Archiv der Kategorie: Kinderbuch

Lesen ist das größte Abenteuer

Nach dem Sommer ist vor der Schule. Jetzt sind ganz viele Kinder eingeschult worden. Da lernen sie rechnen, schreiben und lesen, Plutimikation (wie die Autodidaktin Pippi Langstrumpf sagt) und das ZYX. Hä? Na, das ABC rückwärts, klingt gleich viel interessanter. Mit ABC, die Katze läuft im Schnee kann man wirklich kein Kind mehr aus der aus der per Wärmepumpe fußbodenbeheizten Wohnung rauslocken.

Grummelige Gewitterwolke

Das weiß auch der Comickünstler Flix. Deshalb schickt er das ZYX statt ins Bett in ein furioses umgekehrtes ABC-Abenteuer. Das kleine rüsselnasige Wesen hat überhaupt keine Lust auf »Abmarsch ins Bett!«, ihm lüstet nach Spannung statt Schlafengehen. Genau wie seinem Schöpfer, was Flix am Ende in der Autorenkurzbiografie als Inspiration für seine Geschichten preisgibt. Die grummelige Gewitterwolke über dem ZYX auf dem Weg zum Zähneputzen gleich auf der ersten Seite spricht Bände.

Besser als arbeiten

Lesen lernen ist echt eine Sache, für die sich die Schule lohnt. Für unseren Blog letteraturen sind Lesende auch nicht ganz unwichtig. Die Autorin dieser Zeilen weiß die Schule deshalb auf jeden Fall für alle Zeit zu schätzen, ein bisschen auch, weil sie im Sportunterricht Kraulen gelernt hat. Sie gehört nämlich nicht zu den Überfliegern, die sich schon mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht haben. Später kam noch die Erkenntnis dazu, dass ein paar Stunden täglich in der Schule herumhängen deutlich weniger anstrengend sind, als Tag für Tag mindestens acht Stunden zu arbeiten, mit Leuten, mit denen man nur sehr selten befreundet sein kann. Soweit ein kleines, zugegebenermaßen seht persönliche Plädoyer für die Schule.

Vorteil exzessiven Teetrinkens

Zurück zum ZYX. Mit Schmackes und Witz geht es tollkühn durch Raum und Zeit, über die Planke eines Piratinnenschiffs und überbordende Inseln, durch den Magen von Riesen direkt in eine Zirkusmanege. Wir erleben den Vorteil exzessiven Teetrinkens, und Nachteil von Pizza und Pasta, nicht bis zum Abwinken, sondern ohne Ende. Gemeinsam mit dem umtriebigen Bettflüchter begegnen wir hungrigen Ottern und volatilen Krokodilen und schweben mit ihm durch rosa Himmel voller Donuts.
Das alles erzählt Flix in kuriosen Reimen, die raffiniert das Alphabet rückwärts buchstabieren. Selten war Lesenlernen so ein Spaß.
Der beginnt schon auf dem Vorsatzpapier. Besonders liebevoll gestaltete Bücher erkennt man daran, dass auch auf den vermeintlich nur dekorativen Seiten am Anfang und Ende der Geschichte ebenfalls eine Anekdote erzählt wird.

Affinität für einzigartige Wesen

Wer sich jetzt übrigens angesichts des knuffigen Helden ob meiner Begeisterung wundert, weil meine Abneigung gegen bekleidete Tiere bekannt ist: Das ZYX ist kein Tier, sonders etwas ganz Eigenes. Was, das weiß nur Flix, der eine Affinität zu außergewöhnlichen, einzigartigen Wesen hat. Schließlich durfte er auch als erster die belgische Comic-Serie Spirou weitererzählen und hat mit dem Humboldt-Tier sozusagen ein Prequel des Marsupilamis erschaffen.

Also, liebe Abenteurlustige, lernt das ZYX und lest!

Flix: Das ZYX, Kibitz Verlag, 48 Seiten, 15 Euro, ab 4

Mit allen Wassern gewaschen

Zwei große, glänzende Toaster
– Zwanzig Kalender – das waren große Pappen mit den Tagen drauf
– Zehn Abroller mit dickem Klebeband (Sie waren ein bisschen klein, aber hatten knallige Farben, das konnte helfen, um aufzufallen)
– Zehn Tablets (deren Akkus leer waren, sodass man die unglaublich vielen Wörter und Bilder und Filme, die darauf waren, nicht mehr sehen konnte.)
– Fünf Taschen (Manche sahen vornehm aus, andere waren Einkaufstaschen mit Werbung drauf. In einer davon stank ein platt gedrücktes Butterbrot vor sich hin.)
– Sechs Gummihandschuhe (Einen behielt sie für sich, um damit zu spielen, denn mit Augen drauf wurde er zu einem Gesicht.)
– Vier eckige Kissen, die lose auf den Stühlen lagen.
– Topfpflanzen (Denen wollte sie Wasser geben, dann gingen sie nicht ein.)
– Alle Geschirrtücher und Handtücher aus der Küche der Kantine (damit kam man ganz schön weit, wenn man sie ausbreitete.)
– Dreißig Tabletts aus der Kantine (langweilige braune, aber das macht nichts.)
– Drei gemalte Bilder (die ihr nicht gefielen)
– Eine Rolle Luftpolsterfolie (Vorher ließ sie viele Luftpolsterblasen zerplatzen, denn das machte Spaß.)
– Ein paar Kleiderhakenbretter (eigentlich waren die zu dünn.)
– Dreißig Schubladen, die sie aus Schränken gezogen hatte (Alles, was darin war, kippte sie vorher auf den Fußboden.)
– Fünf Rollen Alufolie aus der Küche (die glitzerten schön, das fiel auf.)
– Zwanzig Bücher (Die meisten sahen nicht so spannend aus, das waren keine richtigen Bilder drin und sie hießen zum Beispiel Wegweiser in einer Welt des Wandels. Aber eine schönes Fotobuch war auch darunter mit besonderen Gebäuden aus der ganzen Welt.)

Alle diese Dinge braucht Jona, um auf dem Dach des Hochhauses in zehn riesigen Buchstaben und einem Ausrufezeichen den Satz »ICH BIN HIER!« zu legen.

Unterm Radar

Das ist auch der Titel von Joke van Leeuwens hervorragender und packender Erzählung – zunächst eine Mischung aus Robinsonade und Klimathriller. Vor allem ist es aber eine Geschichte der Selbstbehauptung eines Kindes, das gewohnt ist, unter dem Radar zu leben. Und nicht nur aufs Klima bezogen gilt das für die ganze jüngste Generation, so sehr, wie ihre Bedürfnisse von den Älteren ignoriert werden.
Interessanterweise ist auch das Mädchen Jona wie Cato in Cato und die Dinge, die niemand sieht Halbwaise: »Ihre Mutter war krank geworden und niemand hatte sie wieder gesund machen können.« Auch hier ist der Vater emotional abwesend, versorgt sie mit dem Lebensnotwendigen, hat aber immer etwas zu regeln oder zu Ende zu bringen. Weshalb Jona nach der Schule zu ihm ins Büro kommt, das im einzigen Hochhaus ihres kleinen Heimatortes steht, dreißig Stockwerke hoch. Wo ihr Vater sie nach mehreren Stunden lobt, dass sie schön still gewesen war. »Das sagte er jeden Tag. Dass sie schön still gewesen war. Als hätte sie auch hässlich still sein können.«

Echt intelligent

Das ist gleich auf den ersten Seiten eine kurze Passage, die zeigt, was für ein erstaunliches Mädchen Jona ist. Ihr Wissen ist beeindruckend (nicht nur für eine Achtjährige). Und zwar nicht auf eine anstrengende, klugscheißerische Art. Sondern echt intelligent, wie sie Gelesenes, Beobachtetes, Aufgeschnapptes klug und raffiniert kombiniert. Man sollte Kinder nie unterschätzen.
Vor allem nicht, weil Erwachsene dazu tendieren, sich selbst in ihrem Erwachsensein zu überschätzen. Sie denken, dass sie alles verstehen und im Griff haben. »Jonas Vater glaubt nicht, dass das Wasser so schnell kommen wird, wie alle fürchten. Er wird genug Zeit sein, um sich in Sicherheit zu bringen.« Und dann reicht das Wasser plötzlich bis zum dritten Stock. Rundum das Hochhaus steht alles unter Wasser. Und Jona ist ganz allein auf dem Dach und weiß nicht, wann jemand kommt, um sie zu retten. Oder ob man überhaupt nach ihr sucht.

