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Sie. wussten. davon.

Geschichte vergeht nicht. Jedenfalls nicht so schnell und so spurlos, wie mancher es vielleicht gerne hätte. Geschichte wirkt nach, bis heute. Vor allem die düstere Geschichte der Nazizeit. Und das so gut wie in allen Familien. Wir müssen nur hinsehen und nachforschen.
Genau dies hat die Berliner Grafikdesignerin Bianca Schaalburg getan und daraus die eindrucksvolle Graphic Novel Der Duft der Kiefern gemacht.
Als Schaalburg von ihrer Großmutter einen riesigen dunklen Kleiderschrank erbt, beginnt die 1968 Geborene über ihre Familie nachzudenken. Fragen kann sie ihre verstorbenen Eltern und Großeltern nicht mehr, nur ein Onkel steht ihr hilfreich zur Seite, als sich anfängt Nachforschungen über die Taten ihres Großvaters Heinrich während des Zweiten Weltkriegs anzustellen.

Der Wissensdurst der Kriegsenkel

Schaalburg gehört wie die Mehrheit der Boomergeneration zu den so genannten Kriegsenkeln, die dank der Bücher der Journalistin Sabine Bode seit ein paar Jahren vermehrt nachfragen, forschen und genauer hinsehen. Das Schweigen, das die Täter nach dem Zweiten Weltkrieg über ihre Verbrechen gelegt haben, versuchen diese Menschen zu durchbrechen. So liegt die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte momentan – man könnte fast sagen – im Trend. Ich kann mich da nicht ausnehmen, ich gehöre ebenfalls zu dieser Generation und merke immer mehr, wie sehr die Erlebnisse meiner Großeltern und Eltern während der Nazizeit und im Krieg selbst mein Leben geprägt haben. Diesen aktuellen Wandel von der Sprachlosigkeit unser Jugendjahre – als wir die Großeltern noch fragen konnten, aber meist nur abweisende oder gar keine Antworten bekamen – hin zum Drang nach Aufklärung, finde ich wichtig und nötig, um uns allen immer wieder klar zu machen, dass der Spruch „Wir wussten von nichts“ eine große gesellschaftliche Lüge war.

Gegen die vermeintliche Ahnungslosigkeit

Auch Schaalburg hörte diesen Satz als Kind von ihrer Oma. Und wird in der Gegenwart durch die Stolpersteine vor dem ehemaligen Haus ihrer Familie in Berlin-Zehlendorf auf einen krassen Widerspruch aufmerksam: Dort hatten einst jüdische Menschen gelebt, waren vertrieben und später nach Theresienstadt deportiert worden. Doch die Großeltern wollten von alldem nichts gewusst haben und haben dennoch ihren Profit daraus geschlagen, wovon der große Esstisch der jüdischen Vormieter das offensichtlichste Zeugnis ist.
Wie es bei solchen Nachforschungen an der Tagesordnung ist, findet Bianca Schaalburg relativ schnell immer neue Details heraus. Sie fängt zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn an, in den Bundesarchiven zu recherchieren, Akten zu lesen, Online-Datenbanken zu nutzen und alte Adressbücher zu wälzen. So erfährt sie, dass der Großvater Anfang der 1940er Jahre in Riga als Buchhalter bei der Wehrmacht Dienst tat. Riga – dort wo eines der schlimmsten Kriegsverbrechen an den Juden stattfand. Die Frage, wie viel ihr Großvater davon mitbekam, ob er selbst darin verstrickt war, lässt sich nicht beantworten.
Genauso wenig kann Schaalburg auch über die drei jüdischen Bewohner ihres Hauses herausfinden. Wie Puzzleteile setzt sie die wenigen Informationen, denen sie habhaft wird, zusammen. Wer sich die Mühe macht nachzuforschen, wird am Ende meistens mit mehr Fragen als mit klaren Antworten dastehen. Und genau das zeigt Schaalburg in ihrem Buch. Hält sie sich bei der Familie an die Fakten, lässt die Leerstellen im Raum stehen, so erlaubt sie es sich, für die drei ermordeten Juden Clara, Carl und Margarete jeweils einen kurzen fiktiven Lebenslauf zu entwerfen. Auf den einzigen komplett schwarzweiß gehaltenen Seiten liefert sie so ein lebensfrohes, fast schillerndes Bild möglicher Biografien, die die Ungeheuerlichkeit der Judenverfolgung noch krasser erscheinen lässt.

Deutsche Geschichte am Beispiel einer Familie

Schaalberg beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Nazizeit, sondern schildert ihre Familiengeschichte auch im Nachkriegsberlin, während der Teilung der Stadt und schließlich beim Mauerfall. Anhand ihrer Mutter Edda und deren drei Geschwister illustriert sie, wie sehr nazivergiftete Regeln und Glaubenssätze („Stell dich nicht so an“, „Ein deutscher Junge weint nicht“ oder „Mädels müssen brav sein und immer lächeln“) ihre Eltern in der Nachkriegszeit geprägt und geformt haben. Dieses Nazigift, davon bin ich überzeugt, wirkt in vielen der Kriegsenkel immer noch und wird ohne Aufarbeitung vermutlich an die nächsten Generationen weitergegeben.

Das verschreckte innere Kind der Mutter

Beeindrucken ist, wie Schaalberg die durch diese elendige Erziehung und die Kriegserlebnisse verschreckte Mutter als Kind zeigt: Da sitzt die kleine Edda als transparente graue Figur mit Propellerschleife im Haar unter dem Tisch und starrt aus großen leeren Augen vor sich hin. Es ist für mich eines der treffendsten Bilder der Generation der heute 80-Jährigen, die zum einen Opfer ihrer Elterngeneration wurden, zum anderen Mitte des 20. Jahrhunderts unglaublich viel gearbeitet und das zerstörte Land wieder aufgebaut haben, die jedoch kaum über ihre Kindheitserlebnisse sprechen konnten bzw. professionelle psychologische Hilfe in Anspruch genommen haben, weil das Stell-dich-nicht-so-an über allem lag. Man möchte diese traumatisierten inneren Kinder unwillkürlich trösten.

Gelungenes Farbkonzept

Neben den vielen inhaltlichen Finessen und Fakten hat Bianca Schaalburg ein sehr gelungenes Farbkonzept für ihre Geschichte gewählt. Die unterschiedlichen Kapitel spielen in unterschiedlichen Jahren, sind jedoch nicht chronologisch angelegt, sondern springen durch die Jahrzehnte. Jedes Jahrzehnt ist in einem Farbton mit unterschiedlichen Nuancen gehalten. Die Nazizeit natürlich in adäquatem Kackbraun, doch nach dem Krieg wird es lichter, die 1950er kommen in grünen Schattierungen daher, die 1960er in blauen, die 70er sind quietschorange. So wird es in Richtung Gegenwart immer heller, wenn auch nicht absolut fröhlich. Die gebrochenen Pink- und Violettöne des 21. Jahrhunderts laden eben nicht zum gedankenlosen Dahinleben ein, sondern erinnern daran, den Blick zurückzuwerfen und die Auseinandersetzung zu suchen.
Den Abschluss bildet ein sehr hilfreicher Anmerkungsapparat, der u.a. den Familienstammbaum zeigt, das Viertel in Zehlendorf verortet, Informationen zu Theresienstadt und den Verbrechen in Riga liefert sowie Anregungen zum Weiterlesen aufführt.

So wird Der Duft der Kiefern nicht nur zu einer persönlichen Familiengeschichte, sondern fast zu einer Anleitung, auf jeden Fall zu einer Anregung, in der eigenen Familie nachzufragen und nachzuforschen. Um der Stille und dem Schweigen ein Ende zu setzen.

Bianca Schaalburg: Der Duft der Kiefern. Meine Familie und ihre Geheimnisse, avant-verlag, 2021, 26 Euro

Packende Geschichtsstunde in Mogelpackung

ostpreußenEin Pferdebuch auf LETTERATUREN? Das gab’s in sieben Jahren noch nie. Ja, genau, klassische Pferdegeschichten kommen hier eigentlich nicht vor, aber bei Anne C. Voorhoeves neuem Roman darf man sich auf gar keinen Fall von Titel und Cover täuschen lassen.

Gefährten für immer erzählt zwar auch von Pferden, von den Trakehnern Ostpreußens, doch es ist nicht die klassische Kombination von ein Mädchen plus ein Pferd gleich Freunde für immer. Denn hier geht es um die 14-jährige Lotte, die im Sommer 1943 von ihrem blinden Vater nach schweren Bombenangriffen auf Hannover auf den Pferdehof Waldeck in Ostpreußen geschickt wird. Zur Sicherheit. Denn eigentlich will Lotte nicht weg, da ihr Vater nicht allein zurecht kommt und sie gerade erst in den Trümmern fast verschüttet worden war und nun weiß, wie hilflos ein Mensch sich im Krieg und im Dunkel fühlen kann. Doch der Vater bekommt Hilfe von einer Nachbarin, die seit dem Tod von Lottes Mutter ein Auge auf den Vater geworfen hat.
An ihrem letzten Tag in der Stadt, an dem Lotte sich von ihren Freunden verabschiedet, begegnet sie Georg, einem Klassenkameraden, dessen Vater als Kommunist im KZ in Dachau sitzt. Innerhalb von wenigen Stunden, die die beiden in den Trümmern Hannovers zusammen verbringen, entwickelt sich eine Freundschaft, die auch über die Entfernung halten soll.

Mit all diesem psychischen Gepäck kommt Lotte wenