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Die Mädchen und das liebe Vieh

milchmaedchen„Das sind Kühe, keine Krokodile“, sagt Cowgirl spöttisch zu Gemma, die nach einer halsbrecherischen Schussfahrt vom Fahrrad geflogen ist und sich jetzt von einem Dutzend Wiederkäuer umgeben sieht. Aber Gemma ist nicht überzeugt und fürchtet sich vor den Tieren genauso wie vor ihrer groß gewachsenen Klassenkameradin, die eigentlich Kate heißt, von allen aber nur Cowgirl genannt wird. Blöde Kuh, denkt die 13-Jährige folgerichtig, als sie sich wieder auf den Sattel schwingt.

Cowgirl ist der Originaltitel des Romans. Und es passt perfekt zur burschikosen, selbstbewussten und reifer wirkenden, ebenfalls 13-Jährigen Kate. Trotzdem ist es gut, dass der Verlag Königskinder das Debüt des Walisers G. R. Gemin Milchmädchen genannt hat und dazu ein bildhübsches Mädchen mit Sommersprossen auf dem Umschlag zeigt, umrankt von rosa Kleeblüten. Das wirkt so friedlich, idyllisch und auch ein bisschen naiv und lebensuntauglich. Größer könnte der Kontrast nicht sein, denn das Leben der Mädchen in der Geschichte ist alles andere als rosig. Zudem funktioniert der Begriff Milchmädchen im Singular und Plural – raffiniert.

Gemmas Vater sitzt im Knast, ihre Mutter ist erschöpft von Alltag und Geldsorgen und ihr jüngerer Bruder Darren nervt. Sie leben in Wales, in dem heruntergekommenen Viertel Bryn Mawr (was „Brinn Maur“ gesprochen wird, mit gerollten R, und großer Hügel heißt) am Rand von Cardiff. Eine Mischung aus mehrstöckigen Sozialbauten und einfachen Einfamilienhäuschen mit kleinem Garten, von denen Gemmas Großmutter Lily eins bewohnt. Einbrüche, Diebstahl und Überfälle auf ältere Menschen, die ihre Rente abholen, sind Alltag; die Zeitungen berichten täglich und lakonisch. Deprimierende soziale Realität.

Cowgirl Kate lebt mit ihren Eltern auf einem kleinen Hof den Hügel hoch, mit nur noch einem Dutzend Kühen, die ihr Vater mangels Rentabilität und wegen der Schulden verkaufen will und muss. Aber Kate liebt die Kühe, sie ist Milchmädchen, Cowgirl, Kuhhirtin mit Leib und Seele. Noch immer leidet sie darunter, dass die einst 50-köpfige Herde wegen der Maul- und Klauenseuche vor einigen Jahren  gekeult werden musste, wie es zynisch in der Sprache der Massentierhaltung heißt. Später erzählt sie Gemma, dass sie nicht nur den schwarzen Fleck, wo die getöteten Tiere auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt worden waren, mit Entsetzen gesehen, sondern auch noch tagelang das verbrannte Fleisch gerochen hat. Sie will ihre Kühe, die natürlich alle Namen tragen, nicht verlieren. Also muss Kate sie in Sicherheit bringen.

Erzählerin Gemma wird ihre wichtigste und stärkste Verbündete. Verrückterweise wird alles von ihrer über 80-jährigen Oma angestoßen, die nach dem Tod ihres räudigen Hundes zunächst todtraurig ist. Sie lernt Kate kennen und schließt das verschlossene und von allen anderen gemiedene Mädchen in ihr Herz, erst recht, als sich herausstellt, dass Oma Lily als junge Frau während des Krieges auf genau dem Hof, damals bei Kates geliebtem Großvater als Melkerin und Kuhhirtin ausgeholfen und beste Erinnerungen daran hat. Die Geschichte einer verwegenen Tierrettung nimmt so rasant Fahrt auf wie Gemma anfangs tollkühn abwärts gerast ist. „Die Ampel wurde grün. ,Na los, Mädels’, sagte ich und wir gingen über die Straße. Ich nickte einem wartenden Fahrer zu, als ob ich jeden Tag mit fünf Kühen die High Street überquerte.“ Am Ende beteiligt sich das gesamte Viertel Bryn Mawr.

Der in Cardiff als Sohn italienischer Einwanderer geborene G. R. Gemin hat eine bezaubernde und mitreißende Geschichte von zwei unglaublich mutigen Mädchen und ihrer wachsenden, wunderbaren Freundschaft geschrieben. Schonungslos beschreibt er im Kontrast dazu die Auswirkungen von Massentierhaltung, unser perverses Verhältnis zu Tieren und eine von Arbeits- und Perspektivlosigkeit zerrüttete Gesellschaft. Er zeigt aber auch, dass man noch etwas ändern – es zumindest versuchen – kann, und dass es manchmal noch Hoffnung gibt. Mit Gemmas Großmutter Lily hat er – neben diversen anderen – eine grandiose, total liebenswerte Figur erschaffen. Alles ist in einem erfrischenden, authentischen und lebendigen Ton erzählt. Gabriele Haefs hat die Geschichte ebenso spritzig und feinfühlig ins Deutsche übersetzt, mit ein paar netten Extras. So führt sie anfangs fünf walisische Begriffe und Namen mit Aussprache und Übersetzung an, was den Lesenden  die Gegend, in der der Roman spielt, näher bringt.

Am Ende reift die Erkenntnis: Kühe sind nicht nur keine Krokodile. Kühe sind auch keine Milchmaschinen, sondern empfindsame, individuelle Lebewesen. Und Darrens faszinierte Erklärung der Milchproduktion – „vorne kommt Gras rein und hinten kommt Milch raus“ – verdirbt einem Polizisten vorläufig die Lust auf seine morgendlichen Cornflakes. Kühe sind zudem keine Steaks auf vier Beinen, und die gemeinsame Sorge um das liebe Vieh schweißt schließlich auch die Menschen zusammen.

Elke von Berkholz

G.R. Gemin: Milchmädchen, Übersetzung: Gabriele Haefs, Königskinder, 2016, 272 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Irrfahrt ins Leben

babyTeenage-Mütter sind mittlerweile ein fester Bestandteil von Literatur, Film und TV-Formaten. Teenage-Väter hingegen kommen zumeist nur am Rande vor, wenn überhaupt.
Einen Kontrapunkt setzt nun der junge Amerikaner Emil Ostrovski mit seinem packenden Romandebüt Wo ein bisschen Zeit ist …, ins Deutsche gebracht von Thomas Gunkel.

An seinem achtzehnten Geburtstag erhält Jack einen Anruf von seiner Ex-Freundin Jess, gerade als er sich mit dem Gedanken trägt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sie bekomme gleich einen Sohn, den sie zur Adoption freigeben wird. Jack eilt zu ihr ins Krankenhaus, und als er seinen Sohn dann mal halten darf, brennt bei ihm so etwas wie ein Sicherung durch – vielleicht könnte man es auch den Ausbruch von ersten Vatergefühlen nennen – jedenfalls nimmt Jack das Baby einfach mit. Er will es nicht sofort den Adoptiveltern übergeben. Warum weiß er eigentlich auch nicht.
Es folgt eine Odyssee durch ein Kleinstadt-Amerika. Jack fängt dabei an, seinem Sohn, den er kurzerhand Sokrates kauft, das Leben und die Philosophie zu erklären. Er erzählt von Troja, der Unendlichkeit, zweifelt am freien Willen.
Da Jack mit dem Baby aber allein nicht wirklich weiterkommt, holt er seinen besten Freund Tommy dazu, später auch noch Jess. Gemeinsam flüchten sie vor der Polizei, kämpfen mit einem nur Deutsch sprechenden Navi, „leihen“ sich eine Yacht, werden seekrank und fahren  zu Jacks uralten, dementen Oma, um ihr den Urenkel vorzustellen. Jack besteht darauf, fühlt es sich so doch wie eine Verabschiedung von Oma und Sohn an.

Ostrovskis Roman ist eine Geschichte, die auf verschiedenen Ebenen berührt. Ein leicht depressiver Jugendlicher schnappt sich einen Neugeborenen, ohne zu wissen, welche Bedürfnisse dieser kleine Mensch eigentlich hat. Als Leser leidet man auf der Stelle mit dem Baby mit, ist es doch den Launen seines unerfahrenen Vaters ausgesetzt ist. Doch Jack wächst mit seinen Aufgaben, besorgt Windeln, Strampler, Babymilch, Kindersitz …
Neben dem Mitgefühl für das Baby reizen Jacks Trotteligkeit und die Situationskomik die Lachmuskeln. Seine philosophischen Monologe mit Sokrates liefern zusätzlichen Input, der nachdenklich macht und anregt, über das Leben an sich, Bindungen, Liebe, Freundschaft, Geburt und Tod nachzusinnen. Drunter macht es Ostrovski nicht.
Und das macht er leichtfüßig und charmant, auch Dank der Übersetzung von Thomas Dunkel. All dies erspart dem Leser jedoch eine erneute Lektüre nicht, denn die philosophischen Gedankengänge haben es in sich und können wieder und wieder gelesen werden. Hier findet (vermutlich) jeder etwas für seine ganz persönliche Lebenssituation. Aber das ist ja das Großartige an der Philosophie, so kompliziert sie erscheint, so bereichernd ist sie – für jeden. Und genau das gilt für diese oberflächlich betrachtet komische Vater-Sohn-Geschichte: In der Tiefe des Textes findet man das, was unser Dasein lebens- und liebenswert macht – nämlich die vielfältigen Beziehung zu anderen Menschen, seien es die Eltern, Großeltern, Kinder, Freunde oder Partner.

Mit dieser jugendlich-philosophischen Irrfahrt feiert Ostrovski  das Leben auf allerschönste Art.

Emil Ostrovski: Wo ein bisschen Zeit ist …, Übersetzung: Thomas Gunkel, Fischer FJB, 2014, 304 Seiten, 16,99 Euro

 

Reise zu den Wurzeln

ascheEin Mal im Jahr scheine ich ein Buch über Grabschändung und den perfekten Ort für eine Bestattung rezensieren zu können. War es im vergangenen Jahr der Roman von Boris Koch, so ist es nun Anke Webers Regenbogenasche. Vielleicht wird ja eine Tradition daraus…

Auch in Regenbogenasche geht es darum, einem Toten seinen letzten Willen zu erfüllen: Rhinas Vater ist bei einem Unfall gestorben. Seine große Sehnsucht war Namibia, und die fast 15-jährige Rhina setzt sich in den Kopf, seine Asche dorthin zu bringen und an dem schönsten Ort zu verstreuen. Zusammen mit ihrem Schulkameraden Unkas, schmiedet Rhina zunächst den Plan, die Urne unbemerkt auszubuddeln.
Später schließen sich die beiden Jugendlichen einer namibischen Kulturorganisation an, die Reisen in das afrikanische Land organisieren. Mit umgefüllter und eingefärbter Asche machen sich Rhina und Unkas auf nach Namibia.

Für Rhina ist diese Reise jedoch mehr, als nur den toten Vater an seinen Lieblingsort zu bringen. Sie war sieben als ihr Vater starb, seitdem vermisst sie ihn und kann irgendwie kein eigenes Leben beginnen. Unkas, der ihr bei diesem Abenteuer treu zur Seite steht, wird zu ihrem Vertrauten und besten Freund. Und je mehr Rhina über ihren Vater, seine Herkunft und seinen Tod herausfindet, um so mehr wandelt sie sich zu einem freien Mädchen, das ihren eigenen Lebensweg geht und die Liebe kennenlernt.

Anke Weber schafft es auf faszinierende, fesselnde Art und Weise, die Gegensätze von Leben und Tod in einem spannend Road-Roman zu vereinen. Sie macht jugendlichen Lesern deutlich, dass das eigene Leben von dem der Eltern mehr beeinflusst wird, als man so manches Mal meint oder es sich wünscht. Die Schatten der elterlichen Vergangenheit legen sich immer auch auf das Leben der Kinder. Weber erzählt das jedoch mit einer Leichtigkeit und dem exotischen Touch der namibischen Wüste, das man ganz gebannt Rhinas gesetzwidrige Grabschändung akzeptiert, mit ihr liebt, leidet und sich schließlich freut, als sie in Namibia nicht nur ihr Ziel erreicht, sondern auch eine große Überraschung erlebt.

Regenbogenasche variiert das Thema Grabschändung auf eine fast unbeschwerte Art und zeigt, wie wichtig es für Jugendliche ist, über die Herkunft und die Traumata der Eltern aufgeklärt zu werden. Jeder Mensch hat zwar durchaus ein Recht auf Geheimnisse, doch sobald diese sich auf die Nachkommen auswirken, haben diese wiederum ein Recht, sie zu erfahren. Erst dann können Jugendliche sich bewusst entscheiden, wie sie ihren eigenen Lebensweg einschlagen. So wie Rhina, die ihr Glück und ihren inneren Frieden erst findet, als sie das Geheimnis ihres Vaters gelüftet hat und den toten Vater am richtigen Ort weiß. Damit macht sie jugendlichen Lesern Mut, sich den eigenen Familiengeheimnissen zu stellen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der düstere Tod wandelt sich in diesem Buch zu einer kunterbunten Liebeserklärung an das Leben.

Anke Weber: Regenbogenasche, Ueberreuter, 2013, 256 Seiten,  ab 12, 12,95 Euro

Familiengeheimnisse

familieDie Sache mit der Familie ist schon ein Kreuz. Die Familie zieht einen groß, bringt einen ins Leben – und nervt oftmals so sehr, dass man nur noch davonlaufen möchte. Dabei sind es nicht immer nur die Eltern, die eine prägen und verletzen können, sondern auch die Geschwister. Wie tief die Familienbande das eigene Leben bestimmen, beschreibt Mirjam Pressler in ihrem neuesten Roman Wer morgens lacht.

Die 22-jährige Studentin Anne ist von ihrer Schwester Marie wie besessen, seit diese vor sieben Jahren mit fast 18 von Zuhause weggelaufen ist. Anne versucht, sich von der Schwester zu lösen, indem sie ihre Geschichte aufschreibt und später ihrer Mitbewohnerin Ricki erzählt. Heraus kommt dabei das Portrait einer deutschen Familie in einem Münchner Vorort, die von der Vertreibung der Großmutter aus dem Sudetenland geprägt ist. Die Enkelin Anne liebt ihre Omi, die in einer seltsamen Sprache redet und von der alten Heimat wie von einem Märchenland erzählt. Doch die Oma hat die jegliche Lebensfreude verloren und definiert das Leben von Frauen nur über Schmerzen. So kann sie den beiden Enkelinnen nur alte, düstere Moralsprüche wie „Wer morgens lacht und mittags singt, abends in die Hölle springt“ mit auf den Weg geben.
Anne ist fasziniert und abgestoßen zugleich. Doch lässt sie auf ihre Oma nichts kommen. Stattdessen sieht sie sich in ständiger Konkurrenz zur großen Schwester Marie, der die Eltern immer alle Wünsche erfüllen. Marie darf alles, bekommt alles, ist der Liebling des Vaters, während Anne die alten Kleider auftragen muss und nicht beachtet wird. Anne ist das Musterkind, das gute Noten bringt und keinen Ärger macht. Innerlich jedoch brodelt es in ihr.
Dann verschwindet Marie eines Tages, und die Familie schweigt. Der arbeitslose Vater sucht zwar seine Tochter in der Stadt, doch kommt es zu keiner Diskussion am heimischen Tisch, warum Marie diesen Schritt gegangen ist. Scheinbar wird nicht einmal getrauert. Anne flüchtet drei Jahre später nach Frankfurt, in ein Studium der Biologie, mit Schwerpunkt Pilze.