Hohe Wertschätzung in den Niederlanden

Das ist ein Buch, wie es nur in den Niederlanden geschrieben wird. Und zwar nicht nur, weil die Niederlande eben so niedrig sind, dass das Land teilweise unter dem Meeresspiegel liegt und durch steigendes Wasser als erstes in Europa, überflutet zu werden und unterzugehen droht. Wobei die Niederländer schon immer mit der Gefahr gelebt haben, teils in Hausbooten oder Pfahlbauten wohnen und das nationale Faible für Campingwagen wie eine prophetische Variante mobiler Tiny Houses anmutet.
Bei der niederländischen Autorin Joke van Leeuwen und ihren Kolleginnen und Kollegen hat das Schreiben für junge Leser einen viel größeren Stellenwert als hierzulande. Nicht nur wird die Kinder- und Jugendliteratur viel mehr gefördert und honoriert. Sie ist auch deutlich anspruchsvoller, weil die Autorinnen und Autoren für Kinder nicht anders schreiben als für Erwachsene. Und man weiß, dass man Kindern mehr zumuten kann und darf, um sie zu fordern, zu fördern, zu unterhalten und auch mit dem Leben klar kommen zu lassen. Oder auch ein Gespür dafür zu entwickelt, wann Regeln ihren Sinn verlieren. Natürlich darf man normalerweise nicht in ein Büro gehen, die Schubladen ausleeren und Dinge daraus mitnehmen.

Zumuten, fordern, fördern und unterhalten

Nach mehreren Tagen und Nächten auf dem Dach überkommt Jona ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins. Als sich schließlich ein Flugzeug dem Hochhaus nähert, aber vorzeitig wieder abdreht, droht sie alle Hoffnung zu verlieren. Als wären alle Anstrengungen, um auf sich aufmerksam zu machen und gerettet zu werden sinnlos.
Das ist absolut nachvollziehbar und lebensecht. Und macht Joke van Leeuwens Geschichte umso berührender und spannender und wunderbarer. Erneut ein brillantes Buch aus dem Nachbarland.

Joke van Leeuwen: Ich bin hier!, Übersetzung: Hanni Ehlers, Gerstenberg, 120 Seiten, 15 Euro, ab 8

Folge dem grunzenden Kaninchen

Cato

Als Cato auf die Welt kam, hat ihre Mutter sie verlassen. »Natürlich hatte sie es nicht mit Absicht getan, aber die Sache war nun mal eindeutig: Wäre Cato nicht geboren worden, würde ihre Mutter noch leben. Manchmal fühlte sie Abscheu und Wut auf sich selbst. Manchmal fühlte sie Wut auf alles und jeden, auf die ganze Welt. Als ob sich die Wirklichkeit vom Moment ihrer Geburt an gegen sie verschworen hätte.«
Eine ziemliche Last, die die Zwölfjährige ihr ganzes Leben mit sich herumschleppt. Bei der sie niemand entlastet. Denn ihr Vater ist nur noch eine traurige, funktionierende Hülle, völlig im eigenen Schmerz vergraben. Dabei lässt er außer Acht, dass seine Tochter niemanden hat.

Mutter- und vaterseelenallein

Cato ist mutter- und vaterseelenallein. Von ihrer Mutter, die sie nie kennenlernen konnte, ist ihr nur ein rotes Kleid und ein Foto geblieben. Darauf ist ihre Mutter in eben jenem Kleid, schwanger und mit einem strahlenden Lächeln zu sehen.

Zu allem Elend kommt täglich die fiese, spießige Nachbarin Cornelia, umgeben von einer Wolke widerlich süßem Parfüm, zum Putzen und Kochen vorbei. Sie mischt sich in alles ein, diffamiert Catos Gefühle, ihre Wut, ihren Trotz, ihre Zweifel, als »Gewühle«, das im Kopf weggesperrt gehört. Und tut scheußlich vertraut mit Catos Vater. Eine  Möchtegern-Stiefmutter par excellence.

Kraft der Erinnerungen

Mit dieser herrlich ätzenden Ausgangslage in bester Roald-Dahl-Tradition beginnt Yorick Goldewijks traurig-schöner Roman Cato und die Dinge, die niemand sieht. Aber dann  tritt Frau Kano in Catos Leben. Laut ihrer Visitenkarte zeigt sie im alten, schon seit Jahren geschlossenen Kino, Filme, die  nirgends laufen, die du aber schon immer sehen wolltest. Aus Neugier heuert Cato bei der rätselhaften Frau an, putzt das Kino, bringt die Reklame an der Fassade wieder zum Leuchten, kocht wie gewünscht rabenschwarzen, schauerlichen Kaffee und wird Frau Kanos Assistentin. So lernt sie die Bedeutung und Kraft von Erinnerungen kennen.

Lust auf Neues, Unbekanntes

Gleichzeitig entdeckt die Liebhaberin von Kung-Fu-Filmen und Zombie-Comics ihre besonderen Superkräfte: »Dieser Blick. Nur wenige Menschen besitzen ihn. Denn man muss natürlich ein bisschen speziell sein«, wie Frau Kano an Cato beobachtet. »Sich trauen, das Fremde zu umarmen. Du bist genau wie ich früher, Cato. Auch ich war immer schon neugierig auf all die Dinge, die alle anderen lächerlich fanden. Und ich war genauso schlau wie du und genauso starrköpfig. Wenn du dir die Neugier lange genug erhältst, dann findest du Dinge heraus, die du selbst nie für möglich gehalten hättest.«

Nach betrunkenem Kung-Fu-Meister benannt

Neugier (die im niederländischen Original ebenso heißt) bekommt hier eine positive Konnotation, nicht Gier, sondern das Interesse an und die Lust auf Neues, Unbekanntes ist eine wichtige Triebfeder für Menschen, die etwas bewegen und ändern wollen.
Cato findet Normalität, die es tatsächlich vom Moment ihrer Geburt für sie nicht gab, keinen erstrebenswerten Zustand. Deshalb trägt sie unterschiedliche Socken. Und fotografiert Dinge, die keiner bemerkt. Oder hat ihr ebenfalls eigenwilliges, weil grunzendes Kaninchen nach dem betrunkenen Kung-Fu-Meister Beggar So aus einem Jackie-Chan-Film benannt. Cato ist meist ein freier, unabhängiger Geist. Eine Erziehungsexpertin hat es soeben im Interview so auf den Punkt gebracht: »Frei ist, wer missfallen kann.« (und darf)

Pointierte Schimpftiraden

Mit Frau Kano kommt zwar etwas Magisches in die Geschichte. Was aber Goldewijks Heldin so liebenswert macht, ist, dass sie so lebendig, authentisch und menschlich ist. Auch Cato ist zum Beispiel zunächst zu feige, sich für den gemobbten Lehrer stark zu machen. Wer kennt das nicht? Lesenswert sind auch ihre erfrischend pointierten Schimpftiraden auf ihren Vater. Und die Nachbarin. Und gemeine Mitschüler, zwei Ekelpakete. Sonja Fiedler Tresp hat das kreativ und witzig übersetzt. Im Trottel etwa spielt sowohl Catos Verachtung als auch Mitleid für ihren Vater mit. Knalltüte neckt Cato später liebevoll ihren unverhofft gewonnen, einzigen Freund.
In Cato und die Dinge, die niemand sieht versteckt sich so viel, was man zunächst nicht erkennen kann. Und dann umso erhellender und freudig überraschter wahrnimmt. Dagegen ist dieses Buch schon auf den ersten Blick auch ein sehr hübscher Hingucker, wegen des Titelbilds und des schicken orangenen Schnitts. Die famose Cato sollte wirklich jede und jeder sehen.

Yorick Goldewijk: Cato und die Dinge, die niemand sieht, Übersetzung: Sonja Fiedler Tresp, Dragonfly, 240 Seiten, 15 Euro, ab 10

Entfesselte Energie

Löwenmäulchen sind hübsche Blumen. Als Mädchenname taugt das von Hummeln sehr geschätzte Wegerichgewächs nicht so gut – im Deutschen. Snapdragon klingt dagegen super. Und passend für die mutige, eigenwillige Heldin in Kat Leyhs gleichnamigen Comic.

Hexen gibt’s nicht, oder?

Auf der Suche nach ihrem Hund fährt Snapdragon zum Haus der Hexe. Zumindest halten ihre Mitschüler sie für eine und erzählen gruselige Geschichten über die Einsiedlerin im langen schwarzen Mantel, mit großem Hut und dunkler Augenklappe. Aber Hexen gibt es doch nicht, oder?
Tatsächlich findet Snapdragon ihre kleine Bulldogge wohlbehalten bei der knurrigen, unheimlichen Frau. Und freundet sich nach und nach mit ihr an. Dabei spielen viele Tiere eine wichtige Rolle. Die meisten tot, überfahren auf der Straße. Jacks, so heißt die Alte, kümmert sich um sie, um ihre achtlos liegengelassenen Kadaver – und ihre Seelen. Den toten Tieren haucht sie wieder neues Leben ein, indem sie ihre Skelette minutiös rekonstruiert und an Sammler oder Museen im Internet verkauft. »Wow«, sagt Snapdragon beeindruckt. Jacks lächelt geschmeichelt. Bis das Mädchen gleich hinterherschiebt: »Jemand Altes, der das Internet benutzt.«

Respekt gegenüber allen

Das ist ein ganz kleiner Moment, drei Bilder kurz, in dem Kat Leyh, die bislang vor allem Superheldengeschichten illustriert hat, sehr geschickt und ganz beiläufig auch das Thema Altersdiskriminierung einflicht. Denn darum geht es in ihrem ersten Kindercomic: um Vielfalt und Respekt gegenüber allen. Allen Menschen und allen Lebewesen. Egal, ob Mädchen wild und draufgängerisch sind. Jungs lieber Mädchenkleider tragen und ein Faible für Lila haben. Frauen Motorradrennen fahren und Frauen lieben.
»Ich bin nicht so wie jeder andere auch«, sang schon Carsten Friedrichs von der Liga der Gewöhnlichen Gentlemen (dessen brillante Songtexte auch als Buch zu haben sind, Später kommen, früher gehen, Ventil Verlag, 216 Seiten, 17 Euro). Das zu erkennen, zu akzeptieren und auszuleben kostet viel Energie. Es kann aber auch fantastische und inspirierende Kräfte entfesseln.

