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Mut zur Wut

In diesen zwei exzellenten Bilderbüchern geht es um Gefühle, mit denen ich mich sehr gut auskenne: Wut und schlechte Laune. In der Kinderliteratur wurden diese Emotionen bisher sträflich vernachlässigt und wenn, dann eher negativ dargestellt. Oder zumindest als etwas, was nicht ausgelebt und möglichst vermieden werden sollte. Wie bei dem hochexplosiven Mädchen in Stefanie Höflers Helsin, Apelsin und der Spinner. Oder ausgelagert und stellvertretend eingesetzt in Manfred Mais Der Zornickel.

Ein Fest furioser Wut

Ganz anders bei Britta Teckentrup. Wütend ist ein Fest der grundlosen, furiosen Wut. Ein Mädchen sieht rot. Und feuerrot lodert es um sie herum. Es ist erst der Anfang eines tosenden Sturms, Orkans, gewaltigen Unwetters. Das Kind entfesselt Naturgewalten, der Himmel schwärzer als schwarz, Blitze, Donnerkrachen, alles umhauende Riesenwellen.
Alles von Teckentrup überwältigend und mitreißend in Szene gesetzt in vielschichtigen, computeranimierten Collagen aus kräftigem Pinselstrich, plastischem Farbauftrag, die Seiten sprengend.

Typographie außer Rand und Band

Dazu tanzen die Verse wie verrückt über die Seiten, auch die Typographie ist außer Rand und Band: »Ich donnere, blitze, schreie blase. / Wüte, wirble, heule, rase! / Ich sause und brause. Tobe und krache. / Ich fauche und fluche. Wie ein wütender Drache!«
Schließlich klart der Himmel auf, die Farben werden blasser, die Wut hat gewirkt: »Jetzt ist alles raus. Ich fühle mich frei / Ich atme tief aus. Der Sturm ist vorbei. / Meine Reise geht weiter, und nimmt ihren Lauf / Der Weg beginnt hier, die Tür steht nun auf.«

Wut ist ein Anfang

Britta Teckentrup zeigt in Wütend nicht nur einen beeindruckenden Wutanfall, unbegründet, wie ein reinigendes Gewitter. Die Wut ist ein Anfang, sie eröffnet Möglichkeiten und Wege. Durch die Wut wird das Kind sich seiner Kraft zu Veränderung bewusst.
So ist das nachgestellt Zitat der Schweizer Menschenrechts-Aktivistin und Flüchtlingshelferin Anni Lanz nur logisch: »Man muss eine Wut so umsetzen, dass sie Veränderung bewirkt.«

Ihre grundsätzlich schlechte Laune bewirkt bei Motzemieze leider keine Veränderung und bewegt auch nichts. Außer vielleicht die verstörte andere kleine Katze, die die flauschige Meckerliese mehrmals ohne Not von deren Schlafplatz vertreibt. Die Sonne ist zu hell, das Futter zu trocken, die Katzenminze zu anregend und der Staubsauger monstermäßig laut.

Glückliche sind einfach nur langweilig

Da nützt es auch nichts, dass ein Eichhörnchen der verwöhnten Kitty den Kopf wäscht und erklärt, wie gut sie es eigentlich hat. Motzemieze ist grundsätzlich schlecht gelaunt und tut das gelegentlich auch laut und sehr ausdauernd miauend seitenweise kund.
Die Literaturkritikerin und -liebhaberin Elke Heidenreich hat zwar jüngst betont, dass nur die Unzufriedenen die Welt verändern und vor allem interessante literarische Figuren abgeben. Die Glücklichen sind in ihrem Glück zufrieden und einfach nur langweilig.

Amüsante Schimpftiraden ins Mäulchen gelegt

Die Welt wird Motzemieze bestimmt nicht verbessern. Interessant ist das missgelaunte Fellknäuel auf jeden Fall. Jory John legt ihr höchst amüsante Schimpftiraden ins Mäulchen, von Andreas Steinhöfel herrlich nölig übersetzt. Und Lane Smith zeichnet den zeternden Ministubentiger unwiderstehlich niedlich. Und damit lässt man dem Kätzchen einiges durchgehen, was sich sonst keiner leisten kann. Auf keinen Fall kommt ein Erwachsener mit so dekonstruktiver und misanthropisch mieser Laune durch. Außer man ist die famose Fran Lebowitz. Die exzentrische New Yorkerin und Schriftstellerin mit bereits jahrzehntelanger Schreibblockade ist einzigartig. Vor allem in Sachen Wut und schlechte Laune ist sie die ungekrönte Königin.

Britta Teckentrup: Wütend, Prestel, 48 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahre

Jory John, Lane Smith (Illustr.): Motzemieze, Übersetzung: Andreas Steinhöfel, Carlsen, 48 Seiten, 15 Euro, ab 4 Jahre

Das Sabbatical

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An meinem Herd klebt schon seit Jahren dieser Magnet mit dem Spruch von Konfuzius. Und diese tägliche Erinnerung, dass Veränderung ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist und guttut, möchte ich nicht missen. Sie hilft mir, mit manchen Dingen gelassener umzugehen, und mahnt mich gleichzeitig nicht stillzustehen.
Jetzt mit Beginn dieses neuen Jahres, dieses neuen Jahrzehnts ist für mich wieder ein Moment der Veränderung gekommen. Ein selbstgewählter Moment, der mit diesem Blog, diesem E-Magazin zu tun hat.

Zeit für Veränderung

Gefühlt habe ich LETTERATUREN jetzt die gesamten Zehner Jahre hindurch betrieben (ja, wer nachrechnen möchte, es sind noch keine zehn Jahre, aber eine durchaus viele Jahre) und schon seit einiger Zeit merke ich, dass ich eine Pause brauche. Vom Rezensieren, vom Lesen von Kinder- und Jugendliteratur, vom Suchen nach neuem Material, von der Suche nach neuen Worten für die Rezensionen.
In den vergangenen Monaten bin ich schon einfach nicht mehr hinterhergekommen, die Massen an Neuerscheinungen zu sichten, zu bestellen und dann auch würdig zu begutachten bzw. zu lesen. Das ist gegenüber von Verlagen und Machern der Bücher nicht fair.
LETTERATUREN ist und war für mich immer ein zusätzliches Projekt neben meiner Arbeit. Als Freiberuflerin hatte ich da mal mehr, mal weniger volle Auftragsbücher. Momentan habe ich das große Glück, dass ich gut beschäftigt bin und mich mit äußerst interessanten Themen beschäftigen darf. Dafür brauche ich all meine Konzentration und Kraft.

Mehr Übersetzen, mehr selber schreiben

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In den vergangenen Wochen habe ich zudem gemerkt, dass ich mich noch mehr auf das Übersetzen von Literatur und das eigene Schreiben besinnen möchte. Das alles braucht Zeit. Zudem habe ich mir vorgenommen, wenn ich schon Bücher lese, mich endlich einmal an meinem eigenen Regal, in dem jede Menge ungelesene Bücher stehen zu bedienen und die bis jetzt aufgeschobenen Lektüren nachzuholen, statt immer neuen Stoff aus den Buchhandlungen zu holen, der dann doch wieder auf dem SUB landet.

Aus all diesen Gründen habe ich beschlossen, mir in diesem Jahr eine Auszeit zu nehmen. Quasi ein Sabbatical vom Rezensieren. Ich ahne schon, dass ich es in gewisser Weise auch vermissen werde, daher will ich gar nicht ausschließen, dass ich zwischendrin doch auch immer mal wieder Kinder- und Jugendliteratur lesen und möglicherweise besprechen werde. Doch zunächst möchte ich mich ganz frei, meinem beruflichen Büchermachen widmen.

Niemand geht so ganz

LETTERATUREN wird darum jedoch nicht eingestellt und schon gar nicht aus dem Netz genommen. Glücklicherweise hat sich Elke von Berkholz bereit erklärt, diese Seite weiter zu betreuen und Rezensionen zu veröffentlichen. Dafür, liebe Elke, jetzt schon ganz herzlichen Dank!

Herzlichen Dank für alles!

Auch bei den Verlagen und ihren Presseabteilungen bedanke ich mich sehr herzlich für die Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren, die vielen wunderschönen Rezensionsexemplare, die Veranstaltungen und guten Gespräche auf den Messen. Ich werde die KJB-Szene auf jeden Fall weiter beobachten, Vorschauen sichten, hoffentlich das eine oder andere Kinder- oder Jugendbuch übersetzen … in diesem Sinne werde ich also immer noch da sein und wir werden uns bei der einen oder anderen Gelegenheit sicher wieder treffen.

