Ein Fest der Vielfalt

MenschIn Zeiten, in denen politisch rechte Bewegungen mit dem Wort „Identität“ Stimmung machen, in Zeiten, in denen Genderfragen zum Wahn erklärt und Menschen mit unterschiedlicher Geschlechtsidentität im Netz mit Hasskommentaren überzogen werden, ist es dringend nötig, Aufklärung zu betreiben, die über das rein biologische Geschlecht hinausgeht.

Genau dies macht Philosoph Jörg Bernardy in seinem aktuellen Buch Mann Frau Mensch – Was macht mich aus? Dabei stellt er nicht die bei Philosophen klassische Frage: Wer bin ich? – sondern wandelt sie ab in: Wer kann ich sein? Und damit holt er die Leserschaft auf das riesige Feld von Identitäten und Rollen, die man als Mensch so annehmen kann. Denn der Mensch ist ein wandelbares Wesen, was allein schon durch seine verschiedenen Lebensabschnitte deutlich wird – doch auch in der vermeintlich so eindeutigen Frage des Geschlechtes gibt es weit mehr als nur das biologische. So muss das biologische oder soziale Geschlecht nicht notwendigerweise mit der eigenen Geschlechtsidentität übereinstimmen. Bernardy legt – für meine Begriffe feinfühlig (dies sage ich hier, weil ich als Cis-Frau momentan jeden Tag in Sachen trans etwas dazulerne und nicht sicher bin, wie trans Menschen dieses Buch finden würden) – die Facetten der Transgeschlechtlichkeit dar und sensibilisiert dafür, wie schwierig es ist, wenn das biologische Geschlecht nicht mit der eigenen Geschlechtswahrnehmung übereinstimmt, und das dies dann noch lange nichts mit sexueller Orientierung zu tun hat.

Männlich und weiblich werden so zu fließenden Begriffen, manchmal auch zu Etiketten, die das Umfeld einem aufdrückt, und mit denen man/frau sich womöglich gar nicht identifiziert. Und doch braucht jeder Mensch eine Identität, zu der er/sie/xier stehen kann. Und die einem Zugang zu bestimmten Gruppen ermöglicht. Denn der Mensch ist ein Herdentier und nicht gern allein.
Allerdings ist der Mensch auch von Furcht geprägt und versucht, sich von dem abzugrenzen, was ihm Angst macht. Zur Recht oder zu Unrecht. Was dann wiederum zu so widerwärtigen Szenen wie in Chemnitz führt, wo Menschen anderen Aussehens gejagt werden. Bei Bernardy heißt es: „Wer andere stigmatisiert, bestätigt seine eigene Normalität.“ Nur was ist denn normal? Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, als Selbstbestätigung und Selbstliebe, zu glauben, dass das, was einen selbst ausmacht, „normal“ ist, also die Norm, und somit auf alle anderen zutreffen muss. Was für ein Irrtum.

Bernadys Buch, das neben seinen Texten auch künstlerische Innenansichten – Fotos, Comic, Poetry Slam, Überlegungen – von anderen Autor_innen und Künstler_innen liefert, ist eine Fundgrube für das Nachdenken über uns selbst und die Art, wie wir in dieser Gesellschaft mit anderen zusammenleben wollen. So erörtert er auch die Gleichberechtigung und die Unzulänglichkeit der deutschen Sprache, die – bislang – nur zwei Geschlechter kennt und die individuelle Geschlechtsidentität nicht kennt.

So ist Mann Frau Mensch ein Plädoyer für die menschliche Vielfalt, die uns wahrscheinlich alle extrem bereichern würde, wenn wir nur nicht so kleingeistig an überkommenen Kategorien hängen würden.

Damit das in den kommenden Generationen weniger passiert hat Beltz & Gelberg, bei dem auch Bernardys Buch erschienen ist, bereits vergangenes Jahr das Kindersachbuch Ich so Du so – Alles super normal des Labor Ateliergemeinschaft herausgebracht. Zehn Künstler_innen und Autor_innen haben darin in Wort und Bild ihre Ideen versammelt, was die Vielfalt des Lebens als Mensch ausmacht. Und was „normal“ eigentlich bedeuten soll.

Da werden Sitten und Gebräuche hinterfragt (Warum ein Osterhase und keine Osterziege? Warum geben wir uns die Hand zur Begrüßung und greifen uns nicht an die Nasen?), ein Normal-o-Meter hilft bei der Beurteilung des eigenen Lebens (Wie normal ist … mein Humor/meine Familie/mein Verhalten etc.). Unzählige Bildergeschichten u.a. von Philip Waechter und Anke Kuhl zeigen die Unterschiede zwischen Kindern, Freunden, Eltern, Großeltern, Menschen aus vergangenen Zeiten oder aus anderen Ländern. Sie offenbaren Stereotypen und Klischees (Jungenfarbe/Mädchenfarbe), lassen Märchen anders enden, erzählen von Menschen mit Behinderungen, von Kurzsichtigkeit und Körpergröße.

