganz normale Teenie-Liebesgeschichte, wenn auch mit gleichgeschlechtlichen Vorzeichen. Doch dann entwickelte der Roman so einen feinen Sog, dass ich das Buch nicht mehr weglegen konnte. Annas Verunsicherung und Einsamkeit gehen einem ans Herz, ihre Sehnsucht nach Nähe und der schönen, selbstbewussten Flynn nimmt man ihr sofort ab. Und man begreift, was für eine Gefühlsverwirrung diese Liebe auslöst, die nicht dem Mainstream entspricht. Doch genau das macht das allen Leserinnen, die noch auf der Suche nach ihrer sexuellen Veranlagung sind, Hoffnung und Mut.

Über ein Mädchen ist ein leiser, poetischer Roman, sehr feinfühlig von Brigitte Jakobeit übersetzt. Dabei handelt der Roman weniger von einem Coming-out als viel mehr von einem Coming-of-age, bei dem sich die jugendliche Verwirrung der Protagonistin sich auch am Ende nicht legt, denn ihr Weg in die Zukunft eröffnet sich gerade erst. Anna lernt die Liebe kennen, erfährt aber auch, dass Abschied und Tod genauso zum Leben dazu gehören wie Leidenschaft. Dass sich Anna in ein Mädchen verliebt bzw. lesbisch ist, ist hier zunächst einmal eine ganz persönliche Lebensvariante, die in der Gesellschaft durchaus akzeptiert wird. Joanne Horniman moralisiert in keiner Zeile, sondern zeigt die homosexuelle Liebe als gleichberechtige, selbstverständliche Art von Zuneigung und Miteinander. So wird dieses Buch zu einem gelungenen Beispiel, wie man zu sich selbst und seiner sexuellen Identität findet.

Joanne Horniman: Über ein Mädchen, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carlsen Verlag, 2013, 224 Seiten, ab 14, 15,90 Euro

Zu den Sternen

margherita hackHierzulande war Margherita Hack wohl nur Eingeweihten aus der Astrophysik-Szene bekannt, nun ist die italienische Sternenforscherin im Alter von 91-Jahren in Triest gestorben.

Ich muss zugeben, dass auch ich bis vor etwa einem Jahr nichts von Margherita Hack wusste. Schließlich habe ich Literatur und nicht Astronomie studiert. Doch durch die Übersetzung des Kindersachbuches Warum? Darum! – Astronomie schloss sich meine Wissenslücke. In diesem kleinen Bändchen hat sie dem Journalisten Federico Taddia jede Menge freche Fragen über Sterne, Astronomie und Himmelsphänomene beantwortet. Dabei hat sie sich für mich als eine sehr bodenständige und humorvolle Frau vorgestellt.

1922 in Florenz geboren war sie von 1964 bis 1997 Professorin für Astrophysik an der Universität in Triest. Gleichzeitig leitete sie bis 1987 das Observatorium in Triest und hat sowohl mit der ESA als auch mit der NASA zusammengearbeitet. Im Universum rast der nach ihr benannte Asteroid 8558 durch den Raum.

Über vieles aus ihrer Arbeit berichtet sie in dem Warum?-Darum!-Buch und holt dort neugierigen Kindern die Sterne vom Himmel. Sie erklärt Zwergplaneten, Schwarze Löcher, erzählt von Galileo Galileo und von Tieren auf dem Mond. Und macht damit die Astrophysik zu einer sehr anschaulichen und spannenden Wissenschaft, der man sich sofort intensiver widmen möchte.

margherita-hackIn Italien war Margherita Hack daneben auch als politische Aktivistin bekannt. Sie kandidierte für die Kommunistische Partei und setzte sich für die juristische Gleichstellung homosexueller Paare ein. Als Atheistin hat sie sich für einen laizistischen Staat stark gemacht.

Eine herausragende Wissenschaftlerin, eine durch und durch emanzipierte und aufgeklärte Frau und ein leuchtendes Vorbild zivilen Engagements ist gegangen – vermutlich zu den Sternen. Das macht traurig.

