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Harry Potter – die nächste Generation

potterVergangene Woche hat der Carlsen Verlag mit der Harry-Potter-Lesenacht das Erscheinen der deutsche Ausgabe von Harry Potter und das verwunschene Kind, übersetzt von Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, opulent und gebührend gefeiert. Im „Drei Besen“ konnte man Vielsafttrank genießen, es gab ein Trimagisches Turnier, der sprechende Hut sortierte die Gäste in die vier Häuser Hogwarts ein und die Hauselfen von Carlsen sorgten liebevoll für das Wohl der Fans.
Gelesen wurde auch: der Epilog von Band 7, womit man sofort wieder im Geschehen rund um Harry, seine Familie und die nächste Generation der magischen Welt war und sich nun auf die achte Geschichte stürzen konnte.

Meine persönliche Harry-Potter-Leseerfahrung liegt mittlerweile lange zurück. Kurz vor der Jahrtausendwende packte es mich, und ich las mich pünktlich zum Erscheinungstermin durch die jeweiligen Bände. Ich entdeckte die Kinder- und Jugendbuchliteratur neu, ohne allerdings die HP-Geschichten bis ins kleinste zu analysieren.
Mit der Zeit kamen dann die HP-Filme hinzu, sodass aktuell die Bilder aus den Filmen meine eigenen Fantasien überlagern. Harrys Welt ist zu einem sehr speziellen Kosmos geworden. Doch in diesen bin ich mit dem neuen Buch von J.K. Rowling gleich wieder eingestiegen.

Mittlerweile dürfte allen bekannt sein, dass es sich bei Harry Potter und das verwunschene Kind nicht um einen auserzählten Roman, sondern um ein Theaterstück handelt. Dies hat bereits nach Erscheinen des englischen Originals Diskussionen in den Netzwerken und unter den Harry Potter-Fans hervorgerufen, Erwartungen geschürt und auch Enttäuschung bereitet.
Und so habe ich mich an die Lektüre gemacht, neugierig, aber doch mit einer gewissen Skepsis, ob es mich wieder so packen würde wie vor etwa 15 Jahren.

Das Stück war rasch gelesen, und ja, es hat mich gepackt. Ich sah sie wieder vor mir: Harry, Ron, Hermine, Draco und Dumbledore. Es glich einem Treffen mit lieben alten Bekannten. Dennoch hat mich die Geschichte nicht vollständig befriedigt.

Da ich mich in den vergangenen Jahren nicht ständig mit dem Harry-Potter-Universum und seinen diversen Fortentwicklungen beschäftigt habe, war ich unsicher, ob ich diese neue Werk auch richtig einschätzen kann.
Daher habe ich der Harry-Potter-Expertin Lisa Kuppler in Berlin ein paar Fragen gestellt, die bei der Einordnung dieses Werkes vielleicht weiterhelfen können. Lisa beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Harry Potter und seiner magischen Welt, sie schreibt Fanfiction und ist in diversen Fan-Communities aktiv.

Zunächst habe ich Lisa gefragt, ob es sich beim „Verwunschenen Kind“ nicht um eine Mogelpackung handelt, da der Text nicht allein von J.K. Rowling stammt, sondern auch der Drehbuchautor Jack Thorne und der Theaterregisseur John Tiffany daran mitgewirkt haben.

Lisa Kuppler: Ich finde nicht. Zumindest noch nicht bei dieser Ausgabe, die ja erst das „Special Rehearsal Edition Script“, also der Proben-Text, ist. Es soll auch noch die endgültige Skript-Fassung kommen, und das ist dann echt nur noch Geldmacherei.

Ulrike Schimming: Welchen Anteil hat Rowling an dem Stück gehabt?

LK: Nach allem, was ich gehört habe, hat Rowling mehr als nur die Grundidee geliefert. Ich denke, sie hat zumindest den Plot verfasst und Thorne hat es dann als Theaterstück ausgeschrieben. Und sie hat die endgültige Theaterfassung gelesen und abgesegnet. Deshalb ist muss man „Das verwunschene Kind“ schon als ihre Vision sehen (als Rowling-Kanon).

US: Hat dich an der Form der neuen Geschichte etwas gestört? Man ist ja relativ schnell durch damit und taucht nicht so tief in das Geschehen ein.

LK: Es ist ein Theaterstück und kein Roman, und ja, man kann es schnell weglesen und es berührt einen kaum, weil alle erzählenden Passagen und die Innensicht der Figuren fehlen. Die Regieanweisung sind ja rein behauptet, ganz im Sinne einer Regieanweisung: Schauspieler, mach das. Und der Schauspieler macht es, aber im Text steht das nicht, was der Schauspieler macht. Und auch die Welt muss man sich selbst vorstellen, weil man ja keine Bühne und Bühnenbild sieht, wie die Zuschauer und Zuschauerinnen im Theater.

US: Mir kamen die vielen Zeitreisen in dem Stück fast wie ein etwas hilfloser Trick vor, den Zuschauern die Vorgeschichte wieder näher zu bringen und sie wie in einer Rückblicksparade an die verschiedenen Figuren und Umstände zu erinnern.

LK: Ich finde es legitim, dass die Zeitreisen-Struktur verwendet wird, um bekannte und geliebte Figuren und Orte und Szenarien wieder auftauchen zu lassen. Es ist auch eine Chance, um ein „Voldemort-hat-gewonnen“-Szenario auszuprobieren bzw. uns ein Hogwarts zu zeigen, wie es im 7. Buch unter den Todessern mit Headmaster Severus Snape war, was wir im Buch ja kaum sehen.
Die Geschichte von Harry Potter wird dadurch allerdings nicht wirklich weiterentwickelt. Es gibt keine neue Geschichte. Das verwunschene Kind ist eher eine Art verlängerter und ausgeschriebener Epilog, würde ich sagen.

US: Albus und Scorpius reisen in die Vergangenheit und kämpfen letztendlich wieder einen ähnlichen Kampf wie ihre Eltern. Zwischendrin kam bei mir das Gefühl auf, als hätten die Jungs und Mädchen dieser Zauberergeneration keine eigenen Probleme, wenn man mal von dem durchgängigen Vater-Sohn-Konflikt zwischen Harry und Albus absieht.

LK: Dass die Kinder keine Probleme haben, das finde ich nicht. Ja, es gibt keinen Krieg mehr, und keinen offensichtlichen Bösen wie Voldemort, aber Scorpius und Albus haben schon echte Probleme. Vor allem Probleme, wie sie oft in Jugendbüchern verhandelt werden: wie die soziale Stellung und die Geschichte der Elterngeneration die neue Generation beeinflusst, Probleme für sie schafft und ihre Beziehungen zueinander prägt. Der einsame, schüchterne, weltfremde Scorpius; Albus, der sich an der Vaterfigur Harry Potter abkämpft; die Feindseligkeit von Rose gegenüber Scorpius, die nur in der Vergangenheit begründet ist und nichts mit Scorpius zu tun hat. Die Generation von Albus und Scorpius hat durchaus eigene Probleme, nur sind es eben ganz andere als die der Generation von Harry, Hermine und Ron.

US: Die Freundschaft von Albus und Scorpius ist einer der emotionalen Hauptpunkte im Stück, quasi ein versöhnliches Gegenstück zur Feindschaft zwischen Harry und Draco. Man entdeckt dabei natürlich sehr schnell den queeren Subtext, der am Ende jedoch wieder hetero-normativ überformt und somit negiert wird. Ist das ein halbherziger Kompromiss, die Figuren von HP vielfältiger zu machen?

LK: Der homosexuelle Subtext ist in der Freundschaft zwischen Albus und Scorpius ganz klar da. Teile des Harry Potter-Fandoms sind frustriert, dass Rowling-Thorne aus Albus und Scorpius kein offen schwules Paar gemacht haben. Im Fandom wird Rowling deshalb auch Queerbaiting vorgeworfen, also, dass sie absichtlich Figuren queer anlegt, damit die queeren Leser_innen sich identifizieren, um sie am Ende doch wieder eindeutig hetero zu machen. Ich persönlich bin ich nicht enttäuscht, obwohl ich Slash (queere Fanfiction) schreibe und lese. Ich finde es vermessen, von Rowling zu erwarten, sie solle zu einer Sprecherin für LGTB*-Rechten werden. Und das würde sie, wenn sie Das verwunschene Kind als schwule Jugend- und Liebesgeschichte geplottet hätte. Rowling hat sich immer positiv für queere Menschen und Belange eingesetzt, es ist klar, wo sie in der Frage steht. Doch ihr politisches Engagement gilt Kindern in staatlichen und anderen Betreuungs-Einrichtungen (dies macht sie über ihre Stiftung „Lumos“). Aus meiner Sicht braucht sie queere Belange nicht dadurch zu unterstützen, indem sie die beiden Hauptfiguren des Theaterstücks offen schwul macht.
Ich würde mir wünschen, Rowling würde z. B in den „Fantastic Beasts“-Filme („Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“) eine queere Nebenfigur einführen, bzw. falls Albus Dumbledore tatsächlich in den Filmen auftaucht, wie gerüchteweise vermutet wird, dass er deutlich und explizit schwul ist. Rowling hat in Interviews gesagt, Dumbledore sei schwul, doch in den HP-Büchern steht es explizit nirgends. Es wäre schön, wenn Rowlings Interviewaussage wenigstens in den Filmen zu sehen wäre.
Beim Verwunschenen Kind bin ich sehr froh und erleichtert, dass Rowling-Thorne sich nicht gescheut haben, eine enge Jungenfreundschaft liebevoll und auch körperlich mit Umarmungen darzustellen, selbst wenn das Publikum dann vielleicht einen queeren Subtext in der Beziehung sehen kann. Die enge Freundschaft zwischen Albus und Scorpius ist deshalb für mich kein halbherziger Kompromiss, um queere Themen zu repräsentieren. Rowling-Thorne wollten eine „ganz normale“ Jungenfreundschaft darstellen und haben nicht aus lauter Angst, man könnte Albus und Scorpius, OMG, als *queer* lesen, alle körperlichen Aspekte von Freundschaft gestrichen und eine sterile Beziehung zwischen den beiden geschrieben.

US: Anders sieht es bei den Frauenfiguren aus, die ich allesamt als ziemlich schwach und blass empfunden habe. Überspitzt gesagt, die Frauen sind entweder tot (Astoria, Scorpius Mutter), böse (Delphi) oder verschwinden als Folge der Zeitreise (Rose). Auch gibt es keine Szene, in der Ginny mit ihrem Sohn Albus redet. Wie kann das sein? Mag Rowling keine Frauenfiguren? Oder ist hier die Handschrift von Thorne und Tiffany deutlicher zu spüren?

LK: Da sehe ich gerechtfertigte Kritik am Verwunschenen Kind und stimme ich dir voll zu: Die Frauenfiguren sind blass bzw. so unsympathisch, dass man sie einfach nicht leiden mag. Ich kann mich ebenfalls an keine Szene zwischen Ginny und Albus erinnern, nur an die Szenen zwischen Ginny und Harry, wenn sie über Albus sprechen.
Aber das ist ganz klar Rowlings Handschrift. Wie weit Tiffany und Thorne Rowlings Schwäche, was Frauenfiguren betrifft, verstärkt haben, kann ich nicht sagen. Aber Rowling versagt immer dann, wenn es um Liebesbeziehungen zwischen Teenagern geht, sie macht sich dann immer über die romantisch verliebten Mädchen lustig (Lavender Brown, Cho Chang oder Ginny als ganz junges Mädchen). Deshalb gibt es weder in den Harry Potter-Büchern noch jetzt im Verwunschenen Kind eine ernst zu nehmende Hetero-Romanze, worüber ich, ehrlich gesagt, froh bin.

US: An eine Episode erinnere ich mich in den Büchern überhaupt nicht: Deutet sich da bereits an, dass Bellatrix und Voldemort ein Kind zeugen? Es kommt mir im Verwunschenen Kind ein bisschen unvermittelt vor, fast schon zu gewollt, als wäre das die einzige Lösung gewesen, um Scorpius einen Hauch von Bosheit anzuhängen. Oder übertreibe ich jetzt?

LK: In der HP-Serie war Bellatrix Lestrange Voldemort schon sehr verfallen, aber in den Büchern (im Gegensatz zu den Filmen) hatte das meines Erachtens nie eine erotische Komponente. Bellatrix zeichnete sich ja anders als die „guten“ Frauenfigur (Molly, Andromeda, Tonks) genau dadurch aus, dass sie nie Kinder wollte. Bei Rowling sind gute Frauen immer gute Mütter. Selbst Narcissa Malfoy wird im Buch dadurch zur positiven Figur, dass sie sich für Draco einsetzt und ihn retten will. So eine Motivation gibt es für Bellatrix, die ja Narcissa Schwester ist, nicht. Dass Voldemort und Bellatrix eine Tochter haben, ist für mich ziemlich absurd. Voldemorts Ziel war es ja immer, selbstsüchtig sein eigenes Leben zu verlängern, nicht, sich über Kinder fortzupflanzen.

US: Hat sich Rowling beim Verwunschenen Kind eigentlich irgendwie vom Fandom beeinflussen lassen?

LK: Ich glaube nicht, und wenn, dann nur ironisch – wie beispielsweise durch das Gerücht, Scorpius sei das Kind einer Vergewaltigung Astorias durch Voldemort. Solche Fanfiction gibt es bestimmt, und hier kann ich mir vorstellen, Rowling-Thorne haben dieses Gerücht so überspitzt und sexualisiert formuliert, um sich über die Auswüchse von Fanfiction lustig zu machen.
Aus der Sicht eines Fans und als Teil des HP-Fandoms bin ich amüsiert darüber, dass Rowling-Thorne genau über die Figuren schreiben, die auch in der Fanfic sehr populär sind: Harry und Draco, und Albus und Scorpius. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Rowling-Thorne Fanfic lesen, sondern es ergibt sich aus den HP-Büchern: Draco ist die interessanteste Figur auf der Seite der Todesser, er ist eine Art Spiegelfigur für Harry. Und Albus und Scorpius sind ja schon im Epilog als Gleichaltrige angelegt, die sich direkt mit der Vergangenheit der Eltern-Generation auseinandersetzen müssen.
Dass sich sowohl die Fanfic wie Rowling-Thorne auf Draco und seine Beziehung zum erwachsenen Harry konzentrieren, finde ich nur logisch. Und die Scorpius-Szenen am Anfang des Theaterstücks, im Hogwarts-Express, sind ja quasi Spiegelszenen der Hogwarts Express-Szenen in Harry Potter und der Stein der Weisen. Mir hat sehr gut gefallen, dass es für Draco eine Wiedergutmachung gibt: Er hat aus seinen Fehlern gelernt und geht mit den aktuellen Ereignissen sogar abgeklärter um als Harry.