Zudem kommen Kinder aus der ganzen Welt zu Wort, die von ihrem Alltag berichten. So eröffnen sich den jungen Leser_innen andere Welten, in denen sie aber durchaus Ähnlichkeiten mit ihrem eigenen Leben finden können – nämlich wie wichtig Familie und Freunde überall auf der Welt sind, ganz egal, wie viel man hat oder was man so is(s)t.

In diesem quietschbunten Sammelsurium lässt es sich hervorragend blättern, immer bleibt man an irgendetwas Neuem und Interessanten hängen. Und sieht schließlich die eigene Umgebung und die Menschen darin mit ganz neuen Augen. Zu Recht ist dieses Buch daher für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 in der Sparte Sachbuch nominiert.
Die Vielfalt, die hier und bei Bernardy gefeiert wird, dürften hoffentlich so nachhaltig wirken, dass von denen, die diese Bücher lesen, niemand auf so seltsame Gedanken kommen wird, wie sie von rechten Populisten gerade viel zu laut verbreitet werden.

Jörg Bernardy: Mann Frau Mensch – Was macht mich aus?, Beltz & Gelberg, 2018, 160 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Labor Ateliergemeinschaft: Ich so Du so – alles super normal, Beltz & Gelberg, 2017, 176 Seiten, ab 9, 16,95 Euro

 

Home is where the heart is

IslancWas ist Heimat? Das ist wohl eine der drängendsten Fragen der Menschen, die sie immer wieder umtreibt. Manche verlassen ihre Geburtsorte nie, manche haben mehrere Wohnsitze, andere lassen die Orte der Kindheit hinter sich und gehen ins Ausland. Oftmals kehren sie zurück. Oder sie bleiben für immer, weil sie eine neue Heimat gefunden haben.

Von solchen Menschen erzählt Journalistin und Fotografin Tina Bauer in ihrem Band Iceland – lovely home. Darin hat sie 14 deutsche Frauen porträtiert, die auf Island eine neue Heimat gefunden haben. 1200 Deutsche leben auf der Insel zwischen Nordatlantik und Europäischem Nordmeer, zwei Drittel davon sind Frauen. Tina Bauer, die selbst zwei Jahre auf Island verbracht hat, wurde von den Einheimischen immer wieder gefragt, warum so viele Deutsche sich für die Insel entscheiden. So hat sie sich auf die Suche nach einer Antwort gemacht. Herausgekommen ist ein wunderschöner Bildband mit Tina Bauers eigenen, sehr intimen und poetischen Fotos von starken Frauen.

Diese Frauen, zwischen 25 und 64 Jahren alt, heißen beispielsweise Ruth, Elisabeth, Dörte, Julia, Brit und Myriam. Sie erzählen von Krisen, Neuanfängen, vom Scheitern und vom Durchhalten, von Wandlungen im Leben, vom Mut, endlich die Dinge zu tun, die sie wirklich wollen. Dabei bekommt man den Eindruck, dass erst die Insel mit der überbordenden Natur, dem wilden Meer, den saftigen Wiesen, den schneebedeckten Bergen und den brodelnden Vulkanen aus den Frauen das herausgeholt hat, was wirklich in ihnen steckt.
Die Frauen geben Persönliches preis, offen lachen sie in die Kamera und erobern so die Leser im Sturm. Sie arbeiten als Sozialpädagogin, Hebamme, Bäckerin oder Bäuerin, unterstützen Künstler, kümmern sich um Schafe oder engagieren sich  im Islandpferdeverband. Sie sind so vielfältig wie die Insel selbst. Und sie wirken dabei so unglaublich gelassen und in sich ruhend, dass ich ganz neidisch geworden bin. Diese Frauen machen mit anderen Wort Mut, den eigenen Weg zu gehen, egal wie schwierig oder abgelegen er auch sein mag.

Tina Bauer schafft es mit ihrem Buch also nicht nur, großartige Frauen vorzustellen und Lust auf Island zu machen, sie zeigt auch, dass die Wahl der Heimat nichts mit Herkunft, sondern mit Herz, Leidenschaft und Mut zu tun hat. Und das wird mit einer wunderbaren Portion Glück und Gelassenheit belohnt, wovon man beim Lesen zumindest ein Häppchen abbekommt. Der nächste Schritt ist dann wohl ein Ticket nach Island zu buchen … oder sich einen eigenen Herzensort als Heimat zu suchen.

Tina Bauer: Iceland – lovely home. Porträts deutscher Frauen in Island, tibauna, 2013, 96 Seiten, 29 Euro