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Mutig leben in einer neuen Heimat

Manchmal erscheinen Bücher zu einem Zeitpunkt, an dem der Inhalt auf erschreckende Weise zu dem aktuellen Tagesgeschehen passt. Dazwischen: Wir von Julya Rabinowich ist so ein Beispiel.
In der Fortsetzung von Dazwischen: Ich von 2016 erzählt die Wiener Autorin die Geschichte von Madina weiter, die mit ihrer Familie aus einem Kriegsgebiet geflohen ist und in einer Kleinstadt Zuflucht gefunden hat.

Mittlerweile wohnt Madina mit Mutter, Tante und Bruder Rami bei ihrer besten Freundin Laura, im ehemaligen Büro deren Vaters. Madinas Vater ist wieder in seine Heimat zurückgegangen, um zu kämpfen. Wieder belässt Rabinowich es im Unklaren, woher die Familie geflüchtet ist, es ist weiterhin unerheblich. Nun wartet die 15-Jährige täglich auf Nachricht von ihm.

Ein fast normales Teenager-Leben

Doch Madina, die wieder Tagebuch schreibt, berichtet auch von ihrem neuen Alltag, in dem sie in der Schule immer besser wird – auch durch die gnadenlose Förderung und Forderung der Klassenlehrerin King. Mit Laura und ihrem Bruder Markus erlebt sie so manches emotionale Hoch und Tief, träumt von einer Jeans und Reisen, möchte einfach nur dazugehören und hat eigentlich ein neues Zuhause gefunden. Im Grunde liefert sie das Bild eines ganz normalen Teenagermädchens.
Wären da nicht die fremdenfeindlichen Typen im Ort, die sich irgendwann immer Donnerstags vor dem Café treffen und gegen Migranten pöbeln. Zunächst duckt Madina sich noch weg, macht einen Bogen um diese Ansammlung. Als Hassparolen an den Hauswänden auftauchen, gründen Madina und Laura eine Gang, die diese Schmierereien einfach selbst übersprayen. Nach und nach entwickelt Madina immer mehr Mut, macht sich grade, wie sie sagt, bis sie schließlich den Pöblern entgegentritt …

Beunruhigende Aktualität

Vieles in dieser Geschichte ist von einer beunruhigenden Aktualität, die mich durch die Seiten getrieben hat. Man kommt als Leser:in nicht umhin, eine Parallele zu den geflüchteten Frauen und Kindern aus der Ukraine zu ziehen, deren Männer und Väter in der Heimat kämpfen. Konnte man Dazwischen: Ich als Spiegel auf die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten 2015 lesen, so gleicht Teil 2, der sich inhaltlich nahtlos an den ersten Band anschließt (aber auch ohne ihn gut verständlich ist), wie ein Kommentar zu den jetzigen Ereignissen. Viele Geflüchtete kommen momentan glücklicherweise privat unter, und wir können nur hoffen, dass sie hier weiterhin viele positive Erfahrungen machen.

Doch die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus, die aus unserer Gesellschaft ja nicht verschwunden sind, lauern da draußen quasi schon. So hat mich (als alte Leserin) der fremdenfeindliche Aufmarsch vor Madinas Haus unwillkürlich an die Anschläge von Mölln, Solingen oder Rostock-Lichtenhagen erinnert. Ich verbiete mir jetzt aber, diesen Gedanken weiterzudenken, und setze darauf, dass sich doch etwas bei uns geändert hat.

Hoffnungsfigur Madina

Die Figur Madina jedenfalls zeigt mit ihrer liebenswerten und lebensfrohen Art, mit ihren Ängsten, Träumen und ihrer Wut die universellen menschlichen Eigenschaften, die es so völlig unerheblich machen, woher ein Mensch stammt. Ihr Mut macht deutlich, dass Geflüchtete sich nicht alles gefallen lassen müssen, sondern ein Recht haben, sich zu wehren – im Großen wie im Kleinen. Die Solidarität, die Madina erlebt, schürt die Hoffnung, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist.
Bücher wie Dazwischen: Wir bringen die Saat dafür aus, die in den jugendlichen Leser:innen hoffentlich aufgeht.

Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir, Hanser, 2022, 256 Seiten, ab 14, 17 Euro

Krieg erklären – Frieden suchen

Die Ereignisse in der Ukraine in den vergangenen zwei Wochen haben mich – wie vermutlich jeden von uns – schockiert, deprimiert, wütend und ängstlich gemacht. Nach dem ersten News-Overflow, ersten Demos, blau-gelben Posts und Spenden für die humanitäre Hilfe konnte ich jetzt den Blick wieder auf die Bücher richten.

Krieg ist jedoch ein so großes, so komplexes Thema, dass es hier in einem kleinen Post kaum aufzufangen ist, selbst wenn es nur um Bücher geht. In dem Jahrzehnt, den es diesen Blog nun schon gibt, haben wir immer wieder Bücher über und gegen den Krieg vorgestellt. Es sind das jedoch vor allem Bücher über die beiden Weltkriege, zum Beispiel Elisabeth Zöllers Der Krieg ist ein Menschenfresser, Maja Nielsens Feldpost für Pauline, Dorothee Haentjes-Holländers Paul und der Krieg oder auch Joke van Leeuwens Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor. Das sind allerdings immer auch Geschichten über lang zurückliegende Ereignisse, die vielleicht das Verhalten von Großeltern und Eltern erklären, für Kinder aber eher abstrakt bleiben.

Mit dem Ukraine-Krieg rückt das Geschehen nun räumlich näher, wie schon in den 1990er Jahren im Serbien-Krieg, und hat aber, dadurch, dass mit Putins Russland eine Großmacht einen Nachbarstaat angreift, eine weltpolitische Reichweite, der sich niemand mehr entziehen kann. Und die Kinder spüren natürlich unsere Ängste, hören unsere Gespräche, gehen mit auf die Demos und stellen Fragen. Einige dieser Fragen lassen sich mit den folgenden drei Büchern ansatzsweise beantworten.

Die einfachen Grundregeln des Zusammenlebens

Louise Spilsbury erklärt in Wie ist es, wenn es Krieg gibt? in 13 kurzen Kapiteln die Grundvoraussetzungen für einen Krieg: den Streit zwischen Menschen und die Gründe für Konflikte unter ihnen. Die unterschiedlichen Traditionen in verschiedenen Ländern und Religionen gehören dazu. Der Krieg verändert das Leben der betroffenen Menschen, viele verlassen die Heimat, flüchten und suchen Sicherheit.
Spilsbury kann das alles natürlich nur kurz anreißen, zeigt aber in wenigen Worten und durch die eindrücklichen, aber nicht traumatisierenden Illustrationen von Hanane Kai, welche Lösungen es für Kriege und Konflikte gäbe: miteinander reden, Regeln aufstellen und diese auch einhalten. Dazu der Versuch, andere Menschen zu verstehen und zu respektieren. Im Fall eines Konfliktes ist es wichtig zu helfen, und auch dazu gibt es in diesem Buch einige Anregungen, die den jungen Leser:innen helfen können die eigene Ohnmacht zu überwinden. Dies hier so einfach aufzuschreiben, kommt mir fast unwirklich vor, weil es im Grunde so simpel ist – und doch von gewissen Machthabern nicht befolgt wird.

Die machtgierigen Männer

Wie es dazu kommt, dass Männer machtgierig werden, zeigte David McKee bereits 2014 in seinem Buch Sechs Männer. Diese Parabel heute zu lesen, lässt einen quasi erschaudern: Es wirkt wie die Blaupause zu Putins Verhalten.
Es beginnt harmlos mit sechs Männern, die einen friedlichen Ort zum Leben und Arbeiten suchen. Dort werden sie Baumeister und Bauern – und reich. Mit dem Reichtum kommen die Sorgen, weil sie ihr Gut schützen und behalten wollen. Die Männer stellen sechs Wachen an, vorsorglich. Doch die Wachen haben nichts zu tun. Die Herrscher wollen ihr Geld aber nicht umsonst ausgegeben haben. Also werden die Soldaten losgeschickt, andere Bauern zu überfallen und deren Land zu rauben.
Die Spirale der Gewalt kommt in Gang: mehr Soldaten werden gebraucht. Die Bauern auf der anderen Seite des Flusses bekommen Angst, rüsten ebenfalls auf. Ein dummer Zufall löst den Krieg aus … Die einfachen Strichzeichnungen von McKee treffen so ins Mark, dass ich diese wenigen Seiten eigentlich nur ungläubig anschauen kann. Hier ist die gesamte Absurdität des Krieges drin: Die Soldaten der kämpfenden Parteien sind nicht mehr auseinanderzuhalten und am Ende herrscht nur der Tod. Krieg ist keine Option. Niemals. Das begreifen mit dieser Lektüre bereits Kinder.

Give Peace a chance

Das Plädoyer für den Frieden kommt von Baptiste & Miranda Paul, zusammen mit den farbenfrohen Illustrationen von Esteli Meza. Kinder sind hier auf jeder Seite mit Tieren zusammen, seien es Elefanten, Füchse, Koalas, Pandas, Pferde oder Löwen. In kurzen, oftmals gereimten Zeilen beschwören die Pauls die Schönheit des Friedens, das Wohlgefühl, das Zuhause sein und die Sicherheit herauf, die der Frieden uns gibt. Mit wenigen Sätzen erklären sie, wie wichtig es ist, die eigenen Freunde wirklich anzusehen, ihre Namen zu kennen und gemeinsam etwas Mutiges zu tun. Das Geben wird über das Nehmen gestellt und viele kleine Fische können den spitzzähnigen Hai besiegen. Im Frieden werden auch die Kleinsten gehört und der Satz »Es tut mir leid« schafft Versöhnung und echten Frieden.

Frieden ist ein hoffnungsfrohes Buch, das die Tiere mit im Blick hat, denn auch sie leiden in kriegerischen Auseinandersetzungen. Die warmen Farben der Bilder, die Kinder aus allen Nationen, die mit den Tieren kuscheln und am Ende um das Lagerfeuer sitzen und einer Vorleserin lauschen – all dies ist so tröstlich und erstrebenswert. Es gibt keine andere Option als Frieden.

Das blau-gelbe Bild mit der Taube vom Anfang dieses Posts stammt aus dem Buch der Pauls – und die Farbwahl sehen wir heute natürlich mit ganz anderen Augen. Es dürfte einer dieser seltsamen Zufälle sein, die dieses Leben auch immer wieder so erstaunlich macht.

Die drei Bücher werden momentan nachgedruckt. Louise Spilsbury ist ab 7. April wieder zu haben.

Baptiste Paul & Miranda Paul: Frieden, Illustration Esteli Meza, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2021, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Louise Spilsbury: Wie ist es, wenn es Krieg gibt?, Illustration: Hanane Kai, Übersetzung: Jonas Bedford-Strom, Gabriel Verlag, 2022, 32 Seiten, ab 5, 10 Euro

David McKee: Sechs Männer, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2014, 48 Seiten, ab 5, 13,99 Euro

Packende Geschichtsstunde in Mogelpackung

ostpreußenEin Pferdebuch auf LETTERATUREN? Das gab’s in sieben Jahren noch nie. Ja, genau, klassische Pferdegeschichten kommen hier eigentlich nicht vor, aber bei Anne C. Voorhoeves neuem Roman darf man sich auf gar keinen Fall von Titel und Cover täuschen lassen.