Damit wünsche ich allen Leser*innen von LETTERATUREN ein gutes neues Jahr, viele schöne, spannende und bewegende Bücher und bedanke mich bei Euch für Eure Treue! Schaut weiter vorbei …

Der kalte Hauch des sozialen Untergangs

410wW6LIryL„Doch sein Herz war im Schmerz gestorben, weil er es nicht geschafft hatte, Essen nach Hause zu bringen – und weil er dachte, seine Familie würde glauben, er hätte sie im Stich gelassen. Das stimmte nicht! Er hatte alles versucht, mit aller Kraft und all seinem Mut! Aber das wusste niemand. Und so blieb das Herz des Mannes aus Eis auch nach seinem Begräbnis im Gletscher gefangen.“

Mythisch-poetisch beschreibt die 15-jährige Erzählerin in Carla Maia de Almeidas Bruder Wolf, wie ihr Vater sich durch Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftskrise in Portugal vom heiß geliebten und bewunderten Familienoberhaupt „Schwarzer Elch“ in einen unnahbaren, innerlich toten Mann verwandelt. Mit mittlerweile 15 Jahren beginnt Bolota zu verstehen, was vor einigen Jahren mit ihrer Familie passiert ist und warum sich ihr Leben damals verändert hat. Und sie erinnert sich an eine letzte gemeinsame Fahrt mit ihrem Vater im Sommer, als sie acht Jahre alt war und ihr Vater für immer verschwunden ist.

Die portugiesische Schriftstellerin Carla Maia de Almeida gibt Bolota eine außergewöhnlich bildhafte Sprache. Das klingt nach indianischen Sagen und Überlieferungen: „Es war der Sommer der Großen Überquerung der Todeswüste. Oder einfach der Sommer der Großen Durchquerung.“ Mit diesen Assoziationen und Umschreibungen kann Bolota die Erinnerung an ein Trauma, an den großen Schmerz, der ihr als Achtjährige widerfahren ist, heraufbeschwören und erträglich machen.

Andere Metaphern und Umschreibungen stammen aus der Geographie: Da ist von tektonischen Platten die Rede, die sich unterirdisch, anfangs von der Familie noch unbemerkt, verschieben und zu immer größeren Beben und Erschütterungen führen, die schließlich alle, Vater, Mutter, drei Kinder, also Bolota sowie ihre ältere Schwester Miss Kitty und den erstgeborenen Bruder, das Fossil genannt, auseinanderreißen und zu einem Archipel vereinzelter Inseln werden lassen.

Ganz neu und ungeheuer eindringlich wird hier erzählt und von Claudia Stein sehr nachfühlbar übersetzt, wie der soziale Abstieg Menschen zerstört, Familien den Boden unter den Füßen wegzieht und auseinandertreibt, und die Gesellschaft verändert. Immer wieder muss Bolotas Familie in immer kleinere Wohnungen, immer weiter weg vom Meer ziehen, jedes Mal ganz schnell, damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Ihr geliebter Husky ist eines Tages verschwunden, angeblich zu anderen Leuten mit Garten gebracht. Die Achtjährige schnappt auf, wie man über sie sagt, sie sei „zur falschen Zeit geboren“. Ihre älteren Geschwister erzählen von glücklichen Zeiten und gemeinsamen Restaurantbesuchen mit unbeschwerten und glücklichen Eltern.

Sie selbst hat kaum solche Erinnerung. Nur ein Foto zeigt, dass es schönere Zeiten gibt: Die ganze Familie an einem Tag am Strand, und alle haben mit Sonnencreme Streifen auf die Wangen gemalt, wie eine familieneigene Stammesbemalung. Diese fast traumhaften, auch albtraumhaften Erinnerungen sind auf blaues Papier gedruckt. Auf weißen Seiten steht die Erzählung von der „Großen Durchquerung“, jener weniger Tage mit Zwischenstopps bei Verwandten, als ihr Vater sich mit ihr zum familieneigenen Haus auf dem Land aufmacht, sie aber nur noch eine Ruine vorfinden und ihr Vater endgültig alle Hoffnung verliert und nie mehr zurückkommt.

