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Von alten Wunden

erbsensuppe

Ich liebe dieses Buch. Das muss ich dieses Mal wirklich als erstes raushauen. Vielleicht bin ich befangen, weil hier ein Thema behandelt wird, dass ich aus meiner Familie sehr gut kenne.
Denn Rieke Patwardhan erzählt auf eine wunderbar entspannte Art von den (Spät-)Folgen einer Flucht. Etwas, an das man zunächst nicht unbedingt denkt, wenn Nils, Evi und Lina eine Detektivbande gründen und einen spannenden Fall lösen wollen.
Eigentlich passen die drei kaum zusammen: Nils ist ruhig und ausgleichend, Evi impulsiv und spontan, und Lina kommt als Neue in die Klasse. Sie ist mit ihrem Vater aus Syrien geflohen und soll nun „integriert“ werden. Doch das gerät ganz schnell in den Hintergrund, denn Lina kann bereits ziemlich gut Deutsch, ist nicht auf den Kopf gefallen und war schon in ihrer Heimat in einer Detektivbande.

Ein Fall muss her

Umso spannender wird es für die drei, als sie merken, dass bei Nils Großeltern, wo die Bande regelmäßig mittags essen kann, etwas nicht stimmt. Immer öfter gibt es angebrannte Bratkartoffeln, weil Opa kochen muss. Oma hat dafür nämlich keine Zeit mehr, denn sie sitzt die meiste Zeit vor dem Fernseher und schaut deprimierende Nachrichten. Wenn sie das nicht tut, geht sie mit Opa einkaufen – allerdings nicht die üblichen Sachen, sondern Erbsensuppe in der Dose, und zwar in solchen Massen, dass irgendwann die ganze Wohnung mit den Dosen vollgestellt ist.
Als Oma auch noch einen großen Koffer mit Winterkleidung, Decken und Kochgeschirr packt, beschließen Nils, Evi und Lina ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Von der Gegenwart in die Vergangenheit

Patwardhan schafft es mit einem Generationsbogen von Großeltern zu Enkel, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verbinden. Lina als Geflüchtete der Gegenwart erinnert die Großeltern an die eigene Kindheit kurz nach dem zweiten Weltkrieg, als Flüchtlinge aus Ostpreußen bei Familien im Westen einquartiert wurden. Da die Großeltern nicht viel von den schrecklichen Zeiten erzählen, und die Kinder erst einmal auch keinen Grund sehen, intensiver nachzufragen, bleiben wichtige Informationen zunächst ungesagt.
Als erwachsene_r Leser_in ahnt man natürlich rasch, was den Großeltern zugestoßen ist, doch junge Leser_innen können hier auf fast spielerische Art dem Trauma der Großeltern-Generation auf die Spur kommen – ohne selbst traumatisiert zu werden.

Von alten und neuen Traumata

Die Autorin baut eine Brücke zwischen den Ängsten der aktuell Geflüchteten – wenn Lina fürchtet, etwas Illegales zu tun und dann womöglich abgeschoben zu werden – und den tiefsitzenden Traumata der Kriegskinder von damals, die bekanntermaßen auch ein knappes Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende wieder hervorbrechen können – wie bei Nils‘ Großmutter.
Und so entsteht plötzlich ein Verständnis für die anderen, die Alten und die Menschen aus aktuellen Krisengebieten, bei den Figuren im Buch – und hoffentlich auch bei den Lesenden.

Generationskommunikation

Das Schöne an Forschungsgruppe Erbsensuppe ist aber auch, dass Linas Status als Geflüchtete im Laufe der Geschichte schon fast in den Hintergrund rückt. Sie ist selbstverständliches Mitglied der Bande, hier wird nicht auf irgendeine Tränendrüse gedrückt, weil die Zustände im Flüchtlingsheim möglicherweise ganz klischeemäßig fürchterlich sind. Das alles jedoch, ohne den unsäglichen Zustand von Duldung herunterzuspielen. So eine Darstellung ist immer eine Gratwanderung, hängen doch menschliche Schicksale daran, aber Patwardhan gelingt dieser Spagat.
Und so liefert sie eine Geschichte Anregungen in vielen Richtungen: Die Kommunikation unter den Generationen weiter fördert. Denn vermutlich werden nach der Lektüre die Kinder erst einmal ihre Großeltern über deren Kindheit befragen. Was beiden Seiten nur guttun kann, wenn die Jungen begreifen, was die Großeltern als Kinder durchgemacht haben, welche Schicksalsschläge sie geprägt haben.
Die Kinder, die von diesen Erfahrungen wissen, können dann vielleicht in der Gegenwart geflüchtete Mitschüler viel selbstverständlicher in ihre Cliquen aufnehmen und ihnen das Leben in einer neuen Heimat etwas leichter machen.