Mirjam Presslers Roman ist keine leichte Kost. Psychologisch fundiert und hintergründig lässt sie Anne aus der Ich-Perspektive die Familiengeschichte erzählen. Die intelligente Studentin thematisiert dabei immer wieder auch die Wahrnehmungsfilter, mit der sie als Betroffene den Verlust der Schwester Marie erlebt und erinnert. Die Erinnerung an reale Fakten verschmilzt dabei zum Teil mit den Geschichten, die sich die junge Anne ausgedacht hat, als die Schwester verschwunden war. Das Schweigen der Eltern bot ihrer Phantasie einen Nährboden, auf dem Horror- und Schundgeschichten gleichermaßen gedeihen konnten. Was Wahrheit, was Lüge, was Wunschdenken oder gar Schuld ist, verschwimmt für Anne immer mehr. Die Familie und ihre Geschichte ist wie ein Pilzgeflecht, das unterirdisch miteinander verbunden ist, selbst wenn an der Oberfläche nur Einzelpersonen wahrzunehmen sind.
Schließlich bringen das Gespräch mit ihrer Mitbewohnerin Ricki und ein Besuch bei den Eltern nach fast drei Jahren neue Erkenntnisse und die Einsicht, dass auch sie nicht alles von ihrer Schwester, ihren Eltern und ihrer Oma gewusst hat.

In Wer morgens lacht illustriert Mirjam Pressler geschickt die psychologischen Mechanismen von Familie, die sich über die Generationengrenzen hinaus auswirken.  In der Wissenschaft befasst sich die Epigenetik mit diesen Phänomen, also dass das Kriegsleid der Großeltern noch Auswirkungen auf das Leben der Enkel hat. Mirjam Pressler vermittelt genau das, ohne mit gentechnischem Fachwissen oder psychologischem Spezialvokabular zu verschrecken. Sie zeichnet ein Bild einer Familie in Deutschland, wie es viele gibt. Und sie zeigt ihnen, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, dass offene Gespräche – auch Jahre später – reinigende Wirkung für alle Beteiligten haben können.

Das Einzige, was mich an diesem Text gestört hat, ist eine typographische Eigenart, die bei E-Literaten sehr beliebt ist. Die wörtliche Rede der Dialoge ist nicht durch Anführungszeichen markiert. Das mag jetzt pingelig erscheinen, doch stellt diese Art der Textgestaltung für mich ein Lesehindernis dar. Die inhaltlich schon schwierige und bedrückende Geschichte wird durch diese fehlenden Signale zu einem sperrigen Texterlebnis. Entsprechend lange habe ich für die Lektüre gebraucht.
Es mag ja sein, dass bei so einem gewichtigen Inhalt auch der Zugang gewichtig und schwierig sein sollte. Doch das hätte es meiner Ansicht nach gar nicht gebraucht. Warum ein zusätzliches Hindernis einbauen für ein so wichtiges Anliegen, das an sich doch vielen Menschen näher gebracht werden sollte? Das ist mir ein bisschen unverständlich. Und nur weil man das heute mal so macht, weil es – möglicherweise – intellektueller oder psychologischer rüberkommt, ist das für mich noch lange kein Grund, den Zugang zu einer Geschichte künstlich zu erschweren. Ich hoffe nur, dass das nicht allzu viele Leser verschreckt, denn sie würden eine ergreifende und nachdenklich machende Geschichte verpassen, die viel über den Menschen an sich, seine Ängste und seine Eigenarten erzählt.

Mirjam Pressler: Wer morgens lacht, Beltz, 2013, 264 Seiten, ab 14, 17,95 Euro

Die Schatten des ersten Weltkriegs

ersten WeltkriegRelativ neuen Erkenntnissen der Genforschung zufolge übertragen sich traumatische Erlebnisse nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf die Enkel und möglicherweise sogar auf die Urenkel. Die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges sind verhältnismäßig gut erforscht, die des ersten hingegen scheinen mehr und mehr aus unserem Fokus zu verschwinden. Doch spätestens im kommenden Jahr, wenn sich der Ausbruch des ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal jährt, werden wir mit Dokumentationen, Spielfilmen, Serien wie Parade’s End und Büchern dazu überrollt werden.
Ein erstes Buch für Jugendlich zu dem Thema ist gerade herausgekommen: Feldpost für Pauline von Maja Nielsen. Es ist aus dem gleichnamigen Hörspiel entstanden, das 2009 mit dem Deutschen Kinderhörspielpreis ausgezeichnet wurde.

