Über Ulrike Schimming

Ulrike Schimming übersetzt Literatur – von Kinder- und Jugendbüchern bis zu Graphic Novels und Comics – aus dem Italienischen und Englischen und arbeitet als freie Lektorin. Dieses E-Magazin entstand aus ihrer Arbeit für die Jugendzeitschrift stern Yuno. Hier stellt sie Neuerscheinungen oder Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur vor, Graphic Novels oder Buch-Perlen, denen sie ein paar mehr Leser wünscht. Weitere Infos zu Ulrike Schimming finden Sie unter www.letterata.de

Die Vielfalt der italienischen Kinder- und Jugendliteratur

Nachdem 2024 Italien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war, habe ich mir mal wieder die Kinder- und Jugendliteratur angesehen, die seit 2021, als ich zuletzt hier darüber berichtet habe, im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Es hat sich wider erwarten doch so Einiges getan, und ich bin erstaunt, was sich wieder alles finden ließ. Und vor allem, wie vielfältig die Publikationen sind, die aus Italien zu uns kommen.
Dieses Mal sind mir sogar Bücher für die ganz Kleinen untergekommen – inklusive einem Badebuch, das die Farben wechselt.
Erstaunlich ist die Vielzahl an Bilderbüchern, im Gegensatz zu recht wenigen erzählenden Kinder- und Jugendbüchern. Die Universalität von Bilderbuch-Geschichten spielt dabei sicherlich eine entscheidende Rolle, sind sie doch nicht an Italien und italienische Lebensverhältnisse gebunden, wie es in Kinderbüchern oftmals der Fall ist.
Erstaunlich finde ich zudem, dass so einige Bücher, deren Autor:innen oder Illustrator:innen zwar aus Italien kommen, nicht aus dem Italienischen, sondern aus dem Englischen oder Französischen übersetzt worden sind. In einem Fall dürfte es sich definitiv um Stille-Post handeln, was in Übersetzendenkreisen nicht gern gesehen ist. Manchmal sind die Titel jedoch tatsächlich ursprünglich in den anderen Ländern erschienen.

Die Reihenfolge, in der ich die Bücher hier vorstelle, ist rein zufällig und hat nichts mit Wertung oder meinen persönlichen Vorlieben zu tun. Auch ist dieser Beitrag sicherlich nicht vollständig.
Falls hier Verlage mitlesen: Ich freue mich über Hinweise und/oder Rezensionsexemplare von fehlenden Büchern aus Italien.
Im Laufe des nächsten Jahres werde ich die Neuerscheinungen aus Italien kontinuierlich sammeln und nehme Hinweise zu Erscheinungen sehr gern entgegen.

Und nun viel Spaß beim Entdecken!

Bilderbücher

Den Auftakt bei den Bilderbücher macht natürlich der Klassiker Pinocchio von Carlo Collodi. Eigentlich müsste ich diese beiden Versionen in meinen Pinocchio-Post einbauen, aber auch hier sollte die Langnase einfach nicht fehlen.

Dieses annähernd quadratische Pappbilderbuch bringt selbst den Allerkleinsten schon den italienischen Klassiker schlechthin näher. Der minimalistisch gezeichnete Pinocchio mit den dicken schwarzen Umrandungslinien und den knalligen Farben ist total knuffig. Trotz der extrem verkürzten Texte sind die wichtigsten Eckpunkt der Geschichte drin: Gepetto, die sprechende Grille, Fuchs & Wolf, Kerzendocht, der Wal. Designtechnisch ist das eine der tollsten Pinocchio-Ausgaben und erinnert mich an den Stil von Dick Bruna, z. B. Das Fischlein.

Attilio Cassinelli: Pinocchio, Ü: Vivien Danne, Insel Verlag Anton Kippenberg, 2022, 44 Seiten, 9,95, ab 1

Diese weitere Pinocchio-Pappe kommt hingegen extrem reduziert daher: Pinocchio läuft aus der Schule weg ins Spielzeugland, wird in einen Esel verwandelt und vom Wal verschluckt. Clou ist hier, dass bei diesem Mach-mit-Märchen auf jeder Seite kleine Finger einen Schieber betätigen können, die die Illus von Pinocchio verändern und ihm beispielsweise die lange Nase oder Eselsohren wachsen lassen. Als erste Annäherung an diesen Literaturklassiker durchaus akzeptabel.

Pinocchio, Illus: Tiago Americo, Ü: Susanne Schmidt-Wussow, Auzou, 2022, 12 Seiten, 12 Euro, ab 1

Eine der wohl produktivsten Illustratorinnen ist Agnese Baruzzi. Sie hat in diversen Verlagen veröffentlicht und tauchten unten bei den Sachbüchern auch noch mal auf. Nur ist ihr Name nicht so richtig bekannt – wie ich finde. Das mag vielleicht an diesen Gebrauchsbilderbüchern für die ganz Kleinen liegen.

Ein Badebuch hatte ich hier auf diesem Blog auch noch nie. Aber Agnese Baruzzi hat auch dafür etwas entworfen. Auf sechs gepolsterten Plastikseiten tummeln sich kleine Tier auf schwarzem Untergrund. Jeweils zwei gereimte Verse gibt es dazu: »Die Krabbe winkt, schickt einen Kuss/ und verwandelt sich in einen Oktokpus!« Ganz stimmt der Rhythmus zwar nicht, aber das ist wohl etwas pingelig von mir. Jedenfalls war ich zuerst etwas verwirrt, bis ich begriff, dass die schwarzen Seiten sich im warmen Wasser in weiße verwandeln und die größeren Tiere zum Vorschein kommen. Den Badespaß kann ich mir lebhaft vorstellen.
In der Produktbeschreibung heißt es zwar: » Hinweise zum Material: Das Produkt enthält keine Phthalate und Schadstoffe …« – aber ehrlich: das Plastik stinkt erbärmlich und nicht besonders gesund. Vielleicht dünstet das irgendwann aus, aber so lange würde ich das keinem Kind ins Bad tun. Sorry.

Agnese Baruzzi: Kleine Fische, ohne Übersetzernennung, minedition, o.J., 6 Seiten, 14 Euro, ab 1

Die Kleine Raupe Nimmersatt mal umgekehrt. Hier begleiten wir keine Raupe, sondern bekommen lauter angeknabbertes Gemüse und Obst präsentiert. Da sind Löcher im Mais und im Salat, der Käse ist angebissen und auch den Karotten fehlen Stücke. Hinter den entsprechend ausgeschnitten Seiten, finden sich die hungrigen Geschöpfe, Huhn, Hase, Maus und auch eine Raupe. Sie alle machen dem Kind auf der letzten Seite Lust, ebenfalls Karotten, Äpfel und gesunde Sachen zu essen. Schön, wenn das im echten Leben wirklich so einfach und spielerisch klappen würde …
Auch hier bleibt die Übersetzerin leider ungenannt.

Agnese Baruzzi: … und was isst du?, minedition, 2024, 26 Seiten, 14 Euro, ab 3

Die Pappbücher Mein Zahlenbuch und Mein Farbenbuch sind vom Prinzip identisch aufgemacht. Auf jeder Doppelseite werden zwei Zahlen (von 1-10) oder zwei Farben vorgestellt. Durch einen Schieberegler verändert sich in einem Kasten das Bild, gibt entweder die nächst höhere Zahl frei oder zeigt eine andere Farbe. Für die kleinsten Leser:innen ein Spaß, der die Motorik fördert und Lerneffekte garantiert.
Ich frage mich nur, warum überall im Netz Gabriele Clima als Autor angegeben ist, nur auf den Büchern findet sich kein Hinweis auf ihn. Dort wird nur die Illustratorin Agnese Baruzzi genannt.

Gabriele Clima: Mein Zahlenbuch, Illus: Angese Baruzzi, Ü: Igna Gantschev, minedition, 2024, 12 Seiten, 14 Euro, ab 3
Gabriele Clima: Mein Farbenbuch, Illus: Angese Baruzzi, Ü: Igna Gantschev, minedition, 2024, 12 Seiten, 14 Euro, ab 3

Eine weitere sehr produktive Illustratorin und Autorin ist Marianna Coppo, von der mindestens drei Bücher erschienen sind.

Eine Glühbirne als Hauptfigur gibt es vermutlich in keinem anderen Buch. Aber der großartigen Marianna Coppo gelingt es auch mit so einer Protagonistin, eine entzückende Geschichte zu erzählen. Ray, die Glühbirne, hängt eigentlich in einer Abstellkammer. Zuvor war sier schon mal im Wohnzimmer oder auch im Badezimmer, was nicht so toll war. In der Rumpelkammer kennt Ray alles, hat alles gezählt – auf 41 Dinge ist sier gekommen. Doch eines Tages geht es mit Vater und Kind hinaus in die Natur und auf den Campingplatz. Dort lernt Ray die größte Glühbirne der Welt kennen … und sieht, zurück in der Abstellkammer, siere Welt mit ganz anderen Augen. Ein absolutes Pladoyer, die Welt vor unserer Haustür zu erkunden und sich überraschen und bereichern zu lassen.
Das einzig Verwunderliche für mich als Übersetzerin ist jedoch, dass diese Geschichte aus dem Englischen übersetzt wurde und nicht aus dem Italienischen …

Auch einen Kieselstein zum knallharten Protagonisten zu machen ist ungewöhnlich. Titelfigur Steinchen jedenfalls ist unerschütterlich. Nichts bringt es von seinem angestammten Platz weg, weder Wind noch Zeit. Steinchen hält sich für ein furchtloses Riesengebirge. Doch das ändert sich, als eines Tages ein Hund auftaucht und Steinchen in die Welt hinausbefördert. Jetzt beginnt Steinchen zu überlegen, was es alles so sein könnte: ein feuerspuckender Drache, ein Smoking tragender Pinguin, auf jeden Fall etwas ganz Besonderes … und das findet die Leserschaft dann am Ende selbst heraus und wird mit Sicherheit anfangen Steinchen zu sammeln und sie in etwas ganz Eigenes verwandeln.

In …aber wo ist die Geschichte? bevölkern fünf Figuren eine weiße Doppelseite. Und warteten. Nur auf was? Irgendwann sagte eine, sie müssten auf die Geschichte warten. Doch das wird dann dem Häschen zu langweilig. Und während vier weiter warteten und sich über die Unpünktlichkeit und das Wetter aufregen, fängt Häschen an, auf den linken Seiten etwas zu zeichnen. Erst nur ganz klein, von Seite zu Seite dann immer größer und bunter. Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf und erinnert die Betrachtenden daran, dass Jammern nichts nützt und man die Sache vielleicht besser selbst in die Hand nimmt.

Marianna Coppo: Ray. Die Abenteuer einer wissbegierigen Glühbirne, Ü aus dem Englischen: Katharina Naumann, Atrium, 2021, 48 Seiten, 13 Euro, ab 4
Marianna Coppo: Steinchen, Ü: Ulrike Schimming, Bohem, 2022, 48 Seiten, 15 Euro, ab 4
Marianna Coppo: … aber wo ist die Geschichte?, Ü: Ulrike Schimming, Bohem, 2022, 48 Seiten, 18 Euro, ab 4

In Zusammen können wir fliegen treffen die Erzfeinde Schaf und Wolf aufeinander. Doch von Feindschaft keine Spur. Das Schafmädchen beobachtet die Vögel am Himmel und träumt davon, die Welt von oben zu betrachten. Schon läuft sie zu ihrem Freund Wolf und überredet ihn, ein Fluggerät zu bauen. Gemeinsam planen, entwerfen und bauen sie. Doch sie benötigen drei Anläufe, bevor sie wirklich in den Himmel aufsteigen können.
Dieses kleine Buch von großen Träumen und großer Freundschaft kommt in einer Mischung aus Zeichnungen und Kollagen aus wunderschönen alten Buchseiten, geografischen Karten, Mustern, Handschriften daher. Das ist ein wirklicher Hinkucker. Und die Botschaft – gemeinsam ist alles zu schaffen, gerade auch, wenn angebliche Feinde dicke Freunde werden – ist universell.

Giulia Belloni: Zusammen können wir fliegen, Ü: Romy Bouché, Illus Marco Trevisan, Jumbo, 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4

In diesem quadratischen Pappbilderbuch stellt die Künstlerin Arianna Papini zehn Farben vor. Auf der linken Seite gibt es jedes Mal einen Sechszeiler darüber, was eine Farbe kann (»Grün kann sich schlingen. Grün kann springen.«) Die erste und sechste Zeile sind immer identisch: »Farbe XY ist nicht nur XY« und »XY kann noch so vieles mehr …« Reime geben den Versen einen dynamischen Rhythmus.
Die gegenüberliegende rechte Seite ist in der jeweiligen Farbe gestaltet und lässt sich nach außen aufklappen. Zum Vorschein kommen dort die unterschiedlichsten Tiere und Pflanzen in der jeweiligen Farbe (ein Flamingo für Rosa, ein Orang-Utan für Orange). Den Abschluss bildet ein Regenbogen und die Aufforderung an die Kids, mit all diesen Farben zu spielen. Die Mischung aus Spannung (was sich hinter den farbigen Seiten verbirgt), Poesie und Mitmach-Aufforderung ist eine super Anregung für Kinder, Kunst zu schaffen.
Nur schade, dass die Übersetzerin nirgendwo genannt wird.

Arianna Papini:  Spiel mit uns FARBEN, ohne Übersetzernennung, minedition, 22 Seiten, 16 Euro, ab 4

Wenn es um die Größe von Tieren geht, ist es im Alltag manchmal schwierig, diese richtig einzuschätzen. Eine erstaunliche Handreichung liefert Rossana Bossù mit Wie groß ist ein Elefant?
Da heißt es in einem wiederkehrenden Schema »1 Eisbär ist kleiner als ein Elefant. Du brauchst 7 Eisbären für die Größe eines Elefanten.« Danach wird der Eisbär mit Löwen verglichen, der Löwe mit dem Alligator. Und so geht es weiter bis zum Floh.
Und zurück zu einem Tier, das noch größer ist als ein Elefant.
Als Betrachter:in staunt man und die Lütten können ganz nebenbei noch das Zählen lernen und üben.

Rossana Bossù: Wie groß ist ein Elefant?, Ü: TextDoc Kiesel, 360 Grad Verlag, 2021, 18 Seiten, 12 Euro (vergriffen), ab 4

Ein kleines Mädchen in Kommst du mit? erzählt dem Nachbarjungen, dass es einen ganz tollen Ort kennt, und fragt, ob er mitkommt. Die zwei wandern los und immer mehr Kinder schließen sich an, gespannt auf den Ort, an dem es gut duftet, man trainieren kann, es sehr bunt zugeht, wo viele Leute sind. Aber dieser Ort ist weder die Bäckerei, noch die Schule, noch das Schwimmbad und auch nicht die Eisdiele. Dieser charmante Reigen führt durch eine italienische Kleinstadt und Italienkenner:innen werden die Straßen und Plätze mit bekannten Orten vergleichen können. Die Auflösung gibt es hier natürlich nicht.
Wunderbar ist es, dass der Achse Verlag die Übersetzerin Anne Brauner auf dem Cover nennt und sie am Ende des Buches selbst zu Wort kommen lässt. Dort erzählt Brauner ganz kurz, was es mit dem Übersetzen auf sich hat. An diesem Vorbild sollten sich die anderen Verlage ein Beispiel nehmen. Das Cover ist weder verunstaltet oder überladen durch die Übersetzerin-Nennung. Und der Text am Ende des Buches macht den Kindern deutlich, wie viel Teamarbeit in einem Bilderbuch steckt.

Cristina Petit: Kommst du mit?, Illus: Chiara Ficarelli, Ü: Anne Brauner, Achse, 2024, 48 Seiten, 22,50 Euro, ab 6

Eine entzückende Freundschaftsgeschichte erzählt Giorgio Volpe: Fux und Hörnchen sind beste Freunde, aber Hörnchen macht immer Winterschlaf. Fux freut sich jedes Mal bannig, wenn Hörnchen im Frühling wieder aufwacht. Bis er eines Tages Dax kennenlernt und auch mit ihm gern Zeit verbringt.
Aber wie soll er Hörnchen nur beibringen, dass er jetzt auch mit Dax befreundet ist? Fux sagt erst mal nix, aber Hörnchen merkt ganz schnell, dass etwas nicht mit ihm stimmt …
Das ist die perfekte Geschichte für kleine Leute, die ihre Freunde immer ganz für sich haben wollen. Über poetische Bilder und einfache Sätze lernen sie hier, dass es für einen selbst und auch für andere eine Bereicherung ist mehr Freunde im eigenen Leben zu haben.

Giorgio Volpe: Freundschaft zu dritt, Illus: Paolo Proietti, Ü: Maxime Pasker, Carl-Auer, 2023, 32 Seiten, 19,95, ab 3

Davide Calì, den ich 2024 auf der Frankfurter Buchmesse bei einer Veranstaltung erlebt habe, ist hierzulande für seine tiefgründigen und psychologischen Bilderbücher bekannt. Hier hatte ich bereits einige von ihm vorgestellt. Nun sind zwei neue bei mir gelandet: In Rhododendron erzählt er von Jakob, der eines Tages schrumpft. Zuerst kann er nicht mehr in den Spiegel schauen, im Auto braucht er Sitzkissen, um was zu sehen, und bei der Arbeit fliegt er raus, weil Kunden nur große Männer mögen. Irgendwann ist er so klein, dass er sich in einer Wiese verläuft und den Weg nach Hause nicht mehr findet. Auf einem Rhododendron jedoch trifft er auf Flora, die genauso klein ist wie er. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg …
In grün-gelben Illustrationen von Marco Paschetta finden Jakob und Flora schließlich eine Lösung für ihr Problem. Und die Leserschaft jede Menge Anregungen zum Nachdenken, über absonderliche Vorgänge im Leben, Ansprüche von anderen und den Umgang mit ungewohnten, neuen Situationen. Die Interpretationsebenen hier sind vielfältig, die kreativen Möglichkeiten, mit dieser Geschichte umzugehen, ebenso.

Und auch im Bilderbuch Ein köstliches Problem, das aus dem Französischen übersetzt wurde, finden sich jede Menge Momente zum Nachdenken und Reflektieren: Eines Tages fällt in einem Dorf etwas Gigantisches vom Himmel. Niemand weiß, was es ist, aber schnell machen sich die Dorfbewohner daran zu überlegen, wie man dieses offensichtlich große Problem wegbekommt. Man erwägt Maschinen zu bauen oder Bomben zu werfen, der Philosoph will den Grund wissen, warum das Problem überhaupt da ist, der Neugierige, woher es kommt, und der Pessimist sieht es als Zeichen für das Ende der Welt. Es wird demonstriert, aber nichts ändert sich. Bis ein Mädchen sich alles mal genauer ansieht…
Wer jetzt schon die Parallelen zu unserer Gegenwart sieht, ja, sie sind offensichtlich. Die Auflösung verrate ich hier aber nicht. Die Illustrationen zeigen die Figuren als Schmetterlinge in rostrot-brauen Naturszenarien, die etwas Fabel-haftes an sich haben. Wunderbar zum Anschauen und voller Details, die entdeckt werden wollen. Bis sich das Problem irgendwann gelöst hat.

Davide Calì: Rhododendron, Illus: Marco Paschetta, Ü: Paola Sfilio und Celine Eßlinger, Carl-Auer, 2023, 30 Seiten, 21,95, ab 4
Davide Calì: Ein köstliches Problem, Illus: Marco Somà, Ü aus dem Französischen: Maxime Pasker, Carl-Auer, 32 Seiten, 19,95, ab 4

Ameise Emilia will etwas Besonderes unter all den Ameisen aus ihrem Bau sein. Eines Tages zieht sie sich ein gelbes T-Shirt an. Das finden auch die anderen Ameisen schick und machen es ihr nach. Emilia wechselt zu rot, die anderen machen es ihr nach. So geht es ein paar Seiten weiter. Bis Emilia sich eine Krone aufsetzt. Das macht ihr keine andere Ameise nach, denn es gibt nur eine Königin im Bau. Und die ruft Emilia zu sich, schimpft und wirft mit der falschen Krone nach Emilia. Als Emilia sich ein Pflaster auf die Wunde klebt, machen die anderen Ameisen ihr auch das wieder nach.
Nach dieser Lektüre kann man trefflich über Gemeinschaft und Individualität diskutieren, warum wir alle so gern das haben, was die anderen auch haben, und warum manche Individuen wirklich einzigartig sind.

Tullio Corda: Emilia, eine Ameise wie keine andere, Ü: Igna Gantschev, minedition, 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4

Eines Tages steht eine Kiste mit zwei Löchern im Wald. Die Tiere sind erstaunt und neugierig. Wer da wohl drinsteckt? Sie versuchen alles, damit sich der neue Gast zeigt. Doch vergeblich. Selbst die reingesteckten Leckereien nützen nichts. Als ein Unwetter über dem Wald niedergeht, nehmen die Tiere die Kiste mit in ihren Unterschlupf und da zeigt sich endlich der neue Waldbewohner …
Bär, Fuchs, Kaninchen, Eichhörnchen und alle möglichen Vögel tun sich in dieser Geschichte, die die Freundschaft feiert, zusammen. Sie beweisen, dass man manchmal Ausdauer und Geduld haben muss und dass manche Geschöpfe sich nicht sofort zeigen, sondern erst einmal Vertrauen aufbauen müssen.

Isabella Paglia: Die Kiste, Illus: Paolo Proietti, Ü: Igna Gantschev und Annika Siems, minedition, 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4

Rufus ist ein Weihnachtsmannkater. Er entstammt einer langen Dynastie aus Katern, die beim Weihnachtsmann lebten. Dort geht es das Jahr über meist sehr geruhsam zu. Kater und Weihnachtsmann essen Süßigkeiten, machen ein Nickerchen und setzen Speck an. Rufus wird das jedoch zu langweilig und so schleicht er sich eines Weihnachtsabends auf den Schlitten und reist mit dem Weihnachtsmann zu den Häusern der Kinder, die an den Weihnachtsmann geschrieben haben. In einem der Häuser findet der Weihnachtsmann einen Brief eines Jungen, der seine ursprünglichen Wünsche nicht mehr will. Er wünscht sich statt Technikspielzeug viel lieber einen Freund zum Spielen, eine Katze. Und nun hat Rufus seinen Auftritt …
Eine ganz entzückende Weihnachtsgeschichte, die die Leserschaft ganz unaufgeregt an das wirklich Wichtige im Leben erinnert: die Freundschaft.

Fulvia Degl’Innocenti: Rufus, der Weihnachtskater, Illus: Daniela Costa, Ü: Igna Gantschev, minedition, 2024, 32 Seiten, 16 Euro, ab 4

Der kleine Bär Bruno streift mittlerweile in zwei Bilderbüchern durch den Lesewald. 2021 tauchte er zum ersten mal in Deutschland auf, kurz vor dem Winter. Mama Bär holt ihn da vom Spielen aus dem Wald zurück, denn Bruno soll endlich Winterschlaf halten. Aber das Einschlafen fällt ihm gar nicht so leicht. Daher greift Mama Bär auf einen altbewährten Trick zurück: Sie erzählt ihm kurze Geschichten von anderen Tieren, wie Antonello, dem popelnde Tapir, oder Fifo, dem kleinen Angsthasen.
Im zweiten Band nun, aus dem Jahr 2024, erwacht Bruno aus dem Winterschlaf und Mama Bär hat für ihn und seine Waldfreunde, die ihn schon sehnlichst erwarten eine Überraschung parat.
Sie hat viele Eier besorgt, die die Tierkinder anmalen sollen. Mama Bär versteckt diese kleine Kunstwerke anschließend und schickt die Lütten dann zum Eiersuchen.
Bei der Rückkehr mit den Eiern erzählt sie dann zu Belohnung wieder verschiedene Tiergeschichten. Dieses Mal tritt ein eitler Pfau auf, eine etwas unreinliche Rattenfamilie und ein kleiner Biber mit schlechten Zähnen.
Diese süßen kurzen Geschichten sind durchweg gereimt und halten alle möglichen Überraschungen für Bruno und die anderen kleinen Zuhörenden bereit. Für die Übersetzerin Daniela Papenberg dürfte das Reimen und Nachdichten sicherlich eine ganz schöne Mühe gewesen sein. Das Vorlesen macht dadurch aber noch mal mehr Spaß.

Serena Romanelli: Bruno. Kurze Geschichten für lange Nächte, Illus: Hans de Beer, Ü: Daniela Papenberg, Nordsüd, 2021, 32 Seiten, 15 Euro, ab 3
Serena Romanelli: Bruno. Bärige Ostern, Illus: Hans de Beer, Ü: Daniela Papenberg, Nordsüd, 2024, 32 Seiten, 17 Euro, ab 3

Gianni Rodari, der Meister der Kurzgeschichten, Gedichte und Reime und ein Klassiker in Italien, hat ein Gedicht über die Hoffnung verfasst, das diesem Bilderbuch zugrunde liegt. Dieses Gedicht, indem ein Ich-Erzähler in einem winzigen Laden Hoffnung an all die für ganz wenig Geld verkaufen würden, die sie dringend brauchen, wurde 2020 im EU-Parlament öffentlich verlesen. So sollte Italien, das damals als eines der ersten Länder schwer vom der Corona-Pandemie getroffen wurde, Hoffnung geschenkt werden. Francesca Ballarini hat quietschbunte, fröhliche Bilder für die wenigen Verse gefunden, in denen ein Kind ein Plakat mit der Aufschrift »Hoffnung« malt und es über einem Kiosk aufhängt. Die supergünstige Hoffnung macht Schlagzeilen und versteckt sich im Verkaufsregal. Armen Menschen würde der Erzähler die Hoffnung allerdings auch schenken. Einfach nur schön, dieses Buch!

Gianni Rodari: Hoffnung, Illus: Francesca Ballarini, Ü: Susanna und Johannes Rieder, Rieder Bilderbücher, 2021, 32 Seiten, 15 Euro, ab 4

Sachbilderbücher über Tiere sind immer wieder faszinierend. Eine ganz besondere Zusammenstellung hat Daniela Pareschi vorgelegt. 19 Tierarten präsentiert sie und zwar nicht sortiert nach den üblichen biologischen Kriterien, sondern nach überraschenden Merkmalen, die uns so vielleicht noch nie aufgefallen sind. Da lernen wir beispielsweise Tiere mit Kopfschmuck kennen. Wer jetzt an den Hirschen denkt, liegt völlig richtig, aber wer kennt schon den Kagu? Dieser Vogel besitzt am Schnabel kleine Klappen, mit denen er die Nasenlöcher verschließen kann und die wie kleine Hörner aussehen. Ähnliches entdeckt man bei Tieren mit Stacheln (Dornteufel und Dornenkronenseestern) oder mit langen Zähnen (Vampirfisch und Goliath-Vogelspinne). Dazu kommen leuchtende und unsichtbare Tiere; welche, die fliegen können, aber keine Vögel sind; welche, die sich aufblasen oder viel schlafen. Und natürlich Tiere, die es gar nicht gibt. Jeweils auf einer Doppelseite trifft man auf das entsprechende Sammelsurium, flankiert von jeweils einer ganzseitigen Illu in stimmungsvoll-atmosphärischen Farben. Das ist nicht nur ein Buch für naturbegeisterte Kids, die ihr Tierwissen erweitern wollen, sondern für alle.

Daniela Pareschi: Tierisch schön, Ü: Cornelia Panzacchi, Gerstenberg, 2024, 44 Seiten, 18 Euro, ab 4-99

Dieses Bilderbuch zu Dantes Göttliche Komödie habe ich schon eine Weile hier liegen und habe mich bis jetzt immer gefragt, welches Kind wohl dieses Buch anschaut oder liest. Eine Antwort habe ich noch nicht darauf gefunden.
Autor Daniele Aristarco erzählt in diesem Buch eigentlich seine eigene Geschichte, wie er mit neun Jahren zum ersten Mal von Dantes Komödie gehört und sie heimlich gelesen hat. Das passt in Italien natürlich ganz hervorragend, da dort niemand an Dante vorbeikommt, Zusammenfassungen und Umschreibungen von Klassikern gang und gäbe sind und die Lektüre in der Schule selbstverständlich Pflicht ist. Nur bei uns ist das nicht ganz so einfach. Dementsprechend unverständlich dürften die Erzähltexte Aristarcos für deutsche Lesende bleiben, die nicht italienische Literaturwissenschaft studiert haben. Die Anspielungen und einzelnen Erklärungen zum »Plot« der Göttlichen Komödie dürften nur die Experten wirklich erkennen. Die Originalzitate aus der deutschen Übersetzung der Komödie sind so kurz, dass kaum ein Zusammenhang erkennbar ist.
Die Illus von Marco Somà mögen in ihrer rostroten und petrolblauen Farbgebung durchaus faszinieren, zumal die Figuren mit Tierköpfen versehen sind und so eine Mischung aus Hieronymus Bosch und Michelangelos »Jüngstem Gericht« ergeben.
Der ganze Anspruch mittels der Göttlichen Komödie über das Leben und seine Irrungen und Wirrungen, über Hölle und Erkenntnis nachzudenken, mag ein hehrer sein, aber Kinder dürfte es ziemlich überfordern bzw. langweilen.

Daniele Aristarco: Die Göttliche Komödie, Die ersten Schritte in den dunklen Wald, Ü: Christel Rech-Simon und Hartmut Köhler (ex Reclam, 2014), Illus: Marco Somà, Carl-Auer, 2022, 46 Seiten, 19,95 Euro, ab 10

In diesem 42 cm großen Bilderbuch befasst sich die Iranerin Elham Asadi auf eine ganz berührende Weise mit der Geschichte vom persischen Neujahrsfest Newroz. Auslöser ist der erste Schnee, den ein Mädchen erlebt. Die Großmutter erzählt ihr daraufhin, dass einst im alten Persien eine Frau namens Naneh Sarma hoch über den Wolken lebte. Sie wartete auf einen Mann, der gefrorene Gewässer wieder zum Fließen bringen konnte. Sie wartete auf Nouruz. Und während sie wartete, putzte sie das Haus, fegte, wirbelte den Staub aus dem Haus, der als Schnee auf die Erde fiel. Nach dem Hausputz war sie so müde, dass sie einschlief …
Diese Frühlings- und Neujahrsgeschichte hat Sylvie Bello mit zarten poetischen Bildern illustriert, in denen man sich wahrlich verlieren kann. Das gesamte Buch ist ein poetischer Schatz und zeugt von der Universalität gewisser Geschichten.

Elham Asadi: Der erste Schnee, Ü: Ulrike Schimming, Illus: Sylvie Bello, Bohem, 2022, 32 Seiten, 29,95, ab 6

Kinderbücher

Bei den Kinderbüchern sind erstaunlich wenige neue Geschichten zu finden. Die, die es geschafft haben, sind im Reich der Fantasie angesiedelt – bis auf das Buch eines TikTokers…

Eine Neuauflage, die mich persönlich besonders freut, sind die Gutenachtgeschichten am Telefon von Gianni Rodari, einem DER Klassiker der italienischen Kinderbuchliteratur. Hier konnte ich nämlich meine Übersetzung von 2012 noch einmal neu unterbringen. Zwar sind im Vergleich zur Ausgabe von damals nur 60 der ursprünglich 70 Geschichten vertreten, aber das ist in Ordnung. Denn es gab durchaus ein paar, die heute nicht mehr gut vermittelbar sind, wie beispielsweise die vom Eisbären, der sich freut, dass der Nordpol abschmilzt und dort nun Veilchen wachsen. Das würde selbst ein Gianni Rodari verstehen und heute vermutlich ganz andere Geschichten in Sachen Klimakrise schreiben.
Aber es gibt immer noch genug kurze Geschichten, die Signor Bianchi seiner Tochter abends am Telefon erzählt: vom Kaputtmachhaus, der Straße aus Schokolade, dem Fahrstuhl zu den Sternen. Immer ist es etwas schräg und anarchisch. Die Kinder in den Geschichten dürfen sich ausleben und werden nie gemaßregelt. Das macht einfach Freude und Lust auf eigene wilde Ideen.

Der kleine Susanna Rieder Verlag hat die verbleibenden Geschichten von Anna Ring ganz wunderbar neu illustrieren lassen. Die knallbunten frisch-frechen Bilder sind toll anzuschauen und heizen die Fantasie noch mal zusätzlich an.

Gianni Rodari: Gutenachtgeschichten am Telefon, Illus: Anna Ring, Ü: Ulrike Schimming, Susanna Rieder Verlag, 2024, 208 Seiten, 24 Euro, ab 4

Kennt ihr Khaby Lame? Also ich kannte ihn nicht und habe sein aktuelles Buch, Das Leben kann so einfach sein, als ich es in der Hand hielt, zunächst einmal mit Verwunderung gelesen. Ein Comic-Roman à la Gregs Tagebuch. Darin steht Khaby dem 11-jährigen Marco bei, der auf eine höhere Schule wechselt und nun mit dem Leben hadert: Er hat die falschen Klamotten, das falsche Handy, keine Freunde, das verkehrte Hobby, gilt plötzlich als Streber, nur weil er einen englischen Satz korrekt formuliert hat. Die üblichen Dramen im Schulalltag.
Khaby steht Marco bei und hilft ihm aus diversen Patschen.

Soweit so mäßig spannend. Dann habe ich mal gegoogelt und musst feststellen, dass es sich bei Khaby Lame um einen der erfolgreichsten TikToker mit 162 Millionen Follower handelt, der in bester Manier Stummfilm-Comedy betreibt. Dabei nimmt er vor allem unnütze Life Hacks auf die Schippe und präsentiert die viel offensichtlicheren Alltagslösungen. Das ist schon ziemlich witzig.
Leider bekommt er diesen Witz nicht in seinen Büchern rüber. Aber vielleicht werden seine jüngsten TikTok-Fans so zum Lesen animiert, wer weiß.

Khaby Lame/Simmone Laudiero: Das Leben kann so einfach sein, Illus: Gabriele Bagnoli, Ü: Christina Neiske, dtv junior, 2023, 160 Seiten, 14 Euro, ab 10

Seit ein paar Jahren treibt das Vampirmädchen Mortina sich nun schon in der Buchwelt herum. In kurzen kindgerechten Gruselgeschichten kann man sie und ihre schräge Verwandtschaft – die Adam’s Family lässt grüßen – in ihrem Spukschloss begleiten. Auf meinem Schreibtisch sind jetzt Wer klopft da an die Tür und Das große Verschwinden gelandet.

Im ersten hilft Mortina einem Geisterjungen, sich an seinen Namen und seine Geschichte zu erinnern, um nicht völlig in der Vergessenheit zu geraten. Im zweiten verschwindet plötzlich Tante Dipartita. Und als Mortinas Menschenfreunde ihr bei der Suche nach der Tante helfen, ist plötzlich auch das Mädchen Teresa nicht mehr aufzufinden.
Der langweilige Dilbert mit dem Sprachfehler trägt schließlich zu Lösung dieser Gruselsuche bei …

Die Mortina-Reihe, die mittlerweile fünf Bände umfasst, lebt vor allem durch die Illustrationen der Autorin Barbara Cantini. Darin gibt es immer viel zu schauen und kleine comicartige Hinweise auf ungewöhnliches Inventar (Kekse von 1895) erweitern die Geschichten um atmosphärische Details. Zu Halloween sind diese Bücher die absolut passende Lektüre und für alle Grusel- und Spukfans.

Barbara Cantini: Mortina. Wer klopft da an die Tür?, Ü: Knut Krüger, dtv junior, 2020, 48 Seiten, 10,95, ab 8
Barbara Cantini: Mortina. Das große Verschwinden, Ü: Knut Krüger, dtv junior, 2020, 48 Seiten, 10,95, ab 8

Eine weitere Geschichte von Barbara Cantini erzählt von der Hexenschülerin Ophelia und dem kleinen schwarzen Kater Oskar. Dieser verfügt über eine besondere Begabung, denn er kann sich verwandeln – in eine Balletttänzerin, einen Bäcker, eine Fledermaus. Doch nichts scheint für ihn das Richtige zu sein. Das ändert sich, als Ophelia sich auf die Suche nach einem Hexenkater macht, den sie für ihren ersten Mitternachtsflug auf dem Hexenbesen braucht. Das Mädchen mit den roten Locken und der Kater legen zwar zunächst eine Bruchlandung hin, dennoch fühlen sie sich für den großen Tag gewappnet …
Auch hier hat Cantini wieder sowohl den Text als auch die Bilder geliefert und wieder finden sich lustige Details und Hinweise in den Illus. Für Katzenliebhaberinnen und Hexenfans ist das entzückend schräges Lesefutter, das Erstleser nicht überfordert, weil es neben den kurzen Texten sehr viel zu gucken gibt.
In Italien ist bereits ein zweiter Teil erschienen – dort heißen die Hauptfiguren lustigerweise Puffy und Brunhilde … wobei mir Brunhilde eigentlich viel besser gefällt als Ophelia, die für mich ja irgendwann bleich und ertrunken im Teich liegen müsste, während Brunhilde viel eher zum Walkürenritt durch die Wolken antreten kann. Aber das nur am Rande. Aus Erwachsenensicht.

Barbara Cantini: Oskar & Ophelia. Flugstunde mit Kater, Ü: Knut Krüger, dtv, 2022, 64 Seiten, 13 Euro, ab 8

Fast schon kein Kinderbuch mehr ist das sehr poetisch-philosophische Buch Osso von Michele Serra. Darin taucht eines Tages bei einem namenlosen alten Mann ein abgemagerter Hund im Garten auf. Der Mann erholt sich gerade von einer Krankheit und ist verunsichert, weil er noch nie einen Hund oder ein anderes Haustier hatte. Doch er stellte dem Tier einen Napf mit Futter hin. Und so entspinnt sich einen vorsichtige Annäherung zwischen Mensch und Tier, das die kleine Enkelin des Mannes »Osso« tauft, abgeleitet von italienischen Begriff für »Knochen«. Osso steht für die Natur, die vor dem Haus des Großvaters beginnt und in der er lange nicht mehr war. Doch langsam traut sich der alte Mann wieder hinaus, fängt an, sich um Osso zu kümmern und die Schönheit der Natur zu entdecken.
In diese anrührende Freundschaftsgeschichte hat der Journalist Serra seine Version der Domestizierung der Wölfe vor vielen Tausend Jahren eingebaut. Diese Geschichte für große und kleine Hundliebhaber:innen wird von zarten Aquarellen von Alessandro Sanna flankiert.

Michele Serra: Osso, Illus: Alessandro Sanna, Ü: Peter Klöss, Diogenes, 2024, 136 Seiten, 25 Euro, ab 10

Jugendromane

Auch die Ausbeute bei den Jugendbüchern ist dieses Mal nicht besonders umfangreich – bitte schreibt mir die Bücher, die ich übersehen habe!

Spannend fand ich die Lektüre von Der Geruch der Wut von Gabriele Clima: Alex ist von einem fixen Gedanken besessen: Er will den Mann finden, der den Unfall verursacht hat, bei dem sein Vater um Leben gekommen ist. Dafür wendet er sich an einen rechten Schlägertrupp und wird in eine Spirale aus Hass und Gewalt hineingezogen. Denn die Black Boys – das Schwarz steht hier für die Schwarzhemden aus dem faschistischen Italien der 1920er Jahre – machen Jagd auf Menschen mit dunkler Hautfarbe. Als Alex merkt, in was er da verwickelt wird, will er aussteigen, doch das ist schwieriger als gedacht.
Gabriele Clima liefert mit dieser Geschichte einen hochaktuellen Jugendroman. Es gibt einige überraschende Wendungen, die die Leserschaft aufrütteln und die eigenen Einstellungen und Vorurteile auf den Prüfstand stellen. Ich könnte mir hier lebhafte Diskussionen in den Schulen vorstellen, sollte dieses Buch mal Schullektüre werden.

Gabriele Clima: Der Geruch von Wut, Ü: Barbara Neeb, Katharina Schmidt, Hanser, 2022, 192 Seiten, 17 Euro, ab 15

Auch Antonella Sbuelz versucht sich an aktuellen Themen: Die beiden Teenager Mattia und Aziz leben an verschiedenen Orten. Mattia in Italien, Aziz in Afghanistan. Und doch erleben sie, wie ihre gewohnten Welten zusammenbrechen. Aziz wird durch den Krieg zur Flucht aus seiner Heimat gezwungen. Seine Mutter wird getötet, von seinem Vater und Onkel wird er getrennt.
Als Mattias Eltern sich trennen, verlässt der Junge sein Zuhause und versteckt sich in verschiedenen Kellern, streunt umher. Irgendwann trifft er Aziz und rettet ihn vor der Polizei. Später entdeckt er, dass Aziz gar nicht Aziz ist.
Antonella Sbuelz erzählt in Heute geh ich nicht nach Hause sehr poetisch von den zwei verschiedenen Lebenswegen, die sich schließlich überschneiden. Sie lässt ihre Figuren in Erinnerungen ihre Gefühlslagen erkunden und schürt die Hoffnung auf ein besseres Leben, trotz schwieriger Lebenslagen.
In wieweit die Gegenüberstellung von westlichem Scheidungskind-Drama mit echtem Kriegselend und der Verfolgung von Mädchen allerdings sinnvoll ist, wage ich etwas zu bezweifeln.

Antonella Sbuelz: Heute gehe ich nicht nach Hause, Ü: Michaela Heissenberger, Arctis, 2023, 288 Seiten, 18 Euro, ab 12

Fantastisch geht es in Marta Palazzesis Feder und Kralle zu. Im spanischen Valencia im Jahr 1914 treffen auf einem Jahrmarkt das Mädchen Amparo und der Junge Tomás aufeinander. Beide sind Gestaltwandler: Amparo verwandelt sich beim ersten Sonnenstrahl des Tages in einen Falken, Tomás wird bei Sonnenuntergang zu einem Panther. Zusammen mit Pepe, dem »König« des Hafenviertels, machen sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und den Gründen, warum sie so sind, wie sie sind.
Ergänzt wird die Geschichte von atmosphärischen Schwarzweißbildern von Ambra Garlaschelli. Hier wird die Geschichte auf visueller Ebene ergänzt und anschaulich gemacht. Manche Figuren wirken dabei wunderbar gruselig. Für Fantasy-Fans auf jeden Fall eine unterhaltsame Lektüre.

Marta Palazzesi: Feder und Kralle, Illus: Ambra Garlaschelli, Ü: Cornelia Panzacchi, Thienemann, 2024, 272 Seiten, 15 Euro, ab 10

Vom Dauerschreiber und Abenteuer-Autor Davide Morosinotto, siehe auch hier, sind in den vergangenen Jahren zwei weitere Bücher ins Deutsche übersetzt worden: In Time Shifters spielt er dieses Mal ein Sciencefiction-Szenario durch, das dem faszinierenden Gedanken »Was wäre wenn … wir durch die Zeit reisen könnten?« Rechnung träg. Micaela ist eine Agentin, die mithilfe einer neuen Technik in der Zeit zurück- und an andere Orte reisen kann. Sie überwindet dabei keine langen Zeiträume, sondern immer nur ein paar Stunden. So soll sie dieses Mal einen Bombenanschlag auf eine Schule in Bologna verhindern. Normalerweise muss sie nicht viel machen, um den Lauf der Geschichte zu verändern – es reicht, sich die Schuhe zu binden oder einen Zettel von einem Tisch zu nehmen. Sie ist wie ein kleiner Anstupser, der die Abläufe in eine andere Richtung lenkt. Doch dieses Mal funktioniert es nicht und Micaela muss die anstrengende Tour durch die Zeit ein paar Mal hinter sich bringen, denn sie wird von einem Kollegen sabotiert.
Morosinotto liefert hier wie gewohnt eine spannende Geschichte, die bis zum Schluss Überraschungen bereit hält.

In Sohn des Meeres versetzt Morosinotto die Leserschaft 1600 Jahre zurück in der Geschichte, ins zerfallende Römische Reich. Der 14-jährige Pietro erlebt, wie die Hunnen unter Attila im Land einfallen. Der Junge, der für sein Alter sehr groß und kräftig ist, wird als Soldat rekrutiert. Natürlich kann er nicht kämpfen und gerät stattdessen mit seinen Freunden Tito und Justina auf eine Wanderschaft durch Norditalien. Insgeheim hofft er, unter den Hunnen vielleicht seinen richtigen Vater zu finden. Dieser hatte seiner Mutter einst eine halbe Goldmünze dagelassen, als Erkennungszeichen.
Gewohnt spannend und voller Wendungen erzählt Morosinotto vom Leben in der damaligen Zeit, von der wir uns so gut wie keine Begriffe mehr machen. Er zeigt die Lebensumstände, die damalige Kleidung, das Essen, das zu jener Zeit noch ohne Pizza und Pommes auskam und eher aus Spanferkel und Hirsebrei bestand. Super Lesefutter für Abenteuer-Fans.

Davide Morosinotto: Time Shifters. Ohne uns gibt es kein Morgen, Ü: Cornelia Panzacchi, Thienemann, 2022, 416 Seiten, 17 Euro, ab 14
Davide Morosinotto: Sohn des Meeres, Ü: Cornelia Panzacchi, Thienemann, 2024, 368 Seiten, 18 Euro, ab 14

Sachbücher


Actionreich geht es in den Verrückt-nach-Sammelbänden zu. Hier wird nicht nur gelesen, sondern gemalt, ausgeschnitten, gebastelt, gerätselt und zwar zu so wichtigen Themen wie Geografie oder Wissenschaften. Im Geografie-Band bekommen die Kids einen Einblick, was für Karten es gibt, die wir heute auf unseren Smartphones und Tablets so selbstverständlich nutzen. Sie erfahren, wie man solche Karten liest, welche Informationen die Farben liefern, wie die Himmelsrichtungen zu erkennen sind und wie man solche Karten auch selbst anlegen kann. Ähnliches passiert in den Bänden über Flaggen, Städte und Naturlandschaften, die sich anschließen.
Im Sammelband über die Wissenschaften taucht man in die Welt der Insekten, der Geologie und des Wassers ein. Auch hier gibt es wieder Spiel- und Bastelspaß – mein inneres Kind ist ganz begeistert und würde am liebsten sofort losmalen und ausschneiden. Die Illus stammen wieder einmal von Agnese Baruzzi und kommen sehr klar und modern daher. Und neben dem ganzen Spielspaß bleiben unglaublich viele Infos und viel Wissen über unsere Umwelt hängen.

Paola Misesti (Hg.): Verrückt nach Geografie, Illus: Agnese Baruzzi, Ü aus dem Englischen: Ulrich Magin, impian, 2024, 288 Seiten, 16,95 Euro, ab 7
Tecnoscienza (Hg.): Verrückt nach Wissenschaften, Illus: Agnese Baruzzi, ohne Übersetzer-Angabe, impian, 2024, 216 Seiten, 14,95, ab 6

Braucht man eigentlich ein Buch über Bücher? Ja, wenn es so schön und sinnvoll gemacht ist, wie Das Buch der Bücher von Pierdomenico Baccalario. Darin stellt er 37 Klassiker der Weltliteratur vor – und darunter verstehe ich jetzt wirklich die gesamte Literatur von Kinderliteratur bis Belletristik. Denn Baccalario begrenzt sich nicht auf eine Altersgruppe, sondern liefert jungen Lesenden eine Orientierung in der Literatur. Beginnend bei Maurice Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen bis hin zu Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer lassen sich hier grundlegende Geschichten entdecken. Jedem Buch sind vier Seiten gewidmet. Darauf werden kurz und knapp die Hauptfiguren der Geschichte vorgestellt, der Inhalt umrissen, die Besonderheiten angedeutet, ein prägnanter Satz zitiert und eine Begründung geliefert, warum man dieses Buch lesen soll. Also im Grunde der Elevator-Pitch fürs Lesen.
Daneben gibt es aber zudem weitere Buchtipps, die zu der jeweilige Lektüre passen würden.
Wer also Orientierung sucht im Dschungel der Bücher, Bibliotheken und Bestseller, hat mit Baccalarios Buch einen ersten Leitfaden in der Hand, von dem aus man in die Weiten der Literatur aufbrechen kann und ein perfektes Fundament an Kulturwissen anlegen kann.

Pierdomenico Baccalario: Das Buch der Bücher. Von Grüffelo bis Sofies Welt. Alle Bücher, die du zum Großwerden brauchst, Ü: Anna Becchi, Illus: Andrea Ucini, Hanser, 2022, 160 Seiten, 22 Euro, ab 12

Leider vergriffen ist das Buch über das Weltall, das ich übersetzt habe und das ich sehr schätze, weil es von sechs Astrophysikerinnen geschrieben wurden. In einer unvergleichlichen Mischung liefern die sechs Erzähl- und Erklärtexte, Anleitungen zum Nachmachen, um das Weltall besser zu verstehen, und diverse Biografien von Frauen, die die Astrophysik geprägt haben. Daneben gibt es freie Gedichte von Silvia Vecchini, die den ganzen Zauber des Alls einfangen. In den Erzählpassagen erklärt eine große Schwester, die Astrophysik studiert, ihrem jüngeren Geschwisterkind – dessen Geschlecht nicht offenbart wird, was wohl sämtlichen Rezensenten entgangen ist – das All. So werden nicht nur die Mysterien der Sterne poetisch und gleichzeitig leicht verständlich gemacht, sondern auch die Mädchen darin empowert, sich für dieses Fach und den Kosmos um uns zu interessieren. Hätte ich so ein Buch von 30 Jahren in die Finger bekommen, würde ich heute vielleicht die Stern erforschen…

Simona Gallerani/Maria C. Orofino/Edwige Pezzulli/Raffaella Schneider/Rosa Valiante/Tullia Sbarrato: Das Weltall. Ein Spaziergang durch die Geheimnisse des Universums, Gedichte von Silvia Vecchini, Ü: Ulrike Schimming, Illus: Alice Beniero, Carlsen, 2021, 216 Seiten, 22 Euro, ab 10

Beim Autor Gianumberto Accinelli wurde ich hellhörig, habe ich doch 2017 von ihm Der Dominoeffekt übersetzt. Das Buch wurde 2018 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Doch was muss ich bei Hinab ins tiefe Blau und Hinauf ins Himmelblau feststellen? Übersetzt aus dem Englischen. Meines Wissens schreibt Accinelli jedoch nicht auf Englisch, die bibliografische Angabe verweist auf ein italienisches Original. Es wäre eigentlich für arsedition ein leichtes gewesen, eine:n Übersetzer:in aus dem Italienischen zu finden – mich oder eine:n Kolleg:in. Ich weiß, dass Accinelli und diese naturwissenschaftlichen Themen nicht leicht zu übersetzen sind, aber so über Bande bzw. stille Post zu spielen, sollte eigentlich nicht nötig sein. Das mal vorweg.
Accinelli erzählt hier kurze Geschichten über die Lebewesen der Meere. Dabei hält man das Buch senkrecht und blättert quasi nach oben um und bekommt so den Eindruck immer tiefer ins Meer abzutauchen. Aus dem hellen Türkisblau wird so mit jedem Blättern ein tieferes Meeresblau. Links läuft eine Meterangabe mit und je nach Lebensraum »schwimmen« die Fische und Wasserbewohner vorbei. Bis schließlich am tiefsten, schwärzestens Punkt im Mariannengraben nur noch der Meeresboden und darüber das U-Boot Trieste zu finden ist. Clever gemacht und für Kids mit Wissensdurst eine Fundgrube.

Bei Hinauf ins Himmelblau geht es nun hoch in Lüfte. Es beginnt zunächst einmal mit den Ameisen am und im Boden sowie den erdnahen Insekten und Vögeln. Känguru und Hochspringer Javier Sotomayer hopsen durchs Bild und beweisen, wie sie die Schwerkraft überwinden. Eine kleine Hummel schafft es bis in 5600 Meter Höhe (nur schade, dass sie auf der Skala bei 6400 eingezeichnet ist – das verwirrt doch etwas). Kraniche schaffen es als einzige Lebewesen wohl über die 10.000 Meter. Darüber, im All, sind dann nur noch Meteoriten und menschengeschaffene Raumsonden zu finden … Auch dies wieder eine interessante Idee und für wissensdurstige Jungleser:innen spannend. Nur hat mich hier das Hochblättern irritiert. Vielleicht hätte man dieses Buch von hinten aufziehen müssen, wie einen Manga, um die Bewegung nach oben zu simulieren. So muss man immer genau hinschauen, auf welcher Höhe man sich gerade befindet.

Nichtsdestotrotz wurde Hinauf ins Himmelblau von bild der Wissenschaft in der Sparte »Perspektive: Sachkundigste Kinderbuch« als Wissensbuch des Jahres 2024 ausgezeichnet.

Gianumberto Accinelli: Hinab ins tiefe Blau. Eine erstaunliche Reise von der Erde bis zum Meeresgrund, Illus: Giulia Zaffaroni, Ü aus dem Englischen: Andreas Jäger, arsedition, 2022, 80 Seiten, 18 Euro, ab 10
Gianumberto Accinelli: Hinauf ins Himmelblau. Eine erstaunliche Reise von der Erde bis ins Weltall, Illus: Giulia Zaffaroni, Ü aus dem Englischen: Andreas Jäger, arsedition, 2024, 96 Seiten, 18 Euro, ab 10



Vom Philosophen Umberto Galimberti sind mittlerweile drei Bücher für Jugendliche erschienen, zwei davon in meiner Übersetzung. ZIn Das große Buch der Gefühle befasst sich Galimberti mit 50 menschlichen Emotionen, angefangen beim Altruismus bis hin zur Zuversicht. Zusammen mit seiner Co-Autorin Anna Vivarelli erklärt er, um was für ein Gefühl es sich eigentlich handelt, wenn wir Liebe, Hass, Freude oder Wut empfinden, wie wir uns verhalten, wenn uns so eine Emotion überkommt, was wir dafür oder dagegen unternehmen können. Jedem Kapitel ist ein längeres Zitat aus der Weltliteratur vorangestellt (was beim Übersetzen enorm viel Arbeit gemacht hat, denn es galt die bereits übersetzten Stellen aus den deutschen Ausgaben herauszusuchen).

Das große Buch der Philosophie liefert dann 100 Kurzbiografien von philosophischen Denker:innen. Den Anfang macht Thales von Milet, den Abschluss bildet Judith Butler. Hier finden alle Philosophie-Interessierten einen ersten kurzen Abriss über die Denkmodelle der vergangenen 2000 Jahre. Anregende Fragen oder Hinweise zum Hinterfragen der großen Denker:innen fordern dann die Leserschaft auf, das eigene Hirn zu benutzen. Das war für mich als Übersetzerin eine wunderbare Arbeit, da ich an mein Studium der Philosophie anknüpfen konnte und neue Anregungen für philosophische Lektüren bekommen habe. Auch das ist eine Nebenwirkung des Übersetzerin-Lebens: Man könnte so unendlich viel lesen – wenn man denn die Zeit dafür finden würde …

Den dritten Band konnte ich leider aus Zeit- und andern Gründen nicht übersetzen, obwohl ich das Thema überaus interessant fand. Im großen Buch der Fragen stellt Galimberti 50 essenzielle Fragen des Lebens und lädt erneut zum Selberdenken ein. Das sind dann Fragen wie: »Gibt es Gott?«, »Was ist die Zeit?«, »Kennst du dich selbst?«, »Gibt es die Seele?« oder »Warum empfinden wir Mitleid?« Auf gerade mal zwei Seiten gibt es dann eher Anregungen als Antworten, aber gerade das macht den Reiz aus. Man kommt ins Grübeln und ist schon fast auf dem Weg, selbst Philosoph:in zu werden. Auf jeden Fall sieht man nach der Lektüre manches mit anderen Augen und kann sich im Nachrichten- und Meinungsdschungel souveräner bewegen.

Umberto Galimberti/Anna Vivarelli: Das große Buch der Gefühle. 50 Emotionen von Angst bis Zuversicht, Ü: Ulrike Schimming, midas, 2022, 232 Seiten, 22 Euro
Umberto Galimberti/ Irene, Merlini/Maria Luisa Petruccelli: Das große Buch der Philosophie. 100 Porträts für Neugierige, Ü: Ulrike Schimming, midas, 2022, 224 Seiten, 22 Euro
Umberto Galimberti: Das Buch der großen Fragen. Was wirklich zählt im Leben, Ü: Arianna Volpi, midas, 2024, 224 Seiten, 22 Euro

Ein sehr spezielles Buch ist das des Stararchitekten Renzo Piano. Geschrieben hat es sein Sohn Carlo. Darin gehen Carlos Tochter Elsa und ihr Großvater Renzo auf eine Seereise um die Welt – zu den Gebäuden, die der Großvater im Laufe seiner Karriere gebaut hat, wie das Centre Pompidou oder die Hochhäuser am Potsdamer Platz in Berlin. Immer wieder erzählt Renzo Piano wie in einem Interview darin von seiner Arbeit als Architekt, von den Dingen, die für den Bau von großen Gebäuden wichtig sind. So erfährt man etwas über die Herausforderungen, erdbebensicher zu bauen, oder wie man den Gesang des Windes durch die Nutzung von Holz einfangen kann.
Das sind per se interessante Infos, aber man muss schon einen Faible für Architektur haben, um diese Lektüre wirklich genießen zu können und nicht gelangweilt zu sein. Aber es gibt ja sicher Architekt:innen, deren Kinder sich von der Leidenschaft der Eltern anstecken lassen. Dies wäre dann die passende Lektüre …

Carlo & Renzo Piano: Auf der Suche nach Atlantis. Eine Reise durch die Architektur, Illus: Tommaso Vidus Rosin, Ü: Claudia Koch/Friederike Römhild, midas, 2021, 160 Seiten, 22 Euro

Atlanten

Der Schweizer midas Verlag hat nicht nur die Bücher von Galimberti und Renzo Piano im Programm, sondern ist auf für die großformatigen Atlanten bekannt, die allesamt wunderbar illustriert und aufgemacht sind. Die kleinteiligen Texte verlocken zum lesenden Herumspringen. Man kann einfach irgendwo aufschlagen und wird von den Details und den Bilder gefangen.

So auch im Atlas über eines faszinierendsten Themen im Kinder-Sachbuch-Bereich: das Weltall. Irgendwann mache ich vielleicht mal einen Post nur mit Weltallbüchern – zumal ich selbst bereits drei KJBs darüber übersetzt habe.
In diesem Altas des Weltalls finden sich die üblichen Kapitel über Sternbilder, Galaxien, die unterschiedlichen Planeten und alles rund um die Technik in Sachen Sternbeobachtung und Raumfahrt.
Besonders ist jedoch, dass bei den Sternbildern auf die kulturellen Unterschiede eingegangen wird. Neben den klassischen griechischen Sternbildern, die uns hier am bekanntesten sind, erfahren kleine Sternkundler:innen etwas über die Himmel der Chinesen, der Südafrikaner und der Navajos. Die Konstellationen haben bei diesen Menschen natürlich andere Namen und zeugen somit von den anderen Lebenswelten und Kulturen. So ehrt man in Südafrika Großmutter Canopus, während die Navajo den ersten Mann und die erste Frau am Himmel erkennen.

Lara Albanese: Atlas des Weltalls, Illus: Tommaso Vidus Rosin, Ü: Claudia Koch, midas, 2021, 88 Seiten, 25 Euro

Der Atlas der Wissenschaften beginnt mit einem Knall, dem Urknall, und führt von dort durch Physik und Chemie, die unser gesamtes Universum beherrschen. Hier sind die Texte länger und man wird mit ebenso vielen Fachbegriffen konfrontiert wie im Weltall-Atlas, wenn nicht sogar noch mehr. Das erfordert schon so einiges Vorwissen. Über die Astrophysik geht es weiter zur Geologie und dem Aufbau der Erde mit ihrer Atmosphäre, den tektonischen Platten, dem Wasser, aus dem das Leben stammt. Am Ende sind wir bei der Biologie mit ihren Zellen, Viren und Bakterien und der Entstehung der Arten.
Eingewoben in diesen naturwissenschaftlichen Rundumschlag sind die Namen von Wissenschaftler:innen und Entdecker:innen samt ihrer Ideen und Theorien. Das ist viel Stoff, zeigt aber sehr anschaulich, wie all dies miteinander in Verbindung steht und zusammenhängt. Vielleicht ist dieser Altas eine ganz gute Ergänzung zu monothematischen Schulbüchern.

Loris Stella: Atlas der Wissenschaften, Illus: Tommaso Vidus Rosin, Ü: Claudia Koch, midas, 2023, 88 Seiten, 25 Euro

Kleinformatiger und daher leider mit sehr viel kleiner Schrift kommt der Altas der Rohstoffe daher. Dennoch finden sich hier eine Vielzahl von Informationen über 24 verschiedene Rohstoffe wie Gold, Kaffee, Baumwolle, Lithium, Öl oder Soja. Diese werden auf Doppelseiten anhand einer Weltkarte vorstellt. Man erfährt so, wo die Rohstoffe ab- oder angebaut werden, wer sie verbraucht und wie sie die (Handels-)geschichte geprägt haben. Dazu gibt es Anekdoten, Historisches und seltsame Geschichten, Hintergrundinfos zu Welthandel und zu Verkehrswegen.
Allein die Auftakt-Illu eines Bleistiftes macht deutlich, wie viele verschiedene Rohstoffe in so einem kleinen, kaum beachteten Alltagsgegenstand stecken und wie sehr wir mit der Welt vernetzt sind, ohne es immer zu wissen. So wird dieser Atlas zu einem Lehrstück über die alltägliche Globalsierung, die zum einen schon seit Jahrhunderten praktiziert wird und die zum anderen auch nicht mehr aufzuheben ist. Wir sollten nur sehr viel bewusster mit all diesen wertvollen Rohstoffen umgehen.

Alessandro Giraudo: Atlas der Rohstoffe, Illus: Irene Rinaldi, Ü: Claudia Koch, midas, 2023, 88 Seiten, 25 Euro

Nicht ganz anfreunden konnte ich mich mit dem City Atlas von National Geographic. Hier geht es durch 32 Großstädte, zumeist auf einer Doppelseite, hin und wieder auf vier Seiten. Die Geschwister Erik und Iris erzählen in einer Bubble jeweils kurz etwas über ihren Aufenthalt in der jeweiligen Stadt. Danach gibt es im Schnitt zehn Tipps, was man in den Städten besichtigen und machen sollte. Diese Tipps sind auf der Illu mit Nummern verortet – und da liegt das Problem (für mich): Die Illus der Städte sind im Grunde ganz hübsch, aber so abstrahiert, dass für mich am Ende fast alles gleich aussah. Man muss schon sehr genau hinsehen und evt. ein paar Sehenswürdigkeiten bereits kennen, um sie in den Bildern zu entdecken. Ich wage ein bisschen zu bezweifeln, ob man damit Kids Lust auf eine Städtetour macht …

Federica Magrin: City Atlas, Illus: Giulia Lombardo, Ü: Anke Wellner-Kämpf, National Geographic/White Star, 2022, 96 Seiten, 16,95 Euro

Religiöse Kinderbücher

In Italien, dem ur-katholischen Land, sehr viel verbreiteter als hier, sind die Bücher zu religiösen Themen. Nur wenige werden ins Deutsche übersetzt.

Im Bilderbuch Der rote Faden stellt ein kleiner Junge fest, dass es einen roten Faden gibt, der alles mit allem verbindet. Ihn mit Mama und Papa, ihr Haus mit den anderen Häusern der Stadt, die Stadt und die Menschen mit der Natur. Der Junge fragt alle möglichen Menschen, was dieser rote Faden wohl ist. Mama meint, es ist die Liebe, Papa sagt, die Vernunft, die Lehrerin erklärt, die Wahrheit. Der beste Freund des Jungen sagt, für ihn ist Gott der rote Faden.
Und so feiert dieses Buch aus der christlichen Abteilung des österreichischen Tyrolia Verlags den Glauben an Gott und die Freundschaft. Denn jede:r sollte eine:n beste:n Freund:in haben.

Manuela Monari: Der rote Faden, Illus: Brunella Baldi, Ü:  Gottfried Kompatscher, Tyrolia, 4. Auflage 2024 (2012), 32 Seiten, 18 Euro, ab 4

Geschichten von Heiligen können manchmal ziemlich faszinierend sein, ganz gleich, ob mal gläubige:r Christ:in ist oder nicht. Alberto Benevelli hat in diesem kleinen Buch sechs Viten kindgerecht erzählt: Georg tötet den Drachen, Martin teilt seinen Mantel, Romedius – den ich bis jetzt noch nicht kannte – zähmt einen Bären, Franziskus wählt den Weg der Armut, Johanna kämpft für Gott im Krieg und Maximilian Kolbe opfert sich im KZ Auschwitz im Tausch gegen einen Familienvater. Der christliche Anspruch und die Intention sind offensichtlich. Es ist eines dieser typischen Bücher, die zur Erstkommunion verschenkt werden können. Nur schade, dass das Geschlechterverhältnis bei den Heiligen etwas unausgewogen ist.

Alberto Benevelli: Heilige Ritter. Große Heilige und ihre Geschichten, Illus: Loretta Serofilli, Ü: Gabriele Stein, Tyrolia, 2017, 60 Seiten, 14,95 Euro, ab 8

Ein etwas anderes Weihnachtsbuch liefert Beatrice Masini. Sie lässt die Heiligen Drei Könige eines Tages einem falschen Kometen folgen. Die drei verirren sich und verbringen den 24. Dezember in einer weit entfernten Oase. Dort erinnern sie sich an ihre bisher erlebten Abenteuer und erzählen. Insgesamt 24 ungewöhnliche Geschichten rund um die Könige und das Christkind lassen sich hier entdecken. Da geht es um Schnee in der Wüste, Parfum aus dem Suk oder warum einmal exotische Tiere vor der Krippe standen. Aber auch sehr italienische Themen und Bräuche fließen hier ein. So tritt Pulcinella auf und serviert neapolitanische Pizza. Die Befana, die Hexe, die in Italien den Kinder am 6. Januar Geschenke bringt, flirtet mit Balthasar.
Für die Adventszeit also ein charmantes Buch zum täglichen Vorlesen und Freuen auf Weihnachten.

Beatrice Masini: Die unglaublichen Abenteuer der Heiligen Drei Könige, Illus: Angela Marchetti, Ü: Gabriele Stein, Tyrolia, 2014, 112 Seiten, 14,95 Euro, ab 8

Ich muss tatsächlich zugeben, dass ich bis dato noch nie etwas von Khalil Gibran gehört, geschweige denn gelesen habe. Und jetzt bin ich auch nur auf ihn gekommen, weil es bei Patmos eine Version von Der Prophet gibt, die aus dem Italienischen übersetzt und für Kinder erzählt wird. Dass literarische Klassiker für Kinder in kondensierter Form herausgebracht werden, ist in Italien gang und gäbe. Alle großen Werke beispielsweise von Dante oder Manzoni gibt es immer auch in kindgerechter Form. Nun also Khalil Gibran. In diesem Buch sind zwölf seiner Reden in verkürzter Form versammelt. So erzählt der Prophet kurz vor seiner Abreise den Stadtmenschen von der Liebe, den Kindern, der Arbeit, der Freiheit, von Selbsterkenntnis und Freundschaft. Diese philosophischen Texte lesen sich wie biblische Gleichnisse. Natürlich kann sich jede*r ihren Teil dazu denken. Ob es Kindern wirklich gefällt, ist die Frage.
Die Illus von Alessandro Sanna schrammen zwischen Kitsch, Poesie und Esoterik. Für Fans von Gibran ist das hier sicherlich eine Publikation, um Kindern seine Weisheiten näher zu bringen.

Khalil Gibran: Der Prophet. Kindern erzählt, Hg: Anna Peiretti, Illus: Alessandro Sanna, Ü: Gabriele Stein, Patmos Verlag, 2023, 64 Seiten, 18 Euro, ab 8

Comics

Italien kann auf eine lange Comic-Tradition zurückblicken, selbst wenn das in Deutschland nicht so präsent ist wie die Bildergeschichten aus den USA, Belgien und Frankreich. Zu den neuesten Publikationen bei uns gehören die folgenden:

Timothy hat gerade eine nicht so gute Zeit: Seine Eltern streiten ständig, in der Schule läuft es mies, seine kleine Schwester plärrt nur rum und ein Fiesling will den Park mit dem schönen alten Baum in eine Zementhölle verwandeln. Halt findet Timothy nur bei seinen beiden Lieblingshelden aus dem TV. Doch eines Nachts bemerkt er, dass sein rechter Daumen grün leuchtet – wie das kommt, weiß niemand. Mit diesem Wunderdaumen kann Timothy Pflanzen heilen und findet den Mut, sich gegen den Fiesling zu stellen und den Park zu retten.

Dieser Heldencomic der anderen Art ist entzückend unlieblich von Gud gezeichnet, feiert den Mut der Jüngsten und appelliert an den Zusammenhalt der Gemeinschaft, die etwas gegen fiese Investoren und Umweltzerstörer unternehmen kann. Man kann nur hoffen, dass die nächsten Bände von Timothy Top ebenfalls übersetzt werden.