Zu etwas Einzigartigem und Unvergleichlichem wird dieses Buch durch Jorge António Gonçavalves Illustrationen in Blau, Schwarz und Weiß. Sie wirken wie Bildausschnitte und Detailaufnahmen. Auch sie haben etwas Traumhaftes, so wie man sich manchmal beim Aufwachen wundert, warum man sich gerade an jene Szene so genau erinnert oder einem im Traum ausgerechnet dieser Moment so plastisch vor Augen gekommen ist. Und gleichzeitig seine Bedeutung versteht.

Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass Illustrationen in Jugendbüchern nichts verloren hätten, oder das Ganze gleich eine Graphic Novel sein soll. Dieses stimmige, ergreifende Gesamtkunstwerk aus bildhafter Sprache und vielsagenden Bildern beweist das Gegenteil. Als hätten der düstere Punkpoet Nick Cave und die explizit und gnadenlos ehrliche Künstlerin Tracey Emin gemeinsam ein Kinderbuch geschrieben.

Elke von Berkholz

Carla Maia de Almeida: Bruder Wolf, Übersetzung: Claudia Stein, Illustration: Jorge António Gonçalves, Sauerländer, 2016, 176 Seiten, ab 12, 14,99 Euro

Oma mischt alle auf

omaSo ein Familienleben kann ganz schön geruhsam sein, wenn man es nett ausdrücken will. Jedenfalls ist das bei der Familie des zehnjährigen Henrik Gruber so: Der Vater interessiert sich nur für seine Modelleisenbahn, der Mutter ist der Garten heilig, die große Schwester hat nur Ohren und Augen für einen Teeniesänger. Henrik selbst interessiert sich eigentlich für … nichts.

Hilfe! Ich will hier raus! – Salah Naouras neuester Roman, der gerade für den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis nominiert war – fängt ganz harmlos und unschuldig an, bis eines Tages Oma Cordula vor der Tür steht. Angeblich ist ihr Altenheim abgebrannt. Dort hatte Henriks Mutter sie untergebracht, weil sie nach dem Tod ihres Mannes so tüddelig geworden war. Doch nun steht sie vor der Familie und ist alles andere als tüddelig. Resolut macht sie sich im Haus breit und mischt das ruhige Leben der Grubers gehörig auf: Denn ihr Vater hatte vor dem Krieg drei Goldbarren im Garten vergraben. Mutters Heiligtum gleicht schon nach kurzer Zeit einem Schweizer Käse, da alle Familienmitglieder eifrig nach dem Schatz buddeln. Irgendwann wird der Garten zu klein, der angrenzende Kurpark wird von Oma zum möglichen Schatzgebiet erklärt … und damit breitet sich das Goldfieber in der ganzen Stadt aus.

Leicht und witzig erzählt Salah Naoura diese Familiengeschichte, in der sich mehr versteckt als eine einfache Schatzsuche. Oma Cordula ist der Weckruf, der frische Wind, der die Grubers aufrüttelt und sie aus ihren eingefahrenen Wegen holt. So eine Erinnerung, sein eigenes Leben mal wieder auf langweilige Routine zu überprüfen, kann man auch als Leser immer wieder gut vertragen. Denn nur so entwickelt man sich weiter, wird kreativ oder schafft etwas, das auch für andere Menschen von Bedeutung sein kann.
Gleichzeitig reißt Naoura das heikle Thema der Generationen und des Zusammenlebens an: Oma Cordula fühlte sich im Altenheim nicht wohl, weil sie dort einfach nur ruhig gestellt wurde. Das Leben bei ihrer Familie ist allerdings auch nicht einfach … Die Lösung, die Naoura findet, ist sicher nicht in jeder Familie machbar, literarisch jedoch ganz entzückend – und zeigt, dass es auch im Alter noch Glück und Herausforderungen geben kann.

Hilfe! Ich will hier raus! ist ein kurzweiliger Lesespaß, bei dem auch die erwachsenen Vorleser noch jede Menge Aha-Erlebnisse haben können.

Salah Naoura: HilfeIch will hier raus! Dressler, 2014, 160 Seiten, ab 8, 12,95 Euro 
   

Menschheitsgeschichte im Bilderrausch

betaWenn es bei der Lektüre von Comics so etwas wie einen Rausch- oder Schockzustand geben sollte, dann ist mir das gerade passiert. Und zwar mit Beta … civilisations volume I von Jens Harder. Denn irgendwie ist dieses Werk unfassbar. Und grandios.