Die 14-jährige Pauline bekommt eines Tages Post: einen Feldpostbrief aus dem Jahr 1916 aus Verdun. Die Überraschung ist natürlich groß, fast hundert Jahre Verspätung für einen Brief kommt auch nicht alle Tage vor. Mühsam entziffert Pauline die in Sütterlin geschriebene Nachricht eines gewissen Wilhelm an Pauline, in diesem Fall die Urgroßmutter des Mädchens. Die Liebeserklärung von Wilhelm weckt Paulines Neugierde, was damals in den düstersten Zeiten des ersten Weltkrieges eigentlich geschehen ist und was es mit der Geschichte um Wilhelm und Pauline eigentlich auf sich hat.
Das Mädchen Pauline trifft sich mit ihrer Großmutter Lieschen, und gemeinsam stöbern Großmutter und Enkelin in alten Briefen und Paulines Tagebuch. Großmutter erzählt, was sie von ihrer Mutter weiß, und so wird der Schrecken des Großen Krieges wieder lebendig. Wilhelm schreibt in Briefen vom Drill in der Kaserne, vom Leben im Schützengraben, von der Materialschlacht in Verdun. Pauline notiert in ihrem Tagebuch, wie von schrecklich verletzt die Soldaten sind, die sie zu versorgen hat, und welche Angst sie um den geliebten Wilhelm hat. Die Liebe für einander und Wilhelms Liebe zur Musik trägt die beiden durch die Kriegsjahre.
Eingebettet in die gegenwärtige Geschichte der jungen Pauline, die eine begnadete Cello-Spielerin und gerade unglücklich in Nick verliebt ist, entsteht eine Verbindung zu den Geschehnissen von vor hundert Jahren. Wilhelm spielte Cello und rettete sich damit vor den Franzosen, Pauline hat diese Leidenschaft von ihm geerbt. Durch die Nachmittage mit der Großmutter wird ihr bewusst, was im Leben wirklich zählt.

Die Schrecken des ersten Weltkrieges sind in Feldpost für Pauline durchaus drastisch geschildert. Die Idee, über Feldbriefe und Tagebuch-Einträge die Stimmen aus der Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, funktioniert gut, zumal Maja Nielsen durch die Rahmenhandlung einen Bezug zur heutigen Lage Deutschlands als Kriegsteilnehmer in Afghanistan zieht. Sie schärft damit nicht nur das Bewusstsein für die deutsche Geschichte, sondern auch für die Soldaten, die heute am Hindukusch kämpfen.
Dieses Anliegen finde ich so wichtig, dass ich hier über die manchmal etwas betuliche Erzählart hinwegsehen konnte. Das Mädchen Pauline erzählt mir in ihrer Ich-Perspektive hin und wieder zu aufgesetzt jugendlich.

Feldpost für Pauline
 ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie man den Teenies von heute auch den ersten Weltkrieg näher bringen kann. Und dass der auf die eine oder andere Art immer noch in uns nachwirkt, dürfte unbezweifelbar sein.

Maja Nielsen: Feldpost für Pauline, Gerstenberg Verlag, 2013, 96 Seiten, ab 13, 9,95 Euro

Mut zur Veränderung

oma miethaie ich tanya lieskeEin unschönes Phänomen treibt seit ein paar Jahren viele Menschen in beliebten Großstadtvierteln um: Gentrifizierung, also die Verdrängung langjähriger Mieter aus ihren Wohnungen, damit diese nach einer (Luxus-)Sanierung zu einem höheren Preis neu vermietet werden können. Dass das nicht gerade eine gerechte oder soziale Sache ist, bleibt auch Kindern nicht verborgen. Die zehnjährige Salila aus dem Roman Oma, die Miethaie und ich von Tanya Lieske kann ein Lied davon singen.

