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Jeder Tag kann Weihnachten sein

 
Weihnachten im Januar? Das geht durchaus, und zwar im Hotel Wunderbar.

Ein Porträt über einen belgischen Hotelier, der seine Pforten für Obdachlose öffnet, brachte die Kinderbuchautorin Jutta Nymphius in Schwung für ihren neuen Roman. Ihr Tore öffnender Held heißt Mika, ist neun Jahre alt und lebt mit seinem Vater im familieneigenen Hotel „Jameel“. Mikas Mutter ist vor einiger Zeit gestorben, seitdem arbeitet Papa meist hinter verschlossenen Türen in seinem Büro, und Mika wird hauptsächlich von den Angestellten Fanny und Henry betreut. Doch egal, wie viel Mühe sich die beiden geben, die Eltern ersetzen können sie nicht. Vor allem fehlt Mikas Mutter, warmherzig, temperamentvoll und gastfreundlich. Und weil Mama überall fehlt, fehlen inzwischen auch die Gäste. Sogar an Weihnachten!

Auch in diesem Jahr, was Mika ehrlicherweise nicht weiter verwundert hat. Schon der Weihnachtsschmuck war furchtbar! Langweilige Plastiktannenbaumgirlanden baumelten am Hoteleingang. Das musste ja alle abschrecken, denkt Mika. Früher gab es echte Zweige mit bunten Kugeln, ein fröhliches Willkommen und jede Menge Gäste und Trubel, gerade an den Feiertagen. Deshalb wurde ja auch der Anbau mit sechs neuen Zimmern errichtet, doch inzwischen steht der meistens leer. Hier fehlt es an Wärme und Zuneigung, das spürt Mika ganz genau. Und während er noch seinen Gedanken nachhängt, stolpert er über Silvester, einen kleinen schwarzlockigen Hund, und dessen Besitzer Teddy. Im ersten Moment verzieht Mika die Nase, Teddy riecht ziemlich streng, und seine langen Haare zotteln genauso an ihm herum wie sein Bart. Aber er verwickelt Mika gleich in ein Gespräch, und schnell ist klar: Die beiden haben Hunger und suchen ein Quartier, denn der Winter ist kalt und streng und Teddy obdachlos. Plötzlich weiß Mika, wo er die beiden unterbringen kann: im Anbau. Natürlich heimlich. Morgen früh müssen Hund & Herrchen das Haus superpünktlich wieder verlassen — und abends steigen sie geräuschlos und unsichtbar wieder ein.

Ganz fix werden es mehr Gäste, die Hilfe brauchen, denn auch Käthe friert erbärmlich. Genau wie Herbert. Mika schließt alle fest in sein Herz, selbst wenn der Heimlichkeitsstress dadurch immer größer wird: Betten beziehen. Essen in der Hotelküche abzweigen. Früh aufstehen, um alle zu wecken, damit sie rechtzeitig wieder verschwinden. Keinen Piep zu erzählen … Mika wird immer blasser und schlapper — was Fanny und Henry schließlich nicht mehr verborgen bleibt. Die Wahrheit muss auf den Tisch, vor der auch Mikas Papa die Augen nicht mehr verschließen kann: Das Leben geht weiter, und sein Sohn braucht ihn!

Weihnachten ist zwar längst vorbei, gefeiert werden kann trotzdem. Und weil dazu Gemeinschaft gehört, verlegen Mika & Co das wunderbare Fest einfach in den Januar und holen nach, was am 24.12. nicht möglich war: mit anderen Menschen zusammen zu sein, ihre Geschichten zu teilen, die Herzen zu öffnen und einander Wärme zu geben. Bis Ende März wird Papa das Hotel von nun an für die Obdachlosen öffnen. Und Weihnachten? Da sind sich alle einig: So ein tolles Januar-Weihnachtsfest wird es auch im kommenden Jahr wieder geben.

Dieser Kinderroman — schwarz-weiß-schmunzelnd illustriert von Stephan Pricken (!) —ist nicht nur warmherzig geschrieben und verbreitet Festtagsstimmung. Mika, Papa und alle anderen Helden von Jutta Nymphius laden dazu ein, darüber nachzudenken, worauf es wirklich ankommt: Kinder brauchen Eltern, Eltern brauchen Kinder. Und Menschen, die Hilfe benötigen, sollten nicht allein durchs Leben gehen. Und Feste? Die lassen sich nicht nur feiern, wenn es der Kalender sagt. Vielleicht hat jemand Lust, das auch mal auszuprobieren? Nur Mut!

Heike Brillmann-Ede

Jutta Nymphius: Hotel Wunderbar, mit einem Nachwort und einem Spiel von Jutta Nymphius, Illustration: Stephan Pricken, Tulipan, 2. Auflage 2016, 144 Seiten, ab 9, 13,00 Euro

Die moderne Weihnachtsfamilie

zwiebelchen

Was Adventsbücher angeht, hänge ich ja immer noch in einer unendlichen Schleife von Barbara Bartos-Höppners Schnüpperle fest. Das Buch mit den 24 Vorweihnachtsgeschichten von 1969 hat mich durch meine Kindheit begleitet und wurde in unserer Familie jedes Jahr wieder neu hervorgezogen und in Etappen bis Weihnachten gelesen. Dagegen anzukommen war bis jetzt für jedes neue Buch ziemlich schwer – nichts hat dieses wohlige Adventsgefühl in mir heraufbeschwören können wie Schnüpperle.

Doch jetzt – wenn auch mit einem Jahr Verspätung, denn Frohe Weihnachten, Zwiebelchen! ist bereits 2015 erschienen – bekommt Schnüpperle ernsthafte Konkurrenz. Die schwedische Autorin Frida Nilsson erzählt in 25 Kapiteln vom 6-jährigen Zwiebelchen, der eigentlich Stig heißt. Zusammen mit seiner Mama wohnt der klevere Junge im schwedischen Dorf Kilsmo und hat im Grunde nur zwei große Wünsche: ein Fahrrad und einen Papa.
Doch für ein Fahrrad hat seine Mama kein Geld, und das mit dem Papa ist eine schwierige Sache, denn den hat Mama vor Jahren in Stockholm bei einem Konzert kennengelernt und später den Zettel mit seiner Telefonnummer ganz rasch weggeworfen. Den Mann wollte Mama nicht, aber Zwiebelchen schon. Diese Geschichte kennt Zwiebelchen natürlich in- und auswendig. Trotzdem quält ihn dieser Gedanke, dass er einen Papa in Stockholm hat.
Darüberhinaus aber nervt ihn das Mitleid seiner Mitschüler, weil er eben doch keinen Papa hat. Richtig wütend wird er, wenn sein Mitschüler Elmar behauptet, er hätte es verdient keinen Papa zu haben. Dann wird Zwiebelchen schon mal aggressiv, schubst und haut.

Aber zum Glück gibt es im Dorf auch noch Karl, den alle für einen „komischen Vogel“ halten, weil eines seiner Beine kürzer ist und er angeblich Hühner hypnotisieren kann. Karl repariert Autos und wirkt ein bisschen wie der Außenseiter des Dorfes. Doch Karl ist ein herzensguter Typ und bringt Zwiebelchen alles über Hühner bei. Eines Tages schafft es Zwiebelchen sogar, den Hahn Hekto auf den Arm zu nehmen. Ein wunderbarer Moment an einem sonst ziemlich doofen Tag.

Mit so einigen Hochs und Tiefs schlägt sich Zwiebelchen also durch die Adventszeit und lernt in diesem schneelosen Dezember so einiges über Hühner und das Leben. Den kleinen Helden schließt man vom ersten Augenblick ins Herz, denn seine Beobachtungen des Alltags und seine Überlegungen über das Leben sind so bodenständig und liebenswert, dass man gar nicht anders kann.

Doch Zwiebelchen erfährt natürlich auch, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. So kann man sich einen Vater nicht einfach erdichten, wie ihm die Reaktionen seiner Mitschüler zeigen. Es bringt auch nichts, einfach auf einem geklauten Fahrrad nach Stockholm fahren zu wollen. Zwiebelchen bleibt im endlich fallenden Schnee stecken, und mit dem Schnee reift in ihm schließlich auch der Gedanke, dass es auch die andere Seite der Papa-Frage gibt, nämlich die, dass dieser Mann ihn vielleicht ja gar nicht haben wollte…

In all diesem Gefühlschaos gibt es für Zwiebelchen zu Weihnachten schließlich doch ein Happy-End und die Erkenntnis, dass Familie auch aus selbstgewählten Mitgliedern bestehen kann und ein biologischer Erzeuger nicht unbedingt dazugehören muss.

In einfachen Sätzen, feinfühlig von Friederike Buchinger übersetzt, erzählt Frida Nilsson eine moderne Weihnachtsgeschichte, die das Zeug zum Klassiker hat. Sie macht deutlich, dass das Leben nicht immer aus perfekten Familienidyllen besteht, aber dennoch wunderschön sein kann. Eine sehr zu empfehlende Familien-Lektüre für die kommenden Wochen!

Frohe Weihnachten, Zwiebenlchen! war für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 in der Sparte Kinderbuch nominiert.

Frida Nilsson: Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!, Übersetzung: Friederike Buchinger, Illustrationen: Anke Kuhl, Gerstenberg, 2015, 128 Seiten, ab 6, 12,95 Euro

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[Gastrezension] Eine Frage der Identität

minhEs gibt einen tollen Cartoon des Zeichners Tom: Ein junger Schwarzer schlurft mit Skateboard unterm Arm und Baseballcap auf dem Kopf durchs Bild. Da schnauzt ihn ein dicker, alter Mann mit Lodenhütchen an: „Geh doch nach Hause!“ Gedankenblase über dem Skater: „Was soll ich in Dortmund?“

Genauso würde die 16-jährige Minh Thi, genannt Mini, die Heldin aus dem Roman Im Jahr des Affen, denken: „Was soll ich in Herford?“ Denn für die als Kleinkind aus Vietnam geflohene Chinesin ist die Stadt in Nordrhein-Westfalen längst ihr Zuhause. Sie spricht fließend und akzentfrei Deutsch. Sie denkt auf Deutsch. Mit ihrem Vater wechselt sie nur wenige, einfache Worte auf Chinesisch. Doch dann kommt ihr Onkel Wu zu Besuch und stellt vieles im Leben der Teenagerin in Frage. Dabei spielt die Sprache eine große Rolle im Zusammenprallen der Kulturen und Lebensweisen. Zum Beispiel begrüßen Chinesen sich mit dem Spruch: „Hast du schon gekochten Reis gegessen?“ Mini antwortet ihrem Vater: „Nein, ich habe noch keinen Reis gegessen – aber Kartoffeln.“ Das ist etwa so, als wenn man in Süddeutschland auf die Formel „Grüß Gott“ antwortet: „Mach ich, wenn ich ihn sehe.“ Nur mit dem Unterschied, dass die meisten Menschen am Weißwurstäquator ein bisschen beleidigt sind, wenn man sie beim Wort nimmt. Minis Vater dagegen lacht höflich, obwohl er den Witz seiner Tochter nicht versteht.

Klug beobachtend, mit leisem Humor und einem besonderem Gespür für vielsagende Situationen beginnt die 1974 im südvietnamesischen Saigon geborene und in Deutschland aufgewachsene Chinesin Que Du Luu ihr erstes Jugendbuch (nach zwei Erwachsenenromanen). Dabei hat sie zumindest bei mir von Anfang an leichtes Spiel, beschreibt sie doch im Jahr 1992, dem titelgebenden Jahr des Affen, eine Party, bei der Mini und ihre Freundinnen Sarah und Micha zu Hits wie Marc Almonds Tainted Love, I Just Can’t Get Enough von Depeche Mode und Balladen von Guns’n’Roses tanzen. Mini verliebt sich, ausgerechnet in Bela, für den doch Sarah aufs Melodramatischste schwärmt. Kurz darauf erleidet ihr Vater, überarbeitet von der Schufterei in seinem schlecht laufenden Restaurant einen Herzinfarkt, Mini findet ihn mitten in der Nacht auf der Straße, neben sich eine ausgekippte Schüssel mit extra für sie zubereitetem gebratenen Reis. Und dann kommt Onkel Wu, der in Australien lebt, aber nur Chinesisch sprechen will, und nennt sie eine Banane: Außen gelb, innen weiß.

Obwohl Mini es zu Recht absurd findet, Menschen als „gelb“ zu beschreiben, bringt der Vergleich es für sie doch auf den Punkt. Nach außen ist sie die Chinesin, sie fällt auf, weckt Erwartungen und Vorurteile bei den Leuten – unterscheidet sich aber in ihrem Fühlen und ihren Wünschen nicht von ihren deutschen Freundinnen.

Onkel Wu und die weitläufige Verwandtschaft in Australien dagegen pflegen und leben das Chinesische. Und während der ältere Bruder ihres Vaters an fast allem rummeckert, sich im Café laut palavernd Schnitzel zum Frühstück schmecken lässt und versucht, das Restaurant in Schwung zu bringen, erfährt Mini vieles über ihre Herkunft und ihr Geburtsland Vietnam, wo sich einst viele Chinesen angesiedelt hatten. Hier spielen Küchengötter, Wächterlöwen, Pfirsiche und das Vier-nicht-ähnlich-Tier wichtige Rollen.

Vor allem der störrische, auch nur auf Kantonesisch kommunizierende Koch Bao erzählt ihr, von Onkel Wu aus der Reserve gelockt, von der Flucht in einem wackeligen Motorboot über das Meer, von tagelanger Seekrankheit und der Angst zu kentern und wie sie gerade im vermeintlich sicheren Singapur angekommen, sofort abgewiesen und wieder aufs offene Meer geschleppt worden sind. Vom Auffanglager in Thailand, wo sie ein Jahr lang in provisorischen Hütten aus Planen gehaust hatten. Dramatische Bilder und Erlebnisse, wie sie momentan wieder so aktuell und allgegenwärtig sind.

Und Bao erzählt von einem dunklen Geheimnis, dass Minis Vater mit ihm verbindet.

An all das erinnert sich die Protagonistin genauso wenig wie an ihre nicht weiter erwähnte Mutter. Zum einen, weil sie gerade mal drei, vier Jahre alt war, als die Vietcong sie vertrieben. Zum anderen, weil ihr Vater sich hingebungsvoll um sie gekümmert, sie vor allem beschützt und alles für sie getan hat. Das wird ihr erst jetzt bewusst, nachdem sie sich immer für die mit gespendeten Möbeln ausgestattete Hochhauswohnung, das düstere Restaurant und mit chinesischen Delikatessen ruinierte Geburtstagspartys geschämt hatte. Und sie fragt sich, warum ihr Vater sich in einem ihm fremd gebliebenen Land, fern seiner Familie abmüht, ein Leben, das nur aus Arbeit und erschöpft nachts vor dem Fernseher einschlafen besteht, ohne einen einzigen Freund, einen Menschen, mit dem er reden kann.

In diesem Sommer Im Jahr des Affen ändert sich viel in Minis Leben. Que Du Luu erzählt von Flucht und Fremde, von zu Hause und Familie in einer ganz eigenen Sprache, die noch lange nachhallt und den Leser vieles mit anderen Augen sehen lässt.

Elke von Berkholz

Que Du Luu: Im Jahr des Affen, Königskinder, 2016, 288 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

The Art of Being Normal

transgenderSchwule und lesbische Geschichten bespreche ich hier  ja in einer gewissen Regelmäßigkeit, doch sexuelle Identität geht bekanntlich weit über Homo- und Heterosexualität hinaus. Transgender ist seit Caitlyn Jenners öffentlichen Auftritten im vergangenen Jahr mal wieder das aktuelle „Skandalthema“, über das die im Schubladendenken geschulte Welt nur schwer hinwegzukommen scheint.

Lisa Williamsons Roman Zusammen werden wir leuchten, in der Übersetzung von Angelika Eisold Viebig, kommt da genau richtig, um die Vielfältigkeit und Buntheit des Lebens zu feiern.
Sie erzählt vom 14-jährigen David, der, seit er acht ist, sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Mädchen zu sein. Noch hat er es nicht gewagt, seinen Eltern davon zu erzählen. Seine Wünsche und Ängste schreibt er in ein Notizbuch. Dort vermerkt er auch seine körperlichen Veränderungen, die ihn mehr und mehr zum Jungen machen. Ihm läuft ein bisschen die Zeit davon, wenn er den Hormonschub der Pubertät aufhalten will. Zwar wissen seine beiden besten Freunde Essie und Felix, die Bescheid, die können ihm aber nicht helfen.
Als David eines Tages in der Schule übel gemobbt wird, schreitet der neue Schüler Leo schlagkräftig ein und kommt David zu Hilfe. Leo, der aus einer sozial schwachen Familie stammt, hat die Schule gewechselt. Über die Gründe zerreißen sich die Schüler unentwegt das Maul. Doch an Leo scheint alles abzuprallen. Nach und nach kommen sich David und Leo näher und brechen schließlich zu einem Wochenende auf, das für beide die entscheidende Wendung in ihren Leben bringen wird.

Williamson erzählt die Geschichte der Jungs jeweils aus den Perspektiven von David und Leo, so dass man als Leser immer ganz dicht bei den Gefühlen, der Sicht auf sich selbst und dem jeweiligen Wissensstand ist. So baut sich nicht nur Spannung auf, sondern auch ein hohes Maß an Mitgefühl, anfangs vor allem für David, später auch für Leo. Man kann Davids Wunsch, ein Mädchen zu sein, so gut nachvollziehen, ohne dass Williamson über genetische oder soziale Gründe für diesen Wunsch referieren muss. Diese Gründe und auch die später notwendigen medizinisch-chirurgischen Maßnahmen klammert sie völlig aus. Denn sie sind unerheblich.
Hier geht es zunächst nur darum, wie sich der Held/die Heldin selbst sieht, empfindet und wie sie/er leben möchte. Das gilt es zu respektieren. Die spätere physische Umsetzung kann heute von kompetenter Seite begleitet werden, nur die Vorurteile der Gesellschaft, die Sensationslust der Menschen, ihre Häme und ihre Gewalt gegenüber Transgendermenschen kann leider noch nicht so kompetent beseitigt werden. Dieses Buch jedoch kann ein Schritt zu mehr Verständnis sein.

Der Blick auf den englischen Titel legt dabei, viel schöner als der deutsche, die Message ganz klar fest: The Art of Being Normal lautet er. Ich frage mich, warum er nicht ansatzweise übernommen wurde. Denn genau darum geht es doch, eine wie auch immer geartete Normalität für Transgendermenschen zu schaffen, ihnen den Leidensdruck zu nehmen, Vorurteile abzubauen und die vermeintliche Normalität der anderen auf ihren Platz zu verweisen.

Lisa Williamson: Zusammen werden wir leuchten, Übersetzung: Angelika Eisold Viebig, Fischer TB,  2015, 384 Seiten,  ab 14, 12,99 Euro

Es begab sich aber zu der Zeit …

adventNeulich durfte ich im Hamburger Literaturhaus eine ganz besondere Lesung erleben. In der Reihe „Spaß mit Büchern“ las Autorin Ilona Einwohlt aus ihrem neuen Kinderbuch Advent, Advent, die Bude brennt vor etwa 60 Erst- und Zweitklässlern.
Wer jetzt denkt, dass das eine ohrenbetäubende Veranstaltung gewesen sein muss, kennt Hamburger Schulkinder nicht. Aufmerksam, gespannt schauend, mitfiebernd lauschten sie Ilona Einwohlt, die von Lucas nervenaufreibenden Erlebnissen in der Vorweihnachtszeit berichtete.

Beim 10-jährigen Erzähler geht es nämlich alles andere als besinnlich zu. Lucas chaotische Mutter, die nach der Trennung vom Mann, endlich mal alles richtig machen möchte, fackelt aus reiner Schusseligkeit die Wohnung ab. Hochschwanger muss sie sich nun mit Luca und seiner großen Schwester sowie dem fast federlosen Papagei Bruder Jakob, der sämtliche Weihnachtslieder trällern kann, auf die Suche nach einer Unterkunft machen. Im Nobelhotel fühlen die drei sich allerdings nicht besonders wohl, bei Mamas Freundin Maria ist es zu eng, bei der Oma zu laut, bei der Tante zu aufgeräumt. Ein rundlicher Taxifahrer, der – hohoho – ganz erstaunlich an den Weihnachtsmann erinnert, fährt die Familie von einer Unterkunft in die nächste. Doch schließlich finden Lucas muslimische Freunde Mayla und Ibi eine Lösung, wo die Wohnungslosen unterkommen können …

Ilona Einwohlts Adventsgeschichte ist ein großer Spaß, inhaltlich wie sprachlich. Sie vereint alle Ingredienzien, die christlich geprägte Menschen aus der biblischen Weihnachtsgeschichte kennen: eine Hochschwangere, die Suche nach einer Unterkunft, wenig christliche Mitmenschen. Dass die Rettung von muslimischer Seite kommt, ist in unseren schwierigen Zeiten mit unzähligen Flüchtlingen und immer noch andauernden und anwachsenden Ressentiments und Vorurteilen ein wichtiges Zeichen.
Für die Kinder im Roman ist es  – ganz im Sinne Lessings  – völlig unerheblich, welcher Religion man angehört. Ibi formuliert es so: „Mayla denkt, sie muss sich zwischen Allah und Gott entscheiden […]. Erklär du ihr mal, dass der ein und derselbe ist und dass es völlig egal ist, zu wem sie betet. Hauptsache, sie glaubt an irgendwen.“ Klarer kann man die Verbindung von Christentum und Islam wohl kaum auf den Punkt bringen.

Die Kinder im Literaturhaus waren eine multikulturell-globalisierte Truppe, die diese Sätze mit aller Selbstverständlichkeit und Lässigkeit akzeptierten. Von Aufregung oder Unverständnis keine Spur. Die Freundschaft zwischen Luca, Mayla und Ibi im Roman ist wichtiger als jede kleinkrämerische Unterscheidung, wer Weihnachten feiern kann, darf oder nicht. Sie feiern. Alle. Und zwar zusammen. Und genau das sollten auch die Erwachsenen. Die Kinder machen vor, wie einfach das ist.

Ilona Einwohlts Advent, Advent, die Bude brennt hat für mich das Zeug zum weihnachtlichen Dauerbre … äh … Longseller.

Ilona Einwohlt: Advent, Advent, die Bude brennt. Die Weihnachtsgeschichte nach Luca, Illustration: Tine Schulz, Klett Kinderbuch Verlag, 2015, 128 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

[Gastrezension] Manege frei

trickDie Faszination für den Zirkus hat sich mir nie erschlossen: Rämtamtam-Musike, Tiere, die in nicht artgerechter Umgebung gezwungen werden, alberne Kunststückchen zu vollführen und vor allem eine der Schlüsselfiguren dieser Welt liegen mir gar nicht. Das hat weniger mit einer ausgewachsenen Coulrophobie – also der Angst vor Clowns zu tun – als eher mit der Abneigung, etwas lustig zu finden, was bestenfalls über Schadenfreude funktioniert und ansonsten überhaupt nicht komisch, sondern nur lachhaft ist.

Nina Wegers neues Kinderbuch, Trick 347 oder Der mutigste Junge der Welt, ist also auf den ersten Blick und den Klappentext hin vielleicht nicht mein Ding. Aber dennoch hat mich die Geschichte des elfjährigen Tom, der seinen Vater sucht und eine famose Familie unter dem sternenübersäten Himmel des Chapiteaus, des Zirkuszelts, findet, von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt.

Tom lebt in München mit seiner liebevollen und patenten Mutter, einer Geologin. Aber bei Fragen nach seinem Vater reagiert sie so vage und emotional, dass er das Thema lieber nicht mehr anspricht. Nur soviel verrät sie: Er sei Artist gewesen und vor Toms Geburt bei einem Unfall gestorben.

Doch dann reißt ein Anruf die beiden aus ihrem harmonischen, unspektakulären Alltag: Toms Großvater, den er nie kennengelernt hat und mit dem seine Mutter schon lange nicht mehr spricht, liegt im Sterben. Kurze Zeit später zieht Tom bei seiner Großmutter in Hannover ein, seine Mutter geht auf Forschungsreise in die Arktis – und Tom findet in einer der Umzugskisten eine alte Eintrittskarte für den Zirkus Merlini, der mittlerweile auf einer Brachfläche in Hannover residiert. Als Tom, der ein begabter Turner ist, versucht, dort mehr über seinen Vater herauszufinden, gerät er mitten in eine üble Intrige, mit der ein fieser Immobilienmakler die Artisten von dem Grundstück, das für viele auch ein Zuhause ist, vertreiben will. Tom setzt mit neugefundenen Freunden und außergewöhnlichen Mitstreitern alles daran, den Zirkus zu retten. Dass sich dabei manches zu wohlgefällig löst, stört nicht, immerhin ist es ein Kinderbuch. Die nüchterne Realität der Erwachsenenwelt greift früh genug.

Dabei bedient Nina Weger, die auch den Kinderzirkus Giovanni leitet, nie irgendwelche Klischees. Nach dem Abitur ist die Autorin selbst ein Jahr lang als Seiltänzerin mit einem Zirkus im eigenen Wagen durch die Lande getingelt und man merkt: Sie weiß, worüber sie schreibt, nicht nur bei den anschaulich und mit viel Sachverstand beschriebenen Kunststücken. Sie beginnt Toms Geschichte sogar mit der nüchternen Kehrseite des Artistenlebens: die ständige Gefahr von Unfällen, die das Ende der Karriere bedeuten; Zeiten ohne Engagement, wenn die Zirkusleute nur mit Mühe über die Runden kommen; Eifersüchteleien, Konkurrenzkampf und die alltäglichen Vorurteile, denen das fahrende Volk begegnet.

Nach und nach aber tauchen wir mit Tom in eine ganz besondere Gemeinschaft von exzentrischen und meist erst auf den zweiten Blick sehr liebenswerten Menschen und (Überlebens-)Künstlern ein. Trick 347 verbindet höchst raffiniert gegenwärtige Themen wie Gentrifizierung und eiskalte Profitsucht, Depression und gestörte Kommunikation mit der Magie der Manege. Zum Zauber des Zirkus gehören tolle Kunststücke und atemberaubende Artistik, Glitter und der Duft von Sägespänen. Das wirklich Faszinierende aber ist die zusammengewürfelte Zirkusfamilie selbst, die Tom seine größte Angst überwinden lässt und jedem Einzelnen das Unmögliche möglich macht. Nicht zuletzt ist dieses Buch bis zur letzten Seite superspannend und grandios geschrieben. Echt magisch!

Elke von Berkholz

Nina Weger: Trick 347 oder Der mutigste Junge der Welt, Verlag Friedrich Oetinger, 320 Seiten, 12,99 Euro, ab 10 Jahren

[Gastrezension] Auf der Suche nach dem Vater

„Hugo wusste ja gar nicht, dass er Vater war. Plötzlich tat er mir leid, denn eigentlich war es wie bei Hunden. Wenn man einen kleinen Hund bekam, musste man ihm beibringen, dass er nicht drinnen pinkeln durfte und ordentlich an der Leine laufen musste. Genauso mussten Väter viel lernen. Sie durften nicht auf der Straße singen, nicht komisch mit der Kellnerin rumscherzen und keine doofen Klamotten tragen“, überlegt der zehnjährige Samuel, der in den Ferien einem Mädchen hilft, ihren Vater kennenzulernen. Eine erfrischende Neuinterpretation des alten Spruchs „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr“ ist diese wunderbar seltsame Woche mit Tess. Und ebenso der furiose Roman Fünf Dinge, die ich über meinen Vater weiß. In diesen zwei Büchern, übrigens beide von jungen Niederländerinnen geschrieben, suchen Mädchen nach ihren Vätern – ein klassisches Thema, das in Zeiten moderner Familienstrukturen und Lebensformen spannend und herzzerreißend schön erzählt wird.

So weiß Kiki njongmanur fünf Dinge über ihren Vater, genau genommen nicht mal die mit Sicherheit, da sie lediglich auf vagen Erinnerungen ihrer Mutter beruhen. Weil das der 14-Jährigen aber nicht reicht, macht sie sich mit ihrer besten Freundin Lottie, einer begnadeten Zeichnerin aus einer glücklichen Familie, auf die Suche, nach dem Mann, der mehr sein soll als nur ihr Erzeuger. Außerdem hilft ihr Wieger, Exfreund der Mutter, der lange liebevoller Ersatzpapa war, jetzt aber eine eigene Familie und dementsprechend weniger Zeit hat.

Bassist soll Kikis biologischer Vater gewesen sein, und so sammeln die Mädchen Merkmale von bassspielenden Bandmusikern für ein Porträt. Dabei lernen sie die unterschiedlichsten Typen kennen, treten in einige Fettnäpfchen, gewinnen bleibende Eindrücke unter Alkohol, werden nach einem Einbruch verhaftet und stellen ihre Freundschaft auf eine harte Probe. Kiki erzählt flott in raffinierten Zeitsprüngen, mit viel Wortwitz und Selbstironie. Nebenbei spielt Mary Shelleys Roman Frankenstein eine Rolle, selten wurde der Stoff so charmant und mit soviel Sympathie für das Monster adaptiert.