Jens Harder muss ein riesiges Bildarchiv besitzen. Anders ist der Comic einfach nicht zu erklären. Mit mehr als 2000 Bildern auf über 350 Seiten stellt der Berliner Comiczeichner Harder eine Zeitspanne von unfassbaren 2,8 Millionen Jahren der Menschheitsgeschichte dar. Hat man normalerweise schon fast Probleme, drei Jahre des eigenen Lebens bis ins Details zu rekonstruieren – jedenfalls geht es mir manchmal so – fragt man sich bei diesem Konvolut beständig, wie er das wohl alles gemacht hat, ohne etwas zu vergessen.

Aber Harder hat Erfahrung in solchen Unternehmungen. Vor vier Jahren hat er den ersten Teil seiner Evolutions-Trilogie herausgebracht, Alpha. Damals habe ich noch nicht gebloggt, deshalb den Band auch nicht vorgestellt und sollte jetzt erst mal diesen ersten Teil auch noch lesen. Dort hat er sogar 14 Milliarden Jahre, vom Urknall an, dargestellt. Meine Vorstellungskraft übersteigen diese Zahlen völlig. Umso faszinierter bin ich jetzt, die relativ kurze Zeitspanne von ein paar Millionen Jahren so kurzweilig erleben zu dürfen.
In Beta beginnt Harder mit dem Tertiär, in dem die Urzeittiere aussterben und sich die Spezies der Säugetiere als anpassungs- und überlebensfähiger erweisen. Harder hält sich allerdings nicht lange bei den Tieren auf, sondern kommt rasch zu den Primaten und der Entwicklung von Homo sapiens.
Die chronologische Entwicklung des Menschen durchbricht er dabei immer wieder ganz rasch – quasi wie nebenbei – mit ein paar Bildern, die auf unsere jüngste Vergangenheit oder auf unsere Gegenwart verweisen. Dabei nutzt Harder beständig Kunstwerke, Bilder, Filmzitate, die Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und der Popkultur sind. Die Schilderung der Evolution vermischt sich mit kulturhistorischen Aha-Erlebnissen, fast wird es im Laufe der Lektüre zu einem Sport, alle Namen von Kunstwerken, Künstlern, Philosophen, Filmen, Anspielungen zu erkennen und zu entschlüsseln. Bei Stichen aus dem fernen Osten oder Götterdarstellungen aus Indien muss ich dann allerdings regelmäßig passen. Aber das macht gar nichts, sondern steigert viel mehr die Bewunderung für den Autor, der hier ein universelles Werk abgeliefert hat.

Bei all dem kommt Harder mit sehr wenig Text aus. Meist ist es nur eine Zeile und das nicht mal auf jeder Seite. Und trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – versteht man die Zusammenhänge aufs Feinste: Die anatomische Entwicklung des Daumen liefert dem Menschen neue Möglichkeiten, Dinge zu erschaffen, wie beispielsweise Keile aus Feuerstein. Dass damit der Grundstein für Krieg und später auch Kunst in unserer Welt gelegt ist, machen die Bilder in ihrer Kombination und Prägnanz unzweifelhaft klar.
Wenn wir uns heute für fortschrittlich halten, gebildet und aufgeklärt, erinnert uns Harder in seiner Evolutionsgeschichte eindringlich daran, dass unser Erbe viel weiter zurückreicht, als wir in unserer jugendlichen Eingebildetheit so glauben mögen, und dann stehen wir nämlich als frühzeitlicher Mensch im Supermarkt, wollen eigentlich nicht anders, als unsere Beute zu jagen und unser Essen zu sammeln, um dann doch verführt von der Masse der hiesigen Produkte zu den leicht verfügbaren hochkalorischen Lebensmitteln zu greifen, die uns schließlich fett machen.