Gefährten für immer erzählt zwar auch von Pferden, von den Trakehnern Ostpreußens, doch es ist nicht die klassische Kombination von ein Mädchen plus ein Pferd gleich Freunde für immer. Denn hier geht es um die 14-jährige Lotte, die im Sommer 1943 von ihrem blinden Vater nach schweren Bombenangriffen auf Hannover auf den Pferdehof Waldeck in Ostpreußen geschickt wird. Zur Sicherheit. Denn eigentlich will Lotte nicht weg, da ihr Vater nicht allein zurecht kommt und sie gerade erst in den Trümmern fast verschüttet worden war und nun weiß, wie hilflos ein Mensch sich im Krieg und im Dunkel fühlen kann. Doch der Vater bekommt Hilfe von einer Nachbarin, die seit dem Tod von Lottes Mutter ein Auge auf den Vater geworfen hat.
An ihrem letzten Tag in der Stadt, an dem Lotte sich von ihren Freunden verabschiedet, begegnet sie Georg, einem Klassenkameraden, dessen Vater als Kommunist im KZ in Dachau sitzt. Innerhalb von wenigen Stunden, die die beiden in den Trümmern Hannovers zusammen verbringen, entwickelt sich eine Freundschaft, die auch über die Entfernung halten soll.

Mit all diesem psychischen Gepäck kommt Lotte wenig später in Waldeck bei Antonia, einer Freundin ihrer verstorbenen Mutter an, die der Familie die Hilfe angeboten hat. Lotte mag Antonia, doch das hilft ihr nur bedingt, sich an das Leben auf dem Hof zu gewöhnen. Im Pferdeland Ostpreußen dreht sich nämlich alles um die geschätzten Trakehner, und das Reiten ist eine unabdingbare Voraussetzung. Lottes Reitkünste sind jedoch ziemlich beschränkt. Und so blamiert sie sich beim ersten Ausritt. Emilia, Antonias Nichte, ebenfalls 14, verspottet das Stadtkind – und es sieht nicht so aus, als könnten die beiden Mädchen Freundinnen werden, wie Antonia es sich gewünscht hat.
Stattdessen soll zunächst Harro, 17, Sohn des ehemaligen Verwalters, Lotte den Umgang mit den Pferden inklusive Reiten und Springen beibringen. Die beiden verbringen Zeit bei Ausritten in den Weiten Masurens, baden in den Seen – und Lotte verknallt sich in den gut aussehenden Jungen. Doch auch Emilia ist in Harro verliebt.
In dieser Konstellation verbringt Lotte ein Jahr auf Waldeck. Anfangs ist der Krieg scheinbar weit weg, zu schön, zu idyllisch ist die Landschaft, zu wichtig die Arbeit mit den Pferden. Doch rasch begreift Lotte, dass hier jede Familie bereits Angehörige im Krieg verloren hat, dass die Zwangsarbeiter nicht ohne Grund auf dem Hof sind, und alle Männer und Jungen fürchten, jederzeit eingezogen werden zu können.

Die Idylle zerfällt. Antonia hört alliierte Radiosender, um über die wirkliche Lage im Krieg besser unterrichtet zu sein. Den Durchhalteparolen und Falschinformationen der Nazis schenken immer weniger Menschen Glauben. Doch Kritik darf man nicht äußern, zu groß ist die Gefahr, verraten und drakonisch bestraft zu werden. Das Leben auf dem Hof wird immer schwieriger. Antonia beschließt, einen Teil ihrer Pferde nach Pommern zu evakuieren – und die Jugendlichen als Begleitung mitzuschicken.
So verlassen Lotte, Emilia und Harro im Herbst 1944 Ostpreußen und landen auf dem Lindenhof bei Stettin, wo Harros Vater und Emilias Mutter, die vor Jahren für einen Skandal auf Gut Waldeck gesorgt haben, zusammen leben. Hier hoffen die drei, dass Antonia mit den Bewohnern Waldecks, darunter Harros Mutter, und den restlichen Pferden zu ihnen stoßen wird. Doch Ostpreußens Gauleiter Koch hat unter Strafe verboten, die Provinz zu verlassen.
Ein eiskalter Winter bricht an, und Anfang 1945 greifen die Russen ultimativ an.
Endlose Flüchtlingstrecks machen sich auf den Weg in den Westen. Als auch Gräfin von Dobschütz, eine gute Freundin Antonias, den Lindenhof auf ihrem Hengst erreicht, erfahren die Jugendlichen, dass Ostpreußen unwiederbringlich verloren ist.

Mehr und mehr merkt Lotte zudem, dass sie – anders als auf Waldeck – nicht mehr zur Gemeinschaft von Lindenhof, der Familie von Harro und Emilia, dazugehört. Für sie wird es Zeit wieder nach Hannover zurückzukehren. Sie kann Gräfin von Dobschütz überzeugen, sie auf dem zweiten Pferd der Gräfin mit nach Westen reiten zu lassen. Entbehrungsreiche Wochen durch Schnee und Kälte beginnen.

Anne C. Voorhoeve, bekannt für die Romane Unterland und Nangking Road, führt auch hier wieder die jugendliche Leserschaft in die düsteren Kapitel deutscher Geschichte. In einem komplexem Plot verpackt sie die Schrecken von Bombenangriffen, Verlust der Heimat und die Verbrechen der Nationalsozialisten auf feinfühlige, aber dennoch eindrückliche Art. Sie erinnert an das alte Leben in Ostpreußen, an den Stolz der Trakehner-Züchter und räumt neben all der Trauer um Menschen und Orte auch den Tieren ihren Raum ein.
Da sie Lotte als Ich-Erzählerin agieren lässt, die sich entweder an Schreckliches erinnert (das Verschüttetsein) oder von anderen die Schrecknisse erzählt bekommt, mildert Voorhoeve das Grauen für die Leser_innen gekonnt ab. So bekommen sie zwar einen Eindruck, was vor allem im Winter 44/45 in Ostpreußen passiert ist, werden aber nicht durch die Gräueltaten traumatisiert. Diese erzählerische Gratwanderung ist hervorragend gelungen.

Die Figur der Gräfin Dobschütz ist zudem eine ganz wunderbare Hommage an Marion Gräfin von Dönhoff, deren eigene Flucht per Pferd nach Westdeutschland hier Pate stand. Realität und Fiktion verweben sich zu einer eindrucksvollen Erzählung, die die Geschichte lebendig werden lässt und die Erinnerung an Menschen und Orte bewahrt.

Das Einzige, was ich nicht gelungen finde, sind, wie schon angedeutet, der Titel und das Cover. Dass es dort nicht einen Hinweis auf den historischen Hintergrund der Geschichte gibt, grenzt für mich schon fast an Lesertäuschung und suggeriert, dass hier eine klassische Mädchen-Pferde-Geschichte erzählt wird. Ich möchte mir die Enttäuschung der Mädchen nicht ausmalen.
Wobei man sich dabei zudem fragen könnte, warum die Geschichte über diese Kombination so angelegt wurde, dass sie für Jungs nicht mehr interessant ist. Dabei besteht die Enkel- und Urenkelgeneration der aus Ostpreußen Geflüchteten ja nicht nur aus Mädchen. Umso mehr würde es mich freuen, wenn auch Jungs den Mut hätten, sich auf diese Geschichte einzulassen – denn das Erzählte geht sie genauso an.

Anne C. Voorhoeve: Gefährten für immer, Sauerländer, 2018, 480 Seiten, ab 13, 17 Euro

Von Fluchtgeschichten und dem Schrecken der Realität

Ein Interview mit Peer Martin

peer martinVor genau drei Jahren habe ich hier über den preisgekrönten Roman Sommer unter schwarzen Flügeln von Peer Martin berichtet. Es war eine zutiefst bewegende Lektüre – wie mir meine eigene Rezension in Übereinstimmung mit meiner Erinnerung bestätigte.

Nun habe ich auch die Folgebände Winter so weit und Feuerfrühling gelesen. Wieder hat es extrem lang gedauert – nicht unbedingt wegen des Umfangs der beiden dicken Bände, sondern wegen des erneut sehr belastenden, extrem realitätsnahen Inhalts, den man zum Teil nur häppchenweise erträgt.
Die Geschichte von Nuri und Calvin geht nach dem dramatischen Ende des ersten Teils nämlich noch mal eine Runde heftiger weiter.
In Band 2 macht Calvin, der eigentlich in einem Zeugenschutzprogramm untergekommen ist, sich nach Syrien auf, um sein letztes Versprechen an Nuri zu erfüllen. Bei der Suche nach dem Mädchen Dschinan gerät er in so gut wie alle kämpfenden Gruppierungen im Kriegsgebiet, landet beim IS und in den Folterkellern des Assad-Regimes, gelangt aber auch zu den Kurden und YPG-Kämpfern.
Nuri, die entgegen dem Ende von Band 1 nicht tot ist, lebt nun in Berlin und arbeitet mit Flüchtlingskindern. In ihrem Erzählstrang schildert Peer Martin auch weiterhin die rechte Szene, dieses Mal mit dem Schwerpunkt auf den „deutschen Frauen“. Als Nuri schließlich erfährt, dass Calvin lebt, fliegt sie im dritten Teil zurück nach Syrien, um nun ihn dort herauszuholen. Gemeinsam treten sie, zusammen mit fünf Waisenkindern, die zu ihrer Familie werden, den mühsamen und gefährlichen Rückweg nach Deutschland an: als Flüchtende über das Mittelmeer.

Ich halte die Inhaltsangabe hier bewusst kurz – abgesehen davon, dass der Plot überaus komplex ist –, denn viel wichtiger ist es mir, hier Peer Martin, der mir ein paar Fragen per Mail ausführlich beantwortet hat, selbst über seine Bücher sprechen zu lassen.
Seine Antworten sagen mehr, als meine Zusammenfassung es je könnte.

War Sommer unter schwarzen Flügeln von Anfang an auf drei Bände ausgelegt?
Peer Martin: 
Zu Beginn, als die Idee entstand, nein. Aber während des Schreibens wurde rasch klar, dass keines der angerissenen Themen „beendet“ ist: Die Weltpolitik und auch der Verlauf des Krieges in Syrien änderten sich radikal, für mich beides eher unvorhersehbar. Als ich zu schreiben begann, gab es weder den IS noch Pegida oder die AfD (jedenfalls war sie noch nicht bekannt), wir waren noch weit entfernt von Trump, und die Türkei galt als beinahe-demokratischer Staat. Kein Stein scheint seitdem auf dem anderen geblieben zu sein. Daher entschied ich, dass es weitergehen muss, und das war dann schon mit dem Ende des ersten Bandes klar und wird ja auch auf den letzten Seiten durch Calvins Versprechen an Nuri, nach Syrien zu gehen und Dschinan aus dem Kriegsgebiet zu holen, angedeutet.

Waren Sie in Syrien (vor dem Krieg oder während des Schreibens)?
Lange vor dem Krieg bin ich mit Freunden durch Syrien gefahren. Was wir damals gesehen haben, wirkte wie ein moderner, fast heiler Staat, Menschen, die ihren Herrscher für seine Modernität liebten. Als Tourist bekommt man von der Unterdrückung in einem gut funktionierenden Regime beschämend wenig mit.

Wie schreibt man eine Geschichte, wenn sie von der Realität ständig eingeholt und noch übertroffen wird?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich glaube, eigentlich ist es unmöglich, aber man könnte sagen, der Teufel reitet mich, es dennoch zu tun.
Das Interessante daran ist, dass es sich mehr wie ein Spiel anfühlt, eine Art global interaktives Computerspiel: Ich recherchiere, während ich schreibe, ich lese in tausend Artikeln meine eigene Geschichte und stelle sie dann zusammen bzw. schreibe sie neu, indem ich die gelesenen Informationen verwende, beispielsweise recherchiere ich einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, da der Protagonist dort eigentlich vorbeikommen muss, und dann entfaltet sich vor mir ein ganzes Szenario an Dingen, die ihm offenbar dort passiert sein müssen, weil sie einfach gerade dort passiert sind.
Das Schlimme daran ist, dass die Schrecken der Realität die der Fiktion immer und grundsätzlich ausstechen.
peer marting
Beim dritten Band, „Frühling“, musste ich zu Beginn teilweise in die Zukunft schreiben und war am Ende sehr, sehr nahe an der Gegenwart, die mich überholt hatte. Beim Lektorat, das ja meist erst ein oder zwei Jahre später stattfindet, hat sich die Realität natürlich schon wieder geändert … Manchmal gehen Dinge auch hin und her. Als ich mit Antonia Michaelis zusammen an „Grenzlandtage“ arbeitete, schrieben wir über ein Griechenland, das den Flüchtlingen gerade mehr Rechte und Freiheiten eingestand und über ein Europa, das sich öffnete. Der Protagonist hatte aber noch Angst vor den ihm bekannten alten Zuständen der Internierung. Als das Buch erschien, war wieder alles rückläufig, und heute sind die Ängste des Protagonisten mehr als begründet, da wir zurück bei der kompletten Internierung aller Flüchtlinge in Gefangenlager-ähnlichen Zuständen sind und vor einem vollkommen abgeriegelten Europa stehen.

Wie gelingt es Ihnen aus der Distanz über Syrien und Deutschland zu schreiben?Tatsächlich ist es leichter, aus der Distanz über Syrien als über Deutschland zu schreiben, da Syrien immer schon fern und ich auf meine Recherche und die Erzählungen von Freunden angewiesen war. Seit ich in Kanada lebe, vermische ich manchmal im Kopf Kanada und Deutschland, da es auch Parallelen in der Flüchtlingspolitik gibt, dann aber Dinge doch wieder grundlegend anders sind.
Daher kommt der Protagonist meines nächsten Romans aus Quebec, und ich hoffe, ich habe ihm nicht versehentlich irgendwo zu deutsche Eigenschaften angedichtet.

Reicht die Recherche übers das Internet aus, um ein Gefühl für die Länder zu entwickeln? Oder hatten Sie Informanden vor Ort?
Ich habe vor allem während der ersten beiden Bände viel mit Freunden aus Syrien gesprochen, die ich in Deutschland während des Studiums kennengelernt hatte, die aber währenddessen nicht „vor Ort“ in Syrien waren. Zu einem von ihnen, der zurückgegangen ist, haben wir leider jeglichen Kontakt verloren. Das ist das Problem der Informanden „vor Ort“ – sie leben sehr gefährlich, und wir können nur das Beste hoffen. Ein anderer Freund ist noch in Berlin, er hat die beiden ersten Bände für mich korrekturgelesen und zusammen mit mir den Plot zum dritten entwickelt, da er damals gerade dabei war, seine Freundin aus Syrien „herauszuholen“, während ich an diesem dritten Plot saß. Merkwürdig war dann für mich die doppelte Distanz – der Syrer in Berlin, mit dem ich telefonierte und schrieb, und ich in Kanada, der teilweise über die Netzrecherche besser über die illegalen Wege Syrien – Türkei-Griechenland – Deutschland Bescheid wusste.

Wie sehr hat Sie die Geschichte von Nuri und Calvin persönlich belastet?
Es ist weniger die Geschichte um Nuri und Calvin, die mich belastet, da ich auf sie immerhin einen gewissen Einfluss habe. Keinerlei Einfluss habe ich auf die Weltpolitik und die Realität, das belastet mich sehr viel mehr. Zu viel Recherche macht leider bitter, da es einen gewisse negative Entwicklungen vorausahnen lässt. Sie sind alle eingetroffen und haben meine Ahnungen übertroffen, das schmerzt.

Was haben Sie zum Ausgleich zu den Schreckenskapiteln in Syrien, als Calvin in die Hände des IS fällt, gemacht? Das verdaut man ja nicht einfach so…
Die Schreckenskapitel in den Büchern sind mein Ausgleich. Es ist einfacher, über Gewalt zu schreiben, als über sie zu lesen, denn, wie oben erwähnt: Das Geschriebene kann ich beeinflussen. Gleichzeitig entwickelt man beim Schreiben eine Distanz, man möchte, dass es lesbar bleibt und sprachlich gut ist, also sieht man das Geschehen aus einem sehr sachlichen Blickwinkel, ähnlich einem Maler, der ein Bild von, sagen wir, einem KZ malt. Er denkt plötzlich über Lichtverhältnisse und Farbkombinationen nach, so wie ich über Sätze und Worte. Tatsächlich ist das wohl eine sehr intensive Art, Dinge zu verdauen, es hilft aber ungemein. Überhaupt hilft, finde ich, das Beschäftigen mit Dingen dabei, den Schrecken vor ihnen zu verlieren. Böse gesagt könnte man behaupten: Man stumpft ab.
Man braucht aber wohl ein gewisses Maß der Abstumpfung, um den Mut aufzubringen, an Themen heranzutreten und zu versuchen, die Welt zu verändern.

Wie wirken auf Sie aus der Ferne der Aufstieg der AfD, der Neokonservativismus und das rechtskonservative „Outing“ vieler Intellektueller?
Ich mache jeden Tag drei Kreuze, dass ich hier bin. Das ist sehr feige von mir und überhaupt keine Lösung, und auch in Kanada haben wir Rechte und eine sogenannte Flüchtlingsproblematik, vor allem, da seit Trumps Regierungsantritt der, sagen wir, Flüchtlings-Druck auf Kanada wächst, hier ist nicht alles eitel Sonnenschein.
Dennoch habe ich in dem ja sehr viel engeren Deutschland (zweimal war sich seitdem da) ein Gefühl des Eingesperrtseins, es wirkt kafkaesk. Und ich bin froh, dem entkommen zu sein, zumal meine Frau und ich immer wieder Parallelen zu den Zwanzigerjahren sehen, vor denen wir lieber die Augen verschließen würden. Damals waren es ihre Eltern, die, etwas später und gerade noch rechtzeitig, den Absprung geschafft haben. Wir witzeln manchmal darüber, dass wir ja ein Gästezimmer haben, und wie voll es dort wohl werden wird, wenn aus Europa wieder die Menschen fliehen.

Warum ist Band 3 bei Tredition, einem Selfpublisher-Anbieter, herausgekommen? Warum hat Oetinger den Band nicht mehr bringen wollen?
Oetinger wollte schon den zweiten Band nicht machen, weshalb er, quasi unbeworben, im Taschenbuch erschienen ist. Das Problem ist: Band eins ist ein klassisches Jugendbuch, erste Liebe, Spannung usw. Band 2 und 3 gehen eher in den Bereich der Belletristik, viele Leser haben auch so reagiert, ihnen fehlte der „Zauber“ des ersten Bandes, das, was ich Zuckerguss oder Kitsch nennen würde. Die Protagonisten und die Geschichte sind erwachsen geworden, die Helden, gerade Nuri, sind nicht mehr die strahlenden, frischen, mutigen jungen Menschen, die sie waren, sie haben mehr Ecken und Kanten, werden realer, und durchleben die nicht gerade aufbauende Entwicklung unserer Zeit. Ich kann den Verlag also durchaus verstehen, Oetinger ist kein Belletristikverlag. Dennoch wollten Tom und ich (Tom, einer meiner Berliner Freunde, ist quasi der logistische Teil des Teams) das dritte Buch nicht einfach in der Schublade liegen lassen, wenn es eine Hand voll Leuten liest, reicht das schon.

Planen Sie ein neues Buch? Falls ja, mögen Sie etwas darüber verraten?
Ja. Allerdings versuche ich gerade, drei Bände in einen zu quetschen und frage mich, ob das gut geht.
Wie gesagt, diesmal kommt mein Protagonist aus Kanada. Es ist ein junger Mensch, der eine Reportage über einen ganz anderen Fluchtweg plant, einen, der uns hier mehr angeht und von dem in Europa wenige Menschen wissen, wie ich festgestellt habe: Die Reise auf der Panamericana nordwärts.
Dies ist die Alternative für die Afrikaner, die nicht im Mittelmeer ertrinken wollen – und für viele andere Menschen, die den Weg schon länger nutzen. Die relativ laxen Einreisebestimmungen von Ländern wie Brasilien gestatten es beispielsweise Somaliern oder Bangalen, dorthin zu fliegen oder, von Afrika aus, mit dem Schiff zu reisen. Dann machen sich diese Menschen auf den Weg durch sämtliche Länder Süd- und Mittelamerikas bis in die USA und inzwischen bis nach Kanada. Dies ist auch der Weg des afrikanischen Jungens, mit dem ich in dem kleinen Buch „Was kann einer schon tun?“ gesprochen habe, und während ich dafür recherchierte, kam mir die Idee, über die Panamericana-Reise zu schreiben. Im Darien-Dschungel zwischen Kolumbien und Panama kommt es seit einigen Jahren zu der kuriosen Situation, dass sich, da das die engste Stelle ist und alle „da durch müssen“, Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und mit den unterschiedlichsten Fluchtgründen treffen, mitten im Dschungel. Dort ist ein „Loch“ in der Panamericana: Es gibt keine Straßen, nur Fuß- und Wasserwege durch dichtesten Urwald, wo einheimische „Coyoten“, Schleuser, die Menschen über die Grenze führen. Abgesehen vom Darien-Dschungel ist es aber generell eine sehr interessante und vor allem sehr weite Reise, die durch viele, viele Länder mit vielen, vielen unterschiedlichen und doch ähnlichen Problemen führt. Das Buch beleuchtet Fluchtgründe abseits vom klassischen Krieg, den man sich unter einem Krieg eben vorstellt. Es geht sehr viel um die momentane anthropogene Zerstörung der Erde: der Klimawandel und der Ausverkauf der globalen Energieresourcen ist eigentlich, wenn man genau hinsieht, der vorrangige Fluchtgrund überhaupt. Er wird eine Völkerwanderung auslösen, die wir uns heute kaum vorzustellen im Stande sind. Man vergisst oft, dass auch Kriege durch Dürre und Missernten, Streit um Wasserrechte oder Bodenschätze bedingt werden: Ein Krieg ist vorrangig ein Wirtschafts- und nur nachrangig und angeblich ein Glaubenskrieg oder eine politische Auseinandersetzung.
Aber hier sind wir schon zu tief im Thema.
Und da das alles abschreckend theoretisch klingt:
Der nächste Roman wird eine Abenteuergeschichte sein, die einen kleinen somalischen Jungen und einen 19-jährigen Kanadier mit einer unhandlichen Photokamera vom Amazonasdschungel über mexikanische Zugdächer bis ins kanadische Eis führt. Eine Geschichte über die Unmöglichkeit, „nur“ über etwas Bericht zu erstatten, ohne tief, vielleicht tödlich, darin involviert zu werden.
Und letztlich ein Aufruf dazu, dieses runde blaue Ding, auf dem wir leben, irgendwie noch zu retten.