Kiki hat mitreißende Ideen, ist schlau, etwas schräg, manchmal überschießend und ganz schön mutig. So eine Tochter lässt sich nicht mit vermeintlich harmlosen Lügen abspeisen, die in Wahrheit mehr ihrer immer noch ziemlich jungen Mutter helfen.
In 5 Dinge, die ich über meinen Vater weiß von Mariken Jongman krachen Mütter und Töchter mehrfach heftig aufeinander, denn auch Kikis Mama ist mit ihrer Mutter nicht im Reinen. Jahrelang schwelen Streitereien, wie sie wahrscheinlich nur zwischen starken Müttern und selbstbewussten Töchtern ausgetragen werden. Und immer wollen die Älteren nur das Beste für ihre Kinder. Aber die wollen und müssen das für sich selbst entdecken. Und so findet Kiki bei der Suche nach ihrem Vater auch ganz viele andere Dinge heraus – und schließlich ihre eigene, eigenartige, ebenso liebenswerte wie liebevolle Familie.

woltzDass man nicht selbst auf der Suche nach seinem Vater sein muss, um vieles über sich und die eigene Familie zu rauszufinden, erfährt Samuel, als er Tess begegnet. Im Roman Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess von Anna Woltz trifft der grüblerische Zehnjährige, von seinem älteren Bruder gehässig „Professor“ genannt,  das nur ein Jahr ältere, aber gut einen Kopf größere Mädchen in den Ferien auf der niederländischen Insel Texel. Und kaum hat sie ein paar merkwürdige Fragen auf ihn abgefeuert, übt sie auch schon Walzer mit ihm – denn „der Rest meines Lebens hängt davon ab“, sagt Tess. Ihre burschikose, selbstbewusste Mutter meint zwar, auf Männer könne man gut verzichten, trotzdem hat Tess ihren Vater durch schlaue Recherchen ausfindig gemacht und nun auf die Insel gelockt, ohne ihm zu verraten, dass sie seine Tochter ist. Sie will ihn erst kennenlernen und dann entscheiden.

Samuel ist eigentlich zu verkopft für soviel Spontanität. Außerdem übt er gerade, sich gegen Gefühle abzuhärten, um nicht vom Kummer überwältigt zu werden, wenn jemand Geliebtes stirbt. Die Beerdigung des Vaters einer Klassenkameradin hat ihn dazu gebracht. Ganz anders Tess, die ein Feuerwerk unterschiedlichster Emotionen ist, für Samuel ebenso faszinierend wie rätselhaft. Sie konfrontiert ihn auch erstmals mit einem feministischen Dilemma: Zum Beispiel ist Tess überzeugt, dass Frauen sich zu oft entschuldigen, und lässt es folglich bleiben, obwohl ihr tollkühner Plan auch mal schiefgeht und sie Samuels Hilfe braucht.

Samuel ist ein exzellenter Beobachter, trotzdem kann er sich nicht auf alles einen Reim machen. Aber wer so tolle, treffende Begriffe wie Dünenkaninchen und Schienbeinmuskelkater in einem Zusammenhang verwendet, versteht und erlebt mehr als andere. Diese Ferienwoche ist spannend, abenteuerlich, verrückt, lustig, kurios und philosophisch. Regine Kehns mal prägnante, mal leicht versponnene Bilder untermalen das sehr schön. Seltsam? Vielleicht. Wunderbar? Definitiv! Wie Tess’ funkelnde Pünktchenaugen.

Elke von Berkholz

Mariken Jongman: 5 Dinge, die ich über meinen Vater weiß, Übersetzung: Birgit Erdmann, Carlsen, 2015, 252 Seiten, ab 14, 10,99 Euro

Anna Woltz: Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Illustrationen: Regina Kehn, Carlsen, 2015, 176 Seiten, ab 10, 10,99 Euro

 

 

[Jugendrezension] Der Zauber von Istanbul

eveIn dem Buch Aprikosensommer von Deniz Selek geht es um das 16-jährige Mädchen Evelyn, die aktuell ganz schön viele Probleme gleichzeitig hat. Ihr Freund macht Schluss, sie schneidet sich fast einen Finger ab und vor allem weigert sich ihre Mutter immer noch, ihr zu verraten, wer ihr Vater ist.

Doch mit dieser Geheimnistuerei soll nun endlich Schluss sein. Eve redet so lange auf ihre Mutter ein, bis diese ihr alle ihre brennenden Fragen beantwortet. Nachdem sie endlich Antworten erhalten hat, ist sie Feuer und Flamme und will möglichst schnell ihren Vater ausfindig machen. Leider muss Eves Mutter ihren Eifer bremsen, denn sie selbst hat bereits vergeblich versucht, den Mann ausfindig zu machen. Am Ende vieler Diskussionen gelingt es Eve, ihre Mutter zu überreden, doch noch weitere Maßnahmen zur Auffindung von ihrem Vater zu ergreifen. Alles, was die beiden zu diesem Zeitpunkt wissen, sind sein Name und der Ort, wo er lebt – Istanbul. Mutter und Tochter ergreifen jeden kleinsten Strohhalm, um ihn zu finden, selbst einen Privatdetektiv beauftragen sie mit der Suche nach ihm.
Der Detektiv liefert ihnen einen guten Hinweis, aufgrund dessen sie dann in Richtung Istanbul aufbrechen. Hier finden Eve und ihre Mutter einiges Interessantes heraus, doch um was es sich hierbei handelt und ob Eve ihren Vater noch kennenlernen wird, musst du schon selbst herausfinden…

Mir gefällt Aprikosensommer sehr gut. Besonders der Titel und das Buchcover haben mich gleich angesprochen. Zwar hatte ich am Anfang ein paar Schwierigkeiten in die Geschichte einzusteigen, doch beim zweiten Anlauf konnte ich mich im Verlauf der Handlung kaum noch losreißen, in der Hoffnung, dass Eve ihren Vater noch findet. Nebenbei bemerkt ist das Buch sehr gut geschrieben und der Leser erfährt auch noch einiges über die Stadt Istanbul.

Ich empfehle das Buch Mädchen zwischen 11 und 14 Jahren. Außerdem ist Aprikosensommer sicher interessant für alle Leser, die Istanbul kennen und mögen oder dieses Stadt gern einmal kennenlernen möchten. Auch Lesern, die eine Familiensituation kennen, die der von Eve ähnelt, dürfte Aprikosensommer gut gefallen.

Bücherwurm (12)

Deniz Selek: AprikosensommerFISCHER Kinder- und Jugendtaschenbuch, 2015,  288 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Die ganz große Liebe

vater 1vater 2vater 3Wenn ich so überlege, wo meine Leidenschaft für Bildergeschichten, Comics und Graphic Novels herrührt, gibt es eigentlich nur eine Antwort: von Vater und Sohn von E.O. Plauen.

Die Sammlung der Zeitungsstrips standen bei meinen Eltern im Regal im Wohnzimmer, und es gab für mich nichts Schöneres, als sie auf dem Teppich liegend anzuschauen, drei schmale Büchlein mit lustigen Bildergeschichten. Das war vor fast 40 Jahren. Jetzt hat der Südverlag diese Schätze wieder neu aufgelegt. Und ich schwelge in diesen hintersinnigen und auf den Punkt gebrachten Erlebnissen von Vater und Sohn.