US: Ja, Harry kommt im Stück manchmal doch etwas ratlos daher oder wird gar zu einem Helikopter-Vater, der Albus mit der Karte der Rumtreiber kontrollieren will. Das macht ihn nicht gerade sympathisch und kam mir fast wie ein Verrat an dem ehemaligen Helden vor.

LK: Du hast Recht, ein bisschen haben Rowling-Thorne Harry im Stich gelassen. Er kommt hier nicht gut weg, ich mochte die Figur auch nicht besonders. Und die Szenen mit Porträt-Dumbledore, in denen Rowling-Thorne sicher das schwierige Verhältnis zwischen Harry und seinem Mentor hatten klären wollen, gehören für mich zu den schwächsten des Theaterstücks. Sie sind kompletter Kitsch, finde ich, ohne wirklich eine inhaltliche Aufarbeitung.
Man hätte sich ja eine ganz andere Geschichte für das Theaterstück ausdenken können, in dem Harry vor neuen Herausforderungen als Leiter der Aurorenzentrale steht. Persönlich hätte ich die viel lieber gelesen, aber dafür gibt es ja Fanfic und wenn die Trailer von „Fantastic-Beasts“ halten, was sie versprechen, bekommen wir da die magischen Abenteuer, die ich mir für „Das Verwunschene Kind“ gewünscht hätte.

US: Hätte Rowling besser daran getan, wieder einen richtigen Roman zu schreiben? Oder hat sich die HP-Welt durch die Filme, Pottermore, die Wizarding World-Themenparks, das riesige Fandom und nun auch durch ein Theaterstück mittlerweile so von ihrer Schöpferin emanzipiert, dass sie sie gar nicht mehr beeinflussen kann (oder will)?

LK: Rowling möchte keinen neuen HP-Roman schreiben, das stand nie zur Debatte. In Interviews hat sie erklärt, sie bekomme pro Woche Hunderte von Anfragen, was sie mit Harry Potter machen könne, und als John Thorne, den sie persönlich kennt, mit der Idee eines Theaterstücks auf sie zukam, hat sie Ja gesagt. Ich bin überzeugt, dass es genau so war. Und immerhin liest jetzt eine ganze Generation mal ein Theaterstück und Leute gehen ins Theater, die noch nie ein Schauspielhaus betreten haben. Das waren die ideelen Beweggründe, glaube ich.
Dass Rowling weiterhin ihr Harry Potter-Universum ausweiten möchte, zeigen die „Fantastic-Beasts“-Filme. Rowling hat das Drehbuch zu allen drei Filmen geschrieben. Hier bin ich wirklich gespannt auf die Geschichten, die sie und das Filmteam uns erzählen werden.

US: Das sollten wir uns also im November im Kino anschauen. Liebe Lisa, ganz herzlichen Dank für diese aufschlussreichen Erläuterungen. Jetzt würde ich die Harry-Potter-Saga doch fast noch einmal von vorn lesen …

J.K. Rowling/John Tiffany/Jack Thorne: Harry Potter und das verwunschene Kind, Teil eins und zwei, Übersetzung: Klaus Fritz und Anja Hansen-Schmidt, Carlsen, 2016, 334 Seiten, 19,99 Euro

Erfrischend normal

Patchwork-FamiliePatchwork-Familien werden hierzulande so manches Mal immer noch als etwas Exotisches, Ungewöhnliches, jenseits der Norm und der Normalität betrachtet. Vor allem, wenn mehrere Nationalitäten an der neuen Familienkonstellation beteiligt sind.

Das man dieses Thema auch anders angehen kann, beweist Deniz Selek in dem Auftaktband ihrer Trilogie Heartbreak-Family.
Ich-Erzählerin Jannah Kismet, 15, ist seit Jahren still und heimlich in den schönen dunkelhäutigen Ken verliebt, der sie allerdings nicht eines Blickes würdigt, vermutlich von ihrer Existenz nicht einmal weiß. Das ändert sich schlagartig, als Jannahs Mutter Suzan mitteilt, dass sie mit ihrem neuen Freund Sebastian zusammenziehen wird. Sebastian ist Kens Vater. Jannah stirbt quasi tausend Tode, allein bei der Vorstellung, nun fast täglich Ken über den Weg laufen zu müssen.
Doch Ken ist gar nicht mal das größte Problem. Viel schlimmer gebärdet sich Kens Schwester, die quirlig-nervige Merrie, mit ihrem Fimmel für Markenklamotten und  Edelschminke. Sie sticht Jannah in der Tanz-AG der Schule aus, bedient sich bei ihren Sachen, treibt Jannah schier zur Weißglut. Zudem glaubt Merrie, dass Jannah ihren Bruder verhext hat, als dieser beim Taggen erwischt und Ärger mit der Polizei bekommt.
Doch irgendwie gehört Merrie nun mit zur Familie, und Jannah muss sich arrangieren. Vor allem aber darf sie nicht verraten, dass sie in Ken verknallt ist. Blöd, dass ihr irgendwann vor aller Augen ein süßes Kinderfoto von Ken aus dem Tagebuch fällt …

Deniz Selek schreibt in Heartbreak-Family von den kleinen, alltäglichen Problemen, die eine Patchwork-Familie zu meistern hat. Die Kinder müssen sich aneinander gewöhnen; die ehemaligen Partner der Erwachsenen müssen die neuen Einflüsse auf die eigenen Kinder erdulden; die frische Liebe der Eltern wird beständig angegriffen. Selek verzichtet auf dramatisches Problematisieren. Sie braucht keine Katastrophen, um die Leserinnen mitzureißen und zu fesseln. Das besorgen ihre fein charakterisierten Figuren mit ihrem deutsch-türktisch-afrikanischen Temperament und ihrem Humor schon ganz von selbst. Denn in Jannah Kismets Familie ist die türkische Mutter Suzan mit dem afrikanischen Sebastian zusammen. Ihre Liebe überwindet den Abstand zwischen den Kontinenten. Kultur und Kulinaria vermischen sich dabei genauso wie Aberglaube und Voodoozauber.
Und das harmoniert perfekt.
Hier wird allerdings nicht platt über Herkunft, Diskriminierung, Andersartigkeit diskutiert oder gar lamentiert, hier wird das Nationalitätengemisch, aus dem sich Deutschland im Großen wie im Kleinen nun schon seit einigen Jahrzehnten zusammensetzt, ganz selbstverständlich und warmherzig dargestellt. Patchwork und Internationalität sind normal. Total normal.
Was allerdings nicht heißt, dass nicht auch erbittert gestritten und gekämpft wird (in ganz wunderbaren Dialogen, die auf den Punkt aus dem täglichen Leben stammen). Doch das passiert ebenfalls mit der allergrößten Selbstverständlichkeit, so wie es unter Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen und respektieren, alltäglich ist. Einen erhobenen Zeigefinger sucht man hier vergeblich. Und das ist das Schöne an Deniz Seleks Roman: Sie erzählt, ohne zu moralisieren, von den universellen Wünschen, Träumen und Bedürfnissen von 15-jährigen Mädchen, die unglücklich verliebt sind, illustriert wie nebenbei einen Idealzustand einer Gesellschaft und bietet ihren Leserinnen wunderbare Identifikationsmöglichkeiten und eine riesengroßen Lesespaß.

Mit Deniz Selek, deren ersten Roman Zimtküsse ich hier vorgestellt habe, habe ich mich über ihren Roman, ihre Familie und Menschen mit Migrationshintergrund unterhalten.

Sie selbst leben in einer internationalen Patchwork-Familie. Wie viel steckt von Ihnen und Ihrer Familie im Roman? Wann ist Ihnen die Idee gekommen, einen Roman über eine Patchwork-Familie zu schreiben?

Deniz Selek: Die Idee kam schon nach kurzer Zeit des Zusammenlebens, als mir klar wurde, dass diese Konstellation nichts für Anfänger ist … (lacht) … Türken, Afrikaner und Deutsche und als Sahnehäubchen noch eine XXL Portion Patchwork mit allem, was dazugehört. Das muss man wirklich wollen! Doch mir hat es viel Gutes gebracht, denn mit den ersten Problemen kam auch der Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, die da hinguckt und mancher Schwierigkeit ein herzhaftes Lachen abtrotzt. Von mir/uns ist in Heartbreak eher zwischen den Zeilen viel drin, denn die Handlung und die Charaktere sind frei erfunden.

In Jannahs Familie ist es völlig normal, dass Türken, Deutsche und Afrikaner zusammenleben. In Deutschland ist das noch nicht so. Was muss sich im Land ändern, damit wir zu dieser Normalität kommen?

Ich denke, dass wir bereits auf einem guten Weg dahin sind. Die „Normalität“ ist ein langsam wachsendes und sich stetig veränderndes Gebilde. Viele Dinge, die früher undenkbar waren,  bezeichnen wir heute als normal. Ich denke, wir sollten einfach nur mit offenen Augen und Herzen weitermachen, dann wird das, was in Heartbreak-Family gelebt wird, irgendwann ganz normal sein.

Was sollten die Deutschen dazu betragen? Was die Menschen aus anderen Ländern?

Ich kann das nicht nur auf „die Deutschen“ beziehen, denn es ist ein menschliches Thema. Wenn mir jemand fremd erscheint, anders aussieht, anders spricht, sich in einer Weise verhält, die ich nicht verstehe, macht mir das vielleicht im ersten Moment Angst oder verunsichert mich.
Wenn ich mich aber darauf einlasse und versuche zu verstehen, wie dieser Mensch ist, was ihn ausmacht, passiert etwas Wunderbares. Ich lerne nicht nur etwas über eine fremde Kultur, sondern auch viel über mich selbst. Das geht für mich am besten über Literatur, weil ich Zeit und Raum habe, mich einer anderen Mentalität zu nähern. Deshalb meine Empfehlung: Alle Menschen sollten ganz, ganz viel LESEN!

Jannah und ihre Familie sind sehr emanzipiert und vollkommen in der deutschen Gesellschaft integriert. Bei Familien mit Migrationshintergrund ist das nicht immer der Fall, zum Teil leben sie in eigenen Parallelwelten. Wie wichtig ist Integration für das gegenseitige Verständnis und Zusammenleben?

Ich muss gestehen, dass ich das Wort Integration nicht mag. Es klingt wie „passend machen“, obwohl es sicher nicht so ausgerichtet ist. Ich selbst habe mich nicht integriert, ich bin einfach in Deutschland aufgewachsen, obwohl mein Vater aus der Türkei stammt. Aber, und das ist für viele Familien mit ähnlichem Hintergrund wichtig, wir haben immer den Alltag mit Freunden und Bekannten geteilt und wie sie gelebt. Dazu muss ich sagen, dass meine Eltern nicht religiös sind, und das hat vieles leichter gemacht. Zudem haben beide großen Wert auf eine korrekte deutsche Sprache gelegt, die Sprache des Landes, in dem wir gelebt haben. Ich denke, das ist die Grundvoraussetzung für ein tolerantes und freundliches Miteinander. Dann ist es auch wichtig, an den landesüblichen Festen teilzunehmen, und im besten Fall den Kindern die Freiheit zu lassen, sich zu entfalten. Ich hatte diese Freiheit, weiß jedoch, dass das in vielen Familien schwierig ist.

Wie könnten sich Mädchen aus traditionellen Familien von möglichen Zwängen befreien, wenn sie ein anderes Leben führen wollen?

Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Diese sehr traditionellen, zum Teil sehr verkrusteten Strukturen so aufzuweichen, dass ein älterer, sehr furchtsamer Patriarch nicht das Gefühl hat, sein Gesicht, seine Ehre zu verlieren, wenn er seiner Tochter (für uns) normale Freiräume gewährt, ist eine echte Herausforderung.
Vielleicht würde es helfen, wenn Eltern sich mehr in den Schulen engagieren müssten. Gemeinsame Eltern- und Schülerarbeit auf dem Schulgelände (da gibt es ja immer irgendwas zu tun), kann eine Annäherung schaffen, die allen Kindern und der Gemeinschaft zugute kommt.
Wenn sie älter werden, kann ich den Mädchen nur raten: Geht euch selbst auf den Grund. Seht genau hin. Wer seid ihr? Was wollt ihr wirklich? Und folgt eurem Herzen! Fast alle Eltern akzeptieren den Lebensweg ihrer Kinder irgendwann. Und häufig sind sie dann sogar mächtig stolz auf ihre Töchter!

Rassismus und Gewalt kommt bei Ihnen nur in einer Szene vor, in der sich Ken selbstbewusst zu Wehr setzt. Erleben Sie und Ihre Familie Anfeindungen? Falls ja, wie gehen Sie damit um? Wie gehen Ihre Kinder damit um?

Ich habe dieses Thema im Buch bewusst nur einmal eingesetzt, weil mir sehr an einem harmonischen Miteinander gelegen ist. Klingt wie ein Widerspruch, ist es aber nicht. Je weniger ich „Gebrauch“ von rassistischen Anfeindungen mache, umso „normaler“ erscheint unser Leben. Und genau das ist es, was ich will.
Im Alltag unserer Familie gab und gibt es natürlich mehr Knackpunkte. Bei den Älteren (14, 15, 17 Jahre) ist das Gröbste – hoffentlich – überstanden, unser Sohn wird zwar zuweilen kritisch beäugt, wenn er einkaufen geht; manchmal steht auch der Kaufhaus-Detektiv freundlich lächelnd neben ihm oder er wird in manche Clubs nicht eingelassen.  Unsere Tochter ist sehr hübsch, sodass sie eher aus anderer Motivation beobachtet wird.
Bei unserem Jüngsten, dessen Haut recht hell ist, kommt schon mal ein blöder Spruch. Wir haben das große Glück, das dieses Thema sofort in der Klasse zur Sprache gebracht und erörtert wird. Damit ist ein wichtiger Bereich, nämlich die Schule, bereits abgedeckt.
Anfangs haben mich böse Beleidigungen unserer Kinder sehr gestresst, im Laufe der Jahre habe ich jedoch von meinem farbigen Mann gelernt, diese Dinge unaufgeregt zu betrachten und eher das Selbstbewusstsein unserer Kinder zu stärken, ihnen Selbstvertrauen und Zuversicht zu schenken, als mich um die Dummheit einiger Leute zu kümmern.

Was sollte sich in der deutschen Politik gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund ändern?

Das ist eine sehr schwierige Frage, und ich bin ein unpolitischer Mensch. Grundsätzlich bin ich für eigenverantwortliches Handeln. Jeder sollte selbst dafür sorgen, dass er sich gut fühlt. In einer Umgebung wohnen, die ihm guttut, sich mit Menschen austauschen, die er versteht und die ihn verstehen, auch wenn sie nicht seine Muttersprache sprechen.
Da kann die Politik ihren Einfluss auf den Immobilienmarkt geltend machen (damit  „Ghettos“ nach und nach verschwinden) und ja, auch darauf drängen, dass Menschen, die hier leben Deutsch lernen. Ich denke, das hilft allen.

Sie leben mit Ihrem Mann und vier Kindern … und einem Hund – erinnere ich das richtig? – zusammen. Wie organisieren Sie das Schreiben? Wann kommen Sie dazu? Was inspiriert Sie?

Genau. Zusammen sind wir sieben und das letzte „Kind“ hat Fell … Ich schreibe immer vormittags, wenn die Kinder in der Schule sind. In Abgabezeiten auch abends und an den Wochenenden, das klappt gut und immer besser, weil unsere Kinder gern ihr Ding machen. Meine Inspirationen kommen aus unserem realen Leben und da gibt es reichlich Stoff. Einiges natürlich auch aus meiner Vergangenheit und dem Leben in der Türkei.

Heartbreak-Family ist als Trilogie angelegt. Die Leser werden also noch ein bisschen auf die Folter gespannt, wie die Geschichte von Jannah und Ken weitergeht. Wissen Sie schon, was Sie danach schreiben werden? Haben Sie schon eine neue Idee?

Ja!

Fein, dann bin ich gespannt und danke herzlich für dieses Gespräch. 

Deniz Selek: Heartbreak-Family – Als meine heimliche Liebe bei uns einzog, Fischer KJB, 2013,  288 Seiten,  ab 12, 13,99 Euro

Die Stille im Bunker

flughundeEs ist eine gefühlte Ewigkeit her, dass ich Marcel Beyers Flughunde gelesen habe. Das muss gleich nach dem Erscheinen im Jahr 1995 gewesen sein. Jetzt habe ich die Geschichte vom seltsamen Stimmen- und Geräuschesammler Hermann Karnau in der Graphic-Novel-Version von Ulli Lust noch einmal gelesen.

Es ist keine leichte Lektüre, aber das war es bei der Romanversion auch schon nicht. In zumeist monochromen, sehr düsteren Panels, die nur hin und wieder von lichten Szenen unterbrochen werden, entwickelt Ulli Lust den Horror, der sich mit und um Hermann Karnau und die Familie Goebbels abspielt.
Als Tontechniker ist Karnau mit dafür verantwortlich, dass die Reden von Propagandaminister Goebbels glasklar und überzeugend bei den Zuhörern ankommen. Daneben sammelt er alle möglichen Geräusche, Töne und Laute, auf der Suche nach dem perfekten Urlaut des Menschen. Dafür schreckt er auch vor grausamen Menschenversuchen und Folter nicht zurück. Durch seine Tätigkeit für das NS-Regime gerät Karnau in den inneren Kreis der Familie Goebbels und lernt in deren Sommerhaus am Bogensee auch die sechs Kinder kennen. Zur Erzählperspektive von Karnau fügt sich die von Helga, der ältesten Tochter. Immer tiefer wird der Leser und Betrachter in die Parallelwelt der Goebbelskinder gezogen. Draußen herrscht Krieg, doch davon bekommen die Kinder scheinbar nicht viel mit. Nur in ihren grausamen Spielen zeigt sich, dass die Atmosphäre von Gewalt und Menschenverachtung auch in das Kinderzimmer vordringt. Und Helga ist groß genug, den Reden des Vaters folgen zu können. Sie beginnt die Bedrohnung für das eigene Leben zu erahnen.

Im Laufe der Zeit rücken die Bomben und das Grauen immer näher. Die Familie zieht in den Führerbunker. Karnau ist dort ebenfalls untergebracht, um die letzten Äußerungen Hitlers aufzuzeichnen. Jahre später wird er als alter Mann die Schellackplatten wieder anhören und die Stimmen der Kinder neu entdecken. Dass die Kinder den Führerbunker nicht mehr verlassen haben, ist hinlänglich bekannt. Doch aus Karnaus Perspektive entspinnt sich ein Rätsel darum, wie die Kinder tatsächlich zu Tode gekommen sind.

Die Visualisierung durch Ulli Lust führt dem Betrachter den skrupellos-verschrobenen Wahnsinn Karnaus sowie das Grauen der letzten Tagen des Nazi-Regimes überaus plastisch vor Augen. Der Krach des Kriegs rückt einem durch die Soundwords genauso auf die Pelle, wie die schlechte Luft bei einer elendig langen Goebbels Rede, die bei Helga Atemnot und Beklemmung auslöst. Die Bilder machen das Leid von Helga fast physisch erlebbar.
Im Bunker schließlich, wo ständig die Lüftungsanlage rattert, bannt Karnau auch die letzten Minuten der Kinder auf Schellack. Als ihr Atem verklingt, breitet sich eine fast greifbare Stille aus: „Es herrscht absolute Stille, obwohl die Nadel noch immer auf der Rille liegt.“ Das ist wahrscheinlich der ergreifendste letzte Satz eines Romans, der mir je untergekommen ist. Und in Kombination mit der schwarzen, leeren Sprechblase einfach atemberaubend.

Ulli Lusts Flughunde ist so vielschichtig und vielgestaltig, dass einmaliges Lesen nicht reicht, um dieses Meisterwerk in seiner gesamten Dimension zu erfassen. Das mag eine Freude sein, weil man länger etwas von dem Buch hat. Doch muss man sich auch dem Schrecken noch ein weiteres Mal stellen.
Mich jedenfalls machte die Lektüre neugierig, wie der Transfer von Roman zu Graphic Novel vor sich gegangen ist. Freundlicherweise hat mir Ulli Lust einen kleinen Einblick in ihre Arbeit an Flughunde gewährt, indem sie mir ein paar Fragen dazu beantwortet hat. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich bei ihr.

Warum wollten Sie gerade diesen Roman als Graphic Novel umsetzen?
Die Geschichte der Goebbelskinder aus der Innenperspektive hat mein Interesse geweckt, und die düstere atmosphärische Sprache des Textes war äusserst reizvoll.

Wie sind Sie an den Stoff herangegangen?
Zuerst habe ich mich gefragt, was kann ich diesem fertigen Werk hinzufügen. Ist es möglich, eine eigene Interpretation zu bieten? Dann habe ich den Text in seine Einzelteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. In der Struktur folge ich dem Roman, auch weil die chronologische Abfolge wichtig ist, aber ich musste sehr viel streichen. Was kann ich weglassen, war also eine der wichtigsten Fragen am Beginn der Arbeit.

Wie haben Sie die Textauswahl getroffen?
Ich habe zuerst die Stellen markiert, die unerlässlich sind.

Haben Sie sich mit Marcel Beyer beraten?
Nein. Er hat mir freie Hand gelassen. Er kannte meinen vorigen Comic und hat mir vertraut.

Gab es Vorgaben von Verlagsseite?
Nein.

Wie konzipieren Sie eine Szene bzw. eine Seite mit den Panels?
Schwer zu beantworten. Nach den Erfordernissen der Szene. Jede Seite ist ein kleiner dramaturgischer Bogen innerhalb der Gesamtchoreographie, idealerweise mit einem kleinen Abschluss am Ende der Seite.

Arbeiten Sie am Computer oder mit Stift und Papier?
Die Linienzeichnung zeichne ich mit Bleistift, also analog, ebenso die Farben mit Aquarell auf einem Extrablatt. Beides wird am Computer zusammengefügt.

Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?
Unaufgeregt.

Wie ist das Farbkonzept für Ihre Graphic Novel entstanden?
Die Farbigkeit spiegelt die Stimmung der jeweiligen Szenen. Es sind keine naturalistischen Farben.

Mit welchem Bildmaterial als Vorlagen haben Sie gearbeitet?
Alles, was ich an Foto- und Filmmaterial aus den Jahren 1938 bis 45 finden konnte. Die Goebbelskinder wurden häufig gefilmt und fotografiert – für damalige Verhältnisse.

Was hat Ihnen bei der Visualisierung des Romans die größten Schwierigkeiten bereitet?
Die Massenszenen im Stadion hat der Romantext sehr detailversessen beschrieben, im Comic musste ich mich auf wenige Szenen beschränken.

Auf was mussten Sie verzichten?
Auf den grössten Teil des inneren Monologs des erwachsenen Protagonisten.

Wie lange haben Sie an Flughunde gearbeitet?
Zwei Jahre.

Haben Sie schon ein neues Projekt?
Ja, aber dafür nehme ich mir mehr Zeit. Reden wir darüber in 3 Jahren.

Gerne. Ich bin jetzt schon gespannt…

Ulli Lust: Flughunde, Graphic Novel nach dem Roman von Marcel Beyer, Suhrkamp, 2013, 364 Seiten, 24,99 Euro

Der Verlust der Unschuld

militärdiktaturDieses Jahr ist es 30 Jahre her, dass in Argentinien die Militärdiktatur endete. Ich muss zugeben, dass ich von den Vorgängen dort nicht sehr viel weiß, aber ein Buch hat es geschafft, mein Interesse für dieses Thema zu wecken. Und das auf eine ganz behutsame und fast leise Art.

Der Jugendroman Wie ein unsichtbares Band von Inés Garland, hervorragend übersetzt von Ilse Layer, erzählt die Geschichte der jungen Alma in den 1970er Jahren. Das Mädchen wächst in Buenos Aires in einer behüteten Familie der Mittelschicht auf. An den Wochenenden fährt sie mit ihren Eltern zu einem kleinen Häuschen auf einer Insel im Delta des Rio de la Plata. Hier geht es entspannt und idyllisch zu, und Alma freundet sich mit den Nachbarskindern Carmen und Marito an, die bei ihrer Großmutter leben. Carmen wird zu ihrer Vertrauten, in Marito verliebt sie sich auf den ersten Blick. Doch es soll Jahre dauern, bis die beiden für kurze Zeit zusammenfinden. Denn Alma kommt immer nur am Wochenende und versucht, während der Woche Anschluss an ihre Mitschüler in der Stadt zu finden. Das gelingt ihr nicht. Und spätestens nach der ersten Party merkt sie, dass sie die Außenseiterin ist und mit den wirklich reichen Jugendlichen nicht mithalten kann.
Umso mehr zieht es sie zu Carmen und Marito. Aber der Junge, der ein paar Jahre älter ist als sie, bewegt sich in ganz anderen Kreisen, liest andere Literatur, hat andere Ansichten über die Gesellschaft. Sein Zimmer ist vollgestopft mit Büchern.Ohne dass er wirklich sagt, dass er zum linken Lager gehört, beeinflusst er immer mehr Almas Denken. Sie lehnt sich gegen die Vorstellungen ihrer Eltern und der katholischen Schule auf. Als Marito auf die Uni gehen will, verlässt er die Insel. Alma ist in Gedanken immer bei ihm. Während dieser Zeit kommt es nach einer Party, die Alma für ihre Mitschüler aus der Stadt auf der Insel gibt, zum Bruch mit Carmen. Denn Alma ist so zwischen den Welten hin und her gerissen, dass sie es nicht schafft, vor den anderen zu Carmen zu stehen.  Auch Carmen verlässt schließlich die Insel und heiratet ihren Freund Emil.

1976 putscht sich das Militär an die Macht, doch in Almas Alltag ändert sich zunächst nicht viel. Das Mädchen ist bis dahin völlig unpolitisch. Aber dann verschwindet die Sozialkundelehrerin, und der Vater rät Alma, vorsichtig zu sein und sich aus der Politik herauszuhalten. Mit der Zeit merkt sie immer mehr, wie sich die Gesellschaft verändert. Angst breitet sich aus. Nach einer Party wird sie mit einem Klassenkameraden auf dem Nachhauseweg von der Polizei angehalten. Der Polizist, der sie abtastet, belästigt sie sexuell und demütigt sie. Alma erzählt niemandem von diesem Erlebnis. Doch nun fallen ihr immer öfter seltsame Männer in großen Wagen auf, die scheinbar ziellos durch die Straßen fahren.
Marito kehrt auf die Insel zurück. Die beiden finden zusammen, treffen sich fortan auch in Buenos Aires, ohne das Wissen von Almas Eltern, die den Umgang mit dem Jungen nicht passend finden. Als die Eltern für ein paar Tage nach Miami fahren, lädt Alma Marito endlich zu sich nach Hause ein. Sie genießen die Zweisamkeit, schlafen zum ersten Mal miteinander. Dann geht Marito telefonieren – aus einer Telefonzelle, denn er will nicht von Almas Apparat anrufen. Warum sagt er ihr nicht. Marito kehrt nicht zurück. Alma schwankt zwischen Hoffnung, dumpfer Angst, dem Glauben, dass es eine logische Erklärung für sein Fortbleiben gibt. Doch Marito bleibt verschwunden. Auch als Alma zum ersten Mal zu Maritos Vater fährt, um sich dort nach dem Geliebten zu erkunden, erhält sie keine Antwort.
Stattdessen taucht Carmen bei ihr in Buenos Aires auf. Sie hat Angst und ist schwanger. Sie will ein paar Tage bei Alma untertauchen, verschweigt aber die Gründe. Kurz darauf wird ein Onkel von Carmen und Marito auf offener Straße erschossen. Carmen taucht unter, Alma wird sie nie wiedersehen. Auch Marito kehrt nicht zurück. Bei einem zweiten Besuch bei Maritos Vater erfährt Alma, dass Männer Marito geschnappt und noch im Haus vor den Augen des Vaters zusammengeschlagen und gefoltert haben. Und auf der Insel brennen Maritos Bücher.

Inés Garland hat mit Wie ein unsichtbares Band einen eindrucksvollen und feinfühligen Roman über die Jugend und das Erwachsenwerden in einer Militärdiktatur vorgelegt. Von der idyllischen Kindheit auf der Insel im Delta, wo das Leben scheinbar genauso gemächlich dahinfließt wie der Fluss, entwickelt sich das Buch zu einer beklemmenden Coming-of-Age-Geschichte, in deren Verlauf die Protagonistin von dem unpolitischen Mädchen zu einer Beobachterin der gesellschaftlichen Veränderungen wird. Die historischen und politischen Fakten der Militärdiktatur in Argentinien spricht die Ich-Erzählerin Alma, die in einem Rückblick von ihrer Jugend erzählt, nur ein einziges Mal konkret an. Sie schildert in erster Linie die Stimmung und die Wahrnehmungen, die sie in den 70er Jahren als Tochter der Mittelschicht von ihrer direkten Umwelt hatte. Die Arbeiter- und Studentenwelt, in der sich Marito bewegt, bleibt ihr verschlossen. Marito erzählt ihr nicht, was er macht. Beim Leser entsteht so ein vages Unbehagen und die Vermutung, dass der Junge zu den verfolgten Oppositionellen gehört.

Das politische Erwachen Almas geht mit ihrem sexuellen einher und ist eng mit Marito verbunden. Doch zwischen den gesellschaftlichen Schichten, die hier aufeinandertreffen, herrscht im Grunde eine große Sprachlosigkeit. Das liegt zum einen daran, dass Marito Alma in Gefahr bringen würde, wenn er ihr von seinen Aktivitäten erzählen würden. Zum anderen können sie die Kluft zwischen ihren beiden Welten, symbolisiert durch den Kanal zwischen ihren Häusern auf der Insel, nicht überwinden.
Auch mit Carmen kann Alma nicht mehr sprechen, als diese unvermittelt bei ihr auftaucht. Sie haben keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Geschichte und auch keine Erfahrung darin, sich mitzuteilen. Die Autorin bleibt meisterhaft in der Perspektive von Alma, der viele Vorgänge in ihrer Umgebung einfach verborgen bleiben, weil sie sich in einer anderen Welt bewegt. Für den Leser bedeutet diese strenge Perspektive, dass viele, sehr viele Fragen auftauchen und offen bleiben. In einem Crescendo aus subtiler Verfolgung und gewalttätiger Todesschwadrone gewinnt die Geschichte auf den letzten dreißig Seiten so sehr an Dramatik, dass es kaum zu ertragen ist. Doch gerade die vielen offenen Fragen machen neugierig, sich auf die Suche nach Erklärungen für diese düsteren Ereignisse zu machen.

Inés Garland ist ein tiefgründiges und sehr poetisches Buch über eine Jugend in einem Terrorregime gelungen. Der Kontrast von Idylle und Schrecken könnte nicht größer sein. Und der regt ungemein an, sich mit diesem Kapitel der Argentinischen Geschichte zu befassen – denn die wirklich große Frage bleibt, wie man sich selbst an Alma Stelle verhalten hätte.

Um wenigsten noch ein bisschen mehr über Argentinien und seine Geschichte zu erfahren, habe ich Inés Garland zu ihrem Buch befragt und wie die Argentinier mit ihrer belastenden Vergangenheit umgehen. Sie hat sehr offen und ausführlich geantwortet.

Inés Garland, wie viel Autobiografisches steckt in Ihrem Roman?
In den meisten meiner Geschichten verwebe ich Autobiographisches und Fiktion zu einem verschlungenen Bild: Wenn ich mir überlege, mit einer fremden Erfahrung zu beginnen, machen meine eigenen Gefühle sie persönlicher; und wenn ich mit etwas Persönlichem beginne, verfremde ich im Schreibprozess meine Erfahrungen durch Elemente, die für meine Fiktion wichtig sind.
Die Geographie ist mir immer sehr vertraut, und Wie ein unsichtbares Band spielt in der Landschaft meiner Kindheit und Jugend. Als ich jung war, bin ich sehr oft auf die Inseln in der Nähe von Buenos Aires gefahren.
Der historische Hintergrund ist ebenfalls autobiographisch: Ich war sechzehn, als der Militärputsch stattfand und meine Eltern und mein soziales Umfeld auf die gleiche Art reagierten wie Almas Eltern. Ich bin die älteste von vier Schwestern, und wir hatten Nachbarn, die ihr ganzes Leben auf den Inseln verbracht haben, aber das waren alles Erwachsene und keine Kinder in meinem Alter, also hatte ich dort keine Freunde oder Freundinnen.
Die Figuren im Roman sind meiner Fantasie entsprungen, obwohl ich die meisten Gefühle, die ich beschreibe, sehr gut kenne. Ich könnte auf diese Frage sehr ausführlich antworten, wenn ich alles aufzeigen sollte, was autobiographisch ist. Generell kann man sagen, dass die Landschaft und die meisten Gefühle, die diese Geschichte beherrschen, autobiographisch sind, während die Charakter und das Meiste, was ihnen zustößt, Fiktion ist. 

Wie lange haben Sie an diesem Buch gearbeitet?
Das weiß ich nicht genau. Die ersten Ideen habe ich fünf Jahre vor dem Abschluss des Buches notiert, vielleicht sogar noch früher. Das reine Schreiben hat vier Jahre gedauert. Ich arbeite langsam.
Anfangs dachte ich, es würde eine Kurzgeschichte über die Freundschaft von Alma und Carmen werden, doch als Marito im zweiten Kapitel auftauchte, wuchs die Story zu einem Roman heran. Nach Abschluss des ersten Teils habe ich monatelang nichts geschrieben. Ich wollte mich mit meinem Geschriebenen nicht auseinandersetzen.

Wie haben Sie die Militärdiktatur (Proceso de Reorganización Nacional), die von 1976 bis 1983 dauerte, erlebt?
Zuerst muss ich darauf hinweisen, dass die Militärs den Begriff „Proceso de Reorganización Nacional“ („Prozess der Nationalen Reorganisation“) eingeführt haben. Das war kein „Prozess“, und es hat auch nichts „reorganisiert“. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Sprache in solchen Zeiten euphemistisch wird und die Wahrheit verschleiert.
Ich war, so wie Alma, ein Teenager der gehobenen Mittelklasse und ging auf eine katholische Schule. Meine Eltern glaubten, dass die Militärs das Land retten und in Ordnung bringen wollten. Sie bezeichneten die Mütter der Verschwundenen als „locas de Plaza de Mayo“ – als „die Verrückten von der Plaza de Mayo“. Ich habe sie oft gefragt, wie sie die Mütter „verrückt“ nennen konnten, wenn diese doch einzig und allein wissen wollten, wo ihre Söhne und Töchter waren. Sie hatten keine richtige Antwort darauf.
Es gibt eine Szene im Roman, in der die Polizei Alma auf dem Rückweg von einer Party anhält. Die Polizisten sind sexuell übergriffig. Das mussten Teenager in jener Zeit sehr oft ertragen. Jeder konnte Opfer des Machtmissbrauchs durch Polizisten und Beamte der Regierungsorganisationen werden. Mir war damals nicht bewusst, was da vor sich ging. Ich fand es erst heraus, als ich 1982 nach Europa reiste.

Wie beeinflusst die Vergangenheit heute noch Ihr Leben?
Ich glaube, das Schuldgefühl war einer der Gründe, dieses Buch zu schreiben. Ich habe lange gebraucht, um mich mit der Geschichte meines Landes auseinanderzusetzen und für das einzustehen, an das ich glaube.
Viele Leute sagen, wir sollten aufhören, über dieses dunkle Kapitel Geschichte zu reden. Ich finde nicht, dass das richtig ist. Diese schrecklichen Jahre sind eine Wunde, die nicht verheilt ist. Erinnerung ist unser Leitstern, der einzige Weg, mit dem wir verhindern können, dass so etwas wieder geschieht. Missbrauch gedeiht durch Verleugnen und Verschweigen.

War es schmerzhaft, sich zu erinnern? Wie sind Sie mit dem Schmerz umgegangen?
Während des Schreibens habe ich Bücher zum Thema gelesen, darunter auch „Nunca más“ („Nie wieder“), der Bericht der Argentinischen Nationalkommission über Verschwundene Menschen. Die Kommission hatte eine Untersuchung über das Schicksal von Tausenden von Argentiniern geleitet, die während der Militärdiktatur verschwunden waren. Ich wollte genau wissen, was mit Marito passiert war, auch wenn ich das am Ende nicht im Roman erzähle. Diese Lektüre war entsetzlich schmerzhaft. Ich habe den Schmerz durch das Schreiben vertrieben, so wie ich es in meinem Leben immer schon gemacht habe. Worte für den Schmerz finden und ihn dadurch mitzuteilen ist bereits ein Heilungsprozess.

Zwischen Alma und Marito, Alma und Carmen, Alma und ihren Eltern herrscht eine große Sprachlosigkeit – haben Sie so etwas in Ihrer Jugend auch erlebt?
Ja, sehr viel sogar. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum ich schreibe.

Wie sollte dieses Problem des Schweigens, das immer noch viele Bereiche unserer Gesellschaft und auch die Familien dominiert, gelöst werden?
Wir sollten reden. Lehrer sollten ihre Schüler zum Reden ermutigen, und Eltern sollten ihren Kindern zuhören. Wir sollten den Mut haben, schmerzvolle Erfahrungen anzusprechen und zu teilen. Gruppen können dabei eine große Unterstützung sein. Wir sollten lernen zuzuhören.
Natürlich ist auch das Lesen ein wunderbarer Weg, die Worte für das zu finden, was uns wehtut. Kinder haben eine natürliche Art, das mitzuteilen, was sie bewegt. Es sind die Erwachsenen, die sie zum Schweigen zwingen. Wir benutzen Euphemismen, wir verstecken die Wahrheit, wir verschließen unseren Augen und unsere Herzen. Die heutige Gesellschaft ist sehr gewalttätig, und wir sehen weg. Wir müssen uns engagieren und eine liebevolle Umgebung schaffen, in denen Kinder und Jugendliche sich trauen offen zu reden.

Wie wird in Argentinien die Vergangenheit aufgearbeitet?
Das ist ein sehr schwieriges Thema. Wie schon gesagt, meinen viele Leute, dass wir „das Thema fallen lassen“ sollten, und es gibt Leute, die immer noch das unterstützen, was die Militärs getan haben. Manche Leute glauben, dass die Regierung und die Terroristen die gleiche Verantwortung tragen, für das was geschehen ist. Sie halten den Machtmissbrauch durch den Staat für eine unvermeidbare Nebenwirkung.
Aber es wurde auch Vieles getan, um den Familien der Verschwundenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die vermissten Kinder zu finden, die heimlich an andere Familien weggeben wurden. Die verschwundenen Kinder zu finden und sie zu ihren Familien zurückzubringen ist eine der Hauptaufgaben.

Kann offen über die Militärdiktatur gesprochen werden?
Man kann offen über diese Zeit sprechen, aber es kann durchaus sein, dass dabei eine leidenschaftliche Diskussion entbrennt. Wir sind eine gespaltenen Gesellschaft, und der Graben scheint nicht kleiner zu werden.

Was lernen Kinder in der Schule über diese Zeit?
Das hängt sehr von der Bereitschaft des Lehrers ab, darüber zu diskutieren. Viele staatliche Schulen haben Wie ein unsichtbares Band in den Lehrplan der Abschlussklassen aufgenommen. Auf den Privatschulen entscheiden die Lehrer selbst darüber. Ich werde regelmäßig eingeladen, mit Schülern über mein Buch zu sprechen, und alle sind ausnahmslos an der historischen Epoche interessiert und wie ich sie erlebt habe. Die Geschichte stachelt ihre Neugierde an. Denn sie leiden mit Marito, Carmen und Alma mit, sie möchten dann mehr darüber wissen, was in diesen Jahren passiert ist. Literatur ist ein wundervoller Weg zum menschlichen Herzen.

Wie können sich deutsche Jugendliche dem Thema Militärdiktatur nähern?
Die Geschichte in meinem Roman ist ein Weg dahin. Ich hoffe, dass sich auch deutsche Jugendliche für die Figuren in dem Roman interessieren werden und durch sie erfahren, was geschehen ist. Alma, Marito und Carmen sind nicht sehr anders als junge Leute heute, egal, woher sie kommen. Der Roman handelt von universellen Gefühlen wie Liebe, Verlust und Schmerz. Wenn die Geschichte die Leser fesselt, dann findet auch dieses Thema den Weg in ihre Herzen.

Wie ist das politische Leben heute?
Die Gesellschaft ist ziemlich gespalten. Diese Regierung hat viele Schritte zur Wiedergutmachung unternommen. Sie hat Massenmörder inhaftiert, die noch frei herumliefen. Das hat diese dunklen Jahre wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht. Was dann vor allem die Leute verstimmt hat, die „das Thema fallenlassen“ und die Vergangenheit begraben wollen.
Auf der anderen Seite glaubt diese Regierung an die Gleichberechtigung aller Menschen in der Gesellschaft und hat sehr konkrete Schritte in diese Richtung unternommen. Dafür wurde ihr Populismus vorgeworfen. Politik ist sehr kompliziert, und die Welt ist so scharf auf Geld und Konsum, dass scheinbar alle Bemühungen, die in Richtung Gleichberechtigung gehen, verdammt werden. Meine persönliche Ansicht ist da vielleicht naiv.

Welche Ängste beherrschen die Argentinier heute?
Man kann schwer über die Argentinier als Ganzes reden. Die Ängste der Menschen hängen von ihren Lebensumständen ab. Viele fürchten sich vor Armut; sie haben Angst, dass ihnen Dinge genommen werden; sie fürchten, dass das Land verarmt; sie fürchten, dass die staatliche Arbeitslosenunterstützung die Leute dazu bringt, sich vor der Arbeit zu drücken; sie fürchten, dass das Kindergeld, dass die Regierung armen Familien für jedes Kind zahlt, die Familien unkontrollierbar anwachsen lässt. Ich fürchte, Ungerechtigkeit wird nie enden. Ich fürchte, wir werden die Menschen nie als gleichwertig ansehen. Ich fürchte die Entfremdung von anderen Menschen. Ich fürchte Gewalt in all ihren Formen. Angst ist das Gegenteil von Liebe.

Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band, Übersetzung: Ilse Layer, Fischer KJB, 2013, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Entzückerstoff

zorgamazooEpen sind in unserer Zeit zu einer Seltenheit geworden. Außer man hegt eine Leidenschaft für die Klassiker und greift zur Ilias oder zur Odyssee. Doch es gibt Hoffnung für die Freunde von gereimten Geschichten: Robert Paul Weston hat mit Zorgamazoo ein modernes, frisch-freches Epos geschaffen, das Uwe-Michael Gutzschhahn in bewunderungswürdiger Weise ins Deutsche übertragen und nachgedichtet hat.

Zorgamazoo erzählt die Geschichte des Mädchens Katrina Katrell, die eines Tages auf den wuscheligen, aber liebenswürdigen Zorgel Mortimer Yorgel trifft. Ein Zorgel ist ein pelziges Fantasiewesen aus der Unterwelt. Morty arbeitet bei der Zorgel-Zeitung „Underwood Telegraph Rumor Review“ und soll das Verschwinden der Bewohner des Zorgel-Dorfes Zorgamazoo aufklären. Doch Morty ist alles andere als ein investigativer Reporter. Er hasst das Abenteuer und würde lieber nur  von den Zorgelball-Spielen berichten.

Katrina hingegen ist auf der Flucht vor ihrer fiesen Ziehmutter, die ihr am liebsten das Hirn herausoperieren lassen würde. Das Mädchen fasst Vertrauen zu dem netten Morty und macht sich mit ihm zusammen auf die Suche nach den verschwundenen Zorgeln. Schon nach kurzer Zeit finden die beiden heraus, dass alle fantastischen Wesen der Erde entführt wurden – und werden selbst auf den Mond verschleppt. Dahinter stecken die Bewohner des Planeten Grauballon-Vier. Auf diesem Planeten funktioniert alles mit Langweilerdampf. Doch der Rohstoff geht zu Ende und neue Quellen müssen her. Dafür soll die Langeweile auf der Erde erhöht und dann abgepumpt werden, also müssen dort erst mal alle Fantasiewesen verschwinden. Katrina jedoch gelingt es, die Wesen – Seejungfrauen, Trolle, Zorgel, Kobolde, Feen, Yetis und das Loch-Ness-Monster – zu befreien. Aus der Absaugermaschine für Langweilerdampf macht sie ein Gerät für die Produktion von kunterbunten Entzückerstoff-Gas und bringt alle wieder auf die Erde zurück.

Das Feuerwerk der Fantasie, das in diesem Epos abgebrannt wird, sucht seinesgleichen. Fantastische Welten und fantastische Wesen drängen in den grauen Alltag. Katrina als aufgeweckte, mutige Heldin nimmt ihrem schüchternen Zorgel-Freund die Ängste. Mit ihrer Liebe für alles Ungewöhnliche und Fantastische macht sie unmissverständlich klar, dass die Welt eine bessere und buntere ist, wenn auch andere Wesen in ihr leben dürfen.  Zorgamazoo ist ein klares Plädoyer für mehr Fantasie im Alltag. Daran mangelt es uns manchmal wirklich sehr, wenn man sich so umschaut. Gleichzeitig ist Zorgamazoo für mich in seinem Subtext ein Bekenntnis für Vielfalt und Diversity, quasi ein Appell für Multikulti und die Akzeptanz des Fremden. Auch daran mangelt es in diesem Land immer noch.

Verpackt ist diese an sich schon entzückende Geschichte in konsequent gereimte Verse. In seiner Nachdichtung bedient sich Übersetzer Uwe-Michael Gutzschhahn bei den unterschiedlichsten Sprachregistern. Da wird schon mal ganz antiquiert „gewamst“ (geprügelt), aber auch ziemlich derbe geflucht oder vom „Lotto-Boss“, „Superhelden“ oder „Job“ gesprochen. Alte Sprache trifft hier auf neue; und was in anderen Texten nicht funktionieren würde, passt hier perfekt zusammen. So zeigt sich die Vielfalt und Buntheit auch in der Sprache und führt zu knuffigen Reimen in einem mitreißenden Rhythmus.

Graphisch ist der Text eine Augenweide: Verschiedenste Schrifttypen unterstreichen die Charaktere der Figuren, hüpfende und mäandernde Worte und Zeilen ziehen den Leser auf einer rasanten Achterbahnfahrt durch das Buch und machen jede Seite zu einem neuen, spannenden Leseerlebnis. Die Illustrationen des Spaniers Victor Rivas an den Kapitelanfängen runden alles zu einem höchst amüsanten Gesamtkunstwerk ab.

Am Ende der Lektüre bleibt ein wunderschöner Effekt zurück: Der Singsang der Reime begleitet einen durch den ganzen Tag – und die Welt wird bunt von diesem Entzückerstoff.

Doch so ein Entzückerstoff entsteht nicht von selbst – hinter der deutschsprachigen Variante von Zorgamazoo steckt unglaublich viel Arbeit, das Herzblut und die Disziplin des Übersetzers. Damit sich jeder Leser ein etwas genaueres Bild von dieser Leistung machen kann, habe ich Uwe-Michael Gutzschhahn zur Entstehung seines Textes befragt.

Herr Gutzschhahn, wie ist Ihre Nachdichtung entstanden: Haben Sie zuerst eine Rohfassung ohne Reime angefertigt? Oder haben Sie gleich in Reimform gearbeitet?
Nein, ich habe von der ersten bis zur letzten Zeile sofort gereimt, anders geht es nicht. Wenn ich erst den Inhalt übersetzt und dann versucht hätte, die Form zu finden, wäre ich nicht mehr frei gewesen, eine deutsche Reimfassung herzustellen. Ich hätte den ganzen Wust an Dingen, den Robert Paul Weston im Englischen leicht in einer Zeile unterbringt, in einem komplizierten deutschen Satz gehabt, der sich nicht mehr hätte schrumpfen lassen. Das heißt, man muss von Zeile zu Zeile spielen, wo eine Reimmöglichkeit auftaucht, und dann den Inhalt hineinsortieren.

Haben Sie sich auf das epische Format irgendwie vorbereitet, z.B. durch die Lektüre von anderen Epen?
Es gibt ja nicht viele neuere gereimte Romane. Und die alten Epen haben einen ganz anderen Rhythmus, eine ganz andere Metrik. Ich bin mit Balladen und allen anderen Arten von Gedichten vertraut, insofern war das eher der Zugang, nicht irgendeine romanlange gereimte Form. Das muss man einfach probieren, und dann braucht es ein musikalisches Gespür, einen Sinn dafür, wie sich Sätze in eine Form geben, wie sie klingen, ein Tempo bekommen, einen Rhythmus.

Zorgamazoo ist – für mich – kein Text, den man stundenlang runterschreiben kann. Wie sind Ihre Verse entstanden? Nur am Schreibtisch? Oder auch im Park, im Auto, unter der Dusche …
Um ehrlich zu sein, indem ich Tag für Tag stundenlang am Schreibtisch gesessen und sozusagen runtergeschrieben habe. Ohne diese Disziplin wäre es nicht gegangen, wäre ich wahrscheinlich immer noch bei den ersten zwanzig Seiten.

Wie sehr ist der Originaltext mit Wortspielen durchsetzt, die nicht übertragbar waren?
Jeder – auch ganz prosaische – literarische Text ist mit unübersetzbaren Wortspielen gespickt. In einem Buch wie Zorgamazoo hat man durch die strenge metrische Form sowieso den Zwang, auswählen zu müssen, welches die unverzichtbaren Teile des Textes sind und welches die entbehrlicheren. Denn die deutsche Sprache läuft länger, es gibt anders als im Englischen wenig einsilbige Wörter. Sie brauchen für jede Aussage des Originaltextes in der Übersetzung mehr Platz, also müssen Sie umgekehrt reduzieren, denn die Form einschließlich der Zeilenzahl pro Seite war ja vorgegeben und unverrückbar. Dass für ein Erzählgedicht, eine Ballade am ehesten ein vierhebiger Takt in Frage kommt, ist schon für das Tempo der Geschichte wichtig. All das muss man im Kopf haben und dann dort ein Wortspiel nutzen, wo es sich ergibt. Das ist vielleicht ein paar Verse später oder ein paar Verse früher als im Original, aber es muss funktionieren, darf nicht erzwungen wirken. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass man mehr Wort- oder auch Reimspiele findet als im Original stehen, dann habe ich mir die Freiheit erlaubt, das Spiel weiterzutreiben.

Wie frei haben Sie sich vom Original machen müssen, machen können?
Inhaltlich ist die Übersetzung natürlich identisch mit der Originalversion von Robert Paul Weston. Wie ich aber einen Weg finde, die Geschichte auf Deutsch zu erzählen, sodass sie glaubhaft in die gereimte Form passt, das ist immer eine Frage der Abwägung. Mein Bestreben ist es, so nah wie möglich am Originaltext zu bleiben. Jeder noch so kleine Eingriff muss begründet sein, muss sich gegenüber der Geschichte rechtfertigen lassen. Nur weil etwas schön klingt oder rhythmisch gut passen würde, gehört es nicht in die Übersetzung hinein.

Im deutschen Text treffen die unterschiedlichsten Sprachregister aufeinander – alte Sprache trifft auf ganz aktuelle Ausdrücke, es wird derbe geflucht: War das im Original auch so oder ist das ein „Zugeständnis“ an die Reimform?
Nein, genau das meine ich, wenn ich sage, nur weil etwas schön klingt oder rhythmisch passt, gehört es nicht in die Übersetzung. Die verschiedenen Sprachebenen sind auch im Englischen da. Und im Englischen kann man noch viel variantenreicher derb sein als im Deutschen.

Gab es außer den Reimen weitere Schwierigkeiten?
Die ganz üblichen, die man immer als Übersetzer hat. Vor allem, dass man im Deutschen vieles nicht so einfach und knapp formulieren kann wie im Englischen.

Wie lange haben Sie an der Übersetzung gearbeitet?
Vier Monate.

Wie viele Durchgänge haben Sie gebraucht, bis die Endfassung stand?
Acht Durchgänge plus zwei mit meinen Lektoren.

Wie sind Sie für den Text honoriert worden: pro Zeile, pro Strophe, pro Seite?
Pauschal und mit Hilfe einer Übersetzungsförderung durch das Canada Council for the Arts.

Haben Sie irgendwann in Reimen geträumt?
Nein.

Robert Paul Weston: Zorgamazoo, Nachgedichtet von Uwe-Michael Gutzschhahn, Illustration: Victor Rivas, Jacoby & Stuart,  2012, 285 Seiten, ab 10, 16,95 Euro

Wehret den Anfängen!

Daniel Höra Roman braune Erde ArtamanenManchmal begegnen mir Bücher, die mich von der ersten Seite an in einen ganz besonderen Bann ziehen. Dies ist mir gerade mit dem neuen Roman von Daniel Höra passiert: Braune Erde.

Darin schildert Höra die Geschichte des 15-jährigen Ben, der als Waise bei Onkel und Tante auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern wohnt. Dort liegt bekanntlich der Hund begraben, und gerade für Jugendliche gibt es nicht viel, was die Langeweile vertreibt. Umso spannender sind da die neuen Bewohner des Gutshauses. Die Zwillinge Konrad und Gunter sind zwei Jahre älter als Ben und ganz scharf darauf, die Umgebung zu erkunden und auf dem alten Truppenübungsplatz der Russen nach Munition zu suchen. Auch das Mädchen Freya, das mit zu den Neuankömmlingen gehört, scheint ganz nett zu sein, auch wenn Ben ihren Musikgeschmack total übel findet.

Die Gutshausbewohner zeichnen sich durch einen extremen Gemeinschaftssinn aus, kümmern sich um die Nachbarn im Dorf und bringen das Platzhaus wieder auf Vordermann. Uta, Freyas Mutter, zieht eine Volkstanzgruppe auf und bringt den anderen Frauen im Dorf alte Handarbeitstechniken bei. Reinhold, Utas Mann, organisiert eine Bürgerwehr, um sich gegen Diebesbanden aus Osteuropa zu schützen. Bei allem ist Ben ein gern gesehener Gast und wird quasi mit in die Wohngemeinschaft aufgenommen. Über Politik wird eigentlich nicht geredet, nur dass Reinhold ständig auf deutsche Werte und Tugenden beharrt, und die Zwillinge vom Ende des Staates faseln und eine nicht näher definierte Revolution planen.

Ben ist zunächst fasziniert von der neuen Gemeinschaft, den scheinbar so offensichtlich vernünftigen Ansichten gegenüber Kriminellen, Ausländern und korrupten Politikern und der Action, die auf einmal in das verschlafene Dorf einzieht. Ein Ausflug nach Berlin zu einer Demonstration der Rechten ist für ihn eine willkommene Gelegenheit, die Hauptstadt kennenzulernen. Der Junge steckt so in der „Bewegung“ mit drin, dass er gar nicht begreift, in was für einen Zirkel er da geraten ist. Onkel und Tante zu Hause sind ihm bei der Einordnung all der neuen Eindrücke und Einflüsse auch keine Hilfe, da das Ehepaar selbst nie wirklich Stellung bezieht, zum Jammern neigt und über den frischen Wind im Dorf eigentlich auch ganz glücklich ist. Die Bedrohung wird zunächst nicht erkannt. Nur der Künstler Georg erkennt die Bedrohung durch die völkischen Siedler. Doch seine Warnungen verhallen im Dorf ungehört.

Derweil organisieren Uta und Reinhold eine Wintersonnenwendfeier, zu der die Zwillinge auch ihre Neo-Nazi-Kumpels einladen. Die Dorfbewohner wundern sich zwar ein wenig, bleiben jedoch untätig, als die rechten Jugendlichen anfangen, Bücher zu verbrennen. Da platzt Georg der Kragen, und er veröffentlicht bittere Kommentare in der örtlichen Presse, in denen er die rechten Umtriebe der so genannten Artamanen und die Passivität und Gleichgültigkeit seiner Nachbarn anprangert. Die Situation gerät außer Kontrolle, denn Reinhold lässt diese verbalen Angriffe nicht auf sich sitzen.

Daniel Höras Roman fesselt einen vom ersten Satz an. Konsequent aus der Sicht von Ben erzählt, gerät der Leser in einen Sog, der sich aus dem Gegensatz zwischen ostdeutscher Einöde und dem hereinbrechenden Aktionismus der Neuankömmlinge speist. Gleichzeitig ergreift einen sofort eine tiefe Beklemmung, die durch die präzise Schilderung des rechten Gedankenguts aufkommt. Man möchte Ben auf jeder Seite schütteln, warnen, ihn aufklären und ihm seinen Irrtum vor Augen führen. Aber er ist eben ein alleingelassener 15-Jähriger, der natürlich lieber mit Gleichaltrigen rumhängt, anstatt mit seiner abweisenden Tante zu diskutieren oder die Ansichten der neuen Freunde zu hinterfragen. Höra versteht es hervorragend, die Ahnungslosigkeit und Orientierungslosigkeit eines Jugendlichen darzustellen, seine Verführbarkeit, seinen Wunsch, irgendwo dazuzugehören. Gepaart mit der perfiden Art rechtsgesinnter Erwachsener, die „frisches Blut“ für ihre Bewegung brauchen, sinnvolle Lebensansätze wie Bio-Anbau mit ihrer Blut-und-Boden-Ideologie durchtränken, und hemmungslos Jung und Alt manipulieren, wird diese Geschichte zu einem Lehrstück deutscher Geschichte und deutscher Gegenwart. Bens langsames Begreifen, dass er falschen Freunden und gefährlichem Gedankengut aufgesessen ist, sein Wandel vom Anhänger rechter Ideen zum Zweifler und schließlich Gegner, tragen dazu bei, dass die Gratwanderung  der Darstellung rechter nationaler Ideologien gelingt. Höra schafft es zudem, die Vielschichtigkeit der verschiedenen Strömungen der rechten Szene zu umreißen. Er skizziert nicht nur  die medienwirksame Neo-Nazi-Szene, sondern zeigt, dass die so scheinbar netten völkischen Siedler, die Neo-Artamanen, nicht unterschätzt werden sollten. Zurück bleibt beim Leser eine Art von Entsetzen, dass es dieses faschistische und rassistische Gedankengut höchstwahrscheinlich genauso wie in diesem Roman geschildert noch viel zu oft in Deutschland zu finden ist. Dagegen von Anfang an vorzugehen, gehört zu den wichtigsten Bürgerpflichten – und Daniel Höras Roman trägt eindrucksvoll dazu bei.

Dieses Buch hat mich so fasziniert und neugierig gemacht, dass ich Daniel Höra ein paar Fragen gestellt habe.

Gab es einen konkreten Auslöser, diese Geschichte um Ben und die völkischen Siedler zu schreiben?
Ich bin vor einiger Zeit auf das Thema Völkische Siedler gestoßen und fand und finde es spannend und bedenklich. Vor allem, dass die Nazis sich jetzt nett geben, macht mir Sorge. Das erhöht natürlich die Gefahr, dass Menschen auf deren Ideologie reinfallen.
Die Mordtaten des rechtsextremen Zwickauer Terrortrios haben mich zusätzlich bestärkt, über dieses Thema zu schreiben.
Wie kann es möglich sein, dass Nazis jahrelang und unerkannt morden?
Aber ich wollte kein Buch schreiben, in dem der erhobene Zeigefinger durchscheint und auf jeder Seite das Wort „Achtung!“ aufleuchtet.
Mich interessiert vor allem: Wie kommt ein Mensch dazu aus rassistischen Gründen zu morden? Warum überschreitet jemand bewusst diese Grenze, hinter der es kein zurück gibt? Und vor allem: Warum sind so viele Menschen vom Nationalsozialismus fasziniert?
Ich kenne aus meiner eigenen Vergangenheit Leute, die in die rechte Szene abgetaucht sind. Von heute auf morgen war da ein tiefer Riss in der Beziehung, und der Kontakt brach ab. Durch das Schreiben hatte ich gehofft, die Anziehungskraft des Nationalsozialismus ein wenig verstehen zu können. Aber: Ich habe es damals nicht verstanden und ich verstehe es auch heute nicht.

Wie haben Sie die Details der rechten Szene recherchiert?
Ich habe viel zu dem Thema gelesen und mich mit Experten ausgetauscht. Ich hatte versucht, an Aussteiger, insbesondere aus der völkischen Siedlerszene, zu kommen, das hat aber leider nicht geklappt.
Besonders hilfreich war das Buch Mädelsache von Andrea Röpke. Sie beschreibt eindringlich die Strukturen und Strategien der Rechten und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Rechtsextremismus. Hilfreich waren auch Heile Welten von Astrid Geisler und Moderne Nazis von Toralf Staud.
Ansonsten habe ich Blogs und Foren gelesen. Ich habe mich auf sehr widerlichen, hasserfüllten Seiten umgesehen. Das Internet ist ein wahres Füllhorn an Scheußlichkeiten, was das angeht, oder vielmehr eine Büchse der Pandora.

Wie viel Musik der Szene haben Sie gehört, wie viele Bücher von denen gelesen?
Ich habe mir Lieder des braunen Barden Frank Rennicke auf youtube angehört und auch Interviews mit ihm.
Da ich zu dem Thema Einiges gelesen habe, stieß ich auch immer wieder auf Bands aus der Szene und habe mir die angehört (gruselig!)
Da ich viel Musik höre, kenne ich auch ein wenig die Anfänge des Nazi-Rocks. Etwa die rassistische Punkband „Screwdriver“ aus den 70ern, deren Sänger das rechtsextreme Netzwerk Blood and Honour mitbegründet hatte. Von da aus lassen sich Parallelen ziehen zu deutschen Nazi-Bands wie „Landser“ oder natürlich auch zu den frühen „Bösen Onkelz“.
Die heutigen völkischen Siedler beziehen ihre Ideologie ja vor allem aus dem traditionellen Nationalsozialismus. Zwar betreiben sie unter anderem Bio-Landwirtschaft und geben sich modern, aber allein anhand der Kleidung erkennt man ihre nostalgische Sehnsucht nach dem 3. Reich; nach Geschlechtertrennung und klaren Hierarchien. Deswegen habe ich vor allem völkische Romane aus dieser Zeit gelesen, z.B. Jörn Uhl von Gustav Frenssen. Und noch ein paar andere Blut-und-Boden-Literaten, die berechtigterweise weitgehend vergessen sind.
Die Nationalen Autonomen, die ja im Buch auch vorkommen, haben diesbezüglich (noch) keinen, der ihre „Heldentaten“ beschreibt.

Wie erträgt man auf die Dauer die Arbeit an so einem Thema?
Manches war wirklich unerträglich. Vor allem rassistische Blogs. Mir ist nach wie vor unbegreiflich, warum man eine so offensichtlich menschenfeindliche und hasserfüllte Ideologie anbetet.
Letztlich war es aber wie mit den meisten Arbeiten: Man lässt sie nach Feierabend zurück und lebt sein normales Leben. Wobei man natürlich hin und wieder einen bitteren Geschmack mitnimmt.

Wie sollte man Jugendliche vor solchen Einflüssen schützen? Kann man das überhaupt?
Schwierig. Ich bin natürlich nur ein Schriftsteller und kein Pädagoge. Und ich maße mir nicht an, durch die Arbeit an einem Buch Experte geworden zu sein.
Ich glaube, wichtig ist es, sich dem Thema zu stellen. Als Eltern, als Lehrer, als Erzieher, überhaupt als Erwachsener. Nicht wegsehen, gerade wenn es um das eigenes Kind geht. Mit den Jugendlichen reden, sie und ihre Nöte ernst nehmen.

Was sollten Jugendliche tun, wenn sie merken, dass sie so manipuliert werden? Was, wenn selbst die Lehrer keine Hilfe mehr darstellen?
Die unmittelbaren Bezugspersonen sollten natürlich immer die Eltern sein. Oder Verwandte, denen man vertraut. Freunde, insofern sie nicht der rechten Szene angehören. Und es gibt glücklicherweise Gruppen die Hilfe anbieten: Anti-Rassismus-Vereine, Aussteiger-Initiativen und so weiter. Im Internet finden sich viele Adressen dazu.
Wichtig ist es, so etwas nicht heimlich im stillen Kämmerlein mit sich auszumachen oder den Kopf in den Sand zu stecken. Die Nazis fürchten am meisten die Gegen-Öffentlichkeit und dass ihre trübe Ideologie von der Gesellschaft durchleuchtet wird.

Was sollte Ihrer Meinung nach die Politik gegen die Rechten unternehmen?
Sie sollte genügend Gelder bereitstellen für eben diese Anti-Nazi-Initiativen. Sie sollte Jugendarbeit leisten, vor allem in strukturschwachen Gebieten, wo sich die Rechten niederlassen und ihr Gift versprühen. Mehr Fortbildungen zum Thema für Lehrer und Pädagogen organisieren.
Manchmal helfen natürlich auch Verbote von rechtsextremen Parteien oder Vereinen. Und ich vermisse oftmals eine stärkere Positionierung von Politikern gegen rechts. Gerade der Umgang mit den Morden der rechtsextremen Terrorzelle lässt auf mangelnde Sensibilisierung schließen. Dazu die unsäglichen gegenseitigen Schuldzuweisungen und Vertuschungen der Geheimdienste. Da ist noch eine Menge Aufklärungsarbeit nötig.

Haben Sie weitere Roman-Projekte in dieser Richtung? Womit werden Sie sich als nächstes befassen?
Das Thema Völkische Siedler/Neo-Artamanen ist für mich vorerst abgeschlossen. Was aber nicht heißt, dass ich mich nicht irgendwann wieder damit beschäftigen werde.
Ich bin aber momentan an einer anderen Geschichte dran. Was genau, möchte ich noch nicht verraten. Dafür ist es einfach zu früh. Aber eins kann ich versprechen: Es wird spannend.

Daniel Höra: Braune Erde, Bloomsbury Verlag, 2012, 300 Seiten, ab 14, 8,99 Euro

Das Schicksal ist ein mieser Verräter

Vor ein paar Tagen habe ich schon einmal über John Green und sein fulminantes Buch Das Schicksal ist ein mieser Verräter geschrieben. Jetzt hat mir John Green ein bisschen seiner wertvollen Zeit geschenkt und ein paar Fragen beantwortet.

Mr Green, woher stammen die Ideen für Ihre Geschichten?
Von Fragen. Im Fall von Das Schicksal ist ein mieser Verräter habe ich mich gefragt, wie man gleichzeitig optimistisch und intellektuell interessiert in einer Welt leben kann, die oftmals so grausam und launisch ist.

Warum sind Themen wie Krankheit und Tod für Sie so wichtig?
Bücher sind am interessantesten und nützlichsten, wenn sie unmittelbar von den Dingen erzählen, die wir fürchten und vor denen wir weglaufen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich ein Buch über Verlust, Trauer und Krankheit schreiben wollte. Gleichzeitig sollte es aber auch eine sehr lustige und sehr hoffnungsvolle Geschichte sein, denn das menschliche Leben ist im Grunde genommen lustig und verheißungsvoll.

Wie entwickeln Sie einen Plot?
An diesem Buch habe ich über zehn Jahre gearbeitet, also hatte ich viel Zeit, um über den Plot und die Struktur nachzudenken. Die Geschichte sollte eigentlich wie eine epische Liebesgeschichte angelegt sein – aber ich wollte, dass es – wenn so etwas überhaupt möglich ist – ein kleines und zärtliches Epos wird.

Haben Sie reguläre Arbeitszeiten, während Sie schreiben?
Ja, ich schreibe morgens von 8 Uhr bis mittags 12 oder 13 Uhr. An den Nachmittagen arbeite ich an meinen Videos und anderen Dingen.

Wie haben Sie das Roman-Schreiben gelernt? Oder war das ein Talent, das Sie schon in jungen Jahren besaßen?
Als ich jung war, habe ich mich fürs Schreiben interessiert, aber ich glaube nicht, dass ich besonders talentiert war. Das Schreiben habe ich hauptsächlich vom Lesen gelernt. Ich hatte viele hilfreiche und wichtige Lehrer, die mir das Schreiben beibrachten. Aber ich glaube, die beste Art, das Roman-Schreiben zu lernen, ist zu lesen.

Das Schicksal ist ein mieser Verräter spielt zum Teil in Amsterdam: Haben Sie diese Stadt zufällig ausgewählt? Oder hat Ihr Stipendium dort dazu beigetragen?
Schon Jahre bevor ich das Stipendium für Amsterdam bekam, hatte ich die Geschichte dort angesiedelt. Ich habe Amsterdam genommen, weil die Erzählerin meiner Geschichte mit einer Krebsart lebt, bei der sich ihre Lungen immer wieder mit Wasser füllen. Sie ertrinkt sozusagen innerlich. Amsterdam ergeht es ähnlich: Die Stadt versinkt im Wasser, sie ist von Kanälen durchzogen, ist aber dennoch eine lebendige und blühende Stadt. Ich wollte eine Verbindung zwischen Hazel und dem Ort herstellen, den sie sich so liebevoll ausmalt.

Hatten Sie vorher auch über andere europäische Städte nachgedacht wie Paris, Rom oder Berlin?
Ich hatte kurz Venedig in Erwägung gezogen, auch das ist ja eine untergehende Stadt. Aber Venedig ist nicht so pulsierend und modern wie Amsterdam. Außerdem ist es viel kleiner.

Haben Sie mit dem Erfolg der amerikanischen Ausgabe von Das Schicksal ist ein mieser Verräter (im Original: The Fault in Our Stars) bei Amazon und Barnes & Nobels gerechnet?
Nein, ich hätte nie gedacht, dass das Buch so viele Leser ansprechen könnte und sie es so begeistert aufnehmen würden. Realistische Literatur für junge Erwachsene schafft es fast nie auf die Bestsellerlisten in den USA, aber 26 Wochen nach Erscheinen ist es immer noch auf Platz 3 der New York Times Bestsellerliste. Ich bin total überrascht.

Wie war es, 150 000 Exemplare des Buches zu signieren?
Das war anstrengend. Es hat fast drei Monate gedauert, und ich habe pro Tag zehn bis zwölf Stunden signiert. Aber gleichzeitig war ich so glücklich, dass so viele Menschen mein Buch vorbestellt hatten. Es war eine körperliche Herausforderung, aber ehrlich gesagt, habe ich das auch genossen. Romane zu schreiben ist sehr schwierig, es ist eine langsame Arbeit, für die man sehr viel Ausdauer und Konzentration braucht. Da ist es schon fast entspannend, seinen Namen immer und immer wieder zu schreiben.

Was hielt Ihre Frau von all den Kartons in Ihrem Haus?
Sie war nicht gerade sehr begeistert davon. Aber sie freut sich natürlich, dass so viele Leute das Buch lesen.

Haben Sie schon eine neue Idee für Ihr nächstes Buch?
Nein, ich habe keine Ahnung, was ich als nächstes schreiben werde.

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Übersetzung: Sophie Zeitz, Hanser Verlag, 2012, 287 Seiten, 16,90 Euro

 

Die Bibel für Hobbitologen

Bildgewaltige Kinoerlebnisse werfen ihre Schatten voraus. Peter Jackson hat abgedreht, und am 13. Dezember dieses Jahres kommt der erste Teil seiner Hobbit-Verfilmung in unsere Kinos. Der Trailer im Netz verspricht bereits wieder großartige Unterhaltung.

Um sich die Zeit bis dahin entsprechend zu verkürzen und das Abenteuer von Bilbo Beutlin, den Zwergen, Gandalf und dem Drachen Smaug schon vorab zu lesen (falls man das noch nicht getan hat), kann man sich jetzt in die annotierte Fassung von John R.R. Tolkiens Der Hobbit vertiefen. Neben dem kompletten Text, in der Übersetzung von Wolfgang Krege, finden sich in dem opulent aufgemachten Buch alle wichtigen historischen Informationen zu dem Werk selbst.

Douglas Anderson, renommierter Tolkien-Forscher, referiert die Entstehungsgeschichte des Textes, er umreißt Tolkiens Biografie und zeigt auf, was davon in dem Text Eingang gefunden hat. Ebenso zeichnet er die Verlagsgeschichte des Buches nach, nennt Auflagenzahlen und verweist auf Rezensionen und Rezeption.

Tolkiens Text begleiten dann unzählige Anmerkungen, farblich in petrolblau abgesetzt, die über Hobbitkunde, den berühmten ersten Satz („In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.“), das genaue Aussehen des kleinen Helden, Tolkiens Skizzen und Bezüge zu Der Herr der Ringe informieren. Zeichnungen, Stiche, Illustrationen und Faksimiles aus anderen internationalen Übersetzungen bereichern die Lektüre. Im Innenteil finden sich die farbigen Cover der deutschen Hobbit-Ausgaben.

Die Übersetzerin und Editorin der Anmerkungen, Lisa Kuppler, hat zudem einen Abriss über die Verlagsgeschichte des Hobbits in Deutschland beigesteuert. Hierin erfährt man auch, wie Tolkien auf den von ihm, für eine geplante deutsche Ausgabe 1938, geforderten Arier-Nachweis reagiert hat – nämlich brillant und scharfzüngig. Es ist eine wahre Genugtuung, dass dieser Brief, der nie nach Deutschland geschickt wurde, so endlich auch der breiten Leserschaft zugänglich gemacht wurde.

Das Buch ist folglich ein aufschlussreiches und gelungenes Muss für alle Hobbitologen und Fans von Bilbo, Smaug und Gandalf.

Lisa Kuppler, begeisterter Tolkien-Fan, hat mir ein paar Fragen zu diesem umfangreichen und kleinteiligen Übersetzungsprojekt beantwortet.

Wie sind Sie zum Hobbit gekommen? Wann haben Sie den Roman zum ersten Mal gelesen?

Wie wahrscheinlich die meisten, habe ich den Hobbit mit 12, 13 Jahren gelesen, Mitte der 70er Jahre. Ich bin über den Herrn der Ringe zu Tolkien gekommen, und als ich die drei Bände durch hatte, habe ich alles verschlungen, was es sonst noch aus der Welt von Mittelerde zu lesen gab. Der Hobbit war mein zweites Tolkien-Buch.

Was macht für Sie die Faszination der Hobbit-Geschichte aus?

Als jugendliche Leserin war der Hobbit für mich immer die Vorgeschichte zu den Ereignissen des Herrn der Ringe: Wer ist dieser Bilbo Beutlin? Wie ist er zu dem Einen Ring gekommen, den nach ihm Frodo trägt? Was hat der Ring mit ihm gemacht? Das waren die Fragen, die mich interessierten. Wenn ich den Hobbit heute lese, fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wie wir Leser mit Bilbo auf diese seltsame Reise gehen, zusammen mit der kuriosen Truppe an Zwergen und Gandalf. Heute kann ich den Humor des Hobbits viel mehr schätzen. Und die große moralische Entscheidung, die Bilbo am Ende des Buches treffen muss, wenn er Bard und dem Elbenkönig den Arkenstein bringt, um Frieden zwischen den Menschen und den Zwergen zu erzwingen.

Ist der Hobbit eigentlich immer noch ein Kinderbuch? Oder liegt hier ein ewiges Missverständnis vor?

Ja, der Hobbit ist immer noch ein Kinderbuch. Dass man ihn auch mit 30, mit 40 und wahrscheinlich auch noch mit 70 Jahren mit Freude immer wieder lesen kann, und dabei etwas Neues daran entdecken – das ist es, was den Hobbit zu einem Klassiker macht.

Das Missverständnis, der Hobbit sei „eigentlich“ ein Buch für Erwachsene, kommt daher, dass man in Deutschland von Kinderbüchern einerseits eine deutlich erzieherische Botschaft erwartet, andererseits Kinder vor so genannten Erwachsenenthemen „schützen“ will. Kinderbücher werden hierzulande als eine spezielle Art von Literatur gesehen. Tolkien betrachtete seine Bücher als Märchen, als „fairy tales“, die er für Leser jeden Alters schrieb, die Geschichten liebten und sich auf das Eintauchen in eine Fantasiewelt einlassen wollten. Er steht damit in der Tradition von Lewis Carrolls Alice im Wunderland oder auch Kenneth Grahams Der Wind in den Weiden. Ihm ging es um das Spielerische – vor allem mit Sprache und literarischen Traditionen – und das Fantasieren im „Experimentalraum Buch“, was für Tolkien kein Eskapismus war, sondern ein für jeden Menschen notwendiger Freiraum.

Worin lagen die Schwierigkeiten, diese z.T. sehr kleinteiligen Annotationen zu übersetzen?

Eine Herausforderung bei der Übersetzung waren die vielen unterschiedlichen Textformen der Anmerkungen, die Douglas Anderson akribisch zusammengetragen hat: Das Große Hobbit-Buch enthält Lexika-Einträge, Zitate aus Sekundärliteratur, Biografien und den Briefen Tolkiens, Werbe- und Rezensionstexte, mittelalterliche Gedichte, isländische Märchen, Romanauszüge, Passagen aus etymologischen und linguistischen Abhandlungen usw. usw. Als Übersetzerin war es meine Aufgabe, die verschiedenen Stile und Textformen überzeugend ins Deutsche zu übertragen.

Im Großen Hobbit-Buch werden einige Romane und Märchen zitiert, die Tolkien beeinflussten – das in Deutschland weitgehend unbekannte Märchen Puss-cat Mew oder E. A. Wyke-Smiths The Marvellous Land of Snergs – die noch nie ins Deutsche übersetzt wurden. Hier konnte ich also auf keine publizierten Übersetzungen zurückgreifen.

Darüber hinaus sind im Großen Hobbit-Buch Gedichte von Tolkien abgedruckt, die zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht werden. Der Verlag hatte sich entschlossen, diese Gedichte sowohl im englischen Original als auch in einer Prosaübersetzung (also nur dem Inhalt nach, nicht in Gedichtform) abzudrucken. Ich war für die Prosaübersetzungen verantwortlich, was sehr aufregend war.

Eine andere Herausforderung lag darin, dass es im Deutschen zwei Übersetzungen des Hobbit gibt, die eine davon zudem noch in zwei recht unterschiedlichen Fassungen. Da die meisten Leser den Hobbit nur auf Deutsch kennen, war es mir ein Anliegen, auch auf Unterschiede oder Kuriositäten in den Übersetzungen hinzuweisen. So wurden zum Beispiel die Orks in der ersten Hobbit-Übersetzung noch „Kobolde“ genannt, und die Sackheim-Beutlins, Bilbos missgünstige Verwandten, hießen dort noch „Beutelstadt-Baggins“.

Spannend zu übersetzen waren für mich alle Anmerkungen, in denen auf die englischen Wortursprünge und Worthintergründe eingegangen wird. Dort habe ich versucht, zusätzlich deutsche Entsprechungen und Ergänzungen zu finden, speziell auch beim Rätselspiel zwischen Bilbo und Gollum. Ich war überrascht, wie viele deutsche Rätselsammlungen es gibt, in denen Worträtsel zu finden sind, die denen, die Tolkien im Hobbit verwendet, sehr ähnlich sind.

Wie rechercheaufwendig war die Arbeit an der Übersetzung?

Das Große Hobbit-Buch war von vornherein nicht nur als bloße Übersetzung von Douglas Andersons Buch geplant, sondern es sollte auch speziell für die deutsche Leserschaft editiert werden. Deshalb ist in diese Übersetzung einiges mehr an Recherche geflossen als üblich.

Eine Besonderheit des Großen Hobbit-Buches sind die vielen Hobbit-Illustrationen, die das Buch bebildern. Douglas Anderson hat Kurzbiografien der Tolkien-Illustratoren zusammengetragen, und dabei ihre im englischen Sprachraum wichtigsten Werke aufgeführt. Die meisten dieser englischen Ausgaben sind nie ins Deutsche übersetzt worden. Wo immer möglich habe ich nun Andersons Angaben ergänzt um deutsche Titel, die ebenfalls von den jeweiligen Illustratoren bebildert wurden. Allein schon diese Ergänzungen waren mit sehr viel Recherchearbeit verbunden.

In der Mitte des Großen Hobbit-Buches befindet sich ein Bildteil, der in der deutschen Ausgabe um elf Cover von deutschen Hobbit-Ausgaben erweitert wurde. An die Cover der zum Teil nur noch teuer antiquarisch zu erstehenden Ausgaben bin ich nur durch die Mithilfe des Projekts Deutsche Tolkien-Bibliographie, einer Gruppe von Fans und Buchliebhabern, gekommen, die alle jemals in Deutschland erschienene Hobbit-Ausgaben sammeln.

Einiges an Recherche war auch für das Nachwort nötig, in dem ich die Veröffentlichungsgeschichte des Hobbits in Deutschland skizziert habe. Ich habe drei Interviews geführt, vor allem um die Hintergründe der Ost-West Doppel-Edition des Hobbit von 1971 herauszubekommen, die so vorher noch nicht bekannt waren.

Welche Annotation oder Anekdote im Buch ist Ihre liebste?

Ich kann mich kaum für eine Lieblings-Anmerkung entscheiden. Alles ist interessant. Doch besonders faszinieren mich die Anmerkungen zum Kapitel 5 „Rätsel im Dunkeln“, in denen Douglas genau die Änderungen nachvollzieht, die Tolkien erst 1951 im Text des Hobbit korrigierte. Die Erstausgabe des Hobbit von 1937 war, in Bezug auf Gollum und die Ereignisse von Kapitel 5, noch anders als die Fassung, die wir heute lesen. Tolkien selbst hat hier 14 Jahre nach dem Erscheinen des Hobbit Revisionen vorgenommen, weil er inzwischen am Herr der Ringe schrieb, und die Handlung angleichen wollte. Mich fasziniert dabei, wie sich die Geschichte im Buch in der Publikationsgeschichte spiegelt: Die Erstfassung des Hobbit von 1937 entspricht der nicht ganz wahrheitsgetreuen Geschichte Bilbos, die er zuerst den Zwergen auf die Nase bindet; die Fassung des Hobbit von 1951 entspricht der Geschichte vom Ringfund, wie er sich wirklich zugetragen hat. Heute wären solche Änderungen an einem schon längst erschienen Buch einfach nicht mehr möglich.

Eine Anekdote, die in einer Fußnote der Einführung erzählt wird, hat mich sehr beeindruckt. Sie vermittelt schlaglichtartig etwas vom Alltagsleben des Autors Tolkien, der immer mit Geldsorgen zu kämpfen hatte. 1938 erhielt Tolkien einen Kinderbuch-Preis, der von der New York Herald Tribune gestiftet wurde und mit 250 US-Dollar dotiert war. Das Preisgeld wurde ihm per Brief geschickt, und seine Kinder John und Priscilla erinnern sich noch eindrücklich daran, wie Tolkien das Geld aus dem Brief nahm, um es seiner Frau Edith zu reichen, die damit eine ausstehende Arztrechnung begleichen konnte.

Auf welche Anmerkungen hätten Sie gern verzichtet?

Es gibt keine einzige Anmerkung, die ich gerne gestrichen hätte; im Gegenteil: Manche editorische Notiz Douglas‘ – also Hinweise auf rein sprachliche Korrekturen in den englischsprachigen Ausgaben – hätte ich am liebsten auch noch mit ins Große Hobbit-Buch aufgenommen, obwohl das für deutsche Leser vielleicht langweilig gewesen wäre oder aus Platzgründen unmöglich. Immer, wenn in solchen Notizen Inhaltliches eine Rolle spielte, habe ich sie übersetzt. So zum Beispiel Anmerkung 9 im Kapitel 1, wo Douglas berichtet, dass in der Erstausgabe des Hobbit noch von bösen Gerüchten die Rede war, der eine oder andere Tuk hätte vor Urzeiten einmal in eine Ork-Familie eingeheiratet. In der Ausgabe von 1966 wurde dieser Satz gestrichen, es blieb das Gerücht, ein Vorfahre der Tuks müsse wohl einmal eine Elbin geheiratet haben.

Welche fehlt Ihrer Meinung nach?

Wenn Weihnachten 2013 beide Verfilmungen des Hobbit in den Kinos laufen, könnte man natürlich auch die Film-Interpretation und Informationen zur filmischen Adaption in den Anmerkungsapparat zum Hobbit einbauen. Es ist also definitiv noch Material da für Überarbeitungen und Ergänzungen des Großen Hobbit-Buchs.

War es nicht manchmal auch ein bisschen dröge nur die Anmerkungen einzudeutschen? Hätten Sie nicht viel lieber den Hobbit selbst neu übersetzt?

Ganz ehrlich: nein. Es gibt zwei Hobbit-Übersetzung, die unterschiedlich sind, aber beide auf ihre Art sehr gut. Es braucht keine neue, dritte Hobbit-Übersetzung, und wenn, dann erst in fünfzehn, zwanzig Jahren.

Ich habe mit viel Begeisterung die Einführung und die Anmerkungen übersetzt. Aber bei jedem Originalgedicht Tolkiens, für das ich eine Prosaübersetzung angefertigte, hätte ich mir ein paar Tolkienkenner zur Seite gewünscht, mit denen ich Wortwahl und Bedeutung diskutieren hätte können. Ich habe riesigen Respekt für Tolkiens Lyrik-Übersetzer, allen voran Ebba-Margareta von Freymann, die die Gedichte im Herrn der Ringe übersetzte. Da nie alle Gedichte des Hobbit vollständig ins Deutsche übersetzt wurden, hat der Verlag für das Große Hobbit-Buch Joachim Kalka beauftragt, der noch fehlenden Strophen wundervoll ins Deutsche übertragen hat.

Gibt es ein weiteres Tolkien-Projekt auf Ihrem Schreibtisch?

In enger Zusammenarbeit mit dem Lektor Stephan Askani vom Klett-Cotta Verlag habe ich gerade die Übersetzung des Herrn der Ringe von Wolfgang Krege auf Fehler durchgesehen und behutsam korrigiert. Das war ein äußerst spannendes Projekt, weil wir zwar Fehler beseitigen, aber den besonderen und eigenwilligen Ton und Stil Kreges erhalten wollten. Die Neuausgabe wird im Herbst erscheinen.

John R. R. Tolkien: Das große Hobbit-Buch. Der komplette Text mit Kommentaren und Bildern. Herausgegeben von Douglas Anderson, Übersetzung: Wolfgang Krege, Übersetzung und Edition der Anmerkungen: Lisa Kuppler, Klett-Cotta, 2012, 418 Seiten, 29,95 Euro

Indien hautnah

Wanderbücher haben sich in den vergangenen Jahren zu einer ganz eigenen Gattung entwickelt, dank … na, Sie wissen schon … Ich finde das ganz wunderbar, weil es mich selbst immer wieder anregt, wo ich demnächst langlaufen könnte. Eine ziemlich extreme Tour hat jetzt der Indologe und Journalist Oliver Schulz veröffentlicht.

Auf knapp 3000 Kilometern hat er Indien von Süden nach Norden durchquert, immer entlang des 78. Längengrads. 2007 und 2008 wanderte er in zwei Abschnitten von Kanyakumari bis nach Dehra Dun im Himalaya und folgte dabei den Spuren der Geodäten William Lambton und George Everest. Schulz schildert in seinem Buch neben den Leiden und Wonnen des Wanderers überaus bunt die Alltagsgeschichten eines entmystifizierten Indiens sowie die Historie der Landvermessung durch den Briten Lambton und den Waliser Everest Anfang des 19. Jahrhunderts.

Dabei erlebt Oliver Schulz Armut, Gastfreundschaft, Korruption, Affen im Hotelzimmer, besichtigte ein Open-Air-Gefängnis und wird als sonderbarer Exot um ein Autogramm gebeten – er unterschreibt mit H.P. Kerkeling

Ich habe Oliver Schulz ein paar Fragen zu seiner abenteuerlichen Tour gestellt (die ich sehr faszinierend finde, aber nie im Leben nachahmen werde …).

Bist du vor deiner Indientour schon mal weitgewandert und wusstest du, was körperlich auf dich zukommt? Vor 20 Jahren bin ich mehrfach lange Touren von Süd nach Nord durch den Himalaya und zurück gelaufen. Aber in den Jahren vor Indien zu Fuß war ich dann nur noch in den Alpen und Pyrenäen unterwegs. Ich kenne die Materie also gut, das Extreme allerdings nur aus weit zurückliegender Erfahrung.

Wie hast du dich fitnesstechnisch auf die langen Touren vorbereitet? 45 km am Tag bedeuten ca. 10 Stunden wandern, wie hast du das trainiert? Wie verrückt: Joggen, wandern, schwimmen, Rad fahren, Sauna. Das volle Fitness-Programm. Es war dann schlimmer als erwartet, aber das lag wesentlich am Klima.

Warum hast du die Tour allein gemacht? Wie hat sich das auf den knapp 3000 Kilometern angefühlt? Ich komme ganz gut mit mir selbst klar. Tagsüber war es angenehm: Niemand, auf den ich warten muss, niemand, der mir davonläuft. Abends war es oft … einsam.

Was für Kartenmaterial hattest du dabei? Ich hatte einen dicken Stapel sehr genauer amerikanischer Fliegerkarten dabei, die sich aber als nutzlos, weil veraltet erwiesen. Viele Orte trugen veränderte Namen. Siedlungen waren gewachsen oder aufgegeben worden. Ich bin dann auf eine handelsübliche Nelles-Straßenkarte in großem Maßstab umgestiegen und habe die mit den Informationen der Einheimischen kombiniert. Damit habe mich nicht weniger oder öfter verlaufen als mit den Fliegerkarten.

Um dir all die Einzelheiten deiner Erlebnisse so genau zu merken, wie viele Blöcke hast du vollgeschrieben? Wann hast du die Notizen gemacht?  Abends. Auf’m Bett, wenn’s eins gab. 14 Notizblöcke. Bruce Chatwin, den ich hier bemühen möchte, ohne zu wissen, ob es mir zusteht, hat einmal gesagt: „To lose a passport was the least of one’s worries: to lose a notebook was a catastrophe.“ Stimmt: Ich habe ich besser auf meine Notizblöcke aufgepasst als auf Portmonee und Pass.

Wusstest du auf der Tour schon, dass du ein Buch darüberschreiben würdest? Ja, es war von Anfang an ein professionelles Projekt. Auch wenn ich noch keinen Verlag hatte.

Hat die Wanderung dich verändert? Hm, im Kern nicht. Man wird nicht weicher davon. Aber das ist eine graduelle Veränderung, die das Leben mit sich bringt …

Hat sich dein Blick auf Indien verändert? Im Herzen Indiens war es noch trister, als ich befürchtet hatte. Andererseits haben manche Besuche – etwa bei der Nehru-Nichte, Frau Sahgal, oder bei der Familie von Mohammed Khuddus in Hyderabad – meine Hoffnung bestärkt, dass Indien bei allen Extremen eine langfristig stabile gesellschaftliche und politische Entwicklung vor sich haben dürfte.

Was hat dich am meisten schockiert? Die Armut im Süden (Tamil Nadu) war fürchterlich. Und der Grad, in dem die Hindu-Fundamentalisten inmitten der Gesellschaft agieren, hat mich schockiert.

An welchem Ort der Wanderung wärst du gern länger geblieben? Am vorletzten: Dehra Dun. Vielleicht ziehe ich dahin, wenn ich alt bin. Das ist die richtige Mischung aus Moderne und Tradition, aus Stadt und Land.

Du warst die ganze Zeit von mehr oder minder extremer Religiosität umgeben, hat dich das irgendwie in deiner eigenen (Nicht-)Religiosität beeinflusst? Es hat mich darin bestärkt, dass Religion weit häufiger dafür benutzt wird, um Menschen gegeneinander aufzubringen – als um sie zu einen.

Indien wird in wenigen Jahren das bevölkerungsreichste Land der Erde sein, was hat der Westen davon zu erwarten? Indien ist mir von allen Schwellenländern der liebste Partner. Es gibt wenig Grund, Angst vor diesem Land zu haben.

Gibt es etwas, dass wir – außer Yoga und Ayurveda – von den Indern lernen können? Gleichmut, Demut, das Leben nicht so ernst zu nehmen.

Vermisst du irgendetwas von dem Subkontinent? Das Chaos, das einen lehrt, sich durchzukämpfen. Das Essen. Eine gewisse Schlafmützigkeit (wir nennen das hier: Gemütlichkeit). Den allgegenwärtigen, leichten Geruch von Mottenkugeln.

Planst du neue Indien-Projekte? Ja, einen historischen Indien-Tibet Roman.

Und, gehst du weiter weitwandern? Immer wieder. Zuletzt in Südtirol.

Oliver Schulz: Indien zu Fuß. Eine Reise auf dem 78. Längengrad, DVA, 2011, 287 Seiten, 19,99 Euro

Steampunk – oder vom Schreiben mit der Hand

Col Porpentine soll Karriere machen – jedenfalls wenn es nach dem Willen seines Großvaters geht. In ein paar Jahren soll der Junge das Kommando über den Juggernaut Worldshaker übernehmen. Auf diesem Riesen-Eisenkoloss, der sich auf Rollen über die Kontinente und durch die Meere wälzt, lebt die Viktorianische Elite auf den Oberdecks im absoluten Luxus. Col gehört dazu und muss sich eigentlich keine Sorgen machen – bis eines Tages die junge Riff auftaucht. Das Mädchen gehört zu den so genannten Dreckigen, die im Bauch des Schiffes unter unmenschlichen Bedingungen malochen. Riff ist die Anführerin der Aufständischen aus den Unterdecks und führt Col in die düstere Seite seiner Heimat ein. Der Junge schließt sich den Revolutionären an und verliebt sich in Riff…

Der australische Autor Richard Harland hat 15 Jahre an seiner extrem mitreißenden Steampunk-Geschichte gearbeitet und alles mit der Hand geschrieben. Warum, das hat er mir im Interview verraten …

Mr Harland, was fasziniert Sie daran, über eine viktorianische Alternativ-Gesellschaft auf einer Art Dampfschiff zu schreiben? Warum haben Sie sich für Steampunk und nicht für einen “normalen” historischen Roman entschieden?
Ich wuchs in einer Zeit auf, als modern sein sehr wichtig war. Alles sollte glatt, stromlinienförmig und verchromt sein. Dreckige, sonderbare, alte Maschinen gehörten der Vergangenheit an, einer schlimmen Vergangenheit. Heutzutage wirkt Verchromtes selbst schon völlig überholt. Aber was ist so schlimm an Dreckigem und Sonderbarem? Sonderbar ist schön! Ich glaube, dass sonderbare Dinge, wie alte Maschinen, Charakter haben – und das ist weitaus interessanter als Farblose, Glattes und Langweiliges. Anders als im historischen Roman kann ich bei Steampunk diese sonderbar-schönen Qualitäten einer Umgebung und einer Atmosphäre viel stärker betonen. Maschinen aus dem 19. Jahrhundert können darin noch viel mehr dampfen und qualmen, noch viel rußgeschwärzter und messinggelber aussehen, als sie es wirklich waren. Und sie können natürlich 100 Mal größer sein. Die Juggernauts in der Welt des Worldshakers sind drei Kilometer lang, sie bewegen sich auf Rollen über Land und durch das Meer. Historische Dampfschiffe sind damit nicht zu vergleichen!

Hat Jules Vernes Ihr Schreiben beeinflusst?
Nein. Da gibt es nicht den Hauch von Jules-Vernesschem Einfluss. Seine Bücher habe ich erst vor kurzem gelesen. Mich haben alte Maschinen und industrielle Szenerien einfach schon immer fasziniert. Wer mich dabei wirklich beeinflusst hat, war mein Cousin in England. Er war mein bester Freund, als ich zehn Jahre alt war, und er interessierte sich viel mehr für Mechanik als ich. Als Kinder bauten wir hinten im Garten große U-Boote, Flugzeuge und irgendwelche mechanischen Gebilde. Aber alles ganz nach unserer Fantasie. Dafür nahmen wir dann Zinkwannen, Gummischläuche, Holzplanken, verrostete Eisenstücke, Kartons und allen möglichen Abfall. Wir zeichneten Pläne von unseren eigenen Flugzeugen und Super-Vehikeln in unsere Schulhefte. Bei so einer Kindheit musste ich einfach Steampunk-Autor werden!

Sie schreiben Ihre Geschichten mit der Hand. Warum das? Was halten Sie von modernen Technologien?
Ich schreibe mit der Hand, weil ich dann nicht darüber nachdenken muss. Wenn ich auf einer Tastatur tippe, kann ich nicht so gut in meine Welt und meine Geschichte eintauchen. Die Tastatur lenkt mich ab und erinnert mich ständig an meine direkte Umgebung. Dabei habe ich nichts gegen Tastatur und Computer. Die Rechner haben mein schriftstellerisches Leben gerettet. Denn vor Erfindung der Computer schreckten die Schreibmaschinen einen richtig ab, irgendetwas zu Ende zu bringen. Alles musste beim ersten Mal richtig sein, ansonsten musste man die ganze Seite neu abtippen. Ich litt deshalb 25 Jahre unter einer Schreibblockade. Ohne die neuen Technologien könnte ich nicht mehr leben.

Könnten Sie sich vorstellen, auf Ihrem Juggernauten zu leben?
Aber sicher! Das ist ja meine Aufgabe als Fantasy-Autor – ich denke mir Dinge aus, die es nicht gibt, um sie dann so darzustellen, als ob es sie gibt. Viele Leser von Worldshaker berichten mir, dass sie beim Lesen den Eindruck bekommen, tatsächlich in diesen endlosen Korridoren, den engen Kabinen und zwischen den Spundwänden herumzulaufen – und in der höllischen Unterwelt, wo die Dreckigen zwischen Kesseln und Turbinen schuften.

Wie würden Sie das finden?
Das wäre eine schrecklich klaustrofobische und erdrückende Welt. Ich selbst würde das hassen! Aber wenn ich zu der Elite auf den Oberdecks gehören würde, wie Col, tja, dann würde ich mir keine Gedanken darüber machen, denn ich hätte ja nie etwas anderes kennengelernt.

Richard Harland: Worldshaker und Liberator, Verlagshaus Jacoby & Stuart, Übersetzung: Werner Leonhard,  je 16,95 Euro.

Ab Januar 2013 auch als Taschenbuch bei dtv, für 8,95 Euro.


Worldshaker

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