Seiten mit dramaturgischem Kniff

Von Außenseitern mit starkem Willen und großen Herzen erzählt Kat Leyh in klaren Panels mit kräftigen Farben. Ihre Figuren sind höchst lebendig, mit hochemotionaler Mimik und dynamischen Bewegungen. Auf manchen Seiten verwendet Leyh mit dem letzten Bild unten rechts einen dramaturgischen Kniff: In Serien würde man vielleicht von Cliffhängern sprechen. Hier sind es eher Appetithäppchen oder Teaser, die einen sofort neugierig umblättern lassen und gleich in die nächste Szene hineinziehen.

… und ein Schuss Magie

Eine starke Nebenfigur ist auch Snapdragons alleinerziehende, hart arbeitende Mutter. Respekteinflößend und ebenso respektvoll und anerkennend. Als sie zum Beispiel von der Arbeit weg in die Schule zitiert wird, ist sie nicht wütend auf ihre Tochter. Sie lobt Snapdragon, weil diese ihren Freund Lu gegen gehässige, sexistische Mitschüler verteidigt hat. Was ihr blumiger Vorname für eine Bedeutung hat, das ergibt sich in der in der wunderbar verwoben Geschichte und wird hier natürlich nicht verraten.
Kat Leyhs Snapdragon ist ein mitreißender, ausdrucksstarker und famos gezeichneter Comic, ebenso bunt wie seine Heldenfiguren. Mit einer spannenden Geschichte, beeindruckenden Charakteren – und einem klugen Schuss Magie.

Kat Leyh: Snapdragon, Übersetzung: Matthias Wieland, Lettering: Kathrin Liehr, Reprodukt, 240 Seiten, 20 Euro, ab 10

Einzigartige DNA

Gene

Sachbücher (und Fachbücher) sind eine Sache für sich: mal ebenso lehrreich wie dröge, mal völlig verquast und fachidiotisch, oder unterhaltsam, aber mit geringem Erkenntnisgewinn. Manchmal gelingt die Mischung aus anschaulicher Wissensvermittlung und spannender Erzählung.
Und dann gibt es den exzentrischen Sachcomic Billie und seine Gene von Stefan Boonen und Wout Schildermans alias Melvin.

Von beidem etwas

Geschickt beginnt das flämische Duo die Geschichte in einem Laden – einem Laden, in dem ein Mann und eine Frau ein Kind bestellen. »Also, möchten Sie ein gewöhnliches oder ein ungewöhnliches Kind?«, fragte der Verkäufer. »Äh, von beidem etwas. Ginge das?« »Natürlich«, sagte der Verkäufer, »mit Vergnügen.« Kein Designerkind, keine zukünftige Nobelpreisträgerin oder Sportskanone, einfach nur ein Kind mit ein paar Ähnlichkeiten zu den zukünftigen Eltern.
Da wird jetzt jedes Kind zetern: »Total falsch! Kinder kommen doch nicht aus dem Laden!« Absolut richtig. Aber in diesem Buch geht es nicht darum, wie ein Kind entsteht. Sondern woraus es besteht. Und nicht nur Kinder. Sondern einfach alles, Pflanzen, Einzeller, Pilze, Säugetiere … es geht um Gene. Und nicht nur um Billies, wie der Titel, Wortspiel auf einen Hit von Michal Jackson, vermuten lässt.

0,1 Prozent als Apfelkuchenrezept

Gene sind nicht nur winzig klein, man kann sie weder sehen noch anfassen. Genetik ist auch sehr abstrakt und kompliziert. Aber nicht bei Boonen und Schildermans, die gleich im ersten Kapitel erstmal ihre eigenen Gene haben untersuchen lassen: »Wir mussten dreimal in ein Glasröhrchen spucken und zwei abgeschnittene Zehennägel abgeben.« Und siehe da, auch ihre Gene sind zu 99,9 Prozent denen von allen Menschen gleich. Und die unterschiedlichen 0,1 Prozent?
Die erklären sie mit dem Apfelkuchenrezept. Aus einer Handvoll immer gleicher Zutaten kann man unterschiedliche Kuchen backen. »Kuchen mit großen oder kleinen Apfelspalten, dickem oder dünnflüssigen Teig, luftig oder schön krümelig.«

Neonorange Farbakzente und blaue Katze als Sidekick

Wout Schildermans‘ Bilder dazu sind viel mehr als nur Illustration: Witzig, karikaturesk, überdreht, mit neonorangen Farbakzenten und einer kleinen blauen Katze als Sidekick ergänzen sie Stefan Boonens Text kongenial und sind wie eine parallele, intensivierende Erzählung in Bildsprache. Auf jeder Seite liest man, wie viel Spaß die beiden mit dem Thema haben. Zum Beispiel: »Ein Kind erhält seine Gene von seinen Eltern. Die Eltern können sich also scheiden lassen, so viel sie wollten. In Billie bleiben sie für immer zusammen.« Birgit Erdmann hat es mitreißend klug und lustig übersetzt.

Dracula und Van Gogh

Autosomale und rezessive Vererbung werden praktisch und lebensnah erklärt, wir lernen die Ohrläppchenbande kennen und dass »etwa 739 Gene bestimmen, ob du lieber Schokoladeneis oder Vanilleeis magst.«. Warum Dracula und Van Gogh in den Genen der Fruchtfliege sind und was das Besondere an Reiskörnern ist oder wie Genscheren funktionieren – Erwachsene und Vorlesende lernen hier auch noch einiges. Und erkennen: dieses Sachbuch hat eine einzigartige DNA von seinen wunderbar schrägen Eltern bekommen, zwei frisch gebackenen genialen Genetikern.

Stefan Boonen: Billie und seine Gene. Von Fruchtfliegen, Sommersprossen und dem Bauplan des Lebens, Illustration: Wout Schildermans (Melvin), Übersetzung: Birgit Erdmann, mixtvision, 96 Seiten, 18 Euro, ab 8

Unbezahlbar

Eifersucht

Man kennt die die Kisten mit der Aufschrift »Zu verschenken«, die vor allem in Großstädten an den Straßen stehen. Darin findet sich manchmal Nützliches, häufig aussortierte Bücher, auch hübscher Kleinkram, oder einfach nur Müll.
Ein Karton mit der Aufschrift Kind zu verschenken! ist allerdings außergewöhnlich. Wie auch das gleichnamige Kinderbuch von Hiroshi Ito. Das kleine Mädchen darin sucht eine neue Familie. Sie hat die Nase voll: »Vor drei Monaten habe ich einen kleinen Bruder bekommen. Er sah aus wie ein Äffchen. Wenn er nicht schrie, wurde er gestillt oder kackte. Er war kein bisschen niedlich.«

»Ich suche mir ein neues Zuhause« »Ja ja«

Trotzdem kümmert sich ihre Mutter nur um das Baby. Und überhaupt nicht um ihre Tochter. Also zieht das vernachlässigte, zornige Mädchen Konsequenzen: »Du brauchst mich wohl nicht mehr, Mama, oder?« »Ich haue ab, ich suche mir ein neues Zuhause!« Als auch auf diese Drohung nur ein geistesabwesendes »Ja, ja,« kommt, macht die Kleine ernst und sich auf in ein neues Leben.
Sie findet einen leeren Pappkarton, schreibt in ihrer schönsten Schrift Kind zu verschenken drauf, wartet und träumt von einer neuen Familie. Einer mit großem Haus und Garten und Pool. Einer, in der sie das einzige Kind ist und mit Eltern, die nur sie liebhaben.

Minimalistisch und vielsagend

Diese Mischung aus Comic und Erstlesebuch ist eine entzückende Geschichte über ein Gefühl, das jedes Kind mit Geschwistern kennt, die Eifersucht. Die Zeichnungen in Schwarz-Weiß, mit nur wenigen roten Akzenten für die Wangen oder einer Schleife auf dem Kopf, sind minimalistisch und doch sehr vielsagend. Das Mädchen kann richtig böse gucken, ihre Wut und Enttäuschung ist offensichtlich. Ebenso ihre Stärke und ihr Eigensinn.
Auch sprachlich ist es so puristisch wie ausdrucksstark. »Jetzt reichte es mir. In diesem Affenhaus wollte ich keine Minute länger bleiben«, sagt sie. Und brummelt »Pff, Mama ist pupsgemein.« Ursula Gräfe hat das Abenteuer pointiert und urkomisch übersetzt. Und genial und sehr witzig wird der Konflikt zum Schluss zum Schluss gelöst.