Sie feiern Geburtstag, spielen Schach, gehen in den Zoo, rauchen Pfeife, helfen einander, jagen einander, erziehen einander, lesen gemeinsam, verteidigen sich gegen Fremde, Einbrecher und Lehrer, schummeln und beschenken sich, weinen zusammen, erben Reichtümer und landen auf einer einsamen Insel. Es sind alltägliche Situationen, die E.O.Plauen ab dem 13. Dezember 1934, also vor genau 80 Jahren, in der Berliner Illustrirten veröffentlicht hat. Doch hinter dem Alltäglichen steckt im Komischen das Subversive, das gegen Spießertum und absurde Regeln aufbegehrt. Und es steckt Liebe, jede Menge Liebe, in den Strips. Die Liebe vom Vater für den Sohn, vom Sohn für den Vater. Auch wenn es in der Tradition der schwarzen Pädagogik mal Prügel setzt, so setzt es die nicht nur für den Sohn, sondern auch für den Vater.
Was auf jeden Fall jedoch überwiegt, ist der Spaß, den beide miteinander haben. Sie beweisen auch in scheinbar aussichtslosen Situationen, dass es Lösungen gibt. Und darin sind diese Strips einfach zeitlos.

In ihrer Kürze – meist braucht E.O. Plauen nur vier bis neun Panels, um eine Geschichte zu erzählen – und in ihrem schnörkellosen Strich gleichen sie kurzen Gedichten, die einem die Welt eröffnen. Ist das Lachen und Schmunzeln vergangen, kommt die Erkenntnis und das Nachdenken, darüber, wie die Welt vielleicht sein sein sollte und wie die Beziehung von Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Sohn und Mutter, Tochter und Vater, Eltern und Kindern, Kindern und Eltern.
E.O. Plauen zeigt es eindrücklich und voller Liebe.

E. O. Plauen: Vater und Sohn. Band 1-3
50 Streiche und Abenteuer 

Noch 50 Streiche und Abenteuer
Die letzten 50 Streiche und Abenteuer
Südverlag, 2014, je 112 Seiten, je 12 Euro

Tradition, Freundschaft und die Liebe zum Kaninchen

kaninchenKinder brauchen Kaninchen … oder ein anderes Haustier. Denn das gehört zum Großwerden einfach dazu. Zu dieser Überzeugung kommt man, wenn man Boris Kochs neuen Roman Das Kaninchen-Rennen gelesen hat. Am liebsten wäre ich noch mal Kind und würde ein Kaninchen verliehen bekommen.

So wie der zehnjährige Tim aus Niederrhode. In seinem Dorf gibt es nämlich die jahrhundertealte Tradition des Kaninchen-Rennens. Jedes zehnjährige Kind im Dorf bekommt ein Kaninchen anvertraut, das es trainieren muss, um ein halbes Jahr später zu einem Rennen anzutreten. Die Kaninchen werden verlost. Kurz zuvor können die Kinder die Tiere begutachten und sich einen Favoriten aussuchen. Tim jedoch kommt zu spät, so wie er immer und überall zu spät kommt, und erhascht nur noch einen kurzen Blick auf Kaninchen Nummer 13, das ihn mit frechen Augen anschaut. Als er das Kaninchen tatsächlich verliehen bekommt, erlebt er eine Überraschung: Sein Kaninchen hat nur drei Beine. Das Rennen scheint für Tim gelaufen … zumal seine Mitschüler und das ganze Dorf sich nun gegen ihn stellen, hat doch schon sein verstorbener Vater vor vielen Jahren vor dem Kaninchen-Rennen gekniffen. Wie der Vater so der Sohn, scheint es …

Boris Koch erschafft den liebens- und gleichzeitig manchmal hassenswerten Kosmos eines Dorfes, in dem jeder jeden kennt, Traditionen hochgehalten werden, Zugezogene und Außenseiter schräg angeschaut werden, Freundschaften zerbrechen, sich neue beste Freunde zusammentun und Herausforderungen angenommen werden. Mehr kann man hier fast kaum erzählen, ohne die Geschichte zu spoilern. Nur so viel: Tim erlebt jede Menge Hochs und Tiefs, Wendungen und Überraschungen auf dem Weg zum Kaninchen-Rennen. Und muss sich mit seinen Mitmenschen auf allen Ebenen des Lebens auseinandersetzen: mit den fiesen Mitschülern, dem enttäuschten Opa, den guten Kumpels und einem außergewöhnlichen Helfer. Die unerschütterliche Liebe zu seinem dreibeinigen Kaninchen wird in dem ganzen Chaos zu einer hilfreichen Konstante.

Tims Abenteuer wandelt sich von einer anfänglichen Tragikkomödie zur Lebensprüfung und das in einem locker leichten Erzählstil, bei dem das Lesen einfach Spaß macht, sich die Laune hebt und der richtig gut unterhält, weil Koch in der Perspektive von Tim bleibt und nicht den erhobenen Zeigefinger kreisen lässt. Tim wird zur Identifikationsfigur, zum Kumpel, zum Vorbild, zu einem, mit dem man sofort in den Kaninchenstall rennen will und sich gemeinsam, unerschrocken dem Leben stellt. Fabelhaft!

Boris Koch: Das Kaninchen-Rennen, Heyne fliegt, 2014, 336 Seiten,  ab 10, 12,99 Euro

Jedem Ende wohnt ein Maulzauber inne

maulina 3Nein, man möchte das nicht. Dass es vorbei ist. Mit Maulinas Mama und mit dieser Geschichte. Man wünscht Maulina ein maultastisches Happy End. Und man möchte unbedingt und auf jeden Fall wissen, wie es mit Maulina weitergeht. Aber irgendwann hat alles ein Ende. Jetzt ist der letzte Teil von Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt von Finn-Ole Heinrich erschienen. Man weint nicht nur, weil darin Maulinas Mama schließlich wirklich stirbt.

Noch ein drittes Mal erzählt Maulina von ihrem Leben in Plastikhausen, ihrer kranken Mama, die immer schwächer wird, von ihrem Freund Paul und dessen Hund Kurt, vom General für Käse und dem Maulzauber. Das Leben schreitet voran, unerbittlich, und doch auch zauberhaft, liebens- und lebenswert. Maulina redet wieder mit dem Mann. Dieser ist mittlerweile zum zweiten Mal Vater geworden, von den Zwillingen Theo und Ron. Nur deren Mutter, der „Flamingo“, raubt Maulina noch den letzten Nerv.
Aus dem Dachboden über Mauldawien hat Maulina Maultropolis gemacht und baut dort ein Museum für Mama, in dem sie alle möglichen Erinnerungsstücke – vom Schal bis zur Haarlocke – sammelt.
Bei allen Veränderungen, den guten, wie den schlechten, steht Paul ihr rührend und unerschütterlich zur Seite, ebenso wie Ludmilla und der General für Käse. Maulina verliert ihre Mama, und das ist an Traurigkeit nicht zu überbieten. Aber sie kann auf ein dichtes Netz an Menschen zählen, die ihr Halt geben.

Maulinas Schicksal wünscht man keinem Kind, egal, wie alte es ist. Und doch genau diese Dinge passieren. Täglich. Und als Erwachsener steht man da und fragt sich, wie Trost möglich sein kann. Finn-Ole Heinrich zeigt eine mögliche Art von Trost und Trauer: erinnern, feiern, maulen. Das hört sich hier vielleicht ziemlich schräg an, aber so wie Heinrich das Maulina erzählen lässt, überzeugt es sofort. Jedenfalls mich.

Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt finden mit Ende des Universums ein würdiges Ende. Das geht allerdings nicht ohne Tränen. Das Herz scheint zu reißen, gleichzeitig ist es erfrischt und hoffnungsfroh. Maulina – das ist mal klar – vergisst man nicht so schnell, dafür vermisst man sie bereits, sobald die letzte Seite gelesen ist.

Bleibt nur noch zu sagen, dass die Illus von Rán Flygenring wieder einmal ganz wunderbare Ergänzungen, Leckerbissen und Schauzeug bieten. Und die liefern bei all der Trauer und Schwere die richtige Portion an visueller Leichtigkeit.

Finn-Ole Heinrich: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Das Ende des Universums, Illustrationen: Rán Flygenring, Hanser Verlag, 2014, 192 Seiten, 12,90 Euro

[Jugendrezension] Auf der Suche

boyneDas Buch des irischen Autors John Boyne So fern wie nah handelt von dem zu Beginn kleinen Jungen Alfie, an dessen fünftem Geburtstag der erste Weltkrieg ausbricht. Sein Vater Georgie verspricht, nicht in den Krieg zu ziehen – und bricht dieses Versprechen gleich am nächsten Tag.

Vier Jahre später liest Alfie jeden Tag die Zeitung durch, auf der Such nach einer Meldung über seinen Vater, weil dieser seit längerer Zeit keine Briefe mehr geschrieben hat. Aber Alfie findet nichts: zum Glück, denn in der Zeitung stehen nur die Namen der Gefallenen und Verletzten.
Inzwischen arbeitet seine Mutter als Krankenpflegerin. Da sie aber nicht genug Geld verdient, arbeitet Alfie heimlich als Schuhputzer am Londoner Bahnhof King´s Cross. Einen Teil des Geldes gibt er seiner Mutter, den anderen Teil muss er für neue Schuhputzmittel ausgeben, denn der Vorrat in seiner Schuhputzkiste reicht nicht lange. Weil er jeden Tag junge Männer sieht, die in den Krieg ziehen – es ist inzwischen Pflicht, mit 18 Jahren Kriegsdienst zu leisten –, wird er oft an seinen Vater erinnert. Eine ganze Weile putzt er die Schuhe der Leute, bis der Name seines Vaters in der Zeitung unter den Verletzten steht. Am nächsten Tag hört Alfie zufällig am Bahnhof ein Gespräch zwischen seiner Mutter und einem Mann, in dem er erfährt, in welchem Krankenhaus sein Vater liegt: Er hat einen so genannten Granatenschock erlitten. Alfie fährt in dieses Krankenhaus, und ihm passiert nun Einiges, was ihn denken lässt, das Krankenhaus sei schlecht. Er findet seinen Vater schließlich bei den psychisch Geschädigten, wird aber nach so langer Zeit von diesem nicht erkannt. Als Alfie wieder zu Hause ist, beschließt er, seinen Vater dort herauszuholen …

Das Buch ist sehr ernst, daher ist es überhaupt nicht für Menschen geeignet, die gerne Witziges mögen. Es ist spannend und bewegend erzählt, sodass man über all die Jahre mit Alfie, der vom Kind zum Jungen wird, mitfiebert.

Ich empfehle das Buch von 10 Jahren an. Für Jüngere ist es sowohl wegen des Themas Krieg als auch wegen der Zusammenhänge, die sich beim Lesen manchmal erst hinterher ergeben, ziemlich schwer begreifbar.

Lector03 (11)

John Boyne: So fern wie nah, Übersetzung: Brigitte Jakobeit/Martina Tichy, Fischer KJB, 2014, 256 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

 

Irrfahrt ins Leben

babyTeenage-Mütter sind mittlerweile ein fester Bestandteil von Literatur, Film und TV-Formaten. Teenage-Väter hingegen kommen zumeist nur am Rande vor, wenn überhaupt.
Einen Kontrapunkt setzt nun der junge Amerikaner Emil Ostrovski mit seinem packenden Romandebüt Wo ein bisschen Zeit ist …, ins Deutsche gebracht von Thomas Gunkel.

An seinem achtzehnten Geburtstag erhält Jack einen Anruf von seiner Ex-Freundin Jess, gerade als er sich mit dem Gedanken trägt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sie bekomme gleich einen Sohn, den sie zur Adoption freigeben wird. Jack eilt zu ihr ins Krankenhaus, und als er seinen Sohn dann mal halten darf, brennt bei ihm so etwas wie ein Sicherung durch – vielleicht könnte man es auch den Ausbruch von ersten Vatergefühlen nennen – jedenfalls nimmt Jack das Baby einfach mit. Er will es nicht sofort den Adoptiveltern übergeben. Warum weiß er eigentlich auch nicht.
Es folgt eine Odyssee durch ein Kleinstadt-Amerika. Jack fängt dabei an, seinem Sohn, den er kurzerhand Sokrates kauft, das Leben und die Philosophie zu erklären. Er erzählt von Troja, der Unendlichkeit, zweifelt am freien Willen.
Da Jack mit dem Baby aber allein nicht wirklich weiterkommt, holt er seinen besten Freund Tommy dazu, später auch noch Jess. Gemeinsam flüchten sie vor der Polizei, kämpfen mit einem nur Deutsch sprechenden Navi, „leihen“ sich eine Yacht, werden seekrank und fahren  zu Jacks uralten, dementen Oma, um ihr den Urenkel vorzustellen. Jack besteht darauf, fühlt es sich so doch wie eine Verabschiedung von Oma und Sohn an.

Ostrovskis Roman ist eine Geschichte, die auf verschiedenen Ebenen berührt. Ein leicht depressiver Jugendlicher schnappt sich einen Neugeborenen, ohne zu wissen, welche Bedürfnisse dieser kleine Mensch eigentlich hat. Als Leser leidet man auf der Stelle mit dem Baby mit, ist es doch den Launen seines unerfahrenen Vaters ausgesetzt ist. Doch Jack wächst mit seinen Aufgaben, besorgt Windeln, Strampler, Babymilch, Kindersitz …
Neben dem Mitgefühl für das Baby reizen Jacks Trotteligkeit und die Situationskomik die Lachmuskeln. Seine philosophischen Monologe mit Sokrates liefern zusätzlichen Input, der nachdenklich macht und anregt, über das Leben an sich, Bindungen, Liebe, Freundschaft, Geburt und Tod nachzusinnen. Drunter macht es Ostrovski nicht.
Und das macht er leichtfüßig und charmant, auch Dank der Übersetzung von Thomas Dunkel. All dies erspart dem Leser jedoch eine erneute Lektüre nicht, denn die philosophischen Gedankengänge haben es in sich und können wieder und wieder gelesen werden. Hier findet (vermutlich) jeder etwas für seine ganz persönliche Lebenssituation. Aber das ist ja das Großartige an der Philosophie, so kompliziert sie erscheint, so bereichernd ist sie – für jeden. Und genau das gilt für diese oberflächlich betrachtet komische Vater-Sohn-Geschichte: In der Tiefe des Textes findet man das, was unser Dasein lebens- und liebenswert macht – nämlich die vielfältigen Beziehung zu anderen Menschen, seien es die Eltern, Großeltern, Kinder, Freunde oder Partner.