Lieber Peer Martin, herzlichen Dank für diese umfangreichen Einblicke!

Bis also diese neue Abenteuergeschichte von Peer Martin hier auf den Markt kommt, lest Winter so weit und Feuerfrühling – aktuellere Fiktion zu den Geschehnissen in Syrien gibt es – meines Wissens – momentan nicht. Die Leser_innen von Band 1 dürften in den drei Jahren, die zwischen den Erscheinungen der Bücher liegen genauso erwachsen geworden sein wie die beiden Helden und somit auch der vom Zuckerguss befreiten Story gewachsen sein. So hart sie auch ist, sie erklärt so manches, was wir schon wieder verdrängt haben.

Peer Martin: Winter so weit, Oetinger, 2017, 560 Seiten, 16 Euro
Peer Martin: Feuerfrühling, Tredition, 2017, 524 Seiten, 15,99 Euro

 

Von Visionen und Tatsachen

zerocalcareSeit ein paar Wochen wird im Norden Syriens wieder gekämpft. Nicht gegen den IS, sondern dieses Mal geht die Türkei gegen die Kurden vor. Die Verhältnisse sind so verwickelt, dass ich nicht behaupten kann, ich hätte da irgendwie den Durchblick. Fakt ist, dieser Krieg ist mal wieder schrecklich und unsinnig. So wie jeder Krieg.

Wer auf unkonventionelle Weise ansatzweise etwas über die Verhältnisse im Norden Syriens und in den Kurden-Gebieten dem sei – nun endlich mal – die Graphic Novel Kobane Calling des Römers Zerocalcare, in der Übersetzung von Carola Köhler, sehr empfohlen.

Bereits vor knapp vier Jahren war der Comiczeichner mit Freunden im kurdisch-syrischen Grenzgebiet, um humanitäre Hilfsgüter zu liefern. Doch bei dem einen Tripp ist es nicht geblieben, Zerocalcare, der in Rom das kurdische Zentrum frequentiert, fährt ein zweites Mal hin, um Überwachungskameras nach Kobane zu bringen.

In klaren schwarzweiß Zeichnungen schildert Zerocalcare die charmante Mischung aus Naivität, einem großen Herzen und Chaotentum, mit der die italienische Hilfstruppe losreist und auf die harte Realität im umkämpften Grenzgebiet trifft. Sie erleben Kämpfer, die nicht wie Rambo aussehen, auf Zollbeamte, die sich nicht verarschen lassen und die Kameras beschlagnahmen, auf Frauen, die mit Waffen umgehen können und mutiger sind als so mancher Kerl. Sie erfahren von den unterschiedlichen Schicksalen der Bevölkerung, und obwohl die Kameras weg sind, reisen sie weiter.

Das Ganze entwickelt sich zu einem Roadtrip, bei dem sie über das irakische Erbil, das erstaunlicherweise eher einem Wprk-in-progress-Dubai gleicht, nach Syrien einreisen. Sie schaffen es mit viel Geduld und Telefonaten bis nach Kobane, der Stadt, deren Bewohner den IS wieder vertrieben und die seit dem als Inbegriff des Widerstands gilt. Zudem ist Kobane die Hauptstadt des nicht-anerkannten Kurdenstaats Rojava, dessen Gesellschaftsvertrag, den Zerocalcare zitiert, das Ideal eines demokratischen Staates zeichnet, in dem Frauen komplett gleichberechtigt sind, Religionsfreiheit herrscht und die Todesstrafe abgeschafft ist. Das Pazifistenherz des Zeichners schlägt höher. Und wo sie schon mal in der Gegend sind, reist die Gruppe auch noch weiter nach Kandil, dem eigentlich unzugänglichen Kerngebiet der PKK.

Bei all dem geht Zerocalcare jedenfalls immer wieder der Arsch gehörig auf Grundeis. Die nahen Bombeneinschläge, die Kontrollen, eine handylose Zeit, die Nähe des IS und die überall drohenden Gefahren treiben ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Und über seine aufgerissenen Augen macht er seine Emotionen perfekt sichtbar. Dennoch ist er mutig genug weiterzufahren, sich mit den Menschen auseinanderzusetzen und die heimischen Politiker der Heuchelei zu bezichtigen, die Hilfe versprechen und doch offensichtlich keine Ahnung von den wahren Zuständen haben.

Am Ende der Graphic Novel ist die Geschichte nicht zu Ende. Das wissen wir aus den aktuellen Nachrichten nur zu gut. In diesem Sinne ist sie aber ein wertvolles Mosaikstückchen, um die undurchschaubaren Vorgänge im kurdischen Grenzgebiet wenigsten ein My besser zu verstehen.

Diese Graphic Novel ist aus vielerlei Gründen kein Sonntagsspaziergang. Sie ist prall gefüllt mit Texten und Informationen. Als Übersetzerin aus dem Italienischen habe ich sie bereits 2016 im Original gelesen und kurz überlegt, ob ich sie übersetzen wollen würde, falls ich je gefragt würde (was eh nicht passiert wäre, weil ich nicht die richtigen Kontakte habe).
Mittlerweile bin ich froh, dass dieser Kelch an mir vorübergegangen ist, denn was mir über die Honorierung der exzellenten Übersetzung durch Carola Köhler zu Ohren gekommen ist, hat mich entsetzt. Natürlich sind Comic-Produktionen kostspielig und Übersetzungen gibt es auch nicht gratis, aber solch anspruchsvolle Texte, wie der von Zercocalcare, voll römischem Slang und italienischer Umgangssprache, dazu all die Realien aus dem Kriegsgebiet und die unzähligen Anspielungen des Autors, die die Übersetzerin zum Teil mit erklärenden Fußnoten versehen hat, sollten schon angemessener entlohnt werden, als es in diesem Fall geschehen ist.
Darum können wir Carola Köhler nur danken, dass sie mit so viel Idealismus, Herzblut und Leidenschaften dieses Mammutwerk in kürzester Zeit (das auch noch!) für ein viel zu geringes Honorar so vorzüglich ins Deutsche gebracht hat.

Was im rein optischen Vergleich von italienischem Original und deutscher Ausgabe noch auffällt, ist das unterschiedliche Lettering. Auch das ist ein Problem der Graphic-Novel-Übersetzungen, lettern doch die Comic-Künstler meist von Hand und schaffen so jedes Mal einen neuen Schriftfont – und viel wichtiger, damit ein stimmiges Gesamtbild eines Panels.
Zerocalcare, der 2015 mit Dimentica il mio nome (nicht ins Deutsche übersetzt) für den Premio Strega nominiert war, hat in seiner italienischen Version in einer ziemlich großen Versalienschrift die Sprechblasen gefüllt, ohne viel Weißraum.
Ohne diese raumgreifenden Texte ist die ganze Geschichte nicht zu verstehen. Hier kann man nicht einfach durchblättern und versteht bereits über die Bilder alles. Hier muss man lesen, um an die Informationen zu kommen. Daher ist für mich die Größe der Schrift auch ein Zeichen der Wichtigkeit der Inhalte.
Im Deutschen ist eine offensichtliche Maschinen-Versalienschrift zum Einsatz gekommen, die kleiner ist und mehr Platz in den Sprechblasen lässt. Das mag Puristen, die es gern luftig haben, erfreuen. Doch damit geht komplett der punkig-rotzige Charme von Zerocalcares Texten verloren. Die deutsche Fassung wirkt auf mich so viel geordneter und distanzierter. Doch genau das ist, meiner Meinung nach, nicht die Intention von Zerocalcare gewesen. Er war dicht dran, er hat versucht, diese Distanzen zu überwinden, und es ging auf seiner Reise in dieses umkämpfte Gebiet eben nicht immer ordentlich zu.

Doch das lese ich nun – zugegebenermaßen erst im Vergleich – aus seinem Werk auch heraus. So wäre es natürlich schön gewesen, wenn es in der deutschen Fassung ein ähnliches Handlettering mit all den Unebenheiten und bis zum Rand ausgefüllten Sprechblasen gegeben hätte. Aber auch das wäre wieder einmal teuer geworden und hätte den Copy-Preis für eine Ausgabe in solche Höhen getrieben, der einfach nicht mehr zu vertreten gewesen wäre. Und das ist leider immer noch ein echtes Dilemma beim Übersetzen von Graphic Novels.

Zerocalcare: Kobane Calling, Übersetzung: Carola Köhler, avant-Verlag, 2017, 272 Seiten, 24,95 Euro

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Die Spirale des Lebens

bondouxEs war ein mal ein Buch … das gibt mir Rätsel auf. Und fasziniert mich doch ganz ungemein. So jüngst geschehen nach der Lektüre von Anne-Laure Bondouxs neuem Roman Von Schatten und Licht, in der sehr gelungenen Übersetzung von Maja von Vogel.

Bondoux erzählt die Geschichte von dem Mädchen Hama und dem Jungen Bo. Beide arbeiten in einer riesigen Fabrik in einem nichtgenannten Land in einer unbestimmten, aber fast gegenwärtigen Zeit. Hama und Bo sehen sich immer beim Schichtwechsel und verlieben sich. Sie verbringen die wenige Zeit, die sie gleichzeitig frei haben, zusammen. Doch etwas Düsteres liegt über der Fabrik, ein alter weiser Mann macht dunkle Vorhersagen, bis eines Tages die Fabrik in die Luft fliegt. Hama wird schwer verletzt, Bo entkommt der Katastrophe durch einen Zufall.

Doch nun schlägt Bo der Hass der Bevölkerung entgegen, glauben doch plötzlich alle, dass er für das Unglück verantwortlich ist. Hama und Bo verlassen die Stadt, ziehen in die Einöde. Dort gebiert Hama eine Tochter, Tsell, die die Gabe besitzt, ihre Schatten in die Silhouetten von allen möglichen Tieren zu verwandeln.

So wie Tsells Schatten sich beständig verändert, so verändert sich auch die Geschichte von Seite zu Seite, Kapitel zu Kapitel. Bondoux wechselt in den Kapiteln die Perspektive, anfangs lässt sie ein unbekanntes „Wir“ erzählen, später wird Tsell zur Erzählerin. Das mag ein wenig verwirren, entwickelt aber gleichzeitig einen Sog, der einen das Buch nicht mehr weglegen lässt. Denn in allem verhandelt Bondoux nichts weniger als die menschliche Existenz in ihren Facetten und Widersprüchlichkeiten. Liebe und Hass prallen aufeinander, die Freude weicht der Angst, die Sicherheit der Unsicherheit. Aus dem Aufbruch wird ein Rückzug, die Helden erleben eine Zeit des Friedens, bis der Krieg auch sie auf ihrer paradiesischen Landzunge einholt und das Glück der Familie zerbricht. Und wieder ein Aufbruch erfolgt, der zu einer Rückkehr wird.