Ein Äffchen. Aber süß

Dazwischen rappelt es aber noch ordentlich im Karton, wenn es zur Variante der Bremer Stadtmusikanten wird. Ein verlaufender Hund, eine streunende Katze und eine ausgesetzte Schildkröte gesellen sich auf der Suche nach einem neuen Zuhause dazu. So kann Eifersucht richtig Spaß machen. Und manchmal ist ein kleiner Bruder wirklich ein Äffchen. Aber süß.

Jüngere Geschwister haben es auf der anderen Seite aber auch nicht immer leicht: »Angefangen hat alles mit dem Straßentrödel. Einfach mal das alte Spielzeug rausgestellt  und ein bisschen Geld verdient. Da haben wir, ganz aus Versehen, unsere kleine Schwester verkauft.« Geld gewonnen und nebenher noch eine kleine Nervensäge losgeworden. Klassische Win-Win-Situation. Nur die Eltern sind sauer. »Meine Mama war ziemlich wütend und Papa hat geweint«, erzählt die geschäftstüchtige und überhaupt nicht zerknirschte Tochter. Der Vater schluchzt: «Die war doch ganz neu!«

Famose Kapitalismus Satire

Macht nix, kann man sich ja eine neue, höfliche und adrette gegenüber kaufen, inklusive einem Koffer mit Wintersachen. »Allerdings war sie nicht ganz billig. Deshalb mussten wir Oma verkaufen.« Die ist zwar kein scheckheftgepflegter Oldtimer und hat viele Gebrauchsspuren, geht aber an einen Liebhaber zum Liebhaberpreis weg.
Und so wird munter die ganze Familie inklusive Katze versilbert, in Zahlung gegeben, im Internet angepriesen, nach dem Motto »Alles muss raus«. Nur die Mutter ist zu ramponiert und taugt nur noch für Bastler.
Was als Flohmarktgeschichte beginnt, entwickelt sich zu einer famosen Kapitalismus-Satire, verpackt in einem witzigem Kindercomic. Als die gewiefte Göre erstmal auf den Geschmack des Geldes kommt, gibt’s zunächst kein Halten. Doch wenn alle Fast Food bestellt und auf dem Tablet alles durchgeglotzt ist, kann es auch ziemlich einsam werden. Also beschießt unsere übersättigte Erzählerin: »Ich glaub, ich geh einkaufen!«
Was sie bei ihrer neuen Shoppingtour erwirbt, ist sehr überraschend und eine weitere tolle Lektion der freien Marktwirtschaft … und wird hier natürlich nicht verraten.

»Can’t buy me love«

Zu Martin Baltscheits herrlich schnoddrigem Ton passen Thomas Wellmanns karikatureske Illustrationen perfekt. Die originellen Familienmitglieder werden charmant frotzelnd charakterisiert. Die Verlockungen des Reichtums in knallig überladenen Bildern ausgemalt. Und das Besondere von Familienbanden, nicht nur der eigenen Kleinfamilie, bunt und vielfältig gefeiert.
»Can’t buy me love«, sangen schon die Beatles (was man Kindern nicht früh genug vorspielen kann). Wir lernen: Mit Geld kann man nicht kuscheln, und verrückte Gutenachtgeschichten wie Oma zu verkaufen liest es auch nicht vor.

Hiroshi Ito: Kind zu verschenken, Übersetzung: Ursula Gräfe, Moritz Verlag, 120 Seiten, ab 6, 14 Euro

Martin Baltscheit, : Oma zu verkaufen, Illustrator: Thomas Wellmann, Kibitz, 32 Seiten, ab 6, 15 Euro

Zum Anbeißen

Apfelbaum

Wann hat der Apfel eigentlich seine Unschuld verloren? Die meisten würden spontan antworten, mit dem Alten Testament und der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Und natürlich war die Frau an allem schuld. Anderes Thema …
Tatsächlich ist der Apfel in der Neuzeit zum Problem geworden, weil mittlerweile so viele Menschen allergisch auf ihn reagieren. Was sehr schade ist, da Äpfel ein preiswertes, bestenfalls nahezu klimaneutrales und ebenso einfach wie vielfältig zu konsumierendes Superfood sind, denn sie enthalten Vitamine, Mineralien, Ballaststoffe und Antioxidantien.

Leises Rauschen in der Rinde

Das große Buch vom Apfelbaum hat so profane Gesundheitswerte nicht nötig, um für das Obst und seinen besonderen Mikrokosmos zu begeistern. Der Biologe Holger Haag beginnt mit der Schönheit: »Im Frühling erstrahlt der Apfelbaum in einem Meer aus rosaweißen Blüten.« Aber der Baum wird natürlich nicht einfach so »wach geküsst«, wie es in einer Kapitel-Überschrift poetisch heißt. »Die Tage werden länger, die Temperaturen steigen. Der Baum kann wieder Wasser und Nährsalze aus der Erde aufnehmen, weil der Boden nicht mehr gefroren ist«. Und weiter: »Wenn du dein Ohr ganz dicht an den Stamm hältst, hörst Du mit ein bisschen Glück das leise Rauschen in der Rinde.«

En passant Interessantes lernen

Elegant und mühelos leitet Haag von den sinnlichen Eindrücken über zur Wissenschaft. »Es gibt zwei verschiedene Leitungsbahnen: Im sogenannten Xylem findet der Wassertransport von der Wurzel bis in die Baumspitze statt. Im Phloem dagegen gelangen wichtige Nährstoff wie Zucker und Eiweiße von den Stellen, wo sie hergestellt werden, dorthin, wo sie gebraucht werden, also zum Beispiel von den Blättern zu den Früchten.« Da hat man auf der ersten Seite schon en passant etwas sehr Interessantes gelernt.

Vögel auf Daunenlänge und Felle zum Streicheln

Lars Baus malt dazu wunderschöne naturalistische Bilder. Man kann die Struktur der zarten Blütenblätter und der rauen Rinde des Stamms geradezu fühlen. Auch die zahlreichen Lebewesen, die von, auf und mit dem Baum leben: Vögeln wie Feldsperlingen, Neuntötern oder Seidenschwänze kommt man auf Daunenlänge, bis zu den fluffigen Federn, nah. Bei Eichhörnchen, Rotfuchs und Gelbhalsmaus möchte man das feine Fell streicheln.

Die Rehabilitation der Ohrenkneifer

Zum Anbeißen ist auch im Kapitel Herbst die Doppelseite mit acht Apfelsorten. Holger Haag erklärt dazu viel Spannendes und Wissenswertes mit wenigen präzisen Worten. Wie aus der bestäubten Blüte schließlich ein Apfel wird. Woraus das Kerngehäuse entsteht. Das Besondere einer Obstwiese. Welche Insekten dem Apfelbaum nutzen. Und welche ihm schaden.
In dem Zusammenhang wird ein »kleines Tier mit schlechtem Ruf« mehr als rehabilitiert: Der Ohrenkneifer. Der interessiert sich nämlich überhaupt nicht für Ohren. Tatsächlich vertilgt das Insekt liebend gern Blattläuse, Gespinstmotten und die Larven des Apfelwicklers. Dazu gibt es noch einen einfachen Basteltipp, mit dem man diese Nützlinge anlocken und am Baum heimisch werden lassen kann.

Auch für Allergiker ein Genuss

Abgerundet wird Das große Buch vom Apfelbaum mit einem zweiseitigen Glossar und einem Register der Tiernamen. Ein Bilderbuch von einem Sachbuch, bildschön in Illustration und Text. Es macht die faszinierenden Früchte und alles drumherum zum Genuss – auch für Allergiker.

Holger Haag (Text), Lars Baus (Illustrationen): Das große Buch vom Apfelbaum, Coppenrath, 56 Seiten, ab 5, 22 Euro

Eine Welt, in der alle Platz haben

Was macht man, wenn mitten in der Geschichte das Objekt der Betrachtung, die Protagonistin zu dem wird, was sie ja ist, nämlich zur Hauptperson und zum eigenständig handelnden Subjekt – und droht, das Buch zu verlassen?

Giraffe ausschnittsweise

Das passiert der Autorin Haydée Zaydas Ramos in ihrem entzückenden und klug verdrehten Kinderbuch Die Giraffe, die nicht in ihr Buch passte. »Mila war eingequetscht. Sie passte nicht auf die Seiten ihres Buchs. Ihres eigenen Buchs!« Tatsächlich sieht man auf zwei queren Seiten immer nur einen kleinen Ausschnitt des hübschen Tiers, mal ihren langen Hals, mal ihren runden Bauch oder auch nur ihren Schwanz.