Für mich stellten all diese bildlich festgehaltenen Erkenntnisse und Schlüsse einen beständigen WOW-Effekt dar, der mein kleines Herz höher schlagen ließ und, ehrlich gesagt, mich ziemlich neidisch werden ließ. Denn so ein Projekt, bei dem man so in Bildern, wissenschaftlichen Erkenntnissen, historischen Entwicklungen, Fakten und künstlerischen Darstellungen schwelgen kann, wäre ein Traum für mich (und dabei bin ich mir der vielen Arbeit, der Organisiertheit und der der Disziplin, die man für so ein Opus magnum braucht, durchaus bewusst). Aber dieses Cross-over aus Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Evolution und Erfindungsgeist, Bildern und Worten ist einfach nur großartig und bewundernswert.

Umso schöner ist es, dass es auch noch ein Volume II von Beta … civilisations geben wird. Darin wird Harder dann zwar „nur“ 2000 Jahre abhandeln, aber dafür wird jedes Kapitel vermutlich vor Bildern und Anspielungen nur so überquellen. Ich freu mich jetzt schon drauf.

Jens Harder: BETA … civilisations, Volume 1, Carlsen, 2014, 352 Seiten, 49,90 Euro

Wenn zwei sich streiten, leidet das Kind

nunoTrennungen sind ätzend. Sei es im Guten, wie im Schlechten. Der kleine Nuno in Saskia Hulas Buch Nuno geteilt durch zwei kann ein Lied davon singen. Von nun an muss er jeden Samstag umziehen, von Mama zu Papa, eine Woche später wieder von Papa zu Mama. In den sieben Tagen soll er sich wohlfühlen, sagt sein Papa. Kein Wunder, dass Nuno beim ersten Mal all seine Sachen einpackt, inklusive Ski, Schlauchboot und Kater Vincent.

Doch trotz seiner ganzen Sachen, die er in seinem neuen, leeren Zimmer verteilt, ist die Woche bei Papa nur halb gut. Hier hat er noch kein richtiges Bett, Papa kümmert sich nicht so richtig darum, dass Nuno Hausaufgaben macht, er bringt ihn nicht zum Fußballtraining und hat überhaupt kein Werkzeug, um Bilder aufzuhängen oder die gerissene Saite von Nunos Gitarre zu reparieren.
Auch bei Mama ist die folgende Woche nicht so besonders: Nuno darf am Mittwoch nicht Fußball im Fernsehen schauen, obwohl seine Lieblingsmannschaft spielt, Mama kann ihm nicht den verstauchten Fuß verbinden, sondern macht ein Drama daraus und bringt Nuno ins Krankenhaus.
Schließlich bringt Papas alte Nachbarin, Aloisia zusammen mit ihrer Katze Anandani, Nuno auf andere Gedanken. Sie leiht ihm Hammer und Nägel, er macht ihr dafür die Katzenfutterdosen auf, die sie mit ihren alten Händen nicht mehr schafft, und hilft ihr, die Vorhänge abzunehmen. Die Freundschaft zwischen Jung und Alt bringt Farbe in Nunos Leben und ihm schließlich die Idee, wie der die guten Seiten von beiden Elternteilen in einer Woche unter einen Hut bringen kann.

Liebevoll und einfühlsam zeigt Saskia Hula, wie junge Kinder lernen können, mit der Trennung der Eltern umzugehen. Dass diese Situation für kein Kind schön ist,  bezweifelt sicher niemand, doch dass ein Kind mit ein bisschen Grips und Kreativität das Beste aus der Lage machen kann, findet man in Hulas Erzählung Nuno geteilt durch zwei. Denn was die Eltern sich ausdenken, wenn es um die „Aufteilung“ des Kindes und die „Übergabe“ geht, ist nicht immer optimal. Hula macht Trennungskindern Mut, darüber nachzudenken, welche positiven Seiten jedes Elternteil besitzt – und welche Schwächen. Mit ein bisschen Fantasie lassen sich all diese Facetten dann möglicherweise in ein zweigeteiltes Leben einfügen. So können sich zwar weiterhin zwei streiten, aber der dritte muss dann nicht ganz so viel leiden.

Ergänzt wird die Geschichte von Nuno durch Illustrationen von Eva Muszynski. Die sind so knuffig und treffend, dass man den Blondschopf Nuno sofort ins Herz schließt. Das Vorlesen wird so zu einem bunten Vergnügen, und Leseanfänger können immer wieder mal pausieren und die Bilder erkunden.

Saskia Hula: Nuno geteilt durch zwei, Illustration: Eva Muszynski,  mixtvision, 2013, 96 Seiten,  ab 7, 12,90 Euro