Mit dieser jugendlich-philosophischen Irrfahrt feiert Ostrovski  das Leben auf allerschönste Art.

Emil Ostrovski: Wo ein bisschen Zeit ist …, Übersetzung: Thomas Gunkel, Fischer FJB, 2014, 304 Seiten, 16,99 Euro

 

[Jugendrezension] Von Gut und Böse

mörderEin Haus am Ende der Welt. Nur umgeben von Felsen und Klippen. Keiner kommt zufällig zu diesem abgelegenen Ort am südlichen Rand von Chile. Dort leben der Bauer Poloverdo, seine Frau und ihr Sohn Paolo. Das Leben hier ist grausam. Paolo wächst eher wie eine zähe Pflanze auf, denn als ein Mensch. Gefühle wie Liebe sind ihm fremd.

Genauso geht es dem Mörder Angel Alegría. Wieder einmal ist er auf der Flucht. Dann findet er das perfekte Versteck: ein Haus am Ende der Welt, umgeben nur von Felsen und Klippen. Das Einzige, was ihn stört, sind seine Bewohner. Ohne mit der Wimper zu zucken, schneidet Angel dem Mann und der Frau die Kehle durch. Doch plötzlich steht ein Kind vor ihm, verdreckt, unschuldig und furchtlos: Paolo. Da der Junge keine Gefahr für ihn darstellt, lässt Angel ihn leben.

Die Zeit vergeht, und langsam entwickelt sich eine Art Zuneigung zwischen dem Mörder und dem Kind. Angel spürt zum ersten Mal so etwas wie Verantwortung. Und Liebe. Ein Leben ohne Paolo kann er sich nicht mehr vorstellen.

Als der gebildete Luis auftaucht, kämpfen plötzlich zwei Männer um Paolos Zuneigung, und der Junge erlebt eine Art von Glück. Doch dieses Glück währt nicht ewig. Auch in einem Haus am Ende der Welt ist man nicht sicher vor der Vergangenheit.

Die beiden Hauptpersonen in dem Roman Der Mörder weinte von Anne-Laure Bondoux haben ein hartes Leben und sind vom Schicksal gestraft. Man freut sich mit ihnen, wenn sie zum ersten Mal Glück empfinden, doch man vermutet gleich, dass es nicht so weitergehen wird. Am liebsten würden die beiden ihr Glück packen und festhalten, doch es zerrinnt ihnen unter den Fingern.

Ich fand es faszinierend, wie sich eine Beziehung zwischen Angel und Paolo entwickelte und die beiden sich stetig veränderten. Anne-Laure Bondoux beschreibt es sensibel und mit viel Fingerspitzengefühl. Wunderschön, wie unter der rauen Schale Angels ein weicher Kern zum Vorschein kommt. Ein weicher, verletzbarer Kern, auf den schon der Titel hindeutet.

Am Beispiel von Angel sieht man, wie Menschen in die Kriminalität hineinrutschen, zu Mördern werden. Man fragt sich, was aus einem selbst würde, wenn man unter solchen Umständen aufwachsen müsste.

Natürlich ist es seltsam, dass ausgerechnet Angel, der Mörder von Paolos leiblichem Vaters, so etwas wie ein Vater für Paolo wird. Was aber weit hergeholt klingen mag, macht hier absolut Sinn. Angel tötet Paolos Eltern, aber er zieht Paolo auf und beschützt ihn, wahrscheinlich besser, als seine Eltern es je vermocht hätten. Vielleicht wäre Paolo sonst auch zu einem Mörder geworden. Die beiden retten sich gegenseitig in ihren trostlosen Schicksalen.

Welche Strafe hat Angel verdient? Ist er nur ein brutaler Mörder? Gut und Böse liegen für mich in dieser Geschichte sehr nah beieinander.

Juliane (15)

Anne-Laure Bondoux: Der Mörder weinte, Übersetzung: Maja von Vogel, Carlsen Verlag, 2014, 192 Seiten, ab 12, 14,90 Euro

Erblast

generationAuschwitz im Comic – seit Art Spiegelmans Maus wissen wir, dass das möglich und auch eine angebrachte Art ist, über den Holocaust zu erzählen. Nun hat sich ein weiterer Comic-Künstler diesem Thema gewidmet, der Israeli Michel Kichka.

In Zweite Generation erzählt er autobiografisch davon, wie das Schicksal seines Vaters, das Leben in der Familie und seine eigene Entwicklung beeinflusst hat.
Kichkas Vater wurde mit 19 Jahren in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt, überstand den Todesmarsch und erlebte später in Buchenwald den Tod des eigenen Vaters. Jahre später fährt er als Zeitzeuge mit Schulklassen immer wieder nach Auschwitz, erzählt von seinen Leiden und beantwortet die Fragen der Jugendlichen. Nur die Fragen des eigenen Sohnes bleiben seltsam ungehört und unbeantwortet. Und so stellt Kichka die eigene kindliche Verwunderung über die vermeintlichen Schrullen des Vaters dar, sein ständiges Genörgel, die Abwertung des Leidens anderer. Der junge Kichka liest alles über die Nazi-Zeit und die Lager, sucht auf den Fotos in Büchern und Zeitschriften nach seinem Vater (den er aber nicht findet).
Alles im Leben von Kichka scheint wie eine Wiedergutmachung für das Leid des Vaters zu sein. Alles im Leben der Familie scheint im übermächtigen Schatten des Holocaust zu stehen. Und doch macht sich Kichka in gewisser Weise frei davon, gründet seine eigene Familie, wird Karikaturist. Sein Bruder Charly kommt mit diesem Erbe jedoch nicht zurecht und bringt sich eines Tages um.

Das, was die Psychologie seit einigen Jahren immer weiter erforscht, illustriert Kichka hier sehr eindrucksvoll: Die Erlebnisse und Traumata der Eltern hinterlassen ihre Spuren auch in der nächsten Generation. Die Trauer über das erlittene Leid findet sich auch in den Kindern. Ist die Loslösung von den Eltern schon im Normalfall nicht immer ganz einfach, so ist es bei den Kindern von Holocaust-Opfern noch einmal schwieriger, können sie sich doch durchaus schuldig fühlen, nicht so gelitten zu haben wie Vater oder Mutter. Genau diesen Zwiespalt zeigt Kichka ins klaren Schwarzweiß-Panels.
Sein Strich ist typisch für Karikaturen – und so fehlt selbst hier ein gewisser Witz nicht, sei es in Form von Selbstironie oder Galgenhumor. Manchmal lacht man laut auf, hält inne und fragt sich sofort, ob man das in diesem Fall, bei diesem Thema darf. Doch dass man das in gewissen Fällen tatsächlich darf, hat der italienische Filmemacher Roberto Benigni mit Das Leben ist schön vor einigen Jahren bewiesen.

Kichka löst sich vom Schicksal seines Vaters auf die nachhaltigste aller Arten, indem er die Beziehung zu seinem Vater in diesem eindrücklichen und rührenden Comic verarbeitet und den Leser an all seinem Unbehagen, seinen Zweifeln, seiner Wut und Ablehnung und auch an seiner Trauer teilhaben lässt. So würdigt er nicht nur die Opfer von Auschwitz, sondern gibt auch der nachfolgenden Generation und deren Leid eine Stimme.

Michel Kichka: Zweite Generation. Was ich meinem Vater nie gesagt habe. Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Egmont Graphic Novel, 2014, 108 Seiten, 19,99 Euro