Horizontal ist nicht die einzige Perspektive

Viel leichter passt Haydée, genauer ihr jüngeres Ich auf die Seiten, wahlweise an die Giraffe Mila gekuschelt oder sie erforschend. Weshalb ihr Milas Problem, also deren fehlender Platz in der menschlichen Welt, gar nicht bewusst ist.
Aber die Giraffe wehrt sich: Nur weil wir an horizontale Formate, Perspektiven und Erzählungen gewöhnt sind, muss sie sich doch nicht verbiegen. »Ich möchte es vertikal! Schließlich ist das mein Buch«, verlangte Mila. »Vertikal, so wie die Bäume wachsen, die fast die Sonne berühren.«

Ein kluger Dreh

Nach einigem Hin und Her kommt die Autorin ins Grübeln und beginnt die Idee reizvoll zu finden: »Hmmm …« Haydée dachte nach. »Vielleicht ist es sogar ganz lustig, das Buch mittendrin zu drehen.« Und nach einigen Seiten Messen, Rechnen, Umdenken ist der kluge Dreh geschafft. »Mila reckte und steckte sich ausgiebig, also wäre sie gerade aufgewacht. Endlich musst sie den Hals, die Ohren und die Hufe nicht mehr einziehen. Zum ersten Mal zeigte das Buch die Giraffe in ihrer ganzen Pracht.«

Traditionelle Techniken mit digitalen Details

Die in Mexiko-Stadt geborene Illustratorin Yohali Gutiérrez Estrada erweckt Mila aufs Schönste mit braungeflecktem Fell, langen Wimpern und buschiger Mähne in weichem Aquarell. Daneben stellt sie die kleine Autorin als Buntstiftzeichnung. Diese traditionellen Techniken mischt sie mit digitalen Illustrationen zu einer sehr besonderem Bildsprache.

Tierwohl weiter gedacht

Dieses Bilderbuch erzählt davon, wie Geschichten entstehen. Dass man die Protagonisten als Ganzes sehen, sie respektieren und verstehen sollte. Und es fasst perfekt die Philosophie und Entstehungsgeschichte des neuen Verlags CalmeMara zusammen. »Tierisch nachhaltige Bücher aus Bielefeld« sind das Programm. Die ersten Veröffentlichungen stellten Tiere des Begegnungs- und Gnadenhofs Dorf Santana vor. Das Tierwohl gilt auch für die Herstellung der Bücher. Man kann sich nur wundern, wo überall tierische Anteile drin sind, im Leimen, Farben, Laminierungen und Herstellungsprozessen. CalmeMara kann seine Hardcover mittlerweile vegan herstellen, bald sollen auch die Bilderbücher für die Jüngsten, so genannte Pappen, folgen. Der Verlag schafft ein Bewusstsein für das Tierwohl und den Respekt vor allen Lebewesen, durch anregende und bezaubernde Geschichten, wie die von der selbstbewussten Giraffe Mila. Und durch die Produktion der Bücher.

Haydée Zaydas Ramos, Yohali Gutiérrez Estrada (Illustrationen): Die Giraffe, die nicht in ihr Buch passte, Übersetzung: Jennifer Michalski, CalmeMara Verlag, 56 Seiten, ab 4, 18 Euro,

Es lebe die Vielfalt, es lebe Babette!

Es ist bunt und der Inhalt ist köstlich – also das perfekte Geschenk zu Ostern! Und es ist eckig, also kein Ei, sondern Tanja Eschs famoser Kindercomic Boris, Babette und lauter Skelette. Lynette (nicht zu verwechseln mit der Babette im Titel, dazu gleich mehr) geht für ein Jahr nach England und bittet Boris, einen Nachbarjungen ihr Haustier zu nehmen – Babette. Wer oder was ist Babette? Das weiß niemand.

Alien können ein Lied von fehlender Gastfreundschaft singen

Ursprünglich als kleines, hamsterartiges Tier in der Tierhandlung erworben, ist sie oder es oder er mittlerweile etwa so groß wie eine Katze, hat vier Beine, läuft aber aufrecht auf den hinteren, futtert gern Flips – und kann sprechen! Genau aus dem Grund muss ihre Existenz unbedingt geheim gehalten werden. »Fernsehen, Zeitungen, Wissenschaftler, alle würden uns die Tür einrennen … und wahrscheinlich würde man sie uns sogar wegnehmen, um irgendwelche kruden Experimente mit ihr zu machen«, malt Lynette sehr anschaulich und realistisch aus, was passieren würde, wenn andere von Babette erfahren würden. Außerirdische können ein frustriertes Lied von fehlender Gastfreundschaft auf der Erde singen – sofern sie es überlebt haben. Man denke nur an den schön schnoddrigen Paul (Ein Alien auf der Flucht) aus gleichnamigem Film.

Babette braucht Gruschel

Boris darf aber kein Haustier haben, sein Vater findet tierische Mitbewohner zu schmutzend und möchte nicht ständig putzen. Also richtet Boris ihr ein gemütliches Versteck unter seinem Hochbett ein. Dort liegt Babette am nächsten Morgen ganz melancholisch und apathisch. Was fehlt ihr? »Babette traurig. Babette braucht Schkelette. Babette braucht Monschter. Babette braucht Gruschel«, erklärt das einzigartige Wesen, mit einem charmant nuscheligem Sprachfehler.

Skelette aus Stöcken geschnitzt

Das Faible fürs Unheimliche hat Babette wahrscheinlich von Lynette, eher ein Gothic Girl. Ein bisschen Halloween-Deko kann Babette absolut nicht aufheitern. Hier kommt Boris‘ Opa Taio ins Spiel, der kann alles schnitzen, also auch ein paar überzeugende Knochen aus Stöcken. Doch als Boris und Babette ein klasse Gruschel-Party feiern, beginnt der wahre Schocker: Mitten im schönsten Tanz der Vampire werden sie von Boris‘ Eltern entdeckt!
Die bekommen erst einen Mordsschrecken, halten Babette für einen eingedrungenen, bissigen, infizierten Waschbären. Sind aber auch nicht wirklich beruhigt, als Boris ihnen den ungebetenen Gast in ihrer Wohnung vorstellt.

Warum macht das Fremde aggressiv?

Das ist der Beginn einer abenteuerlichen Geschichte, in der es auch, aber nicht nur um die Frage von Identität geht. Was ist mit Wesen, die einzigartig und außerordentlich sind und in keine gängige Schublade passen? Das Unbekannte, Fremde macht Menschen Angst. Und sie reagieren darauf aggressiv. Warum?
Boris, sein Vater Yaris und sein Großvater Taio sind schwarz. Das ist aber gar kein Thema in Tanja Eschs Comic. Als Boris von seinem Mitschüler Flo drangsaliert wird, macht der sich über Boris‘ Fahrradhelm lustig. Für die jüngere Generation spielt die Hautfarbe keine Rolle. Das hat Taio noch ganz anders erlebt, als er Ende der 1970er Jahre nach Deutschland gekommen ist: »Ich war überall der einzige Schwarze. Meine Kollegen waren echt nett, da war das nie ein Problem. Aber auf der Straße, im Bus oder im Supermarkt wurde ich ständig angestarrt und beschimpft«, erzählt Taio Babette.

Abstrakten Begriff lebendig gezeichnet

Tanja Esch erzählt in ihrem bunten Comic klug und witzig von Toleranz und Respekt. Und wie schön und bereichernd es sein kann, alle Wesen so zu akzeptieren, wie sie sind und sich auf sie einzulassen. Das ist es, was sich hinter dem abstrakten Begriff Diversität verbirgt. Die Comickünstlerin muss das Schlagwort nicht bemühen, sie zeigt, was es bedeutet und beherzigt die auch für wirklich gute, mitreißende Filme gültige Regel »Show, don’t tell«.
Es lebe die Vielfalt, es lebe Babette.

Tanja Esch: Boris, Babette und lauter Skelette, Kibitz Verlag, 2022, 160 Seiten, ab 8, 20 Euro

Grammatik-Liebe

Grammatik

So manches Mal stehe ich trotz langer Jahre Textarbeit mit der deutschen Grammatik auf Kriegsfuß und habe nicht sehr viel Lust, mich eingehender damit zu befassen. Zu dröge sind die gängigen Grammatikbücher.

Auf der Frankfurter Buchmesse ist mir nun noch jedoch eine absolut sinnliche Variante in die Hände gefallen: Hunde im Futur der Geschwister Susanna und Johannes Rieder.
Ohne allzu lange theoretischen Erklärungen geht es mit den Illustrationen von Arinda Crăciun gleich zur Sache. Haptischer Clou auf jeder Doppelseite ist die zweigeteilte rechte Seite, die ausgeklappt wird. Sie fungiert quasi als Titelseite für ein neues Thema und durch das Aufklappen gelangt mensch beispielsweise zum Subjekt, zu den Pronomen oder dem Tempus.

Ausklappen macht neugierig

Die Worte, Sätze, Erklärungen mäandern dann durch die bunten Seiten, machen Singular und Plural deutlich, stellen die passenden Fragen zum Genus, zeigen den Unterschied zwischen Aktiv und Passiv.
Und so blättert mensch sich durch die Seiten, stellt fest, dass die schmale Mittelseite beim Umklappen perfekt zur Illu der Vorseite passt. Der buchherstellerische Aufwand (Carsten Aermes hat die Gestaltung übernommen) ist durchweg zu spüren und auch die große Liebe, die hier dem eigentlich trockenen Thema entgegen gebracht wird.