„Wer ständig glücklich sein will, muss sich oft verändern“, hat angeblich Konfuzius gesagt. So ähnlich vollzieht es sich in dieser Geschichte, in der nichts dauerhaft ist, und schließlich die nächste Generation, in diesem Fall Tsell und ihr Freund Vigg, den Weg wieder zurückgehen und sich auf die Suche nach den familiären Wurzeln machen. Die Geschichte mäandert und kreist, bis sich Anfang und Ende fast wieder berühren. Über allem liegt die unbeantwortete Frage: „Glaubst du, man muss immer einen Teil von sich verlieren, damit das Leben weitergeht?“

In unserer unruhigen Zeit ist dieser rätselhafte, märchengleiche Roman eine wahre Herausforderung. Und das meine ich im positiven Sinne. Denn es erschließt sich nicht sofort, was Bondoux eigentlich sagen will. Viele Szenen sind mysteriös – so treffen Bo und Hama auf eine zwergenhafte Familie, die in einem Berglabyrinth lebt –, aber genau dies bietet jedem Leser eine riesige Spielfläche für Assoziationen und eigene Interpretationen. Jeder kann in diesem Roman ein Stück des eigenen Lebens finden. Pubertierende werden sich mit den wechselnden Schatten von Tsell, die einfach noch nicht weiß, was sie eigentlich sein will, möglicherweise identifizieren können.
Man findet die Kritik an der Gesellschaft, die möglichst schnell Sündenböcke für irgendetwas braucht. Man erlebt die Sehnsucht nach dem Paradies, das jedoch schon längst verloren ist, wenn man sich doch nur mal ein paar Schritte davon entfernt und seinen Horizont erweitert. Man erfährt, wie wichtig es ist, die eigenen Wurzeln zu kennen.

Je mehr ich über Bondoux Werk nachdenke, je mehr könnte ich solcher Erkenntnisse hier niederschreiben. Doch das ist nicht der Sinn der Sache hier. Denn jeder Leser muss seine eigenen Schlüsse aus dieser merkwürdig schönen und gleichzeitig dramatisch und zutiefst menschlichen Universalgeschichte ziehen. Man wird viel und lange über Bondouxs Roman diskutieren können und sich doch, so wie es bei Märchen nun mal üblich ist, dennoch getröstet und verstanden fühlen. Eine große Geschichte mit langem Nachhall.

Anne-Laure Bondoux: Von Schatten und Licht, Übersetzung: Maja von Vogel, Carlsen Verlag, 2016, 252 Seiten, ab 14, 17,99 Euro

Gegen Unterdrückung, gegen Hass

nuriIch bin fertig. Völlig fertig. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Eben haben ich den Roman Sommer unter schwarzen Flügeln von Peer Martin beendet. Nach überdurchschnittlich langer Lesezeit. Aber es ging nicht schneller. Denn die Geschichte von Nuri und Calvin ist keine leichte Kost. Zumal die aktuellen Nachrichten aus Syrien und Tröglitz die reale Bestätigung von Martins Fiktionalisierung sind. Aber der Reihe nach.

Martin erzählt von der 18-jährigen Nuri, die mit ihrer Familie vor dem Krieg aus Syrien geflüchtet ist und nun in einem Flüchtlingsheim in Stralsund lebt. Eines Tages trifft sie bei der alten Jüdin Frau Silbermann auf Calvin, ebenfalls 18, der seine jüngeren Brüder vom Nachhilfeunterricht abholt.
Calvin ist Neo-Nazi, mit Springerstiefeln, rechten Tattoos am Körper und rechten Ideen im Kopf. Die Asylbewerber sind für ihn und seine rechte Clique das Feindbild schlechthin. Dennoch ist er von der schwarzlockigen Nuri vom ersten Moment fasziniert.
Nuri beginnt, ihm von der Revolution, den Misshandlungen durch die Geheimdienstleute, dem Krieg und den Zerstörungen in Syrien zu erzählen.
Will Calvin das alles anfangs überhaupt nicht hören, entwickeln Nuris Geschichten jedoch so einen Sog, dass er immer mehr in die untergegangene Welt Syriens eintaucht. Immer öfter begegnen sich Nuri und Calvin. Zuerst zufällig, dann ganz gezielt. Nuri weiß um Calvins politische Einstellung, doch seine grünen Augen und seine Sommersprossen lassen sie nicht mehr los. Über viele, viele Seiten entwickelt sich ganz langsam eine große Liebe zwischen den beiden. Und Calvin fängt genauso langsam an, seine politische Einstellung abzulegen.
Immer größer wird der Zwiespalt in ihm: Nach außen macht er noch in seiner Clique mit, wird der neue Anführer, plant etwas „Großes“ gegen die Asylanten, innerlich jedoch geht er immer mehr auf Abstand, hintergeht die alten Freunde, fängt an Arabisch zu lernen.
Seine Kameraden werden misstrauisch, und als die Polizei ihre Laube im Kleingartenverein durchsucht und gehortetes Benzin sicherstellt, wird eine Gewaltspirale in Gang gesetzt, die bis zur letzten Seite andauert.

Martins Roman erzählt zwei Geschichten in einer. Ich war hin- und hergerissen zwischen den Welten, manchmal wollte ich den Wechsel nicht. Doch es fügt sich hervorragend zu einem erschreckend aktuellen Bild und spannenden Plot zusammen. Die Ereignisse in Syrien rollt Martin durch Nuris Erzählungen akkurat recherchiert von Anfang an auf, man wird daran erinnert, wie alles vor nur wenigen Jahren begann. Die Bilder in den Nachrichten und im Internet betrachtet man nach dieser Lektüre mit anderen Augen, mit Nuris Augen, und hat wie Calvin den Eindruck dort gewesen zu sein. Es nimmt einen mit, im Guten wie im Schlechten.
Auf eine andere Art erschreckend sind die Einblicke, die Martin in die rechte Szene Deutschlands gewährt. Lange hat er als Sozialarbeiter mit Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten gearbeitet und dort den Rechtsextremismus täglich erlebt. Diese Erfahrung schlägt sich in authentisch gezeichneten Szenen, Dialogen und Ansichten der Figuren wieder. Man mag es eigentlich nicht lesen, so real kommen die Diskussionen in der Clique daher. Doch Martin gelingt es, dass keine Verherrlichung dieses Gedankengutes aufkommt. Denn Calvins Zweifel und sein Wandel zum Aussteiger widerlegen die irrsinnigen Überzeugungen der Neo-Nazis und zeigt die Absurdität der Deutschtümelei (ein bisschen zum Schmunzeln sind die internationalen Namen der Clique wie Calvin, Kevin, Cindy, Kimberley …).

Die Erschütterung, die von diesem Buch also ausgeht, ist für mich vielfältig: Der Schrecken in Syrien rückt unglaublich nah, gleichzeitig wächst die Wut, dass scheinbar niemand diesem Land und seinen Menschen hilft. Und dass die Asylpolitik in diesem Land noch sehr zu wünschen übrig lässt, um es mal „nett“ zu formulieren. Hinzu kommt der Horror und die Abscheu vor den rechten Strömungen im eigenen Land, die mich fast krank machen.
Dennoch sollte Sommer unter schwarzen Flügeln gelesen werden, nicht nur von jungen Leuten, sondern von allen. Denn es bietet neben einer spannenden Liebesgeschichte vor allem Aufklärung und Diskussionsstoff – so dass kleingeistiges Denken, welcher Couleur auch immer, Gewalt und Unterdrückung in Zukunft hoffentlich keine Chance mehr bekommen.

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, Oetinger, 2015, 528 Seiten,  ab 16, 19,99 Euro

Durch die Hölle

khmerNormalerweise versuche ich immer einen schönen Einstiegssatz für eine neue Rezension zu finden, einen aktuellen Bezug oder etwas, das mit meinem Leben zu tun hat. Bei diesem Buch, Der Tiger in meinem Herzen, dem neuen von Patricia McCormick, fällt mir das gerade unglaublich schwer. Denn mit Kambodscha und den Roten Khmer hatte ich bis jetzt noch nichts zu tun. Aktuell ist das Thema auch nicht gerade, dafür mal wieder ein Gedenkjahr. Denn vor 40 Jahren übernahmen die Roten Khmer die Macht. Grund genug, daran zu erinnern.

Autorin Patricia McCormick tut dies auf eine erschütternde und zugleich mitreißende Art, indem sie die Lebensgeschichte des Human-Rights-Aktivisten Arn Chorn-Pond nacherzählt. Arn war neun Jahr alt, als die Roten Khmer 1975 an die Macht kamen und das Land in eine Art von Agrarkommunismus überführen wollten. Dies taten sie mit aller Gewalt und ohne jegliche Gnade. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen verloren ihr Leben. McCormick lässt Arn in der Ich-Perspektive erzählen und das, es sei hier vorweggenommen, ist nichts für zartbesaitete Leser, egal welchen Alters.

Denn Arn hat Dinge gesehen, die man sich kaum vorstellen kann und mag. Beginnend mit der Vertreibung der Bevölkerung aus der Stadt erlebte der Junge, wie die Roten Khmer alle Menschen liquidierten, die ihrer Meinung nach bourgeoise oder Freunde Amerikas waren. Wer auch nur einen Hauch von Bildung besaß, wurde hingerichtet, wer kein Bauer war, wurde hingerichtet, wer nicht genug körperlich arbeitete, wurde hingerichtet, wer den Marsch aus der Stadt nicht durchhielt, Alte, Kinder, Kranke, wurde liegen gelassen oder erschossen. Wer die Fragen der Roten Khmer beantwortete, auf die eine oder die andere Art, wurde hingerichtet. Man konnte es ihnen nie richtig machen.
Arn machte sich unsichtbar, versuchte, nicht aufzufallen. Vielleicht die einzige Möglichkeit, der Willkür zu entkommen. Er arbeitete auf den Reisfeldern, den Killing Fields, in unendlich langen Schichten, die nicht einmal Erwachsene unbeschadet überstehen konnten. Er beobachtete, er sah, wie Kinder fortgebracht wurden und nicht wiederkamen. Er sah die Leichenberge im Mangohain. Und er fiel nicht auf.

Erst als eines Tages Musiker gesucht wurden, meldete er sich. Vielleicht war das seine Rettung. Jedenfalls lernte er die Khim zu spielen und die Machthaber mit ihren Revolutionsliedern zu unterhalten. Doch die Musik, die er zusammen mit anderen Kindern spielte, wurde auch per Lautsprecher auf die Reisfelder übertragen – um das Töten zu übertönen.
Als der Krieg aus Vietnam auf Kambodscha übergriff, fiel Arn wieder nicht auf. Er wurde Kindersoldat, konnte anfangs das Gewehr kaum halten. Er lernte das Töten, wurde selbst zum Roten Khmer und überlebte auch dieses Grauen.
Schließlich gelang ihm die Flucht nach Thailand.

Arns Geschichte ist die Hölle.

Gerade deswegen muss sie erzählt und erinnert werden, zeigt sie doch auf die grausamste Art, was Menschen anderen Menschen antun können. Sie mag zwar 40 Jahre her sein, doch die aktuellen Konflikte auf der Welt beweisen immer wieder, dass der Mensch nicht unbedingt aus der Geschichte lernt. Laut UNO-Angabe kämpfen derzeit etwa 250000 Kindersoldaten auf dem Globus. Jeder einzelne ist einer zuviel. Arns Geschichte zeigt, wie es dazu kommen kann, dass Kinder zu Kanonenfutter, Ködern, willigen Helfern und Mördern werden können. Die Art des Regimes, das dahinter steckt, ist fast schon egal, sobald Kinder dafür missbraucht werden und das Kämpfen für sie die einzige Überlebenschance darstellt.