Gud: Timothy Top. Der magische grüne Daumen, Band 1, Ü: Henrieke Markert, Edition Helden, 2022, 144 Seiten, 18,90 Euro, ab 8

Der Römer Zerocalcare ist seit Kobane Calling in der Graphic-Novel-Szene ein bekanntes Gesicht. Zero verarbeitet in seinen Büchern immer seine eigene – mehr oder minder wahre – Geschichte und seine eigenen Erfahrungen. So auch in Die Krake im Nacken. Dieses Mal nimmt er uns mit in seine Kindheit in den 1990er Jahren an seine Schule und erzählt von den Beziehungen zu seinen Mitschüler:innen und Lehrer:innen. Es geht um den Druck dazuzugehören, die richtigen Serien gesehen zu haben, Mut zu beweisen und bei den Mädchen auf dicke Hose zu machen. Als er eines Tages, nach einem verbotenen Ausflug in den Wald, inklusive Auffindung eines menschlichen Schädels, eine Mitschülerin zu Unrecht der Lehrerin ausliefert, legt sich von nun an die Krake der Reue um seinen Hals. Und so entspinnt sich ein kurzweiliger Tripp durch pubertäre Schuljahre, samt rätselhaften Gestalten, einem Spukhaus und Minderwertigkeitskomplexen.
Zerocalcare liefert eine so dermaßen italienische Coming-of-Age-Geschichte, dass die Übersetzerin Myriam Alfano, die mal wieder hervorragend den Ton von Zeros Slang getroffen hat, ein Glossar zur italienischen Popkultur aus den 1980er und 1990er Jahren verfasst hat. Denn nicht alles, was damals in Italien bei der Jugend angesagt war, war auch in Deutschland populär. So gibt es neben Darth Vader, Curt Kobain und Che Guevara so einige Figuren aus japanischen Animes wie Jeegrobbó oder Yatterman, die nur echten Experten was sagen dürften. Im Lesefluss haben mich diese Unbekannten nicht gestört, denn ich hatte ja bei den italienischen Namen wie Alberto Sordi oder Gianni Rodari meine Wiedererkennungsmomente.
Für Fans von Zerocalcare ist das hier ein großer Spaß – und die Geschichte um den Schädel wird auch geklärt …

Zerocalcare: Die Krake im Nacken, Ü: Myriam Alfano, avant, 2024, 192 Seiten, 25 Euro

Manchmal gibt es merkwürdige Zufälle. Jetzt liegt hier der 1. Sammelband der W.i.t.c.h. vor mir, eine Comic-Reihe über fünf Mädchen mit Zauberkräften. Und ich stelle fest, dass ich im Jahr 2000 die erste Geschichte daraus übersetzt habe. Auf meinem Rechner findet sich noch die alte Datei. Die Texte im Band sind ordentlich überarbeitet worden, denn damals hatte ich noch längst nicht so viel Erfahrung im Übersetzen wie heute. Aber der Kern ist identisch. Mein Name taucht in dem Band nirgendwo auf. Damals wurde das Projekt auf Eis gelegt, zwei Jahre später waren auf einmal Hefte von W.i.t.c.h. im Handel – ohne dass ich weiter mit der Übersetzung beauftragt worden war. Ehapa ist damals von Leinfelden-Echterdingen nach Berlin umgezogen und mein Kontaktmensch ist nicht mitgegangen. So riss meine Verbindung zu Ehapa. Später habe ich dann andere Comics für Egmont-Ehapa übersetzt. Aber W.i.t.ch. habe ich immer ein bisschen hinterher getrauert. Denn es sind wirklich ganz liebenswerte Figuren, die dort agieren.

Die fünf Hauptfiguren sind Schulmädchen, die über magische Fähigkeiten entsprechend der Naturelemente Feuer, Wasser, Erde, Luft und Energie verfügen. Sie werden als Wächterinnen ausgewählt, um das Parallelreich Kandrakar zu schützen. Soweit so spannend, wie auch typisch Fantasy.
Diese Geschichten, die vom italienischen Walt-Disney-Team erfunden wurden, liefern eine Mischung aus Manga und Disney mit liebenswerten Figuren, natürlich bösen Gegenspieler:innen und heißen Jungs. Allerdings merkt man auch, dass diese Comics schon ein gewisses Alter haben, wenn man die Technik – Strippentelefone, Röhrenbildschirme, Speicher-Floppydisks – betrachtet, die bei uns Erwachsenen vielleicht nostalgische Gefühle aufkommen lassen, Jugendliche aber wohl eher verwundern dürften. Aber Fans dürften sich über die hochwertigen Sammelbände als Hardcoverausgaben freuen.
Wenn ich das richtig überblicke, sind bisher elf Sammelbände und zwei zusätzliche Bücher erschienen. Man kann sehr tief in den W.i.t.c.h.-Kosmos eintauchen.

Elisabetta Gnone/Francesco Artibani/Bruno Enna: W.i.t.c.h., Band 1, Ü: Sabine Schirmer, Egmont Comic Collection, 4. Auflage 2024, 384 Seiten, 29,99 Euro, ab 10

Und auch die Winx erleben gerade eine Neuauflage als dicke Sammelbände. Auch hier habe ich lange Jahre die Geschichten übersetzt. Winx Club 02, das im Frühjahr herauskommt, habe ich ebenfalls wieder übersetzt.
Hier sind es sechs Feen mit unterschiedlichen magischen Fähigkeiten aus Natur, Musik, Mode, Kunst, Technik, die Abenteuer aller Art auf dem Planeten Magix erleben. Sie kämpfen gegen die Hexen Trix und andere böse Wesen.
Viele Kids kennen möglicherweise die Zeichentrickserie. Die Realverfilmung ist meines Wissens eher gefloppt. Aktuell gibt es wohl Bestrebungen, die Winx dahingehend zu überarbeiten, dass das Körperbild und das Auftreten nicht mehr so sehr einem Männertraum entspricht, sondern kindgerechter wird. Hoffen wir mal, dass das klappt. Die Winx jedenfalls feiern in jeder ihrer Geschichten nämlich die Freundschaft und den Teamgeist.

Iginio Straffi: Winx Club 01, Das Geheimnis von Alfea, Ü: Matthias Wieland, Ehapa Comic Collection, 2024, 25 Euro

Worauf ich bisher noch nie eingegangen bin, und was vielen vielleicht gar nicht so klar ist: Die Geschichten in den Lustigen Taschenbüchern von Walt Disney werden seit vielen Jahren zum Teil in Italien produziert und daher aus dem Italienischen übersetzt.
Ich werde hier jetzt keine Zusammenfassung irgendeines neues Bandes liefern – das Cover ist daher eher als Symbolbild zu verstehen – vielmehr möchte ich auf das Video von Übersetzungskollegin Petra Müller verweisen und es hier einbinden, die für die Weltlesebühne e.V. von ihrer Arbeit an den Lustigen Taschenbüchern berichtet. Das ist überaus interessant und sagt alles …


Zum Schluss noch ein Pinocchio – diesmal einer für Erwachsene. Hierbei handelt es sich um eine SEHR freie Adaption der Lügenjungen-Geschichte, die nicht jugendfrei ist.
Geppetto ist in dieser Variante Diplom-Erfinder und mit einer ehemaligen Sexarbeiterin verheiratet. In seiner Werkstatt dengelt er einen metallenen Pinocchio zusammen, den er als Wunderwaffe ans Militär verkaufen will. In Pinocchios hohlen Kopf zieht die Wanze Jiminy ein und dieses Wesen ist quasi das einzige, das spricht, erzählt, schreibt. Die Story von Pinocchio selbst kommt ohne Worte auf. Braucht es auch nicht. Die krassen Bilder sprechen für sich. Sie sind nichts für schwache Nerven, denn es geht sehr blutrünstig und splattermäßig zu.
Dieser Pinocchio, der bereits 2009 zum ersten Mal auf Deutsch vorlag und jetzt neu aufgelegt wurde, ist also auch schon fast ein Klassiker und kommt eher als düstere, testosterongesteuerte Männerfantasie daher. Hinter Winshluss steckt der französische Comicautor und Regisseur Vincent Paronnaud, der 2007 zusammen mit der iranischen Comiczeichnerin Marjane Satrapi deren Graphic Novel Persepolis als Animationsfilm veröffentlichte.
Aber dieser Pinocchio ist auch mit unzähligen kulturellen Anspielungen gespickt, wie Disneys Schneewittchen, das allerdings von fiesen Zwergen missbraucht wird. Dazu kommt jede Menge Gesellschaftskritik, weshalb es mit einer schnellen Lektüre nicht getan ist. In jeder Runde entdeckt man neue Aspekte und Details. Für Literaturwissenschaftler:innen ist dieses Werk eine Fundgrube für Analysen, Interpretationen und Deutungsdiskussionen.
In meiner Pinocchio-Sammlung erweitert diese Graphic Novel nun die klassischen Textausgaben um den ganz freien Umgang mit dieser Geschichte und zeigt, was man aus alten Texten alles machen kann.

Winshluss: Pinocchio, Ü: Kai Wilksen, avant, 2024, 208 Seiten, 30 Euro

Soweit. Dank an alle, die bis hierher gelesen haben.
Im nächsten Jahr gibt es wieder ein Up-Date zur italienischen KJL in Deutschland. Ich freu mich drauf!

Gegen das Schweigen und die Scham

Missbrauch

Eigentlich sollten Sportvereine ein sicherer Ort sein. Es sollte um den Sport gehen, um den Spaß und die Gemeinschaft. Und zwar nur darum. Doch wir alle wissen, dass das manches Mal nicht so ist. Allerdings wird immer noch viel zu selten über sexuellen Missbrauch im Sport gesprochen. Martin Schäuble setzt mit seinem neuen Buch, Warum du schweigst nun dagegen ein Zeichen.

Er erzählt die Geschichte von Lena, die Fußball über alles liebt und mit ihrer Mädchenmannschaft vom Aufstieg in die Landesliga träumt. Mit dem alten Trainer hat das allerdings nicht geklappt. Doch nun trainiert Charly die Mädchen und alle Zeichen stehen auf Erfolg und Aufstieg. Allerdings hat Charly andere Trainingsmethoden, er lobt die Mädchen überschwänglich, verschickt nach dem Training an die Besten aufmunternde Textnachrichten, gibt schon mal Pizza nach einem gewonnenen Spiel aus. Vermutlich wünscht man sich so etwas.

Übermäßiger Körperkontakt

Doch Charly ist übergriffig. Er nennt die Mädchen »Prinzessin«, »Göre« oder »Meine Hübsche«. Er platzt in die Umkleide und fasst die Mädchen an, obwohl das überhaupt nicht angebracht ist. Er nötigt die Mädchen zum Alkoholkonsum, unter dem Vorwand nur so ordentlich feiern zu können. Lena wird das zusehends zu viel, aber sie wagt es nicht, sich dagegen zu wehren, schließlich ist Charly der Trainer. Als dieser eines Tages bei Lena zu Hause auftaucht und Lenas Mutter nicht da ist, kommt es zum Äußersten.

Belastete junge Liebe

Parallel zu diesem Erzählstrang, der aus Lenas Perspektive geschildert wird, gibt es die Sichtweise von Tim. Der Junge ist in Lena verknallt und im Laufe der Geschichte finden die beiden zusammen. Allerdings verhält sich Lena ihm gegenüber zurückhaltend, sobald es zu Zärtlichkeiten kommen könnte. Tim versteht das nicht. Kann es auch nicht verstehen, weil Lena aus Scham niemandem etwas von der häuslichen Vergewaltigung erzählt hat.

Gründliche Recherche

Wie bei seinen vorherigen Büchern hat Martin Schäuble auch hier wieder gründlichst recherchiert. Er hat mit Betroffenen und Psycholog:innen gesprochen, er hat den Dialog mit Sportvereinen gesucht und ist dabei nicht immer auf offene Ohren gestoßen. Manche Vereine haben seine Gesprächsanfragen abgelehnt – was zu deutlich zeigt, wie wichtig es ist, viel mehr über Missbrauch im Sport zu reden.
Doch die, die mit Schäuble gesprochen haben, tragen in großem Maße zu dieser authentischen Geschichte bei. Sie waren die ersten Lesenden, haben bei den Formulierungen der übergriffigen Sprache geholfen. Und das ist so perfekt gelungen, dass mir beim Lesen von Lenas Erlebnissen schon ganz anders wurde. Als Außenstehende erkennt man die Spielchen des Trainers, sieht, wo er sich falsch verhält, und möchte Lena anstupsen, damit sie sich sofort wehrt. Aber das schreibe ich als Erwachsene. Für junge Mädchen ist es immer noch schwierig, sich solchen Übergriffen selbstbewusst zu entziehen und die Täter umgehend in ihre Schranken zu verweisen oder anzuzeigen.

Mutmachende Geschichte

Umso mehr macht diese Geschichte allen Betroffenen Mut, die Stimme zu erheben, nicht zu schweigen und sich Verbündete zu suchen. Auch Lena sucht sich am Ende Hilfe und kommt in Kontakt mit anderen Mädchen, an denen sich Charly vergangen hat. Lena schafft es, und dieser Spoiler sei bei so einem schwierigen Thema bitte erlaubt, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Genau dies wünscht man allen …

Martin Schäuble: Warum du schweigst, Fischer Sauerländer, 2024, 240 Seiten, 14,90 Euro, ab 14

Die Taylor Swift der Germanistik

classy

Lange habe ich nichts mehr rezensiert, denn irgendwie ist die Zeit bei all den Übersetzungsprojekten auf meinem Schreibtisch knapper geworden. Aber als neulich die Pressemitteilung vom Carlsen Verlag zu But make it classy! von Teresa Reichl bei mir eintrudelte, war ich auf der Stelle angefixt: eine Literaturgeschichte über deutsche Klassiker auf feministisch gebürstet. Wow! Wie sehr hätte ich mir das in der Schulzeit oder im Studium gewünscht. Im vergangenen Jahrtausend habe ich mal Germanistik studiert und den einen oder anderen klassischen Text gelesen, geliebt, gehasst oder auch nicht verstanden. Einiges konnte ich nun mit viel Spaß wiederentdecken.

Mehr als der klassische Kanon

Terea Reichl, Kabarettistin und YouTuberin, unternimmt nämlich in diesem für Literaturgeschichten eher schmalen Bändchen eine Reise vom Barock bis zur Romantik der deutschen Literatur. Vieles davon ist vermutlich (aus der Schule bin ich ja noch länger raus als aus dem Studium) immer noch Stoff in den hiesigen Mittel- und Oberstufen. Reichl umreißt jeweils die wichtigsten Merkmale der einzelnen Epochen und stellt dann jeweils drei Werke daraus vor. Neben den bekannten Allzeit-Klassikern wie Lessings Emilia Galotti, Goethes Faust oder E.T.A. Hoffmanns Sandmann hat sie wunderbare Werke von klassischen Schriftstellerinnen ausgegraben, die es allesamt wert wären, mehr gelesen, weiter analysiert, weiter verbreitet und in der Schule behandelt zu werden. Ich muss zugeben, die meisten davon kenne ich nicht – im vergangenen Jahrtausend waren Schulunterricht und Studium echt noch komplett männlich geprägt.

Classy Literatur von Frauen

Umso wichtiger ist, dass das jetzt mal geändert wird. Auf meiner To-read-Liste stehen jetzt also auch Sibylla Schwarz, Christiane Karoline Schlegel, Luise Adelgunde Victorie Gottsched und Bettina von Arnim. Bei diesen vier ist die Zugänglichkeit zu den Werken zumindest gegeben, z. T sind sie sogar kostenlos im Netz zu finden. Das Theaterstück der einzigen Sturm-und-Drang-Autorin, Sophie Albrecht, hingegen ist nicht einmal mehr zu haben (außer in der Nationalbibliotheken in Frankfurt und Leipzig, was bei zwei Exemplaren für ganz Deutschland jedoch etwas spärlich ist). Allein für diese Perlen liebe ich Reichls Buch.

Klare Worte zu alten weißen Männern

Doch Teresa Reichl geht weiter. Die ausgewählten Klassiker erzählt sie auf ihre ganz eigene Art und Weise nach. Dazu sollte man wissen, dass Reichl als YouTuberin mit den Literaturanalysen angefangen hat – man kann sich so einige Clips im Netz ansehen. Und so wie Reichl in ihren Videos spricht, so schreibt sie dann auch: Rasant, rotzfrech, gespickt mit Jugendsprache, die ich zum Teil nachschlagen musste – was mir doch ziemlich deutlich vor Augen geführt hat, WIE alt ich bin –, aber genau das macht auch den Spaß an ihren Texten aus. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, sondern benennt, was bis vor einigen Jahren meist als »normales« Verhalten von Männern gegenüber Frauen akzeptiert wurde. Faust verführt eine Minderjährige, von wahrer Liebe keine Spur, Männer lassen Frauen nicht (aus)reden bzw. die Frauen äußern sich eigentlich so gut wie gar nicht (Emilia Galotti), sondern bringen sich lieber um oder werden umgebracht. Aber auch die Frauenfiguren verhalten sich manchmal nicht viel besser, wenn sich beispielsweise in Maria Stuart die Königinnen Elizabeth I. und Maria von Schottland anzicken. Sie wurden allerdings auch von einem Mann geschaffen und aus einer männlichen Perspektive heraus dargestellt.

Reichl regt zum Lesen an

In But make it classy! finden Schüler:innen jede Menge Anregungen, wie man klassische Texte interpretieren kann – und sollte. Gleichzeitig lernen sie etwas über den respektvollen Umgang zwischen den Geschlechtern und den Menschen überhaupt. Und ganz nebenbei regt Reichl natürlich zum Lesen an: Zum einen ihr eigenes Buch, das man quasi in einem Zug verschlingen kann, zum anderen macht sie auf die Originale neugierig, selbst wenn die nicht so einfach zu bewältigen sind. Mag Reichls Werk selbst vielleicht kein Klassiker werden – dazu ist die Jugendsprache viel zu aktuell und an die Gegenwart gebunden und vermutlich im nächsten Jahr bereits wieder überholt – ihr Ansatz und Blick auf die klassische Literatur ist super. Ich wünsche mir eine Fortsetzung über die Literatur des späten 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts. Da gibt es noch so viele männliche Autoren, die mal unter die Reichl-Lupe genommen werden könnten. Und die Schriftstellerinnen jener Zeit brauchen natürlich weiterhin unseren Support!

Teresa Reichl: But make it classy! Ein feministisches Close-up deutscher Literatur, Illustration: Hanna Wenzel, Carlsen Verlag, 2024, ab 14, 10 Euro

Gegen das Tabu

Suizid

Nach langer Zeit habe ich – der Buchmesse und den anregenden Kontakten dort sei Dank – mal wieder ein richtig gutes und vor allem wichtiges Jugendbuch gelesen. Im Roman Alle Farben Grau erzählt Martin Schäuble von Paul.

Der 16-Jährige ist ein ganz besonderer Typ: Er hält Vorträge über Bowie, liebt Mangas und Japan, lernt dementsprechend Japanisch und Aikido, er zockt wie seine Altersgenossen Computerspiele und wächst in einem behüteten Heim mit zwei Schwestern auf. Alles perfekt, könnte man meinen.

Die Leserschaft lernt Paul über die Ich-Erzählungen verschiedener Figuren kennen: Da sind Alina, das Mädchen aus der Akutstation der Jugendpsychiatrie, Lien, seine chinesische Mitbewohnerin im Internat, sein bester Freund Noah oder Riku, der Japanisch-Lehrer. Auch seine Familie erzählt von Paul – nachdem er sich das Leben genommen hat.

Nach einer wahren Geschichte

Dieses Buch, das nach einer wahren Geschichte entstanden ist, dreht sich um den Suizid eines psychisch erkrankten Jugendlichen und ist somit kein leichter Stoff. Reflexartig denkt man zunächst: »Muss das sein? Ist das nicht etwas zu viel? Regt es womöglich zur Nachahmung an?«
Nein, tut es nicht. Aber ja, es ist viel. Ja, es ist traurig. Und ja, es muss sein.

Denn gerade in Zeiten, in denen Jugendliche immer noch mit den Nachwirkungen der Pandemie zu tun haben und die Weltlage eh nicht zum Besten steht, müssen wir auch in Bezug auf psychische Gesundheit genau hinsehen, wie es um die Menschen um uns herum steht. Denn nicht immer ist es ihnen – jungen wie alten – anzumerken, ob es ihnen schlecht geht. Das Sprechen über psychische Erkrankungen wird dabei zu einem Schlüssel, der in unserer Gesellschaft viel zu wenig genutzt wird. Denn noch immer kommt es einer Stigmatisierung gleich, wenn man öffentlich zugibt, psychisch krank zu sein.

Unerkannte psychische Erkrankung

Pauls depressive Erkrankung wird lange nicht erkannt, auch weil bei ihm zu spät festgestellt wird, dass er das Asperger-Syndrom hat. Er nimmt die Welt also generell anders wahr, leidet dadurch aber noch stärker an seiner Umwelt und unter der Depression. So verkriecht er sich im Internat schon mal im Schrank, um zumindest dem nervigen Mitbewohner zu entgehen. Seiner eigenen inneren Stimme, die ihn ständig fertig macht, entkommt er leider nicht.

Die verschiedenen, nicht zeitlich geordneten Perspektiven – zu denen auch Pauls eigene Ich-Erzählung gehört – bilden die unterschiedlichsten Puzzleteile zu einem Menschen, der sich nach und nach den Lesenden offenbart. Dabei wird deutlich, wie wenig Außenstehende vom anderen, also von Paul wissen, ja, wissen können, und wie er im Gegenzug seine Umgebung und sich selbst wahrnimmt. Dass dabei enorme Lücken klaffen, ist so normal wie erschreckend.

Feinfühlig und offen

Martin Schäuble gelingt das große Kunststück, offen und feinfühlig über das heikle und tabuisierte Thema Suizid zu schreiben (wie Paul sich das Leben nimmt, wird nicht geschildert, denn das ist überhaupt nicht notwendig). Der Autor moralisiert nicht, er macht auch keine Hoffnungen was Paul angeht, er klagt nicht an. Die Eltern, die quasi wie in einem Interview von Paul berichten, machen sich selbst schon genug Vorwürfe. Es gib in diesem Fall keine Lösung, kein Happy End, nur ein Weiterleben für die, die zurückbleiben. Und das Sprechen mit all denen, die ebenso einen Verlust erlitten haben – das haben sich Pauls Eltern seit dem auf die Fahnen geschrieben.

Und dennoch gibt es bei allem Traurigen, das in diesen Seiten steckt, diesen Funken Hoffnung, dass sich möglicherweise für Lesende, die mit diesem Gedanken spielen, etwas ändern könnte, wenn sie nur die Kraft aufbringen, über ihre Seelenqualen und ihre selbstzerstörerischen Absichten zu sprechen. Die wichtigen Hinweise, wo Betroffene Hilfen und Gesprächsangebote finden, sind vor und nach der Geschichte aufgeführt, doch es ist im besten Fall Paul selbst, dieser eindrückliche Junge, der andere animieren könnte, sich solche Hilfe auch zu suchen.

Martin Schäuble: Alle Farben grau, Fischer Verlag, 2023, ab 14, 15 Euro

Grammatik-Liebe

Grammatik

So manches Mal stehe ich trotz langer Jahre Textarbeit mit der deutschen Grammatik auf Kriegsfuß und habe nicht sehr viel Lust, mich eingehender damit zu befassen. Zu dröge sind die gängigen Grammatikbücher.

Auf der Frankfurter Buchmesse ist mir nun noch jedoch eine absolut sinnliche Variante in die Hände gefallen: Hunde im Futur der Geschwister Susanna und Johannes Rieder.
Ohne allzu lange theoretischen Erklärungen geht es mit den Illustrationen von Arinda Crăciun gleich zur Sache. Haptischer Clou auf jeder Doppelseite ist die zweigeteilte rechte Seite, die ausgeklappt wird. Sie fungiert quasi als Titelseite für ein neues Thema und durch das Aufklappen gelangt mensch beispielsweise zum Subjekt, zu den Pronomen oder dem Tempus.

Ausklappen macht neugierig

Die Worte, Sätze, Erklärungen mäandern dann durch die bunten Seiten, machen Singular und Plural deutlich, stellen die passenden Fragen zum Genus, zeigen den Unterschied zwischen Aktiv und Passiv.
Und so blättert mensch sich durch die Seiten, stellt fest, dass die schmale Mittelseite beim Umklappen perfekt zur Illu der Vorseite passt. Der buchherstellerische Aufwand (Carsten Aermes hat die Gestaltung übernommen) ist durchweg zu spüren und auch die große Liebe, die hier dem eigentlich trockenen Thema entgegen gebracht wird.

Lerneffekt garantiert

Junge Lesende, die noch am Anfang ihres Grammatik-Lernpensums stehen, werden spielerisch mit den Fachbegriffen konfrontiert und bekommen eingängige Erläuterung oder Beispiele. Auch der Hinweis, dass mensch beim Lernen von neuen Sprachen gewisse Dinge einfach auswendiglernen sollte, fehlt genauso wenig, wie die Tatsache, dass Sprache sich ständig verändert und eigentlich nie fertig ist – so wird auf die aktuelle Genderdebatte und die sich wandelnden Ausdrucksformen verwiesen.
Und auch Grammatik-Profis finden vielleicht noch die ein oder andere Neuigkeit. Für mich war es das wunderbare Wort »Wunschsatz« als Kategorie der Satzarten, der dann in Form eines Ausrufungszeichen mit Herz statt Punkt dargestellt wird.

Diversität in den Illustrationen

In den Illustrationen von Arinda Crăciun fällt aber nicht nur die anregende Verspieltheit auf, sondern auch die Diversität der Figuren. Da küssen sich zwei Männer, es gibt Menschen mit verschiedenen Hautfarben, mit und ohne Kopftuch, mit Kippa, alt und jung, alte Römer mit Hunden, eine Polizistin auf der Jagd nach Mister X. und Rosa Parks. Und natürlich Hunde aller Art, aber auch Hasen, Fische, Schmetterlinge und (Fleder-)mäuse. So mischen sich abstrakte Wissenseinheiten mit wimmelbildartigen Kunstwerken.

Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022

Zurecht war diese wunderbare Buch in diesem Jahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Und auch wenn es nicht gewonnen hat – der Preis für die Sparte Sachbuch ging an Der Duft der Kiefern vonBianca Schaalburg –, ist es ein Schatz, der das Zeug zum Dauerbrenner hat.
Für Kids, die beim Thema Grammatik das Gesicht verziehen, ist dieses Buch möglicherweise eine Hilfe und Augenöffner.

Susanna Rieder/Johannes Rieder: Hunde im Futur. Eine Grammatik in Bildern, Illustration Arinda Crăciun, Susanna Rieder Verlag, 2021, 128 Seiten, ab 8, 30 Euro

Visuelle Zweitzeugen des Holocaust

Holocaust

Nachdem ich vor zwei Jahren die Erinnerungen der Schwestern Andra und Tatiana Bucci, Wir, Mädchen in Auschwitz, übersetzt habe, begleitet mich das Thema der Kinder im Holocaust. Diese Kinder, die heute alle über 80 Jahre alt sind, bilden die letzte Generation der Zeitzeugen und sollten mehr denn je gehört werden.

Im vorliegenden Band erzählen die Illustrator:innen Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar die Erinnerungen von vier solcher Kinder in eindrucksvollen Graphic Novels. So widmet sich Barbara Yelin dem Schickal von Emmie Arbel, die als Vierjährige aus den Niederlanden nach Ravensbrück verschleppt wurde.

Der Schrecken der Lager

Wir lernen Emmie als alte rauchende, Auto fahrende, Solitär spielende Frau in Israel kennen, die weiß, dass sie stark ist. Doch diese Stärke ist durchzogen von Rissen, in denen die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit immer wieder durchscheinen, sei es in der Angewohnheit, im Café dicht an der Tür sitzen zu müssen, oder den unguten Gefühlen, wenn ihr Jugendliche mit kurz rasierten Haaren begegnen. Gleichzeitig ist da auch immer wieder der Satz »Ich erinnere mich nicht«. Dafür ist das, was Emmie erinnert umso eindrücklicher und spiegelt wie all die Zeitzeugengeschichten aus den Konzentrationslagern den Horror des Holocaust. Yelin setzt diese Erinnerungsbrocken in graublau-düstere Bilder um, die eigentlich mehr andeuten, als dass sie zeigen. Das jedoch reicht bereits, um Schrecken und Tod offensichtlich zu machen.

Der Holocaust in Transnistrien

Miriam Libicki stellt mit der Geschichte von David Schaffer ein weniger bekanntes Kapitel im Holocaust dar, den in Transnistrien. Jüdische Familien wurden aus ihren Häusern auf dem Land vertrieben, in Ghettos zusammengepfercht und später quasi ziellos durch die Gegend getrieben. Die rumänischen Verbündeten machten für die Deutschen die Drecksarbeit. Es herrschte ein heilloses Durcheinander – in dem sich die Familie von David nicht an Regeln hielt, sondern sich von den anderen Deportierten absetzen und im Wald untertauchen konnte. Dort schließt sie sich mit einer anderen Familie zusammen und gemeinsam gelingt es ihnen, die harten Kriegsjahre 1942/43 zu überstehen, bis Transnistrien von den Sowjets befreit wird. Die Ereignisse in Transnistrien sind verwirrend, doch das Leiden des jungen David wird in den fast knallbunten Illus von Miriam Libicki spürbar. Eine Flasche Speiseöl wird im Hungerwinter zu einem fast heiligen Objekt, der Stacheldraht, mit dem David sich die Lumpen um die Füße bindet, tut beim bloßen Anblick weh. Die ausgemergelten Figuren mit den großen leidenden Augen bleiben haften.

Verstecken in den Niederlanden

Beige-blau reduzierter schildert Gilad Seliktar die Geschichte der Brüder Nico und Rolf Kamp, die sich als Kinder in den Niederlanden vor der Deutschen versteckten – getrennt von ihren Eltern. Sie versteckten sich jedoch nicht einmal, sondern mussten immer wieder weiter. 13 Mal insgesamt. Die beiden Brüder schildern ihre unterschiedlichen Sichtweisen, den Wunsch des Kleineren dazugehören und den Davidstern tragen zu wollen, das Spiel mit den Kaninchen, die irgendwann auf dem Teller landen, die Übernachtungen in einem Hühnerstall. Sie geraten in ein deutsche Patrouille, überstehen knapp eine Schießerei. Die Eltern werden nach Auschwitz deportiert, nur die Mutter überlebt.

Aufschlussreicher Anhang

Den drei Graphic Novels folgt ein Anhang, in dem die Entstehung dieses Buches ebenfalls in einer Graphic Novel erzählt wird. Die Zeitzeugen kommen noch einmal in Textform zu Wort und schildern, wie ihr Leben weiterging. Abschließend werden die historischen Hintergründe noch etwas genauer beleuchtet und die Berichte somit genauer eingeordnet, was bei den eher unbekannten Ereignissen in Transnistrien besonders wichtig und erhellend ist.
Auf der Website holocaustgraphicnovels.org/ gibt es zudem Filme, die die Zeitzeugen in Gesprächen mit ihrer jeweiligen Illustrator:in zeigen sowie weitere Hintergrundinformationen und Workshop-Termine.

Diese drei Geschichten bereichern die bereits bekannten Zeitzeugenberichte um weitere Nuancen. Sie zeigen, wie sehr die Vergangenheit in der Gegenwart präsent ist. Sie mahnen, Faschismus und Krieg nie wieder zuzulassen – was sich in den heutigen Tagen fast zynisch anhört, dafür aber umso wichtiger ist. Gerade auch diese gelungene visuell-graphische Aufarbeitung von Historie könnte Jugendliche anregen, selbst Großeltern oder ältere Menschen über ihre Vergangenheit zu befragen, und so zu Zweitzeugen zu werden, die deren Geschichten bewahren und weitertragen.

Barbara Yelin/Miriam Libicki/Gilad Seliktar: Aber ich lebe, Übersetzung: Rita Seuß, hg. Carlotte Schallié, C.H. Beck, 2022, 176 Seiten, 25 Euro

Klassischer Grusel in kindgerechtem Gewand

Sandmann

Dieser Tage habe ich eine literarische Zeitreise in meine Studienzeit gemacht, als ich vor mehr als 30 Jahren im germanistischen Seminar in Hamburg E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann analysiert habe. Das gelbe Reclam-Heftchen mit meinen Anmerkungen und Anstreichungen ist fast ein kleines Kunstwerk.
Auslöser für diese Wiederlektüre ist die Neuerzählung der romantischen Geschichte durch Anna Kindermann, passend zum 200. Todestag des Schriftstellers am 25. Juni. In ihrem gleichnamigen Verlag wird seit Jahren Weltliteratur für Kinder aufs Schönste aufbereitet. Beim Sandmann allerdings habe ich mich anfangs erstaunt gefragt, ob so eine düster-gruselige Geschichte für Kids überhaupt sinnvoll ist.

Tiefenpsychologische Romantik

Im Sandmann kämpft die Hauptfigur Nathanael nämlich im Grunde gegen eine frühkindliche Traumatisierung, verliebt sich in einen Automatenfrau und wird von unerklärlichen Figuren in seinem Umfeld in den Wahnsinn getrieben. Die Sache geht bekanntermaßen nicht gut aus.
Kindermann schafft es jedoch, die komplexe Geschichte, an der sich Heerscharen von Literaturwissenschaftler ihre grauen Interpretationshirnzellen zermartern, in eine rasant lesbare Story zu bringen, deren Knalleffekte und Twists fast mehr an großes Actionkino erinnern, denn an ein tiefenpsychologisches Drama. Überspitzt gesagt.

Unzählige Deutungsmöglichkeiten

Natürlich ist der Sandmann zutiefst psychologisch und überaus rätselhaft: Sind die Figuren vom Advokaten Coppelius und dem Wetterglashändler Coppola identisch? Gibt es den Sandmann vielleicht doch wirklich? Warum spielen die Augen so eine große Rolle? Warum liebt Nathanael Olimpia mehr als Clara? Und wieso merkt er nicht, dass Olimpia ein Automat ist?
Letzteres lässt mich heute aus Frauenperspektive aufhorchen: Männer mögen wortkarge Frauen also lieber, die ihren Kerlen aufmerksam zuhören, ohne zu stricken oder mit dem Schoßhündchen zu spielen, und nur mit »Ach, ach!« antworten. Die handfeste, hellsichtige Clara mit ihrer klaren Deutung von Nathanaels Zuständen ist schon damals (in Hoffmanns Original) viel zu selbstbewusst, um den tragischen Helden dauerhaft an sich binden zu können. Ziemlich hellsichtig, dieser E. T. A., schon vor mehr als 200 Jahren.

Kindgerecht neuerzählt

Kindermann lässt plot-technisch nichts aus, doch sie glättet gar zu gruselige Szenen – beispielsweise wenn die alte Kinderfrau im Original, den Sandmann, der so gar nichts mit dem TV-Sandmännchen zu tun hat, drastisch schildert: »Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.« Die in Kindermanns genutzten Originalzitate sind kursiv gedruckt und in diesem Fall endet es nach den »Händevoll Sand in die Augen«. Das macht die Lektüre für junge Leser ab zehn Jahren erträglich – und trotzdem gruselig-spannend.

Heimelige Illus

Zu dem Wohlfühl-Gruseln tragen dann die Illustrationen von Dorota Wünsch ihren Teil bei: Sie sind farblich eher abgetönt und erdig gehalten, versprühen also nicht gerade Fröhlichkeit, verstören aber auch nicht. Frackschöße und Krinolinenkleider versetzen das Publikum viel mehr in die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts, als Alchemie und Automaten der letzte Schrei waren, aber auch damals schon der Kampf ums Urheberrecht (wer ist der eigentliche Schöpfer von Olimpia: Coppola oder Spalanzani?) im Gang war.

Verführung zur Weltliteratur

Okay, die Interpretationsansätze für den Sandmann sind vielfältig, und jede:r von uns wird sich bei der Lektüre etwas Eigenes denken. Für lesebegeisterte Kinder ist die Version von Anna Kindermann ein gelungener Einstieg in die Gruselliteratur der schwarzen Romantik und regt so vielleicht die Neugierde auf die Klassiker der Weltliteratur.

E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann, neu erzählt von Anna Kindermann, Illustrationen: Dorota Wünsch, Kindermann Verlag, 2022, 40 Seiten, 18 Euro

Mutig leben in einer neuen Heimat

Manchmal erscheinen Bücher zu einem Zeitpunkt, an dem der Inhalt auf erschreckende Weise zu dem aktuellen Tagesgeschehen passt. Dazwischen: Wir von Julya Rabinowich ist so ein Beispiel.
In der Fortsetzung von Dazwischen: Ich von 2016 erzählt die Wiener Autorin die Geschichte von Madina weiter, die mit ihrer Familie aus einem Kriegsgebiet geflohen ist und in einer Kleinstadt Zuflucht gefunden hat.

Mittlerweile wohnt Madina mit Mutter, Tante und Bruder Rami bei ihrer besten Freundin Laura, im ehemaligen Büro deren Vaters. Madinas Vater ist wieder in seine Heimat zurückgegangen, um zu kämpfen. Wieder belässt Rabinowich es im Unklaren, woher die Familie geflüchtet ist, es ist weiterhin unerheblich. Nun wartet die 15-Jährige täglich auf Nachricht von ihm.

Ein fast normales Teenager-Leben

Doch Madina, die wieder Tagebuch schreibt, berichtet auch von ihrem neuen Alltag, in dem sie in der Schule immer besser wird – auch durch die gnadenlose Förderung und Forderung der Klassenlehrerin King. Mit Laura und ihrem Bruder Markus erlebt sie so manches emotionale Hoch und Tief, träumt von einer Jeans und Reisen, möchte einfach nur dazugehören und hat eigentlich ein neues Zuhause gefunden. Im Grunde liefert sie das Bild eines ganz normalen Teenagermädchens.
Wären da nicht die fremdenfeindlichen Typen im Ort, die sich irgendwann immer Donnerstags vor dem Café treffen und gegen Migranten pöbeln. Zunächst duckt Madina sich noch weg, macht einen Bogen um diese Ansammlung. Als Hassparolen an den Hauswänden auftauchen, gründen Madina und Laura eine Gang, die diese Schmierereien einfach selbst übersprayen. Nach und nach entwickelt Madina immer mehr Mut, macht sich grade, wie sie sagt, bis sie schließlich den Pöblern entgegentritt …

Beunruhigende Aktualität

Vieles in dieser Geschichte ist von einer beunruhigenden Aktualität, die mich durch die Seiten getrieben hat. Man kommt als Leser:in nicht umhin, eine Parallele zu den geflüchteten Frauen und Kindern aus der Ukraine zu ziehen, deren Männer und Väter in der Heimat kämpfen. Konnte man Dazwischen: Ich als Spiegel auf die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten 2015 lesen, so gleicht Teil 2, der sich inhaltlich nahtlos an den ersten Band anschließt (aber auch ohne ihn gut verständlich ist), wie ein Kommentar zu den jetzigen Ereignissen. Viele Geflüchtete kommen momentan glücklicherweise privat unter, und wir können nur hoffen, dass sie hier weiterhin viele positive Erfahrungen machen.

Doch die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus, die aus unserer Gesellschaft ja nicht verschwunden sind, lauern da draußen quasi schon. So hat mich (als alte Leserin) der fremdenfeindliche Aufmarsch vor Madinas Haus unwillkürlich an die Anschläge von Mölln, Solingen oder Rostock-Lichtenhagen erinnert. Ich verbiete mir jetzt aber, diesen Gedanken weiterzudenken, und setze darauf, dass sich doch etwas bei uns geändert hat.

Hoffnungsfigur Madina

Die Figur Madina jedenfalls zeigt mit ihrer liebenswerten und lebensfrohen Art, mit ihren Ängsten, Träumen und ihrer Wut die universellen menschlichen Eigenschaften, die es so völlig unerheblich machen, woher ein Mensch stammt. Ihr Mut macht deutlich, dass Geflüchtete sich nicht alles gefallen lassen müssen, sondern ein Recht haben, sich zu wehren – im Großen wie im Kleinen. Die Solidarität, die Madina erlebt, schürt die Hoffnung, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist.
Bücher wie Dazwischen: Wir bringen die Saat dafür aus, die in den jugendlichen Leser:innen hoffentlich aufgeht.

Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir, Hanser, 2022, 256 Seiten, ab 14, 17 Euro

Wasserschweingeschichten

In Bilder- und Kinderbüchern tummeln sich bekanntlich Tiere. Viele Tiere. Tiere aller Art. Ich habe mal versucht, eines zu finden, das noch nicht im Bilderbuch ein Abenteuer erlebt hat. Mir ist keines einfallen. Ich habe nicht ausgezählt, welche Tierart am häufigsten in Büchern auftaucht – Wölfe und Bären stehen ziemlich weit oben, Hasen oder Kaninchen ebenfalls, von Hunden und Katzen mal ganz zu schweigen, aber auch die Bewohner von Luft und Wasser sind in ordentlicher Zahl vertreten. In manchen Büchern geht es schon so weit, dass jetzt Fantasietiere wie Einschweine, Neinhörner oder Schmetterschweine herhalten müssen. Ich erinnerte mich dann an eines meiner liebsten Bilderbücher aus meiner Kindheit, in der ein Tier eine Hauptrolle spielte: das Capybara, vulgo Wasserschwein. Vielleicht liebe ich diesen Großnager so, weil ich als Kind mal ein Meerschweinchen hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich mich daraufhin auf die Suche nach Wasserschweingeschichten gemacht. Die Auswahl ist begrenzt, daher zeige ich hier einfach alle. Es sind sechs.

Ende der 1960er Jahre erschien Unser Freund Capy von Bill Peet, in der Übersetzung von G. A. Strasmann, im Carlsen Verlag, der damals noch als „Reinbeker Kinderbücher“ auf dem Cover firmierte. Peet erzählt die Geschichte seines Sohnes Bill, der Tiere liebte, Biologie studierte und eines Tages ein Capybara in der Zoohandlung bestellt. Ein Vorgehen, das heute undenkbar ist. Der Riesennager im amerikanischen Bungalow mit Pool stellt den Familienalltag auf den Kopf, erschreckt die Katzen, frisst deren Futter, ruiniert den Rasen, verdreckt das Poolwasser – und wird schließlich depressiv. Denn Wasserschweine sind Rudeltiere und allein macht es Capy in der Menschenfamilie keinen Spaß, außer es sind die Nachbarskinder zur Poolparty da. Als das depressive Tier irgendwann einen Jungen leicht verletzt, wird es ausgesperrt und schließlich in einen Zoo gebracht, wo es bei den Nilpferden ein neues Zuhause findet.

Andere Zeiten, andere Geschichten

Mit anderen Worten: Eine Geschichte, die heute eigentlich kein Mensch mehr so schreiben oder gar veröffentlichen würde. Es war für mich damals in den 1970ern wahrscheinlich die erste, in der deutlich wurde, dass Menschen wilde Tiere nicht einfach so einsperren und zu Haustieren machen dürfen. Capy fand ich süß – was an den hervorragenden Zeichnungen von Bill Peet lag – und gleichzeitig tat er mir unendlich leid.

Neues Kleid für Capy

Umso erstaunlicher ist es, dass noch 2012 der österreichische Kinderbuchautor Franz S. Sklenitzka seine Figuren Olaf und dessen Großvater ein Wasserschwein aus einem Tierheim holen lässt. In Mein Freund Pepe Wasserschwein braucht Olaf nämlich ein Haustier, weil der Junge immer allein ist und sich vor Einbrechern fürchtet, seit sein Papa weg ist. Eigentlich soll er ein Meerschweinchen bekommen, doch das kann keine Einbrecher verjagen. Im Tierheim entdeckt er Pepe, das Wasserschwein – und kann das Quieken des Tieres verstehen. Bei den beiden ist es Liebe auf den ersten Blick.

Ähnliche Geschichte

Zu Hause kürzt Pepe den Rasen, schwimmt im Gartenteich, frisst Radiergummis und Katzenfutter und wird die Attraktion für die Kinder der Gegend. Pepe wird größer und irgendwann langweilt er sich … Das Wasserschwein selbst erzählt dann Olaf, dass es Gesellschaft braucht. Und so wird Pepe schließlich in einen Tierpark zu seinen Artgenossen gebracht.
Die Ähnlichkeit dieses Erstleserbuches zu Bill Peet ist trotz diverser Unterschied nicht zu übersehen. Es scheint fast so, als hätte Sklenitzka die Geschichte von Capy gekannt…

Wasserschweine mit Botschaft

Wasserschweine können aber auch anders. Das zeigen zwei aktuelle Bilderbücher. In Die Wasserschweine im Hühnerhof des Uruguayaners Alfredo Soderguit taucht eines Tages eine Horde Wasserschweine im Hüherhof auf. Die Hühner, gestört in ihrem beschaulich-ruhigen Dasein, sind beunruhigt: »Niemand kennt die Wasserscheine, und niemand hat sie erwartet.« Für die vielen großen, nassen, haarigen Nager ist kein Platz im Hühnerhof. Nur können die Wasserschweine nicht mehr zurück in ihre Sumpflandschaft, denn dort wird Jagd auf sie gemacht.

So bekommen sie von den Hühnern Regeln diktiert, wie sie sich im Hof zu verhalten haben. Eigentlich dürfen sie nichts, vor allem nicht die Regeln hinterfragen. Doch die Neugierde der kleinen Hofbewohner lässt sich nicht aufhalten: Ein Küken und ein Mini-Capy freunden sich an. Und als die großen Wasserschweine das Küken vor einem der Jagdhunde beschützen, ändert sich alles. Einträchtig grasen Hühner und Wasserschweine im Gehege, schlafen zusammen im Stall. Und als die Jagdsaison zu Ende ist, kehren die Wasserschweine in ihren Lebensraum zurück. Allerdings nicht allein …

Mit schlichtem Strich und wenigen Farben (die Wasserschweine sind braun, die Kämme der Hühner rot, der Rest ist schwarz-weiß) erzählt Soderguit das komplexe Thema von Flucht und Vorurteilen – und bricht es überzeugend auf. Die menschlichen Jäger stehen am Ende mit leeren Händen da, während sich die Tiere zu einer starken, solidarischen Gemeinschaft zusammenfinden.

Zurück zur Natur

In seinem angestammten Urwald-Habitat, im brasilianischen Urwald, hingegen bewegt sich Capy, das kleinste Wasserschwein einer Capybara-Familie, in Die Papagei-Ei-Rettung von Sandra Grimm und Lisa Rammensee. Am Morgen fällt dem Wasserschwein-Mädchen ein Papageien-Ei quasi vor die Pfoten. Sofort steht für Capy fest, dass sie das Ei zu den Papageien-Eltern zurückbringen muss. Sie macht sich auf den Weg, das Ei unter den Bauch gebunden und durchquert den Urwald. Auf dem Weg begegnet sie netten Helfern, wie dem Kolibri Fedro, dem Brüllaffen Bört sowie dem Kaiman-Mädchen Kara, und gemeinsam bringen sie das Ei zu den blauen Aras zurück.
Die Freundschaftsgeschichte strahlt in grün-erdigen Urwaldfarben und diese Capy ist wieder so niedlich wie das Ur-Capy von Bill Peet.

Bedrohter Lebensraum

Im Anschluss an das Abenteuer gibt es acht Seiten mit Informationen über das Pantanal in Brasilien, das größte Binnenland-Feuchtgebiet der Erde, seine Artenvielfalt und die Besonderheiten der Wasserschweine (Schwimmhäute zwischen den Zehen). Kleine Tierliebhaber:innen lernen Jaguar, Gürteltier und Nandus kennen. Liebevoll werden hier schon die Kleinsten an schützenswerte Naturräume und exotische Tierarten herangeführt – was vielleicht dazu beiträgt, dass sie später einmal unserer Umwelt mit Respekt begegnen.

Das unübersetzte Capybara

Ein weiteres Wasserschwein-Bilderbuch fand ich dann noch in den Weiten des Netzes – allerdings ist es (noch) nicht auf Deutsch erschienen. Die Italienerin Michela Fabbri stellt in ihrem auf englisch erschienenen Buch I Am a Capybara die Tierart selbst vor. Dafür lässt sie ein namenloses Capybara von sich und seiner Art erzählen. Denn das größte Nagetier der Erde wird gern mit Mäusen, Bibern oder Murmeltieren verwechselt. So stellt es seine Besonderheiten im Vergleich zu einem Hund heraus: riesige Nase, immer halbgeschlossene Augen, winzige Öhrchen, versteckter Minischwanz, Schwimmhäute an den Pfoten, verborgene Nagezähne… Doch das wirklich Besondere ist aus Sicht dieses Capybaras ist seine Liebe zum einfachen Leben in Gesellschaft. Es spielt gern, erkundet die Gegend, schwimmt und streckt sich schließlich in yoga-ähnlichen Posen (das herabschauende Capybara).

Mehr Capybara sein

Das reale Wasserschwein entwickelt hier fast menschliche Züge: es trägt eine Fliege für den Besuch in der Oper, liebt eine gute Brühe und freundet sich mit einem kleinen Vogel an. Und natürlich kuschelt es gern mit seinen Artgenossen … Diese Mini-Capy-Autobiografie hat Michela Fabbri mit sparsamen Buntstiftzeichnungen illustriert und vermittelt den Betrachter:innen damit hauptsächlich, dass wir alle viel mehr wie ein genügsam-geselliges Capybara sein sollten. Ein eigentlich sehr erstrebenswertes Ziel.

Wasserschweine im Selbstverlag

Zum Schluss noch ein schmales Selfpublisher-Bilderbuch von Catalina Montoya Palacio mit Illustrationen von Vanessa forero Ramirez. Als das Umarmen verboten war erzählt vom Wasserschweinkind Dodo, das nicht vor die Tür darf, weil ein Virus kursiert und ansteckend ist. Die Wasserschweinmutter mit Perlenkette reicht Dodo das Smartphone und lässt ihn all seine Freunde, Hund, Katze, Vogel, Äffchen anrufen, damit sie einander nicht vergessen. Die Geschichte ist eher schlicht. Hier geht es nicht um das Wasserschwein an sich, sondern um die fehlende Nähe der Freunde in Coronazeiten. Ein netter Gedanke, leider eher unprofessionell umgesetzt (Layout, Schrifttype, fehlendes Impressum). Es soll hier aber der Vollständigkeit halber kurz erwähnt sein.

Bitte mehr Wasserschweingeschichten

Wasserschweine oder Capybaras sind meiner Ansicht nach also völlig unterrepräsentiert in der Bilderbuchfauna. Die sympathischen Nager mit ihrem geselligen Sozialverhalten haben Potential, in diverse Richtungen. Ich warte dann mal auf weitere Capy-Geschichten … und setze die Sammlung dann hier fort.

Alfredo Soderguit: Die Wasserschweine im Hühnerhof, Übersetzung: Eva Roth, atlantis, 2012, 48 Seiten, ab 4, 18 Euro

Sandra Grimm: Die Papagei-Ei-Rettung, Illustration: Lisa Rammensee, mixtvision, 2022, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro

Michela Fabbri: I Am a Capybara, englische Ausgabe, Princeton Architectual Press, 2021, 40 Seiten, ab 4, 16,70 Euro

Krieg erklären – Frieden suchen

Die Ereignisse in der Ukraine in den vergangenen zwei Wochen haben mich – wie vermutlich jeden von uns – schockiert, deprimiert, wütend und ängstlich gemacht. Nach dem ersten News-Overflow, ersten Demos, blau-gelben Posts und Spenden für die humanitäre Hilfe konnte ich jetzt den Blick wieder auf die Bücher richten.

Krieg ist jedoch ein so großes, so komplexes Thema, dass es hier in einem kleinen Post kaum aufzufangen ist, selbst wenn es nur um Bücher geht. In dem Jahrzehnt, den es diesen Blog nun schon gibt, haben wir immer wieder Bücher über und gegen den Krieg vorgestellt. Es sind das jedoch vor allem Bücher über die beiden Weltkriege, zum Beispiel Elisabeth Zöllers Der Krieg ist ein Menschenfresser, Maja Nielsens Feldpost für Pauline, Dorothee Haentjes-Holländers Paul und der Krieg oder auch Joke van Leeuwens Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor. Das sind allerdings immer auch Geschichten über lang zurückliegende Ereignisse, die vielleicht das Verhalten von Großeltern und Eltern erklären, für Kinder aber eher abstrakt bleiben.

Mit dem Ukraine-Krieg rückt das Geschehen nun räumlich näher, wie schon in den 1990er Jahren im Serbien-Krieg, und hat aber, dadurch, dass mit Putins Russland eine Großmacht einen Nachbarstaat angreift, eine weltpolitische Reichweite, der sich niemand mehr entziehen kann. Und die Kinder spüren natürlich unsere Ängste, hören unsere Gespräche, gehen mit auf die Demos und stellen Fragen. Einige dieser Fragen lassen sich mit den folgenden drei Büchern ansatzsweise beantworten.

Die einfachen Grundregeln des Zusammenlebens

Louise Spilsbury erklärt in Wie ist es, wenn es Krieg gibt? in 13 kurzen Kapiteln die Grundvoraussetzungen für einen Krieg: den Streit zwischen Menschen und die Gründe für Konflikte unter ihnen. Die unterschiedlichen Traditionen in verschiedenen Ländern und Religionen gehören dazu. Der Krieg verändert das Leben der betroffenen Menschen, viele verlassen die Heimat, flüchten und suchen Sicherheit.
Spilsbury kann das alles natürlich nur kurz anreißen, zeigt aber in wenigen Worten und durch die eindrücklichen, aber nicht traumatisierenden Illustrationen von Hanane Kai, welche Lösungen es für Kriege und Konflikte gäbe: miteinander reden, Regeln aufstellen und diese auch einhalten. Dazu der Versuch, andere Menschen zu verstehen und zu respektieren. Im Fall eines Konfliktes ist es wichtig zu helfen, und auch dazu gibt es in diesem Buch einige Anregungen, die den jungen Leser:innen helfen können die eigene Ohnmacht zu überwinden. Dies hier so einfach aufzuschreiben, kommt mir fast unwirklich vor, weil es im Grunde so simpel ist – und doch von gewissen Machthabern nicht befolgt wird.

Die machtgierigen Männer

Wie es dazu kommt, dass Männer machtgierig werden, zeigte David McKee bereits 2014 in seinem Buch Sechs Männer. Diese Parabel heute zu lesen, lässt einen quasi erschaudern: Es wirkt wie die Blaupause zu Putins Verhalten.
Es beginnt harmlos mit sechs Männern, die einen friedlichen Ort zum Leben und Arbeiten suchen. Dort werden sie Baumeister und Bauern – und reich. Mit dem Reichtum kommen die Sorgen, weil sie ihr Gut schützen und behalten wollen. Die Männer stellen sechs Wachen an, vorsorglich. Doch die Wachen haben nichts zu tun. Die Herrscher wollen ihr Geld aber nicht umsonst ausgegeben haben. Also werden die Soldaten losgeschickt, andere Bauern zu überfallen und deren Land zu rauben.
Die Spirale der Gewalt kommt in Gang: mehr Soldaten werden gebraucht. Die Bauern auf der anderen Seite des Flusses bekommen Angst, rüsten ebenfalls auf. Ein dummer Zufall löst den Krieg aus … Die einfachen Strichzeichnungen von McKee treffen so ins Mark, dass ich diese wenigen Seiten eigentlich nur ungläubig anschauen kann. Hier ist die gesamte Absurdität des Krieges drin: Die Soldaten der kämpfenden Parteien sind nicht mehr auseinanderzuhalten und am Ende herrscht nur der Tod. Krieg ist keine Option. Niemals. Das begreifen mit dieser Lektüre bereits Kinder.

Give Peace a chance

Das Plädoyer für den Frieden kommt von Baptiste & Miranda Paul, zusammen mit den farbenfrohen Illustrationen von Esteli Meza. Kinder sind hier auf jeder Seite mit Tieren zusammen, seien es Elefanten, Füchse, Koalas, Pandas, Pferde oder Löwen. In kurzen, oftmals gereimten Zeilen beschwören die Pauls die Schönheit des Friedens, das Wohlgefühl, das Zuhause sein und die Sicherheit herauf, die der Frieden uns gibt. Mit wenigen Sätzen erklären sie, wie wichtig es ist, die eigenen Freunde wirklich anzusehen, ihre Namen zu kennen und gemeinsam etwas Mutiges zu tun. Das Geben wird über das Nehmen gestellt und viele kleine Fische können den spitzzähnigen Hai besiegen. Im Frieden werden auch die Kleinsten gehört und der Satz »Es tut mir leid« schafft Versöhnung und echten Frieden.

Frieden ist ein hoffnungsfrohes Buch, das die Tiere mit im Blick hat, denn auch sie leiden in kriegerischen Auseinandersetzungen. Die warmen Farben der Bilder, die Kinder aus allen Nationen, die mit den Tieren kuscheln und am Ende um das Lagerfeuer sitzen und einer Vorleserin lauschen – all dies ist so tröstlich und erstrebenswert. Es gibt keine andere Option als Frieden.

Das blau-gelbe Bild mit der Taube vom Anfang dieses Posts stammt aus dem Buch der Pauls – und die Farbwahl sehen wir heute natürlich mit ganz anderen Augen. Es dürfte einer dieser seltsamen Zufälle sein, die dieses Leben auch immer wieder so erstaunlich macht.

Die drei Bücher werden momentan nachgedruckt. Louise Spilsbury ist ab 7. April wieder zu haben.

Baptiste Paul & Miranda Paul: Frieden, Illustration Esteli Meza, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2021, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Louise Spilsbury: Wie ist es, wenn es Krieg gibt?, Illustration: Hanane Kai, Übersetzung: Jonas Bedford-Strom, Gabriel Verlag, 2022, 32 Seiten, ab 5, 10 Euro

David McKee: Sechs Männer, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2014, 48 Seiten, ab 5, 13,99 Euro

Angst in Bilderbüchern

Bei mir auf dem Schreibtisch hat sich in den vergangenen Wochen, sei es bei meiner Arbeit als Übersetzerin und Lektorin, als auch bei der Suche nach »schönen« Kinderbüchern ein Thema herauskristallisiert: die Angst. Gefühlt leben wir in einer Zeit, in der die Menschen immer mehr Angst haben. Vor Viren oder Impfstoffen dagegen, vor den Auswirkungen der Klimakatastrophe, vor drohenden Kriegen in nicht allzu weiter Entfernung. Die Liste ließe sich beliebig erweitern.

Ein Leben ohne Angst gibt es allerdings nicht und hat es auch nie gegeben. Das Gefühl der Angst ist uns angeboren und erfüllt eine wichtige Funktion, in dem sie uns vor lebensbedrohenden Gefahren schützen will. Nur, dass wir in unserem hochtechnisierten und durchgetakteten Leben voller Ansprüche und Erwartung mittlerweile auch vor Dingen Angst haben, die nicht unbedingt lebensgefährlich sind. Aber wie oft hat man als Erwachsener Angst um den Ruf oder den Job. Menschen wollen dazugehören, denn auch das sichert unser Überleben.

Kindern geht es nicht anders. Nur verfügen sie noch nicht über die Erfahrung, wie sie das unangenehme Gefühl Angst bewältigen können, welche Tricks und Kniffe man anwenden kann, um es wieder loszuwerden. Oder auch hinter die Schatten zu blicken. Aus Erwachsenenperspektive von oben herab zu sagen: »Da ist doch gar nichts« hilft den Kindern nicht. Die Angst bleibt und wird im schlimmsten Fall größer.

Bei der Durchsicht der aktuellen Verlagsvorschauen sind mir dann eine Vielzahl von Neuerscheinungen zum Thema Angst aufgefallen. Daraufhin habe ich mich ein bisschen umgesehen und erst einmal die Bilderbücher aus den vergangenen drei Jahren gesichtet (weiter zurück zu gehen würde das Internet sprengen…). Die Bandbreite bei Bilderbüchern zum Thema Angst ist riesig. Auffallend ist, dass hauptsächlich tierische Akteuere auf die eine oder andere Art gegen ihre Angst ankämpfen, vom Opossum bist zum klassischen Wolf, vom Hasen bis zum Mops, es ist alles dabei. Sogar ein Ents-ähnlicher Baum hilft bei der Angstbewältigung. Mag sein, dass die Angst so weniger Angst macht und die Identifikation leichter fällt. Dazu gibt es in so einigen Büchern Reime und Bannsprüche, die im realen Leben Halt und Hilfe geben können.

Ich habe versucht, die Bücher ein wenig nach Themen zu sortieren. Aber ich erhebe hier natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch ersetzt die Lektüre nicht eine professionelle psychologische Betreuung, wenn ein Kind unter einer Angst so sehr leidet, dass es davon ernsthaft krank wird. Aber meine kleine Hoffnung ist, dass ihr hier vielleicht Anregungen findet, wie ihr eurem Kind die Angst vor der Angst nehmen könnt. Es gibt hier sehr viel zu gucken, zu entdecken, zum Schmunzeln und zum Lachen. Vor der Angst braucht sich niemand zu fürchten. Sie gehört zu uns, zu unserem Leben dazu. Es ist eine Frage der Einstellung und des Wissens, wie wir ihr begegnen. Und sie dann letztendlich in Mut verwandeln und uns viel mehr trauen.
Viel Spaß beim Stöbern.

Sich etwas trauen gegen die Angst

Schon für die kleinsten Leser:innen lässt sich das Gefühl Angst mit Hilfe eines Buches bewältigen. Das Pappbilderbuch Kleiner Angst-Frosch hab doch Mut! von Christine Kugler und Jutta Berend zeigt kindgerechte Alltagssituationen, in denen Angst aufkommen kann: auf der Rutsche, beim Sprung ins Schwimmbecken, abends im Bett oder auf der Bühne beim Chorkonzert. In kurzen gereimten Texten wird die Situation erklärt und Hilfe in Form von Freunden, Taschenlampe oder Mitsingenden geboten. So überwindet Frosch Ferdi schließlich seine Angst. Und jede kleine Leser:in erfährt schon hier, dass Angst etwas ganz Normales ist.

Angst versus Mut treffen unmittelbar im Wendebuch von Andrea Schütze und Stéffie Becker aufeinander: Ich trau mich/Ich trau mich nicht. Das mutige Orang-Utan-Mädchen Olivia und der ängstliche Tiger Jonte leben im Urwald und wüschen sich eigentlich nur einen Freund, ganz für sich. Die Elternteile können den beiden dabei nicht besonders gut helfen, ermuntern den jeweiligen Spross aber, auf die Suche zu gehen. Olivia und Jonte begegnen dem Krokodil Rokko, der sich als Freund anbietet. Allerdings unter der Bedingung, dass die beiden eine Mutprobe bestehen sollen …
Das Gegenüber der unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Figuren lässt kleine Leser:innen sicher über die Vielfalt im Leben nachdenken. Die identische Reaktion von Olivia und Jonte auf die Mutprobenfrage von Rokko macht ihnen jedoch auch klar, dass Freundschaft nicht unter Bedingungen geschlossen werden kann – und es mitunter sehr mutig ist, Nein zu sagen.

Die Neuausgabe von Valeri Gorbachevs Nur Mut, kleine Küken! ist im Grunde ein Klassiker von 2001 und begleitet zwei Kükengeschwister bei ihrem ersten Besuch auf den Spielplatz. Alles ist groß und scheinbar gefährlich: die Wippe mit den Hundekindern, das Karussell mit den Ferkeln drauf, die Schaukeln, die von den Kätzchen besetzt sind. Die anderen Tierkinder sind nett und fragen die Küken, ob sie mitmachen wollen, doch die beiden antworten stets: »Danke, aber dafür sind wir noch zu klein.« Man kann es ihnen nicht verdenken… Doch als der Biberjunge auf der Rutsche Verständnis für ihre Angst zeigt (er hatte beim ersten Mal auch Angst) und mit ihnen gemeinsam rutscht, überwinden die beiden ihre Scheu.
Die nicht Verurteilung von Angst, das Verständnis der anderen und die Hilfsbereitschaft, die knuffige Tierfiguren hier zeigen, fördern auch bei den Betrachter:innen den Mut, sich auf neue Abenteuer, sei es auf dem Spielplatz oder sonst wo im Leben, einzulassen.

Der kleine rote Drache mit den niedlichen Flügeln traut sich nicht – zu fliegen. Obwohl das doch genau das ist, wozu er geboren ist, finden die großen Tiere wie Fuchs, Hase und Dachs. Allein Mama Drossel verteidigt den Ziehsohn: »Ach, das macht er schon noch, wenn die Zeit gekommen ist.«
Bis dahin entdeckt der kleine Drache die Moosrutsche auf dem Baumstamm, malt Bilder in den Sand, betrachtet hübsche Blumen. Alle Versuche seiner tierischen Genossen, ihn zum Fliegen zu bewegen, bringen nichts. Bis er es eines Nachts selbst ausprobiert … Neben der Bewältigung der Furcht vor einer zu erlernenden Fähigkeit, geht es in Ein komischer Vogel traut sich was von Michael Engler und Joëlle Tourlonias auch um das Aushalten von gesellschaftlichem Druck. Alle erwarten etwas, drängen den kleinen Drachen förmlich – doch nur die Ziehmutter hat im Blick, dass jedes Wesen seinen eigenen Rhythmus hat und Zeit braucht. Ein Mutmachbuch für kleine Leser:innen der besonderen Art, ganz im Sinne: Kommt Zeit, kommt Mut.

Tiere gibt es im psychologischen Bilderbuch Muträuber von Johannes Traub, Wiebke Alphei und Suse Schweizer nicht: Dafür sind die Räuberbrüder Hugo und Zugo ziemlich verschieden. Hugo ist eher der angstfrei Draufgänger, Zugo der ängstlich Zurückhaltende. Zugo möchte gern mutiger sein, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll. Der Räubervater gibt ihnen den Tipp, sich Mut zu räubern. Und Mut findet man da, wo Angst ist … und so stellt sich Zugo seinen Ängsten (der großen Rutsche, Radfahren). Hugo unterstützt ihn dabei, so dass auch Zugo sich schließlich traut.
Geschickt sind hier im Text verschiedene Arten von Angst und ihre körperlichen Merkmale eingebaut. Die bestärkende Art von Hugo gegenüber dem Bruder zeigt den Lesenden, wie bei Kindern Ängste abgebaut werden sollten. Die Variante, dass hier nur Jungs und der Vater auftreten, macht das Buch zu einer perfekten Vater-Sohn-Vorlesegeschichte.

Mitmachbücher

Konkrete Strategien, wie Kinder mit ihren Ängsten umgehen können, liefern Nanna Neßhöver und Eleanor Sommer in Wenn ich ängstlich bin. Murmeltier Mumm verlässt seinen Bau und ist plötzlich einsam und bekommt Angst. Bär, Luchs, Mauerläufer und Steinbockmädchen machen ihm vor, wie sie ihre Angst wegbrummen, weghopsen, sich groß machen oder sich schöne Orte vorstellen. Mumm probiert das alles aus und findet schließlich das, was er am besten kann: pfeifen.

Mit kleinen Aufforderungen im Text werden die Kinder beim Betrachten der Bilder animiert, beispielsweise auf die Blüten zu tippen, über einen Stein zu streichen oder sich ihren Lieblingsplatz vorzustellen. Die Macherinnen zeigen den Kids durch süße Bilder und einfache Texte, wie sich die Angst körperlich zeigt (zittern), wofür sie gut ist (Warnung) und wie sie damit umgehen können (atmen, vorstellen, hopsen). Das Abenteuer von Mumm hat Unterhaltungswert und hilft Kindern und Eltern gleichzeitig mit alltäglicher Angst umzugehen.

Ähnlich geht es in dem Mitmachbuch Nur Mut, kleiner Schmollmops von von Lucy Astner und Alexandra Helm zu: Der Mopswelpe hat vor seinem ersten Tag in der Möpschen-Spielgruppe ein ganz seltsam kribbeliges Gefühl im Bauch. Mops-Eltern und -Großeltern konstatieren dem Nachwuchs Angst und reden ihm Mut zu. Doch wie wird man mutig? Hilfe naht durch Specht, Hamster, Dachs und Katze. Jedes Tier bringt dem kleinen Mops eine Entspannungs-Mutmach-Technik bei, die die kleinen Leser:innen dem Schmollmops aktiv vormachen sollen. Da wird geklopft, Katzenbuckel gemacht, die Backen aufgeblasen und durchgeatmet. Der Trick, den Kindern so ein paar Entspannungskniffe beizubringen, ist entzückend, bedarf aber sicher mehr als eine Lektüre, um alles wirklich zu verinnerlichen. Am Ende merkt der Schmollmops, dass es in der Spielgruppe gar nicht schlecht ist und er einfach seinem Herzen folgen sollte.

Angst vor Unbekanntem

Angst hat immer auch etwas mit dem Unbekannten, dem Fremden zu tun. Darum geht es in Jessica Meserves Die Welt da draußen. Die Betrachtenden tauchen ein in die Welt der Kaninchen, die am liebsten zu Hause und mit ihresgleichen zusammen sind. Am liebsten futtern sie Möhren und haben es gern kuschlig warm in ihrem Bau. Das Helden-Kaninchen gerät beim Ausrupfen eines leckeren Mörchens, das ein klein wenig außerhalb des bekannten Gefildes wächst, ins Neuland. Es kullert in ein unbekanntes Loch und erlebt ganz unkaninchenhafte Dinge wie Nasswerden und Luftanhalten.
Auf seiner Reise begegnet es einem Tier mit Krallen und Haaren, vor dem Kaninchen immer gewarnt wurde. Kaninchen steht böse Ängste aus. Doch das Nicht-Kaninchen ist gar nicht schlimm, im Gegenteil, es versorgt Kaninchen mit lecker Essen … Und so kommt Kaninchen auf den Geschmack, dass es auch noch was anderes im Leben geben kann. In einem Baum, auf den es ganz unkaninchenhaft klettert, findest es Freunde mit Federn, Schuppen, Hörnern oder Hufen – und von allen kann es etwas lernen …
Diese neue Häschen-Schule ist quasi ein Plädoyer für eine bunte Gesellschaft, in der wir alle von anderen sehr viel lernen können. Der Angst vor dem Fremden, dem vermeintlich Gefährlichen, wird hier eine charmante Absage erteilt – und tut uns allen gut.

Schon ganz junge Bilderbuchbetrachter:innen nimmt der kleine Bär, ein Puh-der-Bär-Look-a-like, mit auf einen Weg gegen die Furcht. Nach dem Besuch bei Großvater Bär geht der kleine Bär allein, aber mit einer Laterne in der Pfote nach Hause. Im Wald hört er immer wieder unheimliche Geräusche und findet kleine Tierkameraden, die sich im Dunkeln fürchten. Mit dem titelgebenden Mantra »Ich habe ein Licht und fürchte mich nicht!« nimmt er die Freunde mit und so gelangen alle schließlich sicher nach Hause.
Gerade dieser Reim, den auch kleine Kinder ganz rasch behalten, wirkt wie eine erhellende Ermutigung. Der blau gehaltene Nachtwald mit den Augen, den versteckten Tierchen und deren süßen Behausungen (genau hinschauen!) machen das Buch von Brigitte Weninger und Laura Bednarski zu einer Lektüre voller Überraschungen.

Auf eine Reise oder einen Weg begibt sich auch die Ente. Zusammen mit der Maus macht sie sich in Wird schon schiefgehen, Ente! von Daniel Fehr und Raphaël Kolly auf, den Biber an seinem neuen Damm zu besuchen. Nur plagen die Ente unzählige Alltagsängste: Man könnte sich verlaufen, sich im Regen erkälten, verhungern oder verdursten. Zum Glück hat die entspannte Maus Proviant dabei und erträgt die schwarzseherische Ente mit einer bewundernswerten Gelassenheit. Und plötzlich sind die beiden am Ziel – und nichts ist passiert. Dieser sommerlich orangefarbige Reisegeschichte ist im Grunde der Monolog der ängstlichen Ente. Die Maus reicht ihr zu essen und zu trinken und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch so kann man oder sollte man Ängsten von anderen vielleicht begegnen: Nicht viel sagen, sondern einfach weitermachen. Das Ergebnis ist überzeugender als jede Erklärung.

In einem tiefen, aber wunderbar bunten Wald treffen in Ab hier kenn ich mich aus von Andrea Schomburg und Amrei Fiedlerein ein Menschenkind und ein Baumwesen, das erstaunlich an die Ents aus »Herr der Ringe« erinnert aufeinander. Das Kind hat sich verlaufen, findet den Weg nicht mehr. Dazu die unheimlichen Geräusche, das Geraschel, Gepiepse, Geheule und Geklopfe. Der Baum erklärt und zeigt, und gemeinsam finden sie den Weg aus dem Wald und gelangen in die Stadt mit den vielen Menschen, Häusern, Autos, der Enge, dem Gerumpel. Nun erklärt das Menschenkind und findet den Weg nach Hause wieder. Andrea Schomburg reimt was das Zeug hält und öffnet die Augen für die Schönheit der schützenswerten Natur, auch in der Stadt. Der Angst des Kindes im Wald setzt sie die Angst des Baumes in der vollen Stadt entgegen und zeigt, dass die Angst verschwindet, sobald man sich besser auskennt und gewisse Regeln (die Ampel) beachtet.

Angst vor Gewitter

Die Angst vor dem Naturphänomen Gewitter findet sich aktuell in zwei Bilderbüchern. In Da liegt was in der Luft von Malin Hörl wohnt Svea mit ihren zwei Schwestern, Mama und Papa irgendwo auf dem Land, als ein Sommergewitter aufzieht. So ein richtig heftiges. Die Mädchen sind leicht panisch, ziehen im Haus die Stecker aus den Dosen. Aber Papa bleibt cool, erklärt wie man Schutz sucht und die Entfernung des Gewitters berechnet. Dann schmiert er Erdnussbutterbrote und vom geschützten Balkon beobachten Vater und Töchter das Naturspektakel, mit ganz viel Respekt. Dieser und die gelassene Zugewandtheit des Papas bewirkt, dass Svea schließlich sagt: »Ich mag Gewitter.« Die gemeinsame Lektüre und das Betrachten der warmfarbigen, aber sturmbewegten Bilder kann kleinen Menschen vielleicht die Gewitterangst nehmen.

Auch Hibiskus, der Hase, findet Gewitter nicht gerade toll. In Hase Hibiskus und das grausige Gruseln von Günther Jakobs und Andreas König freut sich der Langohrheld auf einen geruhsamen Abend mit Kakao, doch stattdessen zieht ein Gewitter auf und der Strom fällt aus. Allein im Dunkeln ist es ganz schön gruselig. Schaurige Geräusche dringen von außen ins Haus, dunkle Schatten sind zu sehen, Monster schauen durchs Fenster. Doch glücklicherweise sind es lauter Freunde von Hibiskus, die nach und nach vom Gewitter überrascht bei ihm Unterschlupf suchen. So füllt sich das Hasenhaus mit Maus, Bär, Esel, Uhu und Schlange. Und gemeinsam bei einem Becher Kakao sind sich die Freund einig: »Und gruselt dich auch mal etwas, hab keine Angst, wir klären das.« Genaues Hingucken hilft also gegen Angst, erfahren kleine Leser:innen hier – und Kakao im Warmen ist bei Gewitter ein Seelentröster.

Dunkelheit und Schattenwesen

Die generelle Angst vor der Dunkelheit thematisiert das künstlerische Bilderbuch Louisa und die Schattenmonster von Liliane Steiner. Louisas Eltern haben sich für das Mädchen einen Bannspruch ausgedacht, damit es im Dunkeln keine Angst mehr hat: »Feenschmalz und Kräutersalz, lässt verschwinden von allein, Geister, Monster und Gebeine.« Dazu wird Glitzerstaub verstreut.
Dennoch wird Louisa mulmig, wenn das Licht aus ist. Die Schatten an der Wand sind einfach unheimlich. Licht und Zauberspruch helfen ihr zunächst. Doch auf dem Weg in die Küche begegnen ihr noch mehr gruselige Schatten… Die Künstlerin arbeitet geschickt mit den Schatten von Alltagsdingen. So werden Holzlöffel, Spaghettizange und Kelle zu einem Skelett, Kehrblech, Handbesen und Wischeimer zu einem Teufel. Die Seiten sind dem Setting entsprechend dunkel gehalten, was für kleine Betrachter:innen spannend sein kann. Louisa enttarnt die Schattenmonster und verliert ihre Angst.
Auf dem Vorsatz sind Beispiele für Schattenspiele mit den Händen zu sehen, die sofort zum Nachmachen animieren und die Verwandlung von verschränkten Fingern zu mehr oder minder gefährlichen Tierschatten veranschaulicht.

Die Angst vor der Dunkelheit findet in Hab keine Angst, kleines Dunkel von Peter Vegas und Benjamin Chaud eine reizvolle Umkehrung: Das kleine Dunkel hat nämlich Angst vor dem Licht. Es versteckt sich in Schubladen, unterm Bett und traut sich erst vor die Tür, wenn die Sonne weg ist. Das Dunkel bleibt die ganze Nacht wach, damit die Kinder ruhig schlafen können, auch wenn es selbst dann nichts erlebt. Dafür lieben Fledermäuse und Sterne das Dunkel. Dunkelheit kommt hier als ein sehr sympathisches und wichtiges Element in unserem Leben daher. Es wird Kindern, die sich davor fürchten, wie ein guter Freund präsentiert, dem man durchaus mal »Hallo« sagen kann. Nach dieser Lektüre können junge Leser:innen dem Dunkel mit ganz anderen Augen begegnen.

Ganz anders geht es in der folgenden Geschichte zu: Eines sonnigen Morgens entdeckt Hase, dass etwas nicht stimmt. Da war plötzlich noch jemand: Schwarzhase. Und ganz gleich, was Hase tat – rennen, verstecken, schwimmen – Schwarzhase verfolgte ihn und machte ihm Angst. Erst im dunklen Wald hat er Ruhe vor Schwarzhase. Bis ihn der Wolf zu jagen beginnt. Als Hase aus dem Wald in die Sonne rennt, passiert es …
Das Schattenspiel in Philippa Leathers Bilderbuch Schwarzhase verdeutlicht die Funktion von menschlichen Ängsten schon für ganz kleine Leser:innen. Sie sind immer bei uns, aber sie schützen uns vor lebensbedrohlichen Gefahren.

Von Träumen und Albträumen

In der Dunkelheit kann es sein, dass wir von bösen Träumen belästigt werden. So er geht es Anton in Ben Furman und Mathias Weber Buch Antons Albtraum. Er soll bei Oma schlafen. Aber Anton hat in letzter Zeit immer wieder Albträume und kann nur schwer einschlafen. Oma weiß nichts davon und die Eltern vergessen, es ihr zu erzählen. Als Anton ihr selbst davon erzählt, sagt Oma: »Es gibt gar keine Albträume.«
Aus dieser überraschenden Aussage entsteht ein Gespräch über Antons Albtraum. Oma nimmt die Bilder aus Antons Traum auf und erzählt dazu eine Geschichte mit einem schönen Ende. Die Beschäftigung damit hilft Anton, ohne Angst einzuschlafen.
Nicht alle Albträume sind natürlich so »harmlos« wie Antons, daher erläutert Autor und Psychologe Ben Furman in einem Nachwort, wie Eltern damit umgehen können, wenn ihre Kinder etwas wirklich Erschreckendes erlebt oder gesehen haben. Offene Gespräche über das Erlebte oder Geträumte, das Malen von Bildern oder die Besuche von Orten oder Einrichtungen, die im Traum eine Rolle spielen, helfen den Kindern bei der Verarbeitung. Dieses Buch liefert eine wunderbarer Idee dafür.

Fantasie und Wirklichkeit treffen auf eine leichtere Art im Buch Timo kann was Tolles von Nikola Huppertz und Tobias Krejtschi aufeinander. In seinen Träumen ist Timo mutig, fliegt, hat keine Angst vor Dschungeltieren oder fährt große Feuerwehrautos. Doch tagsüber im Kindergarten schafft er es nicht hoch zu schaukeln, hat Angst einen Regenwurm zu streicheln und seine Bilder sehen aus wie Krikelkrakel. Die anderen Kinder lachen ihn aus. Bis auf Ava. Erst als sie Timo fragt, ob sie etwas zusammen machen wollen, erkennt Timo seine besondere Gabe. Und auf einmal fallen ihm zusammen mit Ava die Dinge ganz leicht. Träum können also wahr werden, wenn Kinder den Mut aufbringen, sich anderen anzuvertrauen. Gemeinsam ist man stärker und kann gewissen Hindernisse überwinden.

Angst als Freundin

Dass wir der Angst anders begegnen können, thematisieren zwei sehr ähnliche Bücher. In Mirjam Zels erdig-pastelligem Bilderbuch Fast wie Freunde geht es um das Mädchen Sophie. Sie wohnt in einer ganz normalen Stadt, in der die Leute sich zwar grüßen, aber nicht so genau hinschauen. Was sie nicht genau sehen, ist zunächst nicht erkennbar. Nach und nach wird klar, dass Sophie eine schwarze Last mit sich herumschleppt: ihre Angst. Sie hat Angst auf den Baum zu klettern oder im Teich zu schwimmen. Niemand versteht, was mit ihr los ist. Erst als sie ganz allein ist, entdeckt sie ihre Angst – und stellt fest, dass sie eigentlich gar nicht so schlimm ist. Sophie ändert ihre Taktik: Statt die Angst einfach herumzuschleppen, nimmt sie sie wie eine Freundin an die Hand und zeigt sie den Menschen in der Stadt. Und nun ändert sich etwas: Sophie erkennt, dass die Angst manchmal ganz sinnvoll ist – als Warnung vor Gefahren –, sie aber oftmals gar nicht nötig ist. Ihr Beispiel steckt an und so zeigen nun auch die anderen Menschen ihre Ängst und alle werden irgendwie netter zueinander.
Mut zur Angst ist hier das wichtige Thema. Denn kein Mensch ist ohne Angst. Sie macht uns menschlich. Die eigene Angst zuzugeben, zu ihr zu stehen macht vielleicht angreifbar, aber das Zusammenleben gestaltet sich freundlicher, wenn wir für andere Verständnis entwickeln.

Francesca Sanna, die hierzulande mit ihrem Buch Die Flucht bekannt wurde, verarbeitet in diesem künstlerischen Bilderbuch in ähnlicher Weise ihre eigenen Ängst. Sie zeigt ein Mädchen, das ihre Angst als weißes Knuddelmonster immer dabei hat. Diese Angst ist mal kleiner und mal größer, oft beschützt diese Angst das Mädchen.
Doch als es in ein neues Land kommt, in dem sich das Mädchen nicht wohl fühlt, wird diese Angst riesengroß. Sie stellt sich zwischen das Mädchen und die neuen Mitschüler:innen, sie verhindert, dass das Mädchen mit anderen reden kann, sie zerrt das Mädchen immer gleich wieder nach Hause. Erst als ein Junge aus ihrer Klasse ihr etwas zeigt und später beim Spielen seine eigene Angst offenbart, wird die Angst des Mädchens wieder kleiner.
Die Darstellung der Angst als Barbapapa-förmiges Etwas entspricht der von Mirjam Zels in Fast wie Freunde. Die Beherrschung von Angst durch die Hilfe eines Freundes ist auch hier eine wichtige Botschaft.

Märchen reloaded

Seit Rotkäppchen und der Wolf ist dieses wunderbare Tier zu einem Angstsymbol geworden – völlig zu Unrecht. Er bietet sich trotzdem immer wieder an, die Angst zu illustrieren oder damit zu spielen. Ein herrliches Spiel mit diesen Stereotypen ist das Bilderbuch von Jan De Kinder: Keine Angst, Großer Wolf. Schon der Titel könnte stutzig machen: Warum wird der Große Wolf angesprochen?
Das zeigt sich auf der ersten Doppelseite: Der kleine Wolf geht mit dem großen Papa Wolf in den Wald. Der kleine marschiert voran, der große mit angstvoller Schnauze hinterher. In farblich schön reduzierten Bildern lockt der Wolf-Sohn den Vater durch das Unterholz, erklärt, was für Geräusche zu hören sind, was es so zu sehen und zu riechen gibt. Bis die zwei tatsächlich jemandem begegnen und der große Wolf reiß aus nimmt.
De Kinder spielt geschickt mit dem Märchen von Rotkäppchen. Er löst Ängst durch genaues Beobachten auf. Gleichzeitig zeigt er Kindern durch die Umkehrung der Vater-Sohn-Rolle, dass sie mutiger sein können als der Papa. Und nimmt am Ende das psychologische Trauma des Vaters aufs Korn – was für erwachsene Vorleser:innen eine sehr amüsante Pointe darstellt.

Das angebliche Angsttier Wolf schwebt auch in Myriam Ouyessads und Ronan Badels Der Wolf kommt nicht, quasi über allem. Hasenmutter bringt hier ihr Hasenkind ins Bett, das ständig fragt: »Bist du ganz sicher, dass der Wolf nicht kommt?« Hasenmutter beruhigt mit allen möglichen Argumenten: Es gibt keine Wölfe mehr, sie leben weit weg im Wald, ein Wolf kommt nicht in die Stadt, im Verkehr würde er nicht überleben und so weiter. Häschen versteckt sich derweil unter der Decke, schaut erschreckt. Die Hasenszenen mit dem Text finden sich immer auf der linken Seite, während rechts der Wolf in den verschiedenen Situationen gezeigt wird und immer näher kommt. Als sich Häschen scheinbar beruhigt hat und das Licht aus ist, klingelt es an der Tür … Die Auflösung ist so charmant, die müssen die Lesenden selbst herausfinden. Der Twist, den die Geschichte dadurch bekommt, ist absolut Angstvertreibend.

Ein weiteres Spiel mit Märchenklischees ist Prinzessin Riesenmut von Rachel Valentine und Rebecca Bagley. In knallbunten Illus machen sich die drei Prinzessinnen-Schwestern Thea, Juno und Liliy entgegen dem Verbot ihres Königs-Großvaters auf, den Riesen zu suchen. Dieser hat das Land verwüstet und treibt sein Unwesen. Angst kennen die drei scheinbar nicht: der Zauberwald schreckt sie nicht. Die Spinnen, die darin hausen, setzen sie geschickt außer Gefecht. Eine kaputte Brücke über eine Schlucht überqueren sie mit Kreativität. Und schließlich holen sie den Riesen ein, verschnüren und verhaften ihn. Ein klärendes Gespräch liefert dann die Erklärung für das zerstörerische Verhalten des Riesen … und alles wird gut.
Der Mut der Prinzessinnen und ihr resolutes, aber auch einfühlendes Vorgehen räumt gehörig mit dem Image von braven Prinzessinnen auf, die auf ihren Prinzen warten und sich ihm unterwerfen. Die moderne Prinzessin trägt Kopfhörer und Sneakers, fährt Rollerskates, ist mit technischem Gerät ausgestattet und tanzt durchs Leben, ohne sich von schissigen Rittern Angst machen zu lassen. Die coolen Prinzessinnen geben vorzügliche Rolemodels ab.

Ängste im Alltag

Manchmal ist es natürlich auch so, dass wir mit der Angst leben, sie in unseren Alltag integrieren müssen. Wie so etwas entspannter geht, zeigt Kommt Zeit, kommt Opossum von Jennifer Black Reinhardt, das im April erscheint.
Wenn Opossum Alfred Angst hat, erstarrt es und stellt sich tot. Das ist jedoch nicht besonders hilfreich in der Schule oder beim Sport. Freunde hat er so auch nicht gefunden.
Doch dann lernt er Sofia, das Gürteltier, kennen. Sie rollt sich immer zu einer Kugel zusammen, wenn sie sich erschrickt.
Die Erkenntnis der beiden, dass sie etwas gemeinsam haben, entspannt die Lage schließlich. Immer wenn der eine erstarrt oder die andere sich zusammenrollt, wartet er oder sie einfach ab. Und mit der Zeit passiert es ihnen immer seltener. Stattdessen entdecken sie, dass auch die anderen ihre Ängste habe: der Krake versprüht schwarze Tinte, die Schildkröte versteckt sich im Panzer, die Ziege fällt auf den Rücken. Doch mit Geduld und Verständnis weitet sich so ihr Freundeskreis aus.
Die Verteidigungs- und Schutzmechanismen aus der Natur hat die Autorin für diese charmante Geschichte genutzt, um zu verdeutlichen, dass alle Menschen Ängste haben – und sogar die Tiere. Die Hilfe gegen die Angst liegt hier im Verständnis, das wir anderen gegenüber aufbringen sollten.

Auch Igel können Angst haben und bekanntermaßen rollen sie sich bei Gefahr zu stachligen Kugeln zusammen. Bei Autos haben sie damit leider nicht viel Glück. Doch in Britta Teckentrups Ich hab doch keine Angst! entgehen der große und der kleine Igel diesem Schicksal.
Die beide Stacheltiere verleben einen schönen Tag zusammen, aber auch hier gibt es immer wieder Momente, in denen sie Angst haben könnten: der dunkle Keller, Geräusche im Wald, der Fuchs, das herannahende Auto, der Nebel. Dabei hat der große Igel genauso wie der kleine Igel Angst. Der Lütte behauptet jedoch steif und fest: »Ach was, ich hab doch keine Angst!« – was nicht immer ganz stimmt.
In poetischen Illustrationen erleben die Betrachtenden hier, dass auch Erwachsene Ängst haben und damit umgehen müssen. Die Hilfe der befreundeten Katze verschafft den beiden Igeln schließlich einen guten Tagesabschluss.

In Kate Hindleys und Pamela Butcharts Buch Mika und das mutigste Mädchen der Welt hat der Titelheld Mika Angst vor allem: verbranntem Toast, komischen Socken, entlaufenen Dinos, zu knusprigen Keksen, bösen Eichhörnchen. Er benutzt keine Reißverschlüsse mehr, weil die ja klemmen könnten. Und am schrecklichsten ist der Wind, der ihn wegwehen könnte. Als Mika die unbeschwerte Emily trifft, die immer sagt: »Was soll schon passieren?«, erwacht sein Beschützerinstinkt. Doch da passiert’s: Der Wind bläst ihn davon, über Schnee und Meer zu den Piraten, bis ein Hubschrauber ihn rettet. Mika merkt, dass das alles gar nicht so schlimm ist und sogar Spaß machen kann. Und so wird er genauso mutig, wie das mutigste Mädchen der Welt. Gleichzeitig machen er und das Emily den jungen Leser:innen Mut, Dinge einfach mal auszuprobieren, denn: Was soll schon passieren?

Der Klassiker

Momentan ist auch wieder ein Klassiker der der psychologischen Bilderbücher zum Thema Angst auf dem Markt: Susi Bohdals Selina, Pumpernickel und die Katze Flora. In Neuauflage ist er seit vergangenem Jahr wieder zu haben. In schwarzweißen Federzeichnung erzählt Bohdal die Geschichte von Selina, die sich mit der Maus Pumpernickel anfreundet. Pumpernickel hat jedoch Angst vor der großen Katze Flora, der besten Mäusefängerin der Stadt.
Als Selina sich zwischen Flora und Pumpernickel stellt, wird Flora wild und verfolgt das Mädchen. Immer größer wird die Angstkatze, während Selina mit der Maus vor ihr flieht. Eindrucksvoll ist die Katze auf den Illus irgendwann größer als die Häuser der Stadt. Pumpernickels Rat: »Du musst gegen sie laufen und ihr fest in die Augen sehen!« Selina nimmt allen Mut zusammen und wendet sich der Katze zu. Sie blickt ihr in die Augen. Und so wird Flora wieder kleiner.
Natürlich merkt man diesem Buch sein Alter an. Illustrationen und Erzählstil haben eben schon 40 Jahre auf dem Buckel. Doch die Message gilt immer noch: Sich der eigenen Angst stellen, ihr in die Augen zu sehen, das kann helfen.

Das Sachbuch

Fiktive Geschichten können mit bunten Bildern, knuffigen Figuren und aufregenden Abenteuern bei der Angstbewältigung eine Form von Hilfe sein. Aber auch sachliche Texte, die zur Reflexion anregen, sind natürlich nicht zu unterschätzen. Ein solches Sachbuch ist Hey, du bist großartig von Karen Young und Norvile Dovidonyte, in dem es um Angst, Mut und die besonderen Fähigkeiten von kleine Menschen geht. Karen Young erklärt in einfachen Sätzen, was es mit unseren Angst-Gefühlen auf sich hat, welche Rolle das Gehirn dabei spielt und wie wir es trainieren oder verändern können. Bestärkende Gefühle und Gedanken können die Kinder quasi zu Superhelden machen, so dass sie in sich den Mut finden, schwierige Dinge zu meistern – beispielsweise vom Sprungturm im Schwimmbad zu springen.
Young zeigt den jungen Lesenden, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf das Hier & Jetzt lenken können, wodurch die Angst ebenfalls verschwinden kann. Sie fördert die Kinder in ihrer Kreativität und ihrer Entdeckerlust, unterstützt sie bei Entscheidungsfindungen. Dieses bestärkende Buch spricht die Kinder direkt als »du« an, kommuniziert also auf Augenhöhe und gibt ihnen das Gefühl, dass sie wichtig und eben großartig sind.
Ein paar einfache Achtsamkeitsübungen schließen den Text ab und hinterlassen ein wohliges Gefühl.

Christine Kugler: Kleiner Angst-Frosch, hab doch Mut!, Illustration Jutta Berend, Penguin Junior, 2022, 12, Seiten, ab 2, 9 Euro
Andrea Schütze: Ich trau mich/Ich trau mich nicht!, Ein Wendebuch, Illustration: Stéffie Becker, Ellermann, 2022, 52 Seiten, ab 5, 15 Euro
Valeri Gorbachev: Nur Mut, kleine Küken!, Übersetzung: Christiane Jung, NordSüd, überarbeitete Neuausgabe 2022 (2001), 40 Seiten, ab 4, 15 Euro
Brigitte Weninger: Ich habe ein Licht und fürchte mich nicht!, Illustration: Laura Bednarski, Annette Betz, 2019, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro
Michael Engler: Ein komischer Vogel traut sich was, Illustration: Joëlle Tourlonias, Annette Betz, 2020, 32 Seiten, ab 3, 14,95 Euro
Johannes Traub/Wiebke Alphei: Muträuber. Hugo und Zugo besiegen die Angst, Illustration: Suse Schweizer, Balance, 2020, 40 Seiten, ab 3, 17 Euro
Nanna Neßhöver: Wenn ich ängstlich bin, Illustration: Eleanor Sommer, Carlsen, 2022, 40 Seiten, ab 3, 15 Euro
Lucy Astner: Nur Mut, kleiner Schmollmops, Illustration: Alexandra Helm, esslinger, 2022, 32 Seiten, ab 3, 14 Euro
Jessica Meserve: Die Welt da draußen, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Bohem, 2022, 40 Seiten, ab 3, 16,95 Euro
Daniel Fehr: Wird schon schiefgehen, Ente!, Illustration: Raphael Kolly, Thienemann, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14 Euro
Andrea Schomburg: Ab hier kenn ich mich aus, Illustration: Amrei Fiedler, Tulipan, 2021, 48 Seiten, ab 4, 15 Euro
Malin Hörl: Da liegt was in der Luft, annette betz, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro
Günther Jakobs: Hase Hibiskus und das grausige Gruseln, Illustration: Andreas König, Ravensburger, 2022, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro
Liliane Steiner: Louisa und die Schattenmonster, Kunstanstifter, 2021, 28 Seiten, ab 4, 20 Euro
Peter Vegas: Hab keine Angst, kleines Dunkel, Illustration: Benjamin Chaud, Übersetzung: Ebi Naumann, Aladin, 2022, 36 Seiten, ab 4, 14 Euro
Philppa Leathers: Schwarzhase, Übersetzung: Salah Naoura, Thienemann, 2019 (2013), 40 Seiten, ab 4, 13 Euro
Ben Furman: Antons Albtraum, Illustration: Mathias Weber, Carl-Auer, 2. Auflage 2021, 28 Seiten, ab 4, 19,95 Euro
Nikola Huppertz: Timo kann was Tolles, Illustration: Tobias Krejtschi, Tulipan, 2022, 32 Seiten, ab 4, 15 Euro
Mirjam Zels: Fast wie Freunde, Kunstanstifter, 2. korrigierte Auflage 2020 (2017), 44 Seiten, ab 4, 22 Euro
Francesca Sanna: Ich und meine Angst, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd, 2019, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro
Jan De Kinder: Keine Angst, Großer Wolf, Übersetzung: Eva Schweikart, Sauerländer, 2020, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro
Myriam Ouyessad: Der Wolf kommt nicht, Übersetzung: Ina Kronenberger, Illustration: Ronan Badel, Gerstenberg Verlag, 2020, 32 Seiten, ab 4, 13 Euro
Rachel Valentine: Prinzessin Riesenmut, Übersetzung: Sabine Rahn, Illustration: Rebecca Bagley, Penguin Junior, 2021, 38 Seiten, ab 4, 14 Euro
Jennifer Black Reinhardt: Kommt Zeit, kommt Opossum, Übersetzung: Ingrid Ickler, dtv, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14 Euro – erscheint am 13.4.2022
Britta Teckentrup: Der große und der kleine Igel – Ich hab doch keine Angst, Jacoby & Stuart, 2022, 32 Seiten, ab 3, 12 Euro
Kate Hindley: Mika und das mutigste Mädchen der Welt, Illustration: Pamela Butchart, Übersetzung: Michael Petrowitz, Ravensburger, 2021, 32 Seiten, ab 3, 12,99 Euro
Susi Bohdal: Selina, Pumpernickel und die Katze Flora, Carl-Auer, 3. Auflage 2021 (ursprünglich 1981), 30 Seiten, ab 4, 19,95 Euro
Karen Young/Norvile Dovidonyte: Hey, du bist großartig! Ein Buch über Angst, Mut und deine besonderen Fähigkeiten, Übersetzung: Siegfried Joel, Peter Lieder und Weronika M. Jakubowska, Carl-Auer, 2. Auflage 2021, 38 Seiten, ab 6, 19,95 Euro

Gegen Schubladendenken und Vorurteile

Es gibt Fragen, die nerven Lucia Zamolo gewaltig. »Woher kommst du eigentlich?« ist so eine. Und mittlerweile hat Zamolo eine Reihe von Antworten auf Lager: »Von dahinten«, »Vom Klo« oder »Aus dem Kiosk«. Doch erst, wenn sie ergänzt: »Aber mein Vater kommt aus Italien«, geben die Fragenden meist Ruhe. Zufrieden ist Lucia Zamolo damit allerdings nicht. Und so geht die Autorin und Illustratorin
in ihrer Comic-Erzählung Jeden Tag Spaghetti sowohl ihrem Antwortverhalten, aber vor allem der Haltung der Fragenden auf den Grund.

Unterschwelliger Vorwurf

Für Zamolo hört sich die Frage, die meist von Unbekannten kommt, eher wie ein Vorwurf an – im Sinne: Du kommst doch nicht von hier! – und ist damit eine rassistische Grenzüberschreitung. Im Gespräch kann sie sich eventuell noch wegdrehen und Erklärungen vermeiden, in diesem Buch geht das natürlich nicht. Dann wäre es keine Buch. Und so erklärt sie hier ihre Familiengeschichte, die mit Italien nur verhältnismäßig wenig zu tun hat. Es gibt keine Großfamilie, keinen mafiösen Verstrickungen, der Vater kann nicht kochen und die Tomatensoße stammt von einem großen Fertig-Spaghetti-Hersteller … Der Vater ging aus Liebe nach Deutschland und nicht zum Arbeiten. Und Lucia Zamolo ist in Deutschland geboren und hat auch kein Sprachproblem, wie eine Lehrerin ihr unterstellte.

Vorurteile in den Köpfen

Zamolo thematisiert neben den gängigen Vorurteilen in den Köpfen der Leute die vertrackte Situation, wenn die fragende Person wirklich nur interessiert oder auch neugierig ist, die befragte sich jedoch angegriffen und verletzt fühlt. Sagt diese, dass sie die Frage für unangebracht hält, kann es gut sein, dass die fragende Person beleidigt ist. Eine absurde Umkehrung.
Die Autorin schildert zudem Erlebnisse und übergriffige Erfahrungen von Freunden, deren Migrationshintergrund auf einmal komplett in den Vordergrund rückte. Menschen neigen vermutlich generell dazu, andere in Schubladen einzusortieren, nur liegen diesen Einordnungen oftmals negative, rassistische Denkmuster zugrunde. Das anscheinend »Fremde« macht also selbst in globalisierten Zeiten immer noch Angst und muss wohl gebannt werden. Auch im Alltag, auch von Menschen, die nicht rechts wählen.

Ertappt!

Beim Lesen von Lucias Zamolos kurzweiligem Buch habe ich mich durchaus ertappt gefühlt, habe ich der Autorin doch allein aufgrund ihres Namens das Label »italienische Literatur« aufgedrückt. Was also auch nicht besser ist als die Frage vom Anfang. Das Erleichternde an Zamolos Buch ist, dass sie am Ende den versöhnlichen Ton des Aus-Fehlern-lernen anschlägt.

In diesem Land gibt es offensichtlichen Rassismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, die wir jeden Tag bekämpfen müssen. Doch diesen Kampf können wir schon im Kleinen und im Alltag von jedem von uns beginnen, indem wir sensibler werden, genauer hinschauen und hinhören – und uns selbst ein Stück zurücknehmen, wenn es um Neugierde oder die damit verbunden Bestätigung von wie auch immer gearteten Annahmen geht. Zamolo fasst das als »Read + Watch + Listen = Grow« zusammen. Das stände uns allen gut zu Gesicht. Die Lektüre dieses Buches ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung.

Lucia Zamolo: Jeden Tag Spaghetti, Bohem Press, 2022, 128 Seiten, ab 12, 16 Euro

Trümmerkinder

heul doch

Hamburg im Juni 1945. Der Krieg ist seit gut sechs Wochen zu Ende, als sich im neuen Roman von Kirsten Boie – Heul doch nicht, du lebst ja noch – die Wege von Jakob, Hermann und Traute kreuzen. Die drei Jugendlichen haben auf unterschiedliche Art unter den Folgen des Weltkrieges und der langjährigen Nazi-Diktatur zu leiden.

Hermann, der ehemalige HJ-Junge, muss zu Hause seinen kriegsversehrten Vater auf die Toilette im Treppenhaus schleppen. Im Krieg hat dieser beide Beine verloren und ist zutiefst verbittert. Hermann, der immer noch im braunen Hemd der Jugendorganisation herumläuft (ohne die Armbinde allerdings), fühlt sich samt seiner nationalsozialistischen Glaubenssätze verraten. Er verachtet die britischen Soldaten, die nun in der Stadt das Sagen haben.

Traute hingegen vermisst ihre Freundinnen, die beim Feuersturm 1943 ums Leben gekommen sind. Sie möchte so gern wieder mit anderen Kindern spielen. Dafür klaut sie ein wertvolles Brot aus der Backstube des Vaters. Das bleibt natürlich nicht unbemerkt, aber zunächst wird die ostpreußische Flüchtlingsfamilie beschuldigt, die in der Wohnung von Trautes Familie einquartiert ist. Das Zusammenleben mit sieben Personen auf engstem Raum gestaltet sich schwierig.

Jakob wiederum ist ein halbjüdischer Junge, dessen Mutter kurz vor Ende des Krieges doch noch nach Theresienstadt deportiert wurde. Der Vater, der als „jüdischversippt“ galt, musste in der Organisation Todt Zwangsarbeit leisten und kam dabei ums Leben. Jakob versteckt sich in den Ruinen und wird von einem ehemaligen Nachbarn mit Lebensmittel versorgt. Als der jedoch eines Tages nicht mehr kommt, muss der Junge sein Versteck verlassen. Er denkt, dass immer noch Krieg herrscht …

Drei Erzählperspektiven, drei Lebenseinstellungen

Im zeitlichen Rahmen von einer Woche schildert Boie das Leben in der zerbombten Hansestadt. Dies konsequent aus der Sicht der drei Jugendlichen, deren personale Erzählstränge sich beständig abwechseln. So kann Boie in die unterschiedlichen, ja konträren Gedankenwelten der Protagonisten quasi hineinkriechen. Hermann ist immer noch überzeugter Anhänger der Nazis, denkt in in deren Vokabular, hegt weiter die Vorurteile gegenüber Juden, verachtet die Besatzer, glaubt an Feindpropaganda und dass das deutsche Volk betrogen wurde.
Traute zeigt zunächst wenig Mitgefühl für die Flüchtlinge aus Ostpreußen, mag deren Dialekt nicht. Sie kann und will vielleicht nicht nachvollziehen, was diese Menschen durchgemacht haben.
Jakob vermittelt den Lesenden die Ängste der Verfolgten. In seinem Versteck denkt er immer wieder an seine jüdische Mutter und was sie im Laufe der vergangenen Jahre alles nicht mehr durfte (z. B. Straßenbahn fahren, auf einer Bank sitzen). Ihre Kennkarte (der damalige Personalausweis) wurde mit einem J und dem Namen „Sara“ versehen, so dass sie für alle als Jüdin erkennbar war. Dass Jakob in seinem Versteck lange nicht weiß, dass der Krieg vorbei ist, wird über weite Strecken des Lesens zu einem spannend-irritierenden Rätsel – das natürlich am Ende aufgelöst wird.

Zertrümmerte Seelen, zertrümmerte Sprache

Kirsten Boie schafft es mit diesen drei Protagonist:innen, zu denen sich noch die Kinder Max und Adolf gesellen, ein kondensiertes Bild der deutschen Gesellschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu zeichnen. Die Stadt liegt in Trümmern, und genauso sind die Seelen der Jugendlichen zertrümmert, was sich dann in elliptischen Sätzen sogar in einer zertrümmerten Sprache offenbart. Gleichzeitig sind die Überzeugungen, die zwölf Jahre das Land beherrscht haben noch da.
Das Zusammentreffen von Hermann und Jakob offenbart dann die verschobenen Sichtweisen der Nazis, die sich als Opfer der Alliierten generierten, obwohl sie den Krieg angezettelt haben. Jakobs stille Verwunderung über Hermanns seltsame Wut verdeutlicht eine Dramatik, mit der nicht nur die Jugendlichen im Roman zu kämpfen haben, sondern die deutsche Gesellschaft insgesamt, und das jahrelang: »In Hermanns Kopf ist der Krieg noch nicht wirklich vorbei, nicht der Krieg und nicht die Jahre davor, wie sollte diese Welt denn auch so schnell daraus verschwinden! Was so lange Wahrheit war, wird nicht auf einen Schlag Lüge.«

Es gab keine Stunde Null

Wenn im Geschichtsunterricht gelehrt wird, dass der Krieg mit der Kapitulation im Mai 1945 zu Ende war, so könnte man meinen, dass damit alles davor ausgelöscht war und die Menschen sofort bekehrt waren. Dass es aber diese Stunde Null, von der in Bezug auf die ersten Jahre nach dem Krieg immer gesprochen wird, nicht gab, sagte bereits Richard von Weizsäcker 1985 und sprach von einem »Neubeginn«. Das auch dieser Neubeginn nicht von einem Tag auf den nächsten startete, illustriert Kirsten Boie in ihrem Buch überaus anschaulich. Es ist der Kampf ums tägliche Überleben, das Organisieren von Lebensmitteln auf dem Schwarzmarkt, der Suche nach besser bezahlter Arbeit, der Suche nach Angehörigen, der Hoffnung auf ein Wiedersehen, der Hoffnung auf einen Neuanfang in einem anderen Land vielleicht. Lang geschürte Überzeugungen werden nicht einfach von heute auf morgen über Bord geworfen, das schwingt in dieser Geschichte mit. Viele dieser Überzeugungen sind leider auch heute noch vorhanden und bekommen wieder vermehrt Zulauf – was es zu verhindern gilt.
Kirsten Boies Heul doch nicht, du lebst ja noch liefert jungen Lesenden viel Material zum Nachdenken und Einfühlen in eine Zeit, in der die heutigen Großeltern Kind waren. Es ist jedoch kein schwarz-weißes Material, sondern vielmehr eine facettenreiche Darstellung einer Gesellschaft nach der Katastrophe, die so nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Städten Deutschlands zu finden war. Vielleicht ermutigt dieses Buch die Lesenden, ihre eigenen Großeltern nach deren Kindheit und Erlebnissen in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu fragen – denn die Traumata aus Krieg und Verfolgung leben in uns ja bekanntermaßen weiter.

Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch, Oetinger, 2022, 176 Seiten, ab 14, 14 Euro

Langeweile kann so schön sein …

Langeweile – dieser vermeintlich total uncoole Lebenszustand ist ein großes Buchthema. Es gibt wohl kaum einen Verlag, der nicht eine Publikation zum Thema im Programm hat. Meist mit dem Tenor: So werdet ihr die Langweile ganz schnell wieder los. Aktivismus ist das Mittel, um ja nicht in der Langeweile zu versinken.

Auch der Dachs, den wir schon in seiner übellaunigen Variante kennengelernt haben (Der Dachs hat heute schlechte Laune), langweilt sich im neuesten Band mit dem Titel Der Dachs hat heute Langeweile! Und zwar so sehr, dass ihm gar nichts einfällt, was er mal tun könnte. Er sitzt grübelnd vor seiner dampfenden Teetasse und überlegt, was er eigentlich am liebsten macht. Doch selbst seine Lieblingsbetätigung, das Malen, hilft nicht gegen seine Langweile. Die Leinwand auf der Staffelei bleibt leer. Zum Glück klopft der Fuchs an die Tür – doch auch ihm ist langweilig. Der Dachs, ganz schlau, schlägt ihm vor, etwas zu bauen, weil der Fuchs das doch am liebsten macht. Und das Resultat? Genau: Langeweile.

Aktionismus nützt nichts

Ganz im Dachsstil tauchen nun nach und nach die anderen Freunde vom Dachs auf, spielen alle Lieblingsspiele durch und langweilen sich fürchterlich. Erst als die Maus auftaucht und eine Augenklappe trägt, weil sie sich wehgetan hat, geht es der Langeweile an den Kragen …
Es ist hier also nicht der gut gemeinte Aktionismus, der durch Altbekanntes Ablenkung und Kurzweil schaffen will, sondern es ist das Leben selbst, das zu etwas Unerwartetem anregt. So erfindet die Gemeinschaft der Freunde etwas ganz Neues. Sie lassen ihrer Fantasie feien Lauf und können sich schließlich vor Einfällen gar nicht mehr retten.
Es ist das Aushalten-müssen der Langeweile – zumindest für eine gewisse Zeit –, was den Kopf anregt. Das erfahren kleine Leser:innen in diesem Buch ganz nebenbei. Vielleicht hilft es auch den vorlesenden Eltern, nicht immer mit Vorschlägen zu kommen, wenn die eigenen Kinder „Mir ist langweilig“ sagen, sondern sie einfach mal damit in Ruhe zu lassen. In Kombination mit guten Freund:innen, die den Zustand der Langeweile ja auch kennen, entsteht dann meist ganz von allein etwas Aufregendes.

Im NEINhorn-Universum von Marc-Uwe Kling herrscht zunächst einmal keine Langweile, sondern Streit. NEINhorn und KönigsDOCHter kloppen sich um Süßigkeiten. NAhUND und WASbär könnten nicht wirklich helfen.

So macht sich NEINhorn genervt vom Acker, pfeift auf Freunde, die doch kein Mensch braucht, und gerät in den Dschungel, wo ihm die SchLANGEWEILE begegnet. Natürlich fragt sie das NEINhorn, was sie denn so gegen die Langweile machen könnte. Doch nichts was das NEINhorn vorschlägt sagt ihr zu: »Ich schlache nie über Witzzze.«, »Nicht schlustig.«, »Ich bin doch keine Schluftschlange« »Zu schlaut«, »Zu schleise«, »Zu schlangsam«, erwidert sie auf alle möglichen Vorschläge in ihrer seltsam-komischen Art zu reden.
Dieses ständige Nein wird da selbst dem NEINhorn zu viel. Wieder haut es ab und galoppiert auf den wunderlichen Vulkan.

Ausklappbare Wunderwelt

Auf einem fünfseitigen, ausklappbaren Leporello schaut es nun in eine von Astrid Henn in zarten Bonbonfarben hingehauchte Welt mit Montgolfieren, Drachen, Burgen, chinesischen Tempeln, Dschunken, Fluggeräten, Gorillas und diebischen KLAUmeisen.
Bei so viel Entdeckungspotential in der Welt kann sich selbst das NEINhorn nur noch wundern, wie uns eigentlich überhaupt langweilig sein kann.
Aber dieses Gefühl ist nun einmal Teil von uns, da kann auch kein NEINhorn gegen an. Doch es findet, dass es traurig ist, diese wundersame Welt allein erkunden zu müssen. Also ruft er seine nervigen Freunde herbei, und selbst die SchLANGEWEILE schließt sich der Crew an. Und was soll man sagen: Am Ende haben die fünf trotz ihrer kleinen Fehler (die Verfressenheit des WASbären oder die Überheblichkeit der KönigsDOCHter) bannig viel Spaß.
Auch hier sind es wieder die Welt an sich und die Kombi mit den Freunden, die jenseits von hektischem Aktionismus, der Langeweile den Garaus machen. Fast möchte man von DEM Mittel gegen Langeweile sprechen …

Sprachspielereien bis zum Anschlag

Bücher von M-U-K wären nicht von Marc-Uwe Kling, wenn sie nicht vor herrlich rotziger Sprache strotzten und jede Menge Sprachspiele enthielten. Neben der vergnüglichen Sprechart der SchLANGEWEILE, die Nachahmungspotential in sich trägt, gibts am Ende sogar noch ein paar Spiele des Buchstabendurcheinanderbringers, die mit einem Haufen Freunde natürlich viel mehr Spaß bringen …

Moritz Petz: Der Dachs hat heute Langeweile!, Illus: Amélie Jackowski, NordSüd, 2021, 32 Seiten, ab 4, 15 Euro

Marc-Uwe Kling: Das NEINhorn und die SchLANGEWEILE, Illus: Astrid Henn, Carlsen, 2021, 54 Seiten, ab 3, 13 Euro

Gegen das Schubladendenken

Okay, der Sommer ist vorbei, draußen ist es nass, kalt, dunkel – beste Lesezeit und beste Gelegenheit, sich in den Sommer zurück- oder vorzuversetzen und zwar mit Meg Rosoffs Roman Sommernachtserwachen. Darin nimmt die preisgekrönte Autorin uns in ein verwinkeltes Sommerhaus irgendwo an einer englischen Küste mit. Eine Familie mit vier jugendlichen Sprösslingen macht sich auf, die großen Ferien dort zu verbringen – so wie immer. Alles deutet daraufhin, dass es ein gewöhnlicher Sommer mit Baden, Segeln, Tennis, Reiten, Grillen und Faulenzen wird.

Doch das Erzähl-Ich macht schnell klar, dass es dieses Mal anders laufen wird. Denn zur Familie stoßen noch Dads jüngere Cousine Hope mit ihrem Freund Malcom, von allen nur „Malanhope“ genannt, weil sie unzertrennlich scheinen. Hope wiederum hat eine kalifornische Patentante, eine mehr oder minder bekannte Hollywood-Diva der B-Liga, die ihre beiden Söhne Kit und Hugo über den Sommer bei ihr „parkt“.

Blendende Schönheit

So schlägt der 19-jährige Kit in dieser Runde ein wie ein Bombe. Die Schwester Mattie verliebt sich stante pede in den Schönling mit den goldenen Locken. Und er bändelt tatsächlich mit dem hübschen Mädchen an. Sarkastisch kommentiert das Erzähl-Ich, wie sich die Stimmung der Schwester in einem Auf und Ab immer schneller ändert, denn Kit ist nicht wirklich fassbar. Er legt sich trotz jugendlichem Geturtel und Gefummel nicht fest und verwirrt im Grunde alle Menschen in seinem Umkreis, mal mehr, mal weniger, je nach Alter, aber unabhängig vom Geschlecht.

Egoistischer Manipulator

Auch das Erzähl-Ich verfällt ihm im Laufe des Sommer, hat Sex mit ihm im Schilf und muss doch feststellen, dass Kit nur ein egoistischer Manipulator ist. Etwas, das sein zurückhaltender Halbbruder Hugo, den die anderen nicht ganz ernst nehmen und der als stilles, aber tiefes Wasser am Ende alle überrascht, schon immer wusste. Es ist faszinierend zu lesen, wie geschickt Meg Rosoff mit wenigen Sätzen die Sympathie der Lesenden von Kit zu Hugo leitet und so die eigene Beeinflussbarkeit deutlich macht.

Über Geschlechtergrenzen hinweg

Und so wie Hugo ist auch dieser Roman wie ein stilles, unaufgeregtes, aber überaus tiefes Textgewässer. In die heimelige, unbeschwerte Sommeratmosphäre, in der die Hochzeit von Malanhope vorbereitet wird, Bruder Alex Fledermäuse beobachtet, die kleine Schwester Tamsin bei einem Pferdeturnier mitreitet, schleichen sich nach und nach immer mehr Leerstellen und unlösbare Rätsel. Diese betreffen nicht nur Kit und Hugo, sondern vor allem auch das Erzähl-Ich, dessen Namen und damit auch dessen Geschlecht die Leserschaft in keiner Zeile erfährt.
Damit bleibt Meg Rosoffos Geschichte nicht nur eine schnell konsumierbare Lektüre, sondern gibt den Leser:innen zu denken, wie sie geschlechtliche Verhältnisse sehen. Die Autorin bringt – wenn einem diese Besonderheit des Erzähl-Ichs erst einmal bewusst geworden ist – unsere wie auch immer geschlossene oder offene Weltsicht ans Licht. Sie führt das stereotype Denken des Mainstreams vor und stellt es somit in Frage. Gleichzeitig zeigt sie, wie universell Verführung, Sex, Liebe sind, wie unwichtig Geschlechterdenken ist, wie menschlich charakterliche Abgründe sind. Der Nachhall dieser Sommergeschichte ist auch im tiefsten Winter gut zu spüren und trägt hoffentlich zu mehr Offenheit im Leben bei.

Meg Rosoff: Sommernachtserwachen, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Fischer KJB, 2021, ab 14, 15 Euro