Lerneffekt garantiert

Junge Lesende, die noch am Anfang ihres Grammatik-Lernpensums stehen, werden spielerisch mit den Fachbegriffen konfrontiert und bekommen eingängige Erläuterung oder Beispiele. Auch der Hinweis, dass mensch beim Lernen von neuen Sprachen gewisse Dinge einfach auswendiglernen sollte, fehlt genauso wenig, wie die Tatsache, dass Sprache sich ständig verändert und eigentlich nie fertig ist – so wird auf die aktuelle Genderdebatte und die sich wandelnden Ausdrucksformen verwiesen.
Und auch Grammatik-Profis finden vielleicht noch die ein oder andere Neuigkeit. Für mich war es das wunderbare Wort »Wunschsatz« als Kategorie der Satzarten, der dann in Form eines Ausrufungszeichen mit Herz statt Punkt dargestellt wird.

Diversität in den Illustrationen

In den Illustrationen von Arinda Crăciun fällt aber nicht nur die anregende Verspieltheit auf, sondern auch die Diversität der Figuren. Da küssen sich zwei Männer, es gibt Menschen mit verschiedenen Hautfarben, mit und ohne Kopftuch, mit Kippa, alt und jung, alte Römer mit Hunden, eine Polizistin auf der Jagd nach Mister X. und Rosa Parks. Und natürlich Hunde aller Art, aber auch Hasen, Fische, Schmetterlinge und (Fleder-)mäuse. So mischen sich abstrakte Wissenseinheiten mit wimmelbildartigen Kunstwerken.

Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022

Zurecht war diese wunderbare Buch in diesem Jahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Und auch wenn es nicht gewonnen hat – der Preis für die Sparte Sachbuch ging an Der Duft der Kiefern vonBianca Schaalburg –, ist es ein Schatz, der das Zeug zum Dauerbrenner hat.
Für Kids, die beim Thema Grammatik das Gesicht verziehen, ist dieses Buch möglicherweise eine Hilfe und Augenöffner.

Susanna Rieder/Johannes Rieder: Hunde im Futur. Eine Grammatik in Bildern, Illustration Arinda Crăciun, Susanna Rieder Verlag, 2021, 128 Seiten, ab 8, 30 Euro

Faustdick hinter fluffigen Löffeln

Ein etwas morsches Schloss in den karpatischen Bergen. Zum Frühstück serviert der Butler Ringo dem leicht kauzigen Schlossherrn Mr. Constantin Tee mit Milch, Scones und Orangenmarmelade. Die Konversation besteht aus freundlichem und anerkennendem Brummen. Ringo ist ein eleganter mittelgroßer Windhund, ein sogenannter Whippet.
Das ist die grandiose Szenerie von Katja Spitzers Gruselgeschichte Ringo und die Vampirkaninchen. Die verheißungsvolle Mischung aus urbritischer Krimikonstellation und klassischem Vampirambiente entwickelt sich zum schaurig-schönem Vergnügen.

Anti-Aggressions-App leistet ganze Arbeit

Eines Tages bringt die Postbotin ein Paket mit Luftlöchern, raus hüpft ein flauschiges Kaninchen, das laut Begleitbrief den Namen Moffat trägt, aber nicht drauf hört. Fortan hat Mr. Constantin nur noch Augen für das Fellknäuel und verwöhnt es mit Leckereien, bettet es auf Seidenkissen, richtet ein plüschiges Zimmer mit Himmelbett und Schaukel ein, und sogar einem kleinen Whirlpool.
Für Ringo bleibt da kein Streicheln, kein nettes Wort, nicht mal ein anerkennendes Brummen. Da muss die Anti-Aggressions-App auf seiner Fitnessuhr ganze Arbeit leisten. »Whippets hassten Kaninchen, und Ringo war ein reinrassiger Whippet.«

Spitze Zähne und bizarre Tänze

Tatsächlich hat der »Flauschbruder«, ein whippettypisches spezielles Schimpfwort für Kaninchen, es faustdick hinter seinen fluffigen Löffeln. Ringo beobachtet nachts im Garten bizarre Rituale und Tänze marodierender Kaninchenhorden. Im Dunkeln blitzen unheimlich zwei zusätzliche spitze Zähne in den überhaupt nicht niedlichen Mäulchen auf. Vampire, eindeutig! Immerhin sind wir doch mitten in den Karpaten.
Und wer erinnert sich nicht an das kopfabbeißende Monster aus Monty Pythons Ritter der Kokosnuss?!
Es ist aber nicht alles so, wie es scheint. Und wie Kochkunst, gepaart mit exzessiv viel Knoblauch eine überwältigende, nicht nur Vampirkaninchen den Appetit verderbende Wirkung entfaltet, das erzählt Illustratorin Katja Spitzer in ihrem ersten selbstgeschriebenen Kinderbuch. Dazu hat sie auf den ersten Blick kindlich-einfache Bilder gemalt, die bei genauerem Hinsehen aber eine Fülle von Details, Anspielungen und kuriosen Überraschungen beinhalten.

Bezaubernder Grusel in Orange und Lila

Absolut außergewöhnlich und faszinierend ist Spitzers Farbwahl: Dominierend sind Orange und Lila, gelegentlich kontrastiert von Schwarz. Das gibt den Illustrationen eine mal fast schon zu idyllisch-warme, dann wieder gewittrig-kippende Stimmung. Ganz eindeutig – es liegt was in der Luft. Mit einem so bezaubernden Vampirkrimi kann man dem eindimensionalem Halloweenkommerz perfekt Paroli bieten.

Katja Spitzer: Ringo und die Vampirkaninchen, mairisch, 56 Seiten, 18 Euro, ab 6

Leben und leben lassen

Oar, Leute! Aber sonst geht’s euch gut, ja?!« Kaum im Waldkrankenhaus angekommen und die frische Schusswunde selbst (mit dekorativem Kreuzstich) vernäht, rettet durch verrückten Zufall ein Kaninchen dem Wolf das Leben. Und jetzt muss sich der coole Einzelgänger auf der Suche nach sichereren Jagdgründen um das kleine Beutetier kümmern. »Frag nicht, Wolfskodex«.

Furioses Road-Comic

Mit dem Kaninchen hat der Wolf gleich noch einen Infusionsständer, einen Koffer mit Medikamenten und einen langen Therapieplan im Schlepptau, das Kaninchen hat nämlich Krebs und fünf Monate Chemo vor sich. Und so macht sich das kuriose Duo auf einen Trip mit Tropf, wie Josephine Marks furioses Road-Comic heißt.

Stiernackige Motorradrocker und gutmütige Bärin

Stilecht bewegen sich die beiden erst im Pickup, zwischendurch auf Motorrad mit Beiwagen und schließlich zu Fuß auf Schleichwegen durch Wälder, an Flüssen entlang und über verschneite Bergketten. Sie begegnen üblen, stiernackigen Motorradrockern, gutmütigen Touristen, freundlichen Wolfkumpeln und einer gutmütigen Bärin – immer den fiesen Jäger und seinen ebenso unerfreulichen Hund im Nacken. Als wäre das nicht schon genug, verliert das kranke Kaninchen sein Fell, kotzt sich die Seele aus dem Leib und leidet unter Nasenbluten.

»Born to be wild«

Aber manchmal genießt das ungleiche Paar Verschnaufpausen in schäbigen Motels und einsamen Hütten. Sie futtern Chips und gucken Filme im Fernsehen. Oder singen laut und lustvoll die Hymne aller Abenteurer und Roadtrips »Born to be wild«. Josephine Marks Comic ist ein actionreiches, mitreißendes Feuerwerk an brenzligen Situationen, krassen Unfällen und wundersamen Wendungen. Es vibriert von Zitaten und Anspielungen.

Genervt, skeptisch, kaltschnäuzig

Am liebsten zeichnet Mark Wölfe – und das sieht man. Erstaunlich, wie dieses schmale, einfach konturierte, graue Wesen so viele Stimmungen, Launen und Gefühle zeigt. Also vor allem wirkt er genervt, ungeduldig, skeptisch, fassungslos, wütend, kaltschnäuzig. Auch mal wild und ausgelassen. Aber immer verbirgt sich dahinter unerschütterliches Verantwortungsgefühl und zupackende Hilfsbereitschaft für das Häuflein Elend, das der Wolf konsequent »Nager« nennt. Und ja: echte Zuneigung. Die Sache mit dem Wolfskodex hat wahrscheinlich eine sehr lange Geschichte, wie nicht nur die Bärin Beate vermutet.

Schönste und lebensbejahendste Antwort

Dazu passt auch die entzückende Schlussszene. Wolf und Kaninchen sitzen voll kitschig nebeneinander auf einem Findling auf einer Frühlingswiese und betrachten das gegenüberliegende Bergmassiv. Der Wolf macht einen vagen Vorschlag und stellt die Frage, die eigentlich in jeder Beziehung tabu ist und nur bei wirklicher Offenheit für jede Antwort gestellt werden sollte: »Was denkst du?«

Und das Kaninchen gibt die schönste, witzigste und absolut lebensbejahendste Antwort darauf, die man sich nur vorstellen kann. Aber die wird hier natürlich nicht verraten.