Bei all dem Elend auf dieser Welt bin ich immer völlig überfordert, wie man Abhilfe schaffen kann. Es zerreißt mir immer schier das Herz, wenn ich so etwas wie von Arn lese – und mir klar mache, dass er gerade einmal ein Jahr älter ist als ich und diese Hölle immer noch in sich trägt. Und die derzeitigen Kindersoldaten in diesem Moment in dieser Hölle leben müssen. Es ist so verdammt fürchterlich.
Umso mehr sei Arn Chorn-Pond und Patricia McComick gedankt, dass sie diese Geschichte erzählen – die übrigens sehr angenehm von Maren Illinger ins Deutsche übersetzt wurde – und so das Bewusstsein sowohl für die Historie als auch für den gegenwärtigen Missbrauch von Kindersoldaten schärfen.

Lest dieses Buch.

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem HerzenÜbersetzung: Maren Illinger, FISCHER KJB, 2015, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Die Facetten des Todes

1000TodeSeit ein paar Wochen tauchen in meinen sozialen Netzwerk-Accounts immer wieder Posts und Tweets zu einem E-Book-Projekt auf, das unter dem Namen Tausend Tode schreiben steht. Wochenlang habe ich die Hinweise immer wieder weggeklickt – was sollte ich mit so einem E-Book schon zu tun haben? – bis ich an einem freien Nachmittag mal genau nachgelesen und nachgedacht habe. Dann hat es Klick in meinem Hirn gemacht.

Hinter diesem Projekt von Verlegerin Christiane Frohmann steht die Idee, ein Bild vom Tod zu vermitteln, so wie er in unserer Gesellschaft in mannigfaltiger Art vorkommt und wahrgenommen wird. Tausend kurze Texte über persönliche Ansichten und Erlebnisse mit dem Tod sollen dafür gesammelt werden. In der aktuellen Ausgabe sind 350 zutiefst subjektive Geschichten, mal länger, mal kürzer, vereint.
Noch habe ich nicht alle gelesen. Man kann sie auch gar nicht alle in einem Rutsch lesen, zu anrührend und bewegend, zu traurig sind diese Texte oftmals. Da sterben Lebenspartner, Eltern, Verwandte, Freunde, am Alter, an schlimmen Krankheiten, gefallenen Kameraden wird die letzte Ehre erwiesen, man reist zu letzten Begegnungen, erlebt Unfälle und tödliche Zufälle, da kämpft man mit bürokratischem Wahnsinn beim Abmelden eines Telefonanschlusses, kämpft gegen Depressionen, macht sich auf den eigenen Tod gefasst.
Manchmal bleibt man als Leser sprachlos zurück, mit einem Kloß im Hals. Man kommt unwillkürlich ins Grübeln und ist doch irgendwie getröstet, weil diese Anthologie einem zwar mit aller Wucht das Unvermeidliche vor Augen führt, dabei aber zeigt, dass man nicht allein ist.

Tausend Tode schreiben gleicht einem anwachsenden Requiem. Es gibt den Zurückgebliebenen einen Raum, ihre Erinnerungen, ihren Schmerz zu teilen. Den Lesern liefert es ein facettenreiches Puzzle, das jenseits von theoretischem Philosophieren und religiösen Hilfskonstruktionen den Tod zeigt, wie er im Alltag vorkommt, wie er Teil unseres Leben ist.

Meine Geschichte habe ich nach einer schlaflosen Nacht schließlich auch hinzugefügt. Sie hat die Nummer 349.

Christiane Frohmann (Hg.): Tausend Tode schreiben, Frohmann Verlag, e-book, 2015, 4,99 Euro

Die Autoren- und Herausgeberanteile am Erlös gehen als Spende an das Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow.

Der Mangel an Mut

irminaGab es „normale Deutsche“ während der Nazizeit? Aus der zeitlichen Entfernung möchte man sagen, nein, entweder gab es stramme Nazis, feige Mitläufer oder Verfolgte. Das ist die Außensicht. Eine Sicht von innen versucht Barbara Yelin in ihrer Graphic Novel Irmina darzustellen.

Darin erzählt sie die Geschichte der anfangs 17-jährigen Irmina, die 1934 nach London geht und dort eine Ausbildung als Fremdsprachensekretärin macht. Das Mädchen träumt von der Freiheit, will reisen, arbeiten und unabhängig sein. Auf einer Party lernt sie den Oxford-Studenten Howard kennen. Howard kommt aus Barbados und wird wegen seiner dunklen Hautfarbe angefeindet. Beide sind auf ihre Art Außenseiter, denn Irmina wird zwar als zuverlässige, fleißige Deutsche geschätzt, gleichzeitig ist sie jedoch keine Emigrantin und muss immer wieder Fragen zur Politik in Deutschland beantworten. Doch Irmina hat keine Antworten, sie changiert zwischen Trotz und Naivität, kann die Verhältnisse aus der Ferne nicht genau einschätzen.
Halt gibt ihr die Freundschaft zu Howard, die sich langsam in Liebe verwandelt.
Dann jedoch muss  Irmina nach Deutschland zurück, da die Eltern kein Geld mehr ins Ausland schicken dürfen, ihr Zimmer für eine Emigrantin gebraucht wird und sie nicht den Mut hat, sich einen Job zu suchen. Irmina verspricht Howard, so schnell wie möglich zurückzukommen.
In Deutschland findet sie zwar Arbeit im Kriegsministerium, doch das Gehalt ist schmal und ihr Antrag, nach London versetzt zu werden, wird abgelehnt. Gerade als sie sich mit geliehenem Geld ein Schiffsticket nach London gekauft hat, kommt einer ihrer Briefe an Howard zurück mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“. Daraufhin gibt sie den Avancen des Architekten Gregor nach, heiratet ihn, bekommt einen Sohn, wird zur Hausfrau und  Mitläuferin und Profiteurin des Regimes. Ihr mangelnder Mut wandelt sich in die Schuld, sich arrangiert, weggesehen und den Mund gehalten zu haben.

Yelin lenkt mit ihren gedämpft grau-braunen Panels den Blick auf das alltägliche Schicksal einer jungen Frau, deren Träume zerplatzen, die ganz auf sich gestellt ist. Die Not, der Kampf ums Überleben scheinen sie zu ihren Entscheidungen zu zwingen. Der Leser hingegen sieht die Alternativen, hadert mit ihr Angst, meint es besser zu wissen, wünscht ihr mehr Mut, empört sich über ihre Feigheit und ihr Schweigen – und hat doch auch keine Lösungen parat. Denn die Frage: „Was hätte ich damals getan?“ kann niemand wirklich beantworten, der nicht dabei gewesen war. Aber genau über dieser Frage denkt man nach der Lektüre dieser Graphic Novel verstärkt nach. Und leidet dann mit Irmina umso mehr mit, als sie nach Jahren, als alte Frau, Howard noch einmal wiedersieht und ihr die verpasste Chance so überdeutlich vor Augen geführt wird.

Irminas Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht, macht nachdenklich und zwar sehr. Yelin zeigt, wie es Menschen damals gegangen sein könnte, ohne es platt zu verurteilen. Das besorgt der Leser selbst, obwohl es kaum einfache Lösungen und Antworten gibt. Wie so oft im Leben. Aber Irmina mahnt und macht Mut, öfter mal mutig zu sein.

Barbara Yelin: Irmina, Reprodukt, 2014, 300 Seiten, 39 Euro

Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur

kriegAm Wochenende war ich in Tutzing am Starnberger See. Dort findet alle zwei Jahr in der Evangelischen Akademie eine Tagung zur Kinder- und Jugendliteratur statt, die von der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (AvJ) und dem Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität in Frankfurt am Main organisiert wird. In diesem Rahmen treffen dann Wissenschaft, Verlage, Autoren, Übersetzer, Lehrer, Buchhändler und Bibliothekare aufeinander und informieren sich und diskutieren lebhaft über ein bestimmtes Thema im Bereich Kinder- und Jugendbuch.

Im Zuge des Gedenkens an den Ausbruch des ersten Weltkriegs vor hundert Jahren stand diese Tagung ganz im Zeichen von Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur. In den Vorträgen wurde dabei sowohl ein Blick zurück geworfen, auf die Literatur, die unmittelbar im ersten Weltkrieg erschien, wie beispielsweise Nesthäkchen und der Weltkrieg von Else Ury, aber auch auf die Gegenwartsliteratur, die sich mit dem Kriegsgeschehen befasst, wie Feldpost für Pauline von Maja NielsenDer Krieg ist ein Menschenfresser von Elisabeth Zöller oder Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg von Nikolaus Nützel. Quintessenz war, dass es kaum noch Erfahrungs- und Erlebnisliteratur über den ersten Weltkrieg geben kann, da die Zeitzeugen bereits gestorben sind, und daher eigentlich nur noch die Form des historischen Romans als Darstellungsmittel in Frage kommt. Von diesen aktuellen Büchern bekamen die Tagungsteilnehmer einen plastischen Eindruck, da neben Elisabeth Zöller auch die Autoren Herbert Günther und Jürgen Seidel aus ihren neuesten Werken am Samstagabend lasen.

kriegDoch nicht nur Literatur, die den Krieg in all seinen Facetten zeigt, um so zu pazifistischem Denken anzuregen, wurde vorgestellt, sondern auch die Kriegsdarstellung in Tiererzählungen und -animationsfilmen sowie in zeitgenössischen Computerspielen wurde betrachtet. Mag das für Außenstehende abwegig klingen, so ist dieser Blick über den Tellerrand jedoch immer sehr erhellend und aufschlussreich, zumal zu unserem täglichen Konsum von Kulturgut Film und Computer mittlerweile selbstverständlich dazugehören. Filme wie Antz oder Das große Krabbeln, die ab sechs Jahren freigegeben sind, konfrontieren die Kinder bereits früh mit Kriegsgeschehen und militärischen Machtspielen. Ähnlich scheint es bei Computerspielen zu sein, mit denen ich mich so gut wie gar nicht auskenne. Auch dort gibt es Spiele, in denen gekämpft, angegriffen und zerstört wird, an die bereits Sechsjährige heran dürfen. Hier entspann sich kurz eine Diskussion um Ächtung von Kriegs- und Killerspielen, die zwar berechtigt, für die diese Tagung jedoch der falsche Ort war, ging es doch vornehmlich um eine Präsentation des Ist-Zustandes und dem, was es in unserer Gesellschaft alles gibt. Eine moralische Bewertung des Phänomens Ego-Shooter muss an anderer Stelle geschehen.

mutter kriegFür mich war darüber hinaus noch der Workshop zum ersten Weltkrieg im Comic interessant. War der Große Krieg  lange Zeit nur in wenigen Publikationen von Hugo Pratt, Jacques Tardi oder Markus Wiedenhöft und Dirk Fastermann ein Thema, so gibt es  momentan doch einige neue Graphic Novels dazu.
Die umfangreichste ist die Gesamtausgabe Mutter Krieg von den Franzosen Kris und Mael, die vor dem Hintergrund der Schlachten an der französischen Westfront einen Kriminalfall inszenieren. In aquarellierten Panales mit zarten Tuschzeichnungen werden die Schrecken des Krieges eindrücklich sichtbar: jugendliche Soldaten, Grabenkämpfe, Panzer, Giftgasangriffe – das Spektrum ist umfangreich in diesem Werk. Leider ist die Übersetzung hier nicht ganz stimmig, was u.a. an den zu aktuellen Schimpfworten oder dem nicht korrekten Ave-Maria zu erkennen ist. Es hat mich schon ein wenig gewundert, dass bei der deutschen Produktion dieses in Frankreich sehr geschätzten Bandes darauf nicht richtig geachtet wurde. Übersetzen ist überhaupt nicht einfach, das weiß ich aus Erfahrung, und ich habe höchsten Respekt vor der Arbeit der Kollegen, doch ein gutes Lektorat gehört einfach dazu, denn kein Übersetzer ist perfekt.
In Sachen Comics zum ersten Weltkrieg muss ich also noch weiterschauen, was sich zu lesen lohnt.

kriegLohnend scheint auf jeden Fall der Erzählband Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen zu sein. Herausgeberin Alexandra Rak hat dafür 15 Autorinnen und Autoren angeschrieben und um eine Erzählung zum ersten Weltkrieg gebeten. So finden sich in diesem Band Gudrun Pausewang, Paul Maar, Kirsten Boie, aber auch Nils Mohl und Nataly Elisabeth Savina als Vertreter der jüngeren Generation und liefern neben ihren Geschichten auch Bilder aus der Zeit von vor hundert Jahren. Diesen Band werde ich mir dieser Tage  genauer anschauen.

