Ein bitterer Nachgeschmack

In Hamburg gibt es zurzeit in der Rathausdiele die Fotoausstellung „Unser Afrika“. Der Künstler Marc Erwin Babej hat sich darin mit einem sehr düsteren Kapitel der deutschen Geschichte auseinandergesetzt, der Kolonialzeit und dem Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia. Seine Schwarzweißbilder von weißen Models in der afrikanischen Wüste irritieren ziemlich, da er sich mit der Gedankenwelt der Täter auseinandersetzt, indem er den Bildern Texte zur Seite stellt, in denen die Täter von damals zitiert werden. Die werbekampagnen-ähnlichen Bildern mit den Schrecken und Gräueltaten von Beginn des 20. Jahrhunderts zusammenzubringen ist unbequem, macht jedoch auch deutlich, wie wenig wir eigentlich von diesem Thema wissen. Und wie wichtig eine Aufarbeitung dieses Kapitels unserer Geschichte immer noch ist.

Etwas Ähnliches muss sich Autorin Elisabeth Herrmann, die seit Jahren erfolgreich für das Fernsehen schreibt, auch gedacht haben. In ihrem neuesten Thriller verwebt sie äußerst geschickt, das Leben der 19-Jährigen Mia aus Meißen mit dem Schicksal der Herero in Namibia.
Mia, die aus einer Chocolatiers-Familie stammt und mit Leidenschaft neue Pralinen entwickelt, will sich mit einer Reportage für die Journalistenschule bewerben. Das Foto ihres Ur-Großvaters Jakob, der darauf mit einem riesigen Schokoladen-Nashorn und dem Gründer der Schokoladenfabrik Herder zu sehen ist, soll ihr den Stoff liefern. Mia fängt an, sich mit der Geschichte Jakobs, der aus Deutsch-Südwestafrika stammte, auseinanderzusetzen. Auf dem Dachboden ihres Hauses finden sich noch ein paar alte Dinge, ein Leinenhemd, eine merkwürdige Kette, ein Brief in Sütterlin, die einst Jakob gehört hatten.
Mias Recherchen führen sie schnell nach Lüneburg, wo die Familie Herder ihren Familiensitz hat. Dort soll Mia den alten Herder, den Sohn von Jakobs Lehnherren, treffen, doch als sie eintrifft, ist der alte Herr tot – und Familie Herder zunächst nicht gewillt, Mia irgendwie weiterzuhelfen.

Nur der anfangs schnöselige Sohn der Familie, Will, kümmert sich schließlich um Mia, während er gleichzeitig eine Wirtschaftsdelegation aus Namibia betreuen muss. Durch das Zusammentreffen mit den jungen Mitgliedern der Delegation und aus alten Tagebuchseiten von Wills Ur-Großvater erfährt Mia nun immer mehr über die Geschichte Namibias und den grausamen Völkermord, den die Deutschen an den Herero und Nama ab 1904 begangen haben. Und plötzlich stirbt ein weiterer Mensch, und ein Maskenmann greift Mia an.

Normalerweise habe ich es ja nicht so mit Thrillern, doch Elisabeth Herrmann hatte mich von der ersten Seite in ihrem Bann. Die Verquickung von Spannung und Historie schafft sie so überzeugend, dass ich Seite um Seite verschlungen habe. Eingestreut zwischen die Kapitel sind fiktive Briefe von dem Gründer der Herder-Werke, in die Herrmann zum Teil Zitate aus Peter Moors Fahrt nach Südwest des nationalsozialistischen Autors Gustav Frenssen eingebaut sind. In ihrem Nachwort erläutert Herrmann die Nutzung dieses problematischen völkischen Textes, in dem bereits die geistige Haltung der Nationalsozialisten angelegt ist. So schwingt bei aller spannungsliterarischen Unterhaltung immer auch ganz deutlich ihre Intention mit, diesen fast völlig verdrängten Völkermord und das Unrecht an Herero und Nama ins Gedächtnis zurückzurufen.
Neben dem politischen und humanitärem Anliegen der Erinnerung spart Herrmann zudem nicht mit Kritik an der gesamten Kakao- und Schokoladen-Industrie, die noch immer von den Verhältnissen, die durch die Kolonialzeit implementiert wurden, profitiert. So hat nur eine kleine Schokoladen-Manufaktur aus Berlin ihr bei der Recherche geholfen – man mag es kaum glauben.

Zwischen all diesen gelungenen und packenden Elementen gab es für mich nur ein paar Wermutstropfen, dort, wo sich dann doch einige Lektoratsfehler eingeschlichen haben (der Zug von Berlin nach Hamburg fährt nicht über Schwerin, das kratzende Kabel des kabellosen Mikros – und wieso kann Will gegen Ende auf einmal Sütterlin, wo Seiten zurvor noch ein älterer Herr aus Namibia die alten Briefe von 1904 vorlesen musste? – Und wieso eigentlich Sütterlin, wenn diese Schrift erst ab 1911 entwickelt wurde …) Das ist ärgerlich und sollte eigentlich nicht sein. Genauso wie der nichtssagende Standard-Klischee-Titel, der mich überhaupt nicht gereizt hätte, wenn ich nicht den Tipp mit dem historischen Hintergrund des Romans bekommen hätte.

Nichtsdestotrotz beweist Elisabeth Herrmann, dass Unterhaltungsliteratur durchaus die wichtigen Themen der Zeit aufgreifen und der Leserschaft so näher bringen kann, dass diese ein Bewusstsein für historische und aktuelle Ungerechtigkeiten entwickeln kann.
Jede Berichterstattung über die Prozesse, die die Herero zurzeit gegen die Bundesrepublik Deutschland führen, werde ich nun viel aufmerksamer wahrnehmen – und bei jeder Tafel Schokolade werde ich mich fragen, ob die wirklich sein muss, oder ob ich nicht doch die fair gehandelte nehmen sollte. Und das alles wegen eines fesselnden Thrillers mit Nachhall.

Elisabeth Herrmann: Zartbittertod, cbj, 2018, 480 Seiten, ab 14, 18 Euro

Reise zu den Wurzeln

ascheEin Mal im Jahr scheine ich ein Buch über Grabschändung und den perfekten Ort für eine Bestattung rezensieren zu können. War es im vergangenen Jahr der Roman von Boris Koch, so ist es nun Anke Webers Regenbogenasche. Vielleicht wird ja eine Tradition daraus…

Auch in Regenbogenasche geht es darum, einem Toten seinen letzten Willen zu erfüllen: Rhinas Vater ist bei einem Unfall gestorben. Seine große Sehnsucht war Namibia, und die fast 15-jährige Rhina setzt sich in den Kopf, seine Asche dorthin zu bringen und an dem schönsten Ort zu verstreuen. Zusammen mit ihrem Schulkameraden Unkas, schmiedet Rhina zunächst den Plan, die Urne unbemerkt auszubuddeln.
Später schließen sich die beiden Jugendlichen einer namibischen Kulturorganisation an, die Reisen in das afrikanische Land organisieren. Mit umgefüllter und eingefärbter Asche machen sich Rhina und Unkas auf nach Namibia.

Für Rhina ist diese Reise jedoch mehr, als nur den toten Vater an seinen Lieblingsort zu bringen. Sie war sieben als ihr Vater starb, seitdem vermisst sie ihn und kann irgendwie kein eigenes Leben beginnen. Unkas, der ihr bei diesem Abenteuer treu zur Seite steht, wird zu ihrem Vertrauten und besten Freund. Und je mehr Rhina über ihren Vater, seine Herkunft und seinen Tod herausfindet, um so mehr wandelt sie sich zu einem freien Mädchen, das ihren eigenen Lebensweg geht und die Liebe kennenlernt.

Anke Weber schafft es auf faszinierende, fesselnde Art und Weise, die Gegensätze von Leben und Tod in einem spannend Road-Roman zu vereinen. Sie macht jugendlichen Lesern deutlich, dass das eigene Leben von dem der Eltern mehr beeinflusst wird, als man so manches Mal meint oder es sich wünscht. Die Schatten der elterlichen Vergangenheit legen sich immer auch auf das Leben der Kinder. Weber erzählt das jedoch mit einer Leichtigkeit und dem exotischen Touch der namibischen Wüste, das man ganz gebannt Rhinas gesetzwidrige Grabschändung akzeptiert, mit ihr liebt, leidet und sich schließlich freut, als sie in Namibia nicht nur ihr Ziel erreicht, sondern auch eine große Überraschung erlebt.

Regenbogenasche variiert das Thema Grabschändung auf eine fast unbeschwerte Art und zeigt, wie wichtig es für Jugendliche ist, über die Herkunft und die Traumata der Eltern aufgeklärt zu werden. Jeder Mensch hat zwar durchaus ein Recht auf Geheimnisse, doch sobald diese sich auf die Nachkommen auswirken, haben diese wiederum ein Recht, sie zu erfahren. Erst dann können Jugendliche sich bewusst entscheiden, wie sie ihren eigenen Lebensweg einschlagen. So wie Rhina, die ihr Glück und ihren inneren Frieden erst findet, als sie das Geheimnis ihres Vaters gelüftet hat und den toten Vater am richtigen Ort weiß. Damit macht sie jugendlichen Lesern Mut, sich den eigenen Familiengeheimnissen zu stellen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der düstere Tod wandelt sich in diesem Buch zu einer kunterbunten Liebeserklärung an das Leben.

Anke Weber: Regenbogenasche, Ueberreuter, 2013, 256 Seiten,  ab 12, 12,95 Euro