Taddia, Federico: Warum? Darum! AstronomieÜbersetzung: Ulrike Schimming, Oetinger Verlag, 2013, 96 Seiten, ab 8, 7,95 Euro

Fährt ein Bus um die Ecke …

ComedyDer Sommer ist da. In der Reihenhaussiedlung sind die meisten Kinder verreist. Hannes genießt die Ruhe und seine geliebten Benny-Hotton-Krimi-Hefte. Die bekommt er, zusammen mit einer Packung Erdnusskekse, immer von seinem Nachbarn Herrn Moll, einem pensionierten Polizeibeamten. Hannes‘ Eltern, fürsorgliche Psychologen, dürfen davon allerdings nichts wissen, denn sie sind rigoros gegen Schundliteratur.

Perfekter Auftakt des flockigen Sommerromans Mission Unterhose von Sylvia Heinlein. Hannes‘ Idylle findet ein jähes Ende, als der zappelige Kalli am Gartenzaun auftaucht. Kalli erzählt einen Witz nach dem anderen und führt merkwürdige Schütteltänze auf. Er verehrt den Comedystar BIG und will unbedingt in dessen Fußstapfen treten. Hannes ist zunächst von dem Eindringling nicht sehr begeistert, doch irgendwie entwickeln die Witze, selbst die ganz flachen, ihren Charme, und als Kalli ihn zu sich nach Hause, zu Fernsehen, Pizza, Chips und Cola einlädt – lauter Sachen, die bei Hannes überkorrekten Vegetariereltern tabu sind – ist Hannes hin und weg.

Gemeinsam streifen nun die Jungs nur in Unterhose durch die Siedlung, denn der Sommer ist richtig heiß. Damit es spannend bleibt, dürfen die beiden nicht erwischt werden. Das klappt nicht immer, und wenn, dann erfahren die Jungs auf einmal ganz viel über ihre Nachbarn: das streitende Pärchen, Herr Moll, der nur Dosennahrung isst, Frau Biber, die immer lecker und massenhaft kocht, aber ganz allein ist. Mit anonymen Zetteln sorgen Hannes und Kalli nun dafür, dass niemand mehr einsam sein oder schlecht essen muss.

Eines Tages stellen sie fest, dass in der leerstehenden Villa am Ende der Siedlung Renovierungsarbeiten beginnen und ein geheimnisvoller Mann, der sich von einem Bodyguard schützen lässt, dort einzieht. Kalli, angestachtelt von Hannes Krimi-Heftchen, will um jeden Preis herausfinden, wer der neue Nachbar ist, der zudem ein Riesenbild von BIG an der Wohnzimmerwand hat. Es soll sein und Hannes Leben entscheidend verändern …

Sylvia Heinlein ist ein charmant-lockerer Unterhaltungsroman gelungen, der die Freundschaft zweier ganz unterschiedlicher Jungs feiert. Hannes, der introvertierte Leser, trifft auf Kalli, den durchgeknallten Comedy-Fan. Eigentlich möchte man denken, dass das nie was wird mit den beiden. Doch natürlich ist das hier nicht so, denn der (psycho-)analytisch geschulte Hannes bringt Ordnung in Kallis Witze-Sammlung, die er zu einer eigenen Comedy-Show zusammenstellt. Er bringt Kalli dazu, seinen Auftritt zu perfektionieren, und mausert sich zum Manager der kleinen Rampensau. Und Kalli treibt mit seiner Dickköpfigkeit Hannes in immer neue abenteuerliche Situationen, die die beiden dann gemeinsam meistern.

In Mission Unterhose zeigt sich ganz wunderbar, wofür Freundschaft da ist – sich zu ergänzen, sich zu unterstützen, dem anderen neue Welten zu eröffnen, das Beste aus ihm herauszukitzeln – und sich jede Menge Witze zu erzählen. Solche knuffigen Freunde und solche liebenswert-saukomischen Bücher sind allen Menschen nur zu wünschen.

Sylvia Heinlein: Mission Unterhose, Tulipan, 2013, 140 Seiten, ab 9, 12,95 Euro