Wie es Tagungen so an sich haben: Tutzing war anstrengend und anregend zugleich. Anstrengend, weil „nur“ herumsitzen und zuhören einen ganz schön fordern kann. Anregend, weil meine Hirnfestplatte mit Neuem gefüllt wurde, sowohl durch die hervorragenden Vorträge, als auch durch die Gespräche in den Pausen und am Abend. Meine Leseliste ist um einige Titel angewachsen – und das Thema erster Weltkrieg wird auf diesem Blog noch so einige Male auftauchen. Ganz sicher.

Herbert Günther: Zeit der großen Worte, Gerstenberg Verlag, 2014, 272 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Jürgen Seidel: Der Krieg und das Mädchen,  cbj, 2014, 480 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Kris/Maël: Mutter Krieg, Übersetzung: Marcel Küsters, Splitter Verlag, 2014, 256 Seiten, 39,80 Euro

Alexandra Rak (Hg.): Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Erzählungen über den Ersten Weltkrieg, Fischer, 2014, 320 Seiten, ab 12 16,99 Euro

Vom Traum zum Trauma

kriegKann man die Kriegsbegeisterung, die vor 100 Jahren dieses Land durchzog den heutigen Jugendlichen noch irgendwie begreiflich machen? Elisabeth Zöller kann. Nachdem ich bereits ihre Bücher über den Nationalsozialismus, die Edelweißpiraten und ihre Faschismus-Parabel vorgestellt habe, reiht sich nun Zöllers Jugendbuch Der Krieg ist ein Menschenfresser über den ersten Weltkrieg hier ein.

Darin schildert sie die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 auf zweigeteilte Art. Im ersten Teil erlebt der Leser die Begeisterung der Jungen Ferdinand und August aus Leipzig für den Krieg mit. Die Jungs melden sich freiwillig zum Militär, trotz der Ablehnung der Eltern. Zu groß ist die Lust auf „Abenteuer“. Ferdinand nimmt einen Fotoapparat an die Front mit und macht Bilder – was seinen Vorgesetzten gar nicht gefällt …

Im zweiten Teil erlebt Max 1917 die Schrecken an der belgischen Front und wird von einem wohlmeinenden Vorgesetzten zum Scharfschützen ausgebildet. Doch bei einer Aktion muss er einen Menschen töten, der kein Feind war. Traumatisiert kehrt er noch vor Kriegsende nach Berlin zurück und weigert sich, jemals wieder eine Uniform anzuziehen, sehr zum Unwillen seines Vaters. Seine Freundin Sophie steht ihm in dieser Zeit gegen den Vater und die Vorgesetzten bei, die ihn zur Herausgabe wichtiger Dokumente zwingen wollen …

Mehr möchte ich über den ziemlich spannenden Inhalt nicht verraten. Elisabeth Zöller schafft es nämlich, beide Seiten einzufangen: den Kriegstaumel zu Beginn der Auseinandersetzungen, aber auch die Traumata, die der sinnlose Stellungskrieg und vor allem die absurden Auswüchse von kriegerischen Konflikten verursachen. Geschickt macht sie klar, dass die Darstellung von Krieg in den Medien zumeist nichts mit der Wahrheit vor Ort zu tun hat, sondern dass immer Mächte dahinter stehen, die Einfluss darauf nehmen, wie die Sachverhalte Dritten präsentiert werden. So erklärt sie nicht nur die historische Kriegsführung und die entsprechende Propaganda, sondern verweist auch auf die heutige Medienmacht, der wir nur allzu gern vertrauen.

Wie schon bei dem Edelweißpiraten-Roman Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife flechtet Zöller auch hier wieder sehr viele historische Fakten und Begrifflichkeit in den Text ein, die in einem Glossar kurz, manchmal fast zu kurz, erklärt werden. Die Gewalt des Krieges ist zwar präsent, aber anders als beispielsweise bei Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues nicht zu schockierend und zu grausam dargestellt, so dass die Lektüre für Leser ab 14 erträglich bleibt. Das liegt zudem an Zöller schon fast trocken-nüchterner Sprache, die diesem schrecklichen Thema jedoch sehr gut tut, da so der nötige Respekt vor den Toten gewahrt bleibt.

Das Einzige, was mich an dem Buch stört, ist dieses Mal das Cover. Es führt ein wenig in die Irre, da die eigentlichen Protagonisten die Jungen Ferdinand und Max sind, die dem Schrecken des Krieges ins Auge sehen. So bleibt nur zu hoffen, dass sich die Jungs, an die sich dieses Buch durchaus auch richtet, nicht von dem fast verträumten Mädchen abschrecken lassen. Das wäre sehr schade und hätte dieses Buch wirklich nicht verdient.

Elisabeth Zöller: Der Krieg ist ein Menschenfresser, Hanser, 2014, 288 Seiten, ab 14, 15,90 Euro

Nachtrag vom 17.03.2014: Über Facebook wies mich Elisabeth Zöller darauf hin, dass es zu ihrem Buch begleitendes Material von Christine Hagemann gibt, das mögliche Fragen zu den Begriffen ausführlicher erklärt: http://www.elisabeth-zoeller.de/data/content/00000052/_media.00000465.pdf
Herzlichen Dank für den Hinweis!

 

 

Menschheitsgeschichte im Bilderrausch

betaWenn es bei der Lektüre von Comics so etwas wie einen Rausch- oder Schockzustand geben sollte, dann ist mir das gerade passiert. Und zwar mit Beta … civilisations volume I von Jens Harder. Denn irgendwie ist dieses Werk unfassbar. Und grandios.

Jens Harder muss ein riesiges Bildarchiv besitzen. Anders ist der Comic einfach nicht zu erklären. Mit mehr als 2000 Bildern auf über 350 Seiten stellt der Berliner Comiczeichner Harder eine Zeitspanne von unfassbaren 2,8 Millionen Jahren der Menschheitsgeschichte dar. Hat man normalerweise schon fast Probleme, drei Jahre des eigenen Lebens bis ins Details zu rekonstruieren – jedenfalls geht es mir manchmal so – fragt man sich bei diesem Konvolut beständig, wie er das wohl alles gemacht hat, ohne etwas zu vergessen.

Aber Harder hat Erfahrung in solchen Unternehmungen. Vor vier Jahren hat er den ersten Teil seiner Evolutions-Trilogie herausgebracht, Alpha. Damals habe ich noch nicht gebloggt, deshalb den Band auch nicht vorgestellt und sollte jetzt erst mal diesen ersten Teil auch noch lesen. Dort hat er sogar 14 Milliarden Jahre, vom Urknall an, dargestellt. Meine Vorstellungskraft übersteigen diese Zahlen völlig. Umso faszinierter bin ich jetzt, die relativ kurze Zeitspanne von ein paar Millionen Jahren so kurzweilig erleben zu dürfen.
In Beta beginnt Harder mit dem Tertiär, in dem die Urzeittiere aussterben und sich die Spezies der Säugetiere als anpassungs- und überlebensfähiger erweisen. Harder hält sich allerdings nicht lange bei den Tieren auf, sondern kommt rasch zu den Primaten und der Entwicklung von Homo sapiens.
Die chronologische Entwicklung des Menschen durchbricht er dabei immer wieder ganz rasch – quasi wie nebenbei – mit ein paar Bildern, die auf unsere jüngste Vergangenheit oder auf unsere Gegenwart verweisen. Dabei nutzt Harder beständig Kunstwerke, Bilder, Filmzitate, die Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und der Popkultur sind. Die Schilderung der Evolution vermischt sich mit kulturhistorischen Aha-Erlebnissen, fast wird es im Laufe der Lektüre zu einem Sport, alle Namen von Kunstwerken, Künstlern, Philosophen, Filmen, Anspielungen zu erkennen und zu entschlüsseln. Bei Stichen aus dem fernen Osten oder Götterdarstellungen aus Indien muss ich dann allerdings regelmäßig passen. Aber das macht gar nichts, sondern steigert viel mehr die Bewunderung für den Autor, der hier ein universelles Werk abgeliefert hat.

Bei all dem kommt Harder mit sehr wenig Text aus. Meist ist es nur eine Zeile und das nicht mal auf jeder Seite. Und trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – versteht man die Zusammenhänge aufs Feinste: Die anatomische Entwicklung des Daumen liefert dem Menschen neue Möglichkeiten, Dinge zu erschaffen, wie beispielsweise Keile aus Feuerstein. Dass damit der Grundstein für Krieg und später auch Kunst in unserer Welt gelegt ist, machen die Bilder in ihrer Kombination und Prägnanz unzweifelhaft klar.
Wenn wir uns heute für fortschrittlich halten, gebildet und aufgeklärt, erinnert uns Harder in seiner Evolutionsgeschichte eindringlich daran, dass unser Erbe viel weiter zurückreicht, als wir in unserer jugendlichen Eingebildetheit so glauben mögen, und dann stehen wir nämlich als frühzeitlicher Mensch im Supermarkt, wollen eigentlich nicht anders, als unsere Beute zu jagen und unser Essen zu sammeln, um dann doch verführt von der Masse der hiesigen Produkte zu den leicht verfügbaren hochkalorischen Lebensmitteln zu greifen, die uns schließlich fett machen.

Für mich stellten all diese bildlich festgehaltenen Erkenntnisse und Schlüsse einen beständigen WOW-Effekt dar, der mein kleines Herz höher schlagen ließ und, ehrlich gesagt, mich ziemlich neidisch werden ließ. Denn so ein Projekt, bei dem man so in Bildern, wissenschaftlichen Erkenntnissen, historischen Entwicklungen, Fakten und künstlerischen Darstellungen schwelgen kann, wäre ein Traum für mich (und dabei bin ich mir der vielen Arbeit, der Organisiertheit und der der Disziplin, die man für so ein Opus magnum braucht, durchaus bewusst). Aber dieses Cross-over aus Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Evolution und Erfindungsgeist, Bildern und Worten ist einfach nur großartig und bewundernswert.

Umso schöner ist es, dass es auch noch ein Volume II von Beta … civilisations geben wird. Darin wird Harder dann zwar „nur“ 2000 Jahre abhandeln, aber dafür wird jedes Kapitel vermutlich vor Bildern und Anspielungen nur so überquellen. Ich freu mich jetzt schon drauf.

Jens Harder: BETA … civilisations, Volume 1, Carlsen, 2014, 352 Seiten, 49,90 Euro

Blutzoll an eine Stadt

BerlinIn diesem Herbst habe ich Berlin nach vier Jahren verlassen. Aus guten Gründen. Dennoch blutet mein Herz. Als Kur gegen Heimweh habe ich mich dieses Mal auf die Graphic Novel Berlinoir von Reinhard Kleist und Tobias Meissner gestürzt. Und wurde in ein kongeniales Spektakel hineingezogen.