Rieke Patwardhan: Forschungsgruppe Erbsensuppe oder wie wir Omas großem Geheimnis auf die Spur kamen, Illustration: Regina Kehn, Knesebeck Verlag, 2019, 144 Seiten, ab 8, 13 Euro

Großmutters Geheimnis

warschauErben ist eine heikle Sache. Besonders, wenn es sich um alten Besitz aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg handelt. Das muss die junge Mika feststellen, die in der Graphic Novel Das Erbe der Israelin Ruth Modan, feinfühlig von Gundula Schiffer aus dem Hebräischen übersetzt, mit der Großmutter Regina von Israel nach Warschau reist.

Beide haben einen Verlust erlitten. Zwei Monate zuvor ist Mikas Vater, Reginas Sohn, an Krebs gestorben. Nun will sich die Großmutter endlich um den ehemaligen Besitz, den ihre jüdischen Eltern im Krieg zurücklassen mussten, wiederholen. Angeblich hat sie auch schon einen Termin bei einem Anwalt, der sich um die Angelegenheit kümmert. Doch Genaues sagt sie Mika nicht. Nach der Ankunft im Hotel überkommt die Großmutter eine scheinbar plötzliche Anwandlung, das Erbe doch nicht haben zu wollen. Mika ist ratlos, ob des Sinneswandels und der Sturheit der alten Dame. Mika stibitzt sich das Anwaltsschreiben und sucht den Rechtsanwalt auf. Währenddessen geht die Großmutter ihre eigenen Wege in der Stadt und macht sich auf die Suche nach ihrer Jugend.

Rutu Mordan erzählt im Ligne-Claire-Stil auf eine feinsinnig verwobene Art die Geschichte von Regina, die zwar im Warschauer Ghetto gelebt hat, aber den Schrecken der Naziverfolgung entkommen ist – auf Kosten ihrer großen Liebe. In Erinnerungsrückblenden erfährt der Leser von Reginas Schicksal.
Dem gegenüber stehen die Erlebnisse von Mika im Warschau von heute. Sie lernt einen jungen Comiczeichner kennen und lieben, erlebt ein historisches Rollenspiel für Touristen, in dem die Deportation der Juden aus dem Ghetto nachgespielt wird, und muss sich mit einem israelischen Bekannten rumschlagen, der ein Auge auf Mikas Tante Zilla und das Erbe geworfen hat.
Modan geht es dabei nicht um eine weitere Darstellung des Holocaust à la Maus von Art Spiegelman. Sie verweist mit Humor und Ironie auf die heutigen Auswirkungen der Nazizeit sowohl auf die Polen als auch die Israelis. Da trifft die Sehnsucht der Israelis nach der alten Heimat auf die Angst der Polen vor den jüdischen Besitzansprüchen. Sie zeigt den gesellschaftlichen Umgang mit Erinnerung – das Flugzeug aus Israel ist voll mit Schulklassen auf Exkursion zum „grausigsten“ KZ, in Warschau braucht die Internetgeneration authentische Action – und stellt ihn damit gleichzeitig in Frage.

Die Verbindung der Vergangenheit mit den persönlichen Geschichten von Großmutter und Enkelin offenbart dann jedoch die Kraft der Liebe zwischen den Menschen. Diese Liebe überdauert in manchen Fällen auch Jahrzehnte der Trennung oder entflammt in kürzester Zeit – als stärkstes Zeichen der Zusammengehörigkeit und Versöhnung, jenseits von Erbschaftsansprüchen.

Rutu Modan: Das Erbe, Übersetzung: Gundula Schiffer, Carlsen, 2013, 224 Seiten, 24,95 Euro