Josephine Mark: Trip mit Tropf, Kibitz, 192 Seiten, 20 Euro, ab 12

Klassischer Grusel in kindgerechtem Gewand

Sandmann

Dieser Tage habe ich eine literarische Zeitreise in meine Studienzeit gemacht, als ich vor mehr als 30 Jahren im germanistischen Seminar in Hamburg E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann analysiert habe. Das gelbe Reclam-Heftchen mit meinen Anmerkungen und Anstreichungen ist fast ein kleines Kunstwerk.
Auslöser für diese Wiederlektüre ist die Neuerzählung der romantischen Geschichte durch Anna Kindermann, passend zum 200. Todestag des Schriftstellers am 25. Juni. In ihrem gleichnamigen Verlag wird seit Jahren Weltliteratur für Kinder aufs Schönste aufbereitet. Beim Sandmann allerdings habe ich mich anfangs erstaunt gefragt, ob so eine düster-gruselige Geschichte für Kids überhaupt sinnvoll ist.

Tiefenpsychologische Romantik

Im Sandmann kämpft die Hauptfigur Nathanael nämlich im Grunde gegen eine frühkindliche Traumatisierung, verliebt sich in einen Automatenfrau und wird von unerklärlichen Figuren in seinem Umfeld in den Wahnsinn getrieben. Die Sache geht bekanntermaßen nicht gut aus.
Kindermann schafft es jedoch, die komplexe Geschichte, an der sich Heerscharen von Literaturwissenschaftler ihre grauen Interpretationshirnzellen zermartern, in eine rasant lesbare Story zu bringen, deren Knalleffekte und Twists fast mehr an großes Actionkino erinnern, denn an ein tiefenpsychologisches Drama. Überspitzt gesagt.

Unzählige Deutungsmöglichkeiten

Natürlich ist der Sandmann zutiefst psychologisch und überaus rätselhaft: Sind die Figuren vom Advokaten Coppelius und dem Wetterglashändler Coppola identisch? Gibt es den Sandmann vielleicht doch wirklich? Warum spielen die Augen so eine große Rolle? Warum liebt Nathanael Olimpia mehr als Clara? Und wieso merkt er nicht, dass Olimpia ein Automat ist?
Letzteres lässt mich heute aus Frauenperspektive aufhorchen: Männer mögen wortkarge Frauen also lieber, die ihren Kerlen aufmerksam zuhören, ohne zu stricken oder mit dem Schoßhündchen zu spielen, und nur mit »Ach, ach!« antworten. Die handfeste, hellsichtige Clara mit ihrer klaren Deutung von Nathanaels Zuständen ist schon damals (in Hoffmanns Original) viel zu selbstbewusst, um den tragischen Helden dauerhaft an sich binden zu können. Ziemlich hellsichtig, dieser E. T. A., schon vor mehr als 200 Jahren.

Kindgerecht neuerzählt

Kindermann lässt plot-technisch nichts aus, doch sie glättet gar zu gruselige Szenen – beispielsweise wenn die alte Kinderfrau im Original, den Sandmann, der so gar nichts mit dem TV-Sandmännchen zu tun hat, drastisch schildert: »Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.« Die in Kindermanns genutzten Originalzitate sind kursiv gedruckt und in diesem Fall endet es nach den »Händevoll Sand in die Augen«. Das macht die Lektüre für junge Leser ab zehn Jahren erträglich – und trotzdem gruselig-spannend.

Heimelige Illus

Zu dem Wohlfühl-Gruseln tragen dann die Illustrationen von Dorota Wünsch ihren Teil bei: Sie sind farblich eher abgetönt und erdig gehalten, versprühen also nicht gerade Fröhlichkeit, verstören aber auch nicht. Frackschöße und Krinolinenkleider versetzen das Publikum viel mehr in die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts, als Alchemie und Automaten der letzte Schrei waren, aber auch damals schon der Kampf ums Urheberrecht (wer ist der eigentliche Schöpfer von Olimpia: Coppola oder Spalanzani?) im Gang war.

Verführung zur Weltliteratur

Okay, die Interpretationsansätze für den Sandmann sind vielfältig, und jede:r von uns wird sich bei der Lektüre etwas Eigenes denken. Für lesebegeisterte Kinder ist die Version von Anna Kindermann ein gelungener Einstieg in die Gruselliteratur der schwarzen Romantik und regt so vielleicht die Neugierde auf die Klassiker der Weltliteratur.

E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann, neu erzählt von Anna Kindermann, Illustrationen: Dorota Wünsch, Kindermann Verlag, 2022, 40 Seiten, 18 Euro

Strudel und Stromschnellen

Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss – kann sein, zumindest ist das der Titel einer reizenden, philosophischen Verwechslungskomödie um eine liebevoll chaotische Proletarierfamilie und einem gefühlskalten Bildungsbürgerhaushalt.
Sprache und Sprechen sind aber wilde Gewässer voller Stromschnellen, Turbulenzen und Untiefen. Das erfährt der elfjährige Billy Plimpton drastisch und tagtäglich in Helen Rutters  mitreißenden und extrem (wort-)witzigen Roman. Solange sich Billy erinnert, hat er gestottert. Er braucht einfach unheimlich lange, oft zu lange für die die Geduld seiner Zuhörer, um auch nur ein paar Worte, geschweige denn zusammenhängende Sätze rauszubringen.

Stotterer und Stand-up-Comedian

Deshalb sieht er seinen Schulwechsel nach der Grundschule als Chance. Bewusst will er auf die Schule, gegen die sich fast alle seiner bisherigen Mitschüler entschieden haben. Billy beschließt, einfach gar nichts zu sagen. Selbst morgens beim Abhaken der Anwesenheitsliste drückt er sich mit einem heiseren Räuspern darum, seinen Namen stotternd preis zu geben.
Tragisch ist, dass Billy großen Spaß an Sprache hat. Er liebt Witze, die klug und gewitzt mit Wortspielen arbeiten. Und er träumt davon, eines Tages als Stand-up-Comedian auf der Bühne zu stehen und das Publikum in seinen Bann zu ziehen und vor Lachen von den Stühlen zu hauen. Leider ist hier Timing alles – der Sprachfluss muss geschickt gelenkt werden, anfangs flott und widerstandslos fließend, dann kurz an- und innegehalten, um sich dann überraschend mit voller Wucht Bahn zu brechen und mitzureißen.

Ermutiger, Gedankenleser und Abwartende

Billy kennt aber kein begeistertes Publikum, das an seinen Lippen klebt – seine Zuhörer sind ganz andere Typen: Das sind die Ermutiger, die mit gutgemeinten, aber nutzlosen Vorschlägen wie »Hol erst mal tief Luft« und »Bleib ganz locker« das Gegenteil bewirken. Oder die Gedankenleser, die vermeintlich netterweise die Sätze vervollständigen. Am ärgerlichsten findet Billy die Scherzbolde, die zum Spaß sein Stottern nachäffen. Da sind ihm die Abwartenden noch am liebsten, »die so lange zuhören, bis ich zum letzten Wort eines Einzeilers komme«. Und jüngere Kinder wie die Freundin seiner kleinen Schwester, die direkt fragen, warum er so komisch spricht, die Antwort wertfrei und kommentarlos akzeptieren und über Billys Witze lachen.

Der Mobber macht einen richtig guten Job

Leider gibt’s auch richtig üble Typen, wie den grobschlächtigen neuen Mitschüler, nicht die hellste Kerze auf der Torte, nicht mal gut in Sport, dafür um so fieser. »Er macht einen richtig guten Job als Mobber«, wie Billy sarkastisch anerkennt. Der zierliche Junge lässt die Demütigungen über sich ergehen, weil er fürchtet, dass alles noch schlimmer wird, wenn er sich jemandem anvertraut. Und es gibt immer noch genügend Schönes in Billys Leben. Er hat eine liebevolle Familie. Er findet richtige Freunde an der neuen Schule. Sein Klassenlehrer ermutigt Billy auf unterschiedliche Weise, erkennt sein gutes Gespür für Rhythmus und bringt ihm nicht nur Schlagzeugspielen bei.

Billy Plimpton ist so viel mehr

Billy glaubt, dass alles gut und er ein ganz anderer wird, wenn er sein Stottern loswird, koste es, was es wolle. Dabei macht so viel mehr Billy Plimpton aus. Das wird nicht nur ihm in Helen Rutters turbulenten, wundervollen, teils irre komischen und manchmal herzzerreißend traurigen Geschichte klar. Henning Ahrens hat diese unwiderstehlich fließend und einfühlend übersetzt.