Berlinoir wird von Vampiren beherrscht. Die Menschen liefern ihnen das Blut – freiwillig oder gezwungenermaßen. Es regt sich Widerstand, immer wieder werden wirtschaftliche und politische Stützen der Vampir-Gesellschaft von Menschen umgebracht. Die Menschen setzen ihre Hoffnung in den Vampirjäger Niall, der als kommender Anführer die Stadt von der Unterdrückung durch die Untoten befreien könnte. Doch Niall sieht sich nicht als Messias, viel mehr ist er von den Vampiren angewidert, gleichzeitig aber auch angezogen. Er verliebt sich in eine Vampirfrau.
Wenig später treibt dann auch noch ein Mörder sein Unwesen in der Megacity, der eigentlich auch nur ein Vampir sein kann. Um die Vampire zu besiegen bleibt Niall schließlich nur ein Weg – er muss selbst zum Vampir werden …

Die Geschichte von Berlinoir ist durchaus komplexer, als ich sie hier kurz anreiße. Doch den verzwickten Plot muss jeder Leser selbst erkunden. Das, was mich vielmehr fasziniert und letztendlich amüsiert hat, sind die nonchalanten Seitenhiebe auf Berlin-Hype und Gewurschtele in der Stadt. Da wird im Blutroten Rathaus in der Kabinetts-Versammlung über die drei Opern und zwei Tierparks der Stadt geschimpft, die Mahnmalkultur aufs Korn genommen und mit „ruhiger Hand“ regiert. Eingebettet wird diese Politik, die nicht einfach auf irgendeine real-existierende Partei zu übertragen ist, in ein überschäumendes Berlinoir, das die wilden, expressionistischen 20er-Jahre wieder aufleben lässt.
Die Stadtarchitektur gleicht einer Mischung aus Metropolis und Gotham City. Fernsehturm, Dom, Potsdamer Platz verschwinden zwischen Hochhäusern, die man eher in New York erwartet. Auf jeder Seite entdeckt man Berliner Sehenswürdigkeiten, meist gut versteckt, oftmals dem Verfall anheim gegeben. Das Leben findet hauptsächlich nachts statt, da das Sonnenlicht bekanntermaßen eine Bedrohung für Vampire darstellt. Fledermäusen sind so zahlreich wie Ratten. Verschiedene Glaubensgruppen agieren in der Stadt. Und selbst unter den Vampiren gibt es Grabenkämpfe, die zu einer Teilung der Stadt in einen Nord- und einen Südsektor führen.
Die Anspielungen an die Stadtgeschichte von Real-Berlin sind offensichtlich, machen in ihrer überraschenden Art aber immer wieder Laune, da man beständig nach einer Einordnung oder einem Wiedererkennungseffekt sucht. Wahrscheinlich lässt sich das nicht eindeutig machen – jedenfalls ist es mir bei dieser ersten Lektürerunde nicht gleich gelungen und ich habe mit Sicherheit noch eine ganze Menge übersehen. Das macht aber erstmal gar nichts, denn so bleibt für die nächsten Male ein riesiges Potential an Neuentdeckungen und -interpretationen.

Kleists Panels wechseln von kalt-blau-dunkeln Farben zu warm-rot-orange, spiegeln so die tote Welt der Vampire und die noch blutgefüllte der Menschen. Die Figuren, die Kleist in ihnen agieren lässt, gleich denen von George Grosz, erinnern an Nosferatu von Murnau – und sind streckenweise nichts für schwache Nerven. Verbranntes Fleisch auf Schädelknochen, spritzendes Blut, rollende Köpfe und Tod reihen sich in einem fiebrigen Tanz um die Macht aneinander. Eine Stadt sucht einen Mörder. Ein Schreckensregime löst das nächst ab. Die Interpretationsebenen in dieser Graphic Novel sind so zahlreich, dass man das schon eher im wissenschaftlichen Rahmen genauer untersuchen müsste. Für den Normalleser ist auf jeden Fall eine Wonne. Das können einem die fiesen Blutsauger von Berlinoir auf gar keinen Fall vermiesen.

Der Narbenstadt Berlin, die „moderat tribalistischen Provinznachwuchs“ mit „den Ausschweifungen der Großstadtnächte“ anzieht, haben Kleist und Meissner ein düsteres, aber überaus hintersinniges Denkmal gesetzt.

Reinhard Kleist/Tobias O. Meissner: Berlinoir, Carlsen, 2013, 150 Seiten, 24,90 Euro

Bis ans Ende der Welt

FluchtIn diesen Wochen häufen sich in den seriösen Medien wieder einmal die Berichte über Flüchtlinge aus Afrika, die vor der italienischen Insel Lampedusa Schiffbruch erleiden. Die Glücklicheren unter ihnen schaffen es ans Ufer, viele, zu viele, sind dieser Tage im Mittelmeer ertrunken. Sie ermahnen uns, die wir wohlig, warm und behütet zu Hause sitzen, dass Flucht kein Spaß ist. Niemand flüchtet aus seiner Heimat aus Jux und Dollerei, sondern aus überlebenswichtiger Notwendigkeit.

Auch Deutschland kann auf eine – vielschichtige und komplizierte – Geschichte der Flucht zurückblicken. Erst zwei Generationen liegt es her, dass Juden von hier flüchteten, vertrieben von ihren eigenen Landsleuten. Ein Teil von ihnen nahm ebenfalls den Weg über das Mittelmeer, nur in umgekehrte Richtung, weiter nach Shanghai. Von diesen Menschen erzählt Anne Voorhoeve in ihrem neuen, eindrucksvollen Roman Nanking Road.
Wie schon in ihrem Buch Liverpool Street geht es um die Familie Mangold, die nun in einer anderen Variante des Lebens, die Möglichkeit bekommt auszuwandern.

Mit wenigen Dingen machen sich Ziska und ihre Eltern im Winter 1938 auf den Weg nach Genua, wo sie einen Dampfer besteigen wollen. Onkel Ernst mit Familie bleibt zurück, ebenso Ziskas beste Freundin Bekka. Obwohl die Mangolds gültige Ausreisepapiere haben müssen sie immer wieder mit den Schikanen der Nazis kämpfen, bis sie auf dem Schiff sind. Hatte die 11-jährige Zizka bis dahin geglaubt, dass das Klassendenken ein Ende hat, sobald Deutschland hinter ihnen liegt und sie sich auf dem Schiff befinden, so sieht sie sich auch an Bord mit dauerhaften Vorurteilen und Anfeindungen konfrontiert. Trost bietet da zumindest der zwei Jahre ältere Mischa Konitzer, ebenfalls Jude, der allerdings aus einer reichen Zahnarztfamilie stammt. Gemeinsam durchstehen die Jugendlichen die dreiwöchige Seereise, schmieden Pläne, wo sie sich im Notfall verstecken, und erleben die Ankunft in Shanghai.
In der von den Japanern besetzten Stadt fanden europäische Juden ohne Visum Aufnahme. In Sicherheit waren sie deshalb jedoch noch nicht. Zunächst kommen sie in einer überfüllten Flüchtlingsunterkunft unter, in der Privatsphäre nicht existiert. Ziska erlebt Hunger und Armut, sowohl bei den jüdischen Flüchtlingen, als auch  bei den chinesischen Einheimischen. Mühsam schlagen sich ihre Eltern mit körperlich anstrengenden Jobs durch. Der Vater, der eigentlich Anwalt ist, besserte Kleidungsstücke aus, die Mutter arbeitet als Abwäscherin. Die kleine Familie lebt in zwei winzigen Zimmern ohne Toilette und Küche.
Konitzers hingegen beziehen eine großzügige Altbauwohnung im französischen Sektor und scheinen ihr altes Leben fortführen zu können. Sie helfen den Mangolds, wo sie nur können.
Während all der Zeit versucht Ziska, brieflichen Kontakt zu ihrer besten Freundin Bekka und ihrem Onkel Ernst zu halten. Mit Hilfe eines Engländers, den sie auf dem Schiff kennengelernt hat, schafft sie es, Bekka auf die Liste für die Kinderverschickung nach England zu setzten. Ernst hingegen schlägt sich mit der Transsibirischen Eisenbahn und dem Schiff nach Shanghai durch. Monate später er will seine Frau Ruth, Ziskas Tante, und seine Tochter aus Berlin herausholen. Doch mittlerweile ist der Krieg ausgebrochen.

Anne Voorhoeve, die mich bereits mit Unterland begeisterte, erzählt in Nanking Road eine hochkomplexe Fluchtgeschichte, die enorm viele Aspekte des zweiten Weltkriegs und des Schicksals der Juden thematisiert. Sie verwebt die Plotstränge so geschickt, dass sich alles wie selbstverständlich ergibt und nachvollziehbar bleibt. Ziskas Sicht auf die Geschehnisse und Zustände macht die Absurdität von Judenhass, Klassengesellschaft, Arm und Reich deutlich. Ziska, die aus einer zum evangelischen Glauben konvertierten und eigentlich nicht sehr religiösen Familie stammt, erlebt, wie unterschiedlich jüdische Flüchtlinge auf der Suche nach ihrer Identität und Heimat sind. Für manche ist Shanghai nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika, andere wollen unbedingt nach Palästina. Ziska hingegen fühlt sich auch am Ende der Welt immer noch deutsch.

Neben dem Flüchtlingsschicksal und der Coming-of-Age-Geschichte von Ziska, in der es auch um Freundschaft über Jahre und Entfernungen hinweg geht, schafft Anne Voorhoeve es, die weltweite Dimension des Krieges differenziert zu illustrieren. Sind die Mangolds auch dem Krieg in Europa und dem Holocaust entkommen, so müssen sie in Shanghai den Ausbruch des Pazifischen Krieges miterleben. Die Japaner greifen die USA an, in der Folge wird auch das japanisch besetzte Shanghai bombardiert. In Ziskas Bekanntenkreis gibt es Tote und Verletzte. Flucht wird hier also nicht gleichgesetzt mit Rettung.
In vielen Dingen hat mich Voorhoeves Roman an Judith Kerrs Flucht-Trilogie-Klassiker Als Hitler das rosa Kaninchen stahl erinnert. Voorhoeve führt das Flucht-Genre weiter, und dies auf eine moderne und packend zu lesende Art – und mit sehr viel Respekt und historischem Wissen. Emotional fiebert man mit Ziska und ihrer Familie mit, gleichzeitig lernt man unglaublich viel über eine Facette des zweiten Weltkriegs, die meines Wissens im Jugendbuchbereich noch nicht thematisiert wurde. Diese Erinnerung an die Shanghailänder ist ein wichtiger Beitrag, um jungen Lesern die globale Dimension dieser Katastrophe begreifbar zu machen.

In Bezug auf die Lampedusa-Flüchtlinge könnte sich die deutsche Gesellschaft von diesem Roman eine gehörige Scheibe abschneiden, wenn es um die Aufnahme von Menschen in Not geht. Denn im Gegensatz zum China der 30er und 40er Jahre ist Deutschland ein reiches Land, das durchaus mehr Flüchtlingen Schutz gewähren und ihnen eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnte.

Anne Voorhoeve: Nanking Road, Ravensburger Buchverlag,  2013, 480 Seiten, ab 14, 16,99 Euro