Das Mädchen wohnt bei ihrer Großmutter Henriette Meister in Düsseldorf-Bilk. Ihre Wohnung ist zwar alt, dafür aber groß und gemütlich. Im Hinterhof steht eine alte Kastanie, auf die Salila immer klettert, und dort hat Oma auch ihre Werkstatt, wo sie „Reparaturen aller Art“ durchführt. Denn Oma hasst es, Dinge, die man noch mal heil machen kann, einfach wegzuwerfen. Und so repariert sie im ganzen Viertel Kaffeemaschinen, Porzellanfiguren oder quietschende Dielen. Für Salila ist Oma eine Heldin, die leckeres Supermüsli und den besten Kaffee der Stadt macht. Gemeinsam gehen die beiden auf Trödeljagd und suchen nach Schätzen zum Aufpolieren.

Eines Tages jedoch bekommt die Idylle einen Riss, denn im Viertel macht ein Immobilienbüro auf und bietet hübsch hergerichtete Altbauwohnungen zum Kauf an. Irgendwann sind dort auch Bilder von Salilas und Omas Haus zu sehen. Gleichzeitig findet Salila bei Oma einen wichtigen Brief, in dem die Worte „Erbfall“ und „großzügiges Angebot“ stehen. Salila versteht kein Wort, wagt es aber auch nicht Oma zu fragen, da diese die Briefe immer gleich wegwirft. Zusammen mit ihrem türkischen Freund Mehmet recherchiert Salila im Internet. Aber irgendwie hilft ihr das auch nicht weiter, weil Oma sich sehr merkwürdig benimmt und ihr immer wieder ausweicht. Also hört sich das Mädchen im Viertel um: Ihre Nachbarn ziehen zwar aus, aber Oma bräuchte eigentlich nur einen Brief an den neuen Hausbesitzer zu schreiben, dass sie nicht ausziehen will. Das kommt für Oma natürlich gar nicht infrage, und immer wenn Salila mit ihr über den Brief an den neuen Besitzer in Hamburg reden will, wird sie wütend. So schreibt Salila den Brief selbst – und kommt mit Mehmet schließlich darauf, dass Oma Henriette gar nicht lesen und schreiben kann. Nun fügen sich für das Mädchen die Puzzleteile von Omas merkwürdigem Verhalten zusammen: Plötzlich hatte sie die Brille verlegt und Salila musste ihr vorlesen, auf den Zetteln, die sich die beiden auf dem Küchentisch hinterlassen, malt sie Zeichnungen, keine Worte, die Unterschrift unter Salilas Zeugnis ist ganz krakelig. Es dauert jedoch  noch eine Weile, bis Oma ihre Schwäche eingesteht und erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass sie nie richtig lesen und schreiben gelernt hat. Jetzt ist es so, dass sie nicht mal einen neuen Mietvertrag lesen und unterschreiben könnte. Und das macht ihr Angst. Doch zum Glück entdeckt Salila im Internet auch die Schule für Erwachsene – und ihr Brief nach Hamburg zeigt schließlich Wirkung, denn irgendwann steht der Miethai aus Hamburg vor der Tür …

Oma, die Miethaie und ich ist ein liebenswertes und warmherziges Buch über große Problemthemen unserer Zeit. In charmanten Alltagsszenen lernt man zwei starke Frauenfiguren kennen, Großmutter und Enkelin,  die mit Cleverness und Lebensfreude Hindernisse aus dem Weg räumen. So macht Tanya Lieske Mut, nicht die Augen  zu verschließen vor eigenen mangelnden Fähigkeiten. Und auch dem vermeintlich Unabänderlichen sollte man sich nicht einfach beugen. Dafür muss man allerdings schon mal auf die Barrikaden gehen und sich auch an die eigene Nase fassen. Denn für vieles gibt es eine Lösung, das macht die Autorin den jungen Lesern mit ihrer Geschichte unmissverständlich klar. Es gilt jedoch, die Herausforderungen anzunehmen, sich Hilfe zu suchen und Wandel zuzulassen, sei es im Stadtviertel oder im eigenen Leben. Und manchmal geht es dann ganz anders aus, als man am Anfang vermutet …

Tanya Lieske: Oma, die Miethaie und ich, Illustrationen: Daniel Napp, Beltz & Gelberg, 2012, 207 Seiten,  ab 8, 12,95 Euro