Wenn »Ich heiße Billy Plimpton« zweifellos das witzigste Buch zum Thema Stottern ist, dann ich »Ich bin wie der Fluss« das schönste, ja, sogar das poetischste.
Der kanadische Dichter Jordan Scott erzählt von seinem lebenslangen Kampf gegen das Stottern. An einem besonders schlimmen Tag, als die ganze Klasse Jordan anglotzt, auf seinen Mund starrt, alle kichern, ihn auslachen, seine Angst sehen und nichts verstehen, macht sein Vater mit ihm einen Ausflug. »Er legt einen Arm um mich, zeigt auf den Fluss und sagt: ›Siehst du das Wasser? Wie es sich bewegt? Das ist, wie du sprichst. Das bist du.‹«

Es sprudelt, wirbelt, gischtet, drängt vorwärts

Und da versteht Jordan. Er sieht das Wasser wie es sprudelt, wirbelt, gischtet, vorwärtsdrängt. Und auf dem Weg zur Mündung einige Hindernisse überwinden muss. Und er lässt sich treiben und tragen vom Fluss. »Und ich denke an den stillen, ruhigen Fluss hinter den Stromschnellen, wo das Wasser weich und sanft schimmert. Der Fluss ist wie ich. So spreche ich. Auch der Fluss stottert. Wie ich.«
Mit wenigen Worten beschreibt Jordan Scott umso vielsagender die Gefühle derer, die mit dem Sprechen hadern. Was es mit einem macht, wenn man schon beim Aufwachen den Klang von Wörtern hört, die man nicht sagen kann. Wenn man fast erstickt an all dem Unausgesprochenem. Wenn man schweigt, weil man kein Wort rausbringt. Schöner hat kaum jemand den Begriff Sprachfluss in Wortbilder verwandelt.

Metapher in bezaubernde Bilder übersetzt

Sydney Smith hat die Metapher des Flusses und Fließens in fantastische und berauschende Bilder übertragen. Die Einsamkeit des schweigenden Kindes, die Mitschüler, die vor seinen Augen zu amorphen Masse verschwimmen, wie er selbst sich immer grotesker vorkommt. Und dann in großen Panoramen, satten, natürlichen Farben und funkelnden Lichtreflexen der Fluss, die Natur. Und das Kind, wie es versteht und sich darauf einlässt und eins wird mit dem Wasser.
Es ist eine ganz besondere Bildsprache, die die Kinderbücher des kanadischen Illustrators und Kinderbuchautors Sydney Smith auszeichnen. Da ist nichts Niedliches und Kindliches an seinen Aquarellen und vielschichtigen Gemälden. Smith‘ Bilder sind durchdrungen von einer betörenden Ruhe und Kraft. Ob er einem Kind auf der Suche nach seiner Katze durch die Stadt folgt wie im bezauberndem Unsichtbar in der großen Stadt. Oder sich tief unter Tage vergräbt wie im beeindruckenden Stadt am Meer – seine Bilder faszinieren und sprechen einen auf ganz besondere Weise an.

Helen Rutter: Ich heiße Billy Plimpton, Übersetzung: Henning Ahrens, Atrium, 288 Seiten, 15 Euro, ab 11 Jahren

Jordan Scott, Sydney Smith (Illustrationen): Ich bin wie der der Fluss, Übersetzung: Bernadette Ott, Aladin, 44 Seiten, 18 Euro, ab 5 Jahren

Gefährliche Comics

Comics

Als Kind habe ich einer Mitschülerin ein paar Comics geliehen, vor allem Asterix-Bände, darunter auch ein oder zwei englischsprachige, die uns Geschwistern die englische Freundin meiner Mutter geschenkt hatte. Ich habe die Comics nie wiedergesehen. Nach einiger Zeit gestand mir das Mädchen, dass ihre Mutter die Hefte bei ihr entdeckt und weggeworfen hatte. Natürlich habe ich mich ziemlich geärgert. Und meine Freundin tat mir auch leid.
Vor allem aber war ich fassungslos, wie jemand Bücher, noch dazu Asterix-Geschichten, die doch auch von Erwachsenen gelesen werden, wegwerfen konnte!
Vielleicht hat sie geahnt, wie gefährlich Comics sein können. Das Lesen der bunt illustrierten Bildergeschichten mit den Sprechblasen kann nämlich zum eigenständigen Denken anregen.

Verführung zum zivilen Ungehorsam

Comics hinterfragen Vorurteile. Sie erweitern den Horizont. Und womöglich verführen sie zum zivilen Ungehorsam. So wie die beiden umwerfenden Kindercomics Herr Elefant & Frau Grau gehen in die große Stadt und Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde.
Die ungewöhnliche Paarung mit Landfluchttenzenz haben sich Martin Baltscheit,  Grandseigneur tierisch kluger Kindergeschichten (Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte) und der mindestens ebenso tiervernarrte Illustrator Max Fiedler ausgedacht.
Jeder Tag beginnt mit Fressen und Gefressenwerden, wie gleich in einer sehr lustigen, zweiseitigen Bilderfolge gezeigt wird. Aber nicht nur: Im Licht der aufgehenden Sonne erlebt man, wie der Elefant und Frau Grau erste zarte Bande spinnen. In schüchternen  Dialoge mit sich munter türmenden Sprechblasen landen sie beim gemeinsamen Du: Horst und Elvira.

Ein Liebesbeweis als onomatopoetisches Feuerwerk

Ganz en passant ein entzückender Liebesbeweis am Wasserloch, als ein Krokodil mit Frühstückshunger aus dem Wasser auftaucht.
Hier zündet auf zwei Seiten ein onomatopoetisches Feuerwerk. Mit PFLATSCH, BATSCH und FFFFITSCHHHHHHHHHHH setzt Herr Elefant das Riesenreptil außer Gefecht und schleudert es weit in die Savanne.
Das Besondere: Frau Elvira Grau ist eine Antilope. Das ist für die beiden Verliebten gar kein Thema. Für viele andere aber schon. Zum Beispiel das Gnu, das sein Weltbild aus bei den Rangern mitgeguckten TV-Serien herleitet. Und für die albernen Fotosafaritouristen. Der erste zarte Kuss geht gleich viral.

Individuelle Wasserlöcher und Uuuuu-Bahnen

Dabei bleibt ein merkwürdiger, flacher, sprechender Käfer namens Siri auf der Strecke. Der bringt das Liebespaar auf die Idee, ihr gemeinsames Glück in der Stadt zu versuchen. Zu Städten mit riesigen Termitenbauten, Wasserlöchern für jeden einzelnen und Regenschauern wann immer man will, Aufzügen und Uuuuuu-Bahnen, vor allem zu ihren Bewohnern, den haarlosen Affen, gibt’s dann viele Meinungen und Ansichten. Und noch mehr sehr witzige und anspielungsreiche Bilder. Ob es in der Stadt – Siri hat Hamburg vorgeschlagen – wirklich so aussieht, das erfährt man dann vielleicht im nächsten Band.

Comics

Schlaue, lebenskluge Tiere spielen auch eine wichtige Rolle in Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde der lettischen Illustratorin Elina Braslina. Jakob wird vorübergehend bei seiner Cousine Mimi und ihrem Vater Falk einquartiert. Die wohnen im schraddeligen, runtergekommenen und bunten Viertel Maskatschka. Jakob dagegen kommt aus Rigas schickem, modernem Zentrum. Anfangs sind sich die beiden gar nicht grün, nicht nur, weil sie aus verschiedenen Welten kommen.
Auch das Rudel Hunde, das durch die Maskatschka – heißt übersetzt »Moskauer Vorstadt« – stromert, ist auf Menschen im allgemeinen und die – wie sie finden – »zickige Mimi« im besonderen nicht so gut zu sprechen. Aber plötzlich rücken Bagger und Betonmischer der Baufirma Raffke an. Alle Bäume im Park sollen gefällt werden und Wolkenkratzer inmitten der alten Holzhäuser hochgezogen werden. Nur gemeinsam können sie die Maskatschka retten.

Die Kraft von Bildern und Plänen

Dieser auf einem Zeichentrickfilm basierender Kindercomic ist eine entzückende Entdeckung des Reprodukt-Verlags. Einerseits ist es eine sehr charmante, geradezu klassische Kinder-Heldengeschichte, in der Zusammenhalt, Mut und Fantasie schließlich gewinnen. Die manchmal gefährliche Kraft von Bildern und Plänen spielt auch eine Rolle. Erzählt wird sie in lebendigen, liebevoll ausgestalteten und sehr schön kolorierten Panels.
Das bunte, dynamische Abenteuer erklärt auch das sehr gegenwärtige Problem der Gentrifizierung – dem Wandel von Städten, der Macht des Kapitals und die Verdrängung aller, die nicht so viel Geld haben. Aber mit Vielfalt, Kreativität und Solidarität kann der Trend zu überteuerten, seelenlosen und anonymen Städten gestoppt werden. Nicht nur in diesem zauberhaften Comic.

Martin Baltscheit, Max Fiedler (Illus.): Herr Elefant & Frau Grau gehen in die große Stadt, Kibitz Verlag, 64 Seiten, 14 Euro, ab 6

Elina Braslina: Mimi, Jakob und die sprechenden Hunde, Übersetzung: Matthias Knoll, Reprodukt, 80 Seiten, 14 Euro, ab 6