Schlagwort-Archive: Aufarbeitung

Sie. wussten. davon.

Geschichte vergeht nicht. Jedenfalls nicht so schnell und so spurlos, wie mancher es vielleicht gerne hätte. Geschichte wirkt nach, bis heute. Vor allem die düstere Geschichte der Nazizeit. Und das so gut wie in allen Familien. Wir müssen nur hinsehen und nachforschen.
Genau dies hat die Berliner Grafikdesignerin Bianca Schaalburg getan und daraus die eindrucksvolle Graphic Novel Der Duft der Kiefern gemacht.
Als Schaalburg von ihrer Großmutter einen riesigen dunklen Kleiderschrank erbt, beginnt die 1968 Geborene über ihre Familie nachzudenken. Fragen kann sie ihre verstorbenen Eltern und Großeltern nicht mehr, nur ein Onkel steht ihr hilfreich zur Seite, als sich anfängt Nachforschungen über die Taten ihres Großvaters Heinrich während des Zweiten Weltkriegs anzustellen.

Der Wissensdurst der Kriegsenkel

Schaalburg gehört wie die Mehrheit der Boomergeneration zu den so genannten Kriegsenkeln, die dank der Bücher der Journalistin Sabine Bode seit ein paar Jahren vermehrt nachfragen, forschen und genauer hinsehen. Das Schweigen, das die Täter nach dem Zweiten Weltkrieg über ihre Verbrechen gelegt haben, versuchen diese Menschen zu durchbrechen. So liegt die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte momentan – man könnte fast sagen – im Trend. Ich kann mich da nicht ausnehmen, ich gehöre ebenfalls zu dieser Generation und merke immer mehr, wie sehr die Erlebnisse meiner Großeltern und Eltern während der Nazizeit und im Krieg selbst mein Leben geprägt haben. Diesen aktuellen Wandel von der Sprachlosigkeit unser Jugendjahre – als wir die Großeltern noch fragen konnten, aber meist nur abweisende oder gar keine Antworten bekamen – hin zum Drang nach Aufklärung, finde ich wichtig und nötig, um uns allen immer wieder klar zu machen, dass der Spruch „Wir wussten von nichts“ eine große gesellschaftliche Lüge war.

Gegen die vermeintliche Ahnungslosigkeit

Auch Schaalburg hörte diesen Satz als Kind von ihrer Oma. Und wird in der Gegenwart durch die Stolpersteine vor dem ehemaligen Haus ihrer Familie in Berlin-Zehlendorf auf einen krassen Widerspruch aufmerksam: Dort hatten einst jüdische Menschen gelebt, waren vertrieben und später nach Theresienstadt deportiert worden. Doch die Großeltern wollten von alldem nichts gewusst haben und haben dennoch ihren Profit daraus geschlagen, wovon der große Esstisch der jüdischen Vormieter das offensichtlichste Zeugnis ist.
Wie es bei solchen Nachforschungen an der Tagesordnung ist, findet Bianca Schaalburg relativ schnell immer neue Details heraus. Sie fängt zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn an, in den Bundesarchiven zu recherchieren, Akten zu lesen, Online-Datenbanken zu nutzen und alte Adressbücher zu wälzen. So erfährt sie, dass der Großvater Anfang der 1940er Jahre in Riga als Buchhalter bei der Wehrmacht Dienst tat. Riga – dort wo eines der schlimmsten Kriegsverbrechen an den Juden stattfand. Die Frage, wie viel ihr Großvater davon mitbekam, ob er selbst darin verstrickt war, lässt sich nicht beantworten.
Genauso wenig kann Schaalburg auch über die drei jüdischen Bewohner ihres Hauses herausfinden. Wie Puzzleteile setzt sie die wenigen Informationen, denen sie habhaft wird, zusammen. Wer sich die Mühe macht nachzuforschen, wird am Ende meistens mit mehr Fragen als mit klaren Antworten dastehen. Und genau das zeigt Schaalburg in ihrem Buch. Hält sie sich bei der Familie an die Fakten, lässt die Leerstellen im Raum stehen, so erlaubt sie es sich, für die drei ermordeten Juden Clara, Carl und Margarete jeweils einen kurzen fiktiven Lebenslauf zu entwerfen. Auf den einzigen komplett schwarzweiß gehaltenen Seiten liefert sie so ein lebensfrohes, fast schillerndes Bild möglicher Biografien, die die Ungeheuerlichkeit der Judenverfolgung noch krasser erscheinen lässt.

Deutsche Geschichte am Beispiel einer Familie

Schaalberg beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Nazizeit, sondern schildert ihre Familiengeschichte auch im Nachkriegsberlin, während der Teilung der Stadt und schließlich beim Mauerfall. Anhand ihrer Mutter Edda und deren drei Geschwister illustriert sie, wie sehr nazivergiftete Regeln und Glaubenssätze („Stell dich nicht so an“, „Ein deutscher Junge weint nicht“ oder „Mädels müssen brav sein und immer lächeln“) ihre Eltern in der Nachkriegszeit geprägt und geformt haben. Dieses Nazigift, davon bin ich überzeugt, wirkt in vielen der Kriegsenkel immer noch und wird ohne Aufarbeitung vermutlich an die nächsten Generationen weitergegeben.

Das verschreckte innere Kind der Mutter

Beeindrucken ist, wie Schaalberg die durch diese elendige Erziehung und die Kriegserlebnisse verschreckte Mutter als Kind zeigt: Da sitzt die kleine Edda als transparente graue Figur mit Propellerschleife im Haar unter dem Tisch und starrt aus großen leeren Augen vor sich hin. Es ist für mich eines der treffendsten Bilder der Generation der heute 80-Jährigen, die zum einen Opfer ihrer Elterngeneration wurden, zum anderen Mitte des 20. Jahrhunderts unglaublich viel gearbeitet und das zerstörte Land wieder aufgebaut haben, die jedoch kaum über ihre Kindheitserlebnisse sprechen konnten bzw. professionelle psychologische Hilfe in Anspruch genommen haben, weil das Stell-dich-nicht-so-an über allem lag. Man möchte diese traumatisierten inneren Kinder unwillkürlich trösten.

Gelungenes Farbkonzept

Neben den vielen inhaltlichen Finessen und Fakten hat Bianca Schaalburg ein sehr gelungenes Farbkonzept für ihre Geschichte gewählt. Die unterschiedlichen Kapitel spielen in unterschiedlichen Jahren, sind jedoch nicht chronologisch angelegt, sondern springen durch die Jahrzehnte. Jedes Jahrzehnt ist in einem Farbton mit unterschiedlichen Nuancen gehalten. Die Nazizeit natürlich in adäquatem Kackbraun, doch nach dem Krieg wird es lichter, die 1950er kommen in grünen Schattierungen daher, die 1960er in blauen, die 70er sind quietschorange. So wird es in Richtung Gegenwart immer heller, wenn auch nicht absolut fröhlich. Die gebrochenen Pink- und Violettöne des 21. Jahrhunderts laden eben nicht zum gedankenlosen Dahinleben ein, sondern erinnern daran, den Blick zurückzuwerfen und die Auseinandersetzung zu suchen.
Den Abschluss bildet ein sehr hilfreicher Anmerkungsapparat, der u.a. den Familienstammbaum zeigt, das Viertel in Zehlendorf verortet, Informationen zu Theresienstadt und den Verbrechen in Riga liefert sowie Anregungen zum Weiterlesen aufführt.

So wird Der Duft der Kiefern nicht nur zu einer persönlichen Familiengeschichte, sondern fast zu einer Anleitung, auf jeden Fall zu einer Anregung, in der eigenen Familie nachzufragen und nachzuforschen. Um der Stille und dem Schweigen ein Ende zu setzen.

Bianca Schaalburg: Der Duft der Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse, avant-verlag, 2021, 26 Euro

Gerechtigkeit schaffen, Erinnerung bewahren

Klarsfeld

Man könnte sich fragen: Warum sollte man eine Graphic Novel über ein deutsch-französisches Paar lesen, das jüngeren Deutschen vermutlich nichts sagen wird? Der Titel Beate & Serge Klarsfeld, die Namen des Ehepaars, erinnert Älteren vielleicht reflexartig an diese eine Ohrfeige von damals. Erst der Untertitel könnte jüngere Lesende neugierig machen: Die Nazijäger. So wenig aufschlussreich ersterer ist, so reißerisch und neugierigmachend ist letzterer. Und Neugierde braucht man, um sich dieser komplexen Bildergeschichte zu widmen.
Autor Pascal Bresson und Illustrator Sylvain Dorange widmen sich ausführlich dem Ehepaar Klarsfeld, die in Frankreich eine Institution, hierzulande jedoch schon fast in Vergessenheit geraten sind.

Eine naive Deutsche in Paris

Anfang der 1960er Jahre lernen sich Beate, die als Au-pair-Mädchen in Paris arbeitet, und der Politikstudent Serge in Paris kennen – genau an dem Tag, als Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt wird. Beate ist etwas überfordert von den Geschichten, die Serge ihr daraufhin erzählt. Seine Familie wurde nach Auschwitz deportiert, sein Vater dort ermordet. Doch aus dieser anfänglichen Überforderung entsteht eine Haltung, die die beiden jungen Leute zusammenschweißt und zu den Aufklärenden der Nazi-Verbrechen in Frankreich werden lässt. Beate bleibt in Frankreich, heiratet Serge, sie gründen eine Familie. Als in Deutschland Kurt Kiesinger, ein ehemaliger Nazi, Bundeskanzler wird, brennen bei Beate quasi alle Lampen durch und sie fährt 1968 zum Parteitag der CDU – wo sie dem Kanzler vor aller Augen eine knallt.

Die Suche nach den Verbrechern

Ihre französische Staatsbürgerschaft rettet sie vor dem Gefängnis. Doch nun hat sich Beate festgebissen und fängt zusammen mit Serge an, nach den Nazi-Verbrechern zu suchen, die in Frankreich in Abwesenheit verurteilt worden und untergetaucht waren. Darunter Alois Brunner, Josef Mengele, Klaus Barbie …
In farbig abgesetzten Rückblicken schildern Bresson und Dorange die Verbrechen der Täter. So ließ Klaus Barbie im April 1944 ein Waisenhaus in Izieu räumen und 44 jüdische Kinder und sieben Erzieher nach Auschwitz deportieren, wo sie sofort in den Gaskammern ermordet wurden.

Mühsame Suche in Archiven

Beate agitiert nach außen, Serge recherchiert akribisch in Archiven. Ein Umstand, der heute durch das Internet kaum noch im Bewusstsein ist: Damals war es mühsame Fleißarbeit, alte Akten durchzuarbeiten und dann meist zufällig auf wichtige Unterlagen und Beweise zu stoßen. Nichts war mit einem Klick einsehbar.
Das Ehepaar Klarsfeld jedoch macht einfach immer weiter, die beiden machen Überlebende von damals ausfindig, knüpfen Kontakte zu einflussreichen Politikern und Staatsanwälten, können Zeugen zur Aussage überreden. Sie kommen Klaus Barbie auf die Spur, der sich wie so viele Nazis nach Südamerika abgesetzt hat, planen ihn zu kidnappen.

Von Feinden und Bedrohungen

Aber sie machen sich auch Feinde. Anonyme Anrufer bedrohen sie, Scheiben werden eingeschmissen, Briefbomben verschickt und schließlich fliegt ihr Auto in die Luft …
Am Ende jedoch, nach langen, unermüdlichen Jahren können sie Klaus Barbie verhaften und nach Frankreich ausliefern lassen. Diese Tatsache ist bekannt und daher besteht hier kein Spoileralarm.

Hommage an die Klarsfeld

Die Autoren haben in dieser Graphic Novel dem Ehepaar Klarsfeld und ihren herausragenden Verdiensten quasi ein Denkmal gesetzt. Die langen Jahre der Jagd lesen sich in dieser gekonnten Verflechtung von Szenen einer harmonischen Ehe, Aufklärungsarbeit und Geschichte des 2. Weltkriegs wie ein Krimi. Hier zeigt sich, dass die Bestrafung von Nazi-Tätern, die heute manchmal nur Randnotizen in den aktuellen Zeitungen sind, keine Selbstverständlichkeit war. Zu viele Widerstände gab es in Politik und Gesellschaft, das analoge Leben erlaubte kaum schnelle Reaktionen und Ergebnisse, zu geschickt hatten sich die Täter auf anderen Kontinenten in Sicherheit gebracht.

Aufklärungsarbeit – Erinnerungsarbeit

Die Klarsfeld haben zur Aufklärung der Verbrechen und der Bestrafung der Täter beigetragen und zudem erinnern sie an die deportierten Kinder aus Frankreich während der Shoah. Sie sind Vorbilder in der Unnachgiebigkeit und Zähigkeit, mit der sie diesen Kampf geführt haben, sie zeigen, wie wichtig das Aufarbeiten und Erinnern war und immer noch ist. Gerade auch in heutigen Zeiten, in denen die letzten Zeitzeugen gehen, die Täter kaum noch belangt werden können.
All dies sind die Gründe, warum man diese Graphic Novel lesen muss.

Pascal Bresson/Sylvain Dornage: Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger, Ü: Cristiane Bartelsen, Carlsen, 2021, 28 Euro

Rache ist …

antoinetteSchulzeit, schwere Zeit. Nicht nur, weil man von den Lehrern mit neuem Stoff gepiesackt wird und lernen muss, sondern auch, weil es Mitschüler gibt. Olivia Vieweg hat dieses bittere Kapitel im Leben in einen eindrucksvollen Comic gepackt: Antoinette kehrt zurück.

Antoinette lebt seit Jahren in Los Angeles, ist erfolgreich und mit einem berühmten Filmstar verheiratet. Was will man mehr? Doch die junge Frau wird von dem Gedanken an die alte Heimat in Deutschland gequält. Obwohl sie ihre Herkunft verschweigt, ja fast verleugnet, wirft sie täglich über eine Webcam einen Blick auf ihr altes Dorf.
Eines Tages taucht eine weibliche Figur vor der Kamera auf, die Antoinette verdammt ähnlich sieht. Der Protagonistin bleibt nichts anderes übrig als noch einmal nach Hause zurückzukehren.

Und während sie lange Stunden im Flugzeug sitzt, tauchen die ersten Erinnerung von ihrer Vergangenheit auf: die grausamen Mitschüler, die das schlaue Mädchen ausgrenzen, verhöhnen  und demütigen. Kaum setzt Antoinette einen Fuß ins Dorf, trifft sie auch schon eine von den verhassten Peinigerin von früher. Wie im falschen Film sieht sie auf einer Geburtstagsfeier auch die anderen verhassten Menschen wieder. Die sind nun erwachsen, „vernünftig“ und schmeißen sich an die „Berühmtheit“ aus LA ran. Ihren Neid können sie nur schlecht verbergen. Man weiß nicht, was schlimmer ist, Vergangenheit oder Gegenwart. Nur Jonathan fehlt. Der hatte Antoinette am schlimmsten von allen gequält …

In sonnengelb-grau-schwarzen Panels eröffnet Vieweg einen tiefen Blick in die Psyche eines Mobbing-Opfers. Das heitere kalifornische Gelb kontrastiert mit dem satten Schwarz der Seelenabgründe und aus der scheinbaren harmlosen Rückkehr in die Heimat wird langsam ein düsterer Rachefeldzug – für den man das vollste Verständnis entwickelt, wenn Antoinette mit ihrem Engelshaar sich nach und nach an alle schrecklichen Details ihrer Qual erinnert. Gleichzeitig fragt man sich beständig, wie weit Rache wirklich gehen darf, um die Geister der Vergangenheit wieder loszuwerden. Und ob man Antoinette daher noch nett und sympathisch finden darf. Das ist eine ziemlich harte Nuss, die Vieweg dem Leser hier zu knabbern gibt. Wie und ob dies alles irgendwie zu beurteilen und aufzuwiegen ist, diese Schlussfolgerungen muss jeder Leser selbst ziehen.

Antoinette kehrt zurück, für den Olivia Vieweg 2012 das Comic-Stipendium der Egmont Verlagsgesellschaften gewann, zeigt wieder einmal, dass sich das Medium Comic extrem gut für die visuelle Darstellung und somit für die Bewusstmachung von psychischen Abgründen eignet. Die leeren weißen Augen von Antoinettes Doppelgängerin sind so eindrucksvoll gruselig und erschreckend, dass die ganze Dimension von Mobbing für die Opfer mit einem Bild klar wird. Dafür brauchen andere Medien manchmal endlos lange Seiten oder Sequenzen. Vieweg schafft das mit ein paar klaren Strichen.

Olivia Vieweg: Antoinette kehrt zurück, Egmont Graphic Novel, 2014, 96 Seiten, 14,99 Euro

Großmutters Geheimnis

warschauErben ist eine heikle Sache. Besonders, wenn es sich um alten Besitz aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg handelt. Das muss die junge Mika feststellen, die in der Graphic Novel Das Erbe der Israelin Ruth Modan, feinfühlig von Gundula Schiffer aus dem Hebräischen übersetzt, mit der Großmutter Regina von Israel nach Warschau reist.

Beide haben einen Verlust erlitten. Zwei Monate zuvor ist Mikas Vater, Reginas Sohn, an Krebs gestorben. Nun will sich die Großmutter endlich um den ehemaligen Besitz, den ihre jüdischen Eltern im Krieg zurücklassen mussten, wiederholen. Angeblich hat sie auch schon einen Termin bei einem Anwalt, der sich um die Angelegenheit kümmert. Doch Genaues sagt sie Mika nicht. Nach der Ankunft im Hotel überkommt die Großmutter eine scheinbar plötzliche Anwandlung, das Erbe doch nicht haben zu wollen. Mika ist ratlos, ob des Sinneswandels und der Sturheit der alten Dame. Mika stibitzt sich das Anwaltsschreiben und sucht den Rechtsanwalt auf. Währenddessen geht die Großmutter ihre eigenen Wege in der Stadt und macht sich auf die Suche nach ihrer Jugend.

Rutu Mordan erzählt im Ligne-Claire-Stil auf eine feinsinnig verwobene Art die Geschichte von Regina, die zwar im Warschauer Ghetto gelebt hat, aber den Schrecken der Naziverfolgung entkommen ist – auf Kosten ihrer großen Liebe. In Erinnerungsrückblenden erfährt der Leser von Reginas Schicksal.
Dem gegenüber stehen die Erlebnisse von Mika im Warschau von heute. Sie lernt einen jungen Comiczeichner kennen und lieben, erlebt ein historisches Rollenspiel für Touristen, in dem die Deportation der Juden aus dem Ghetto nachgespielt wird, und muss sich mit einem israelischen Bekannten rumschlagen, der ein Auge auf Mikas Tante Zilla und das Erbe geworfen hat.
Modan geht es dabei nicht um eine weitere Darstellung des Holocaust à la Maus von Art Spiegelman. Sie verweist mit Humor und Ironie auf die heutigen Auswirkungen der Nazizeit sowohl auf die Polen als auch die Israelis. Da trifft die Sehnsucht der Israelis nach der alten Heimat auf die Angst der Polen vor den jüdischen Besitzansprüchen. Sie zeigt den gesellschaftlichen Umgang mit Erinnerung – das Flugzeug aus Israel ist voll mit Schulklassen auf Exkursion zum „grausigsten“ KZ, in Warschau braucht die Internetgeneration authentische Action – und stellt ihn damit gleichzeitig in Frage.

Die Verbindung der Vergangenheit mit den persönlichen Geschichten von Großmutter und Enkelin offenbart dann jedoch die Kraft der Liebe zwischen den Menschen. Diese Liebe überdauert in manchen Fällen auch Jahrzehnte der Trennung oder entflammt in kürzester Zeit – als stärkstes Zeichen der Zusammengehörigkeit und Versöhnung, jenseits von Erbschaftsansprüchen.

Rutu Modan: Das Erbe, Übersetzung: Gundula Schiffer, Carlsen, 2013, 224 Seiten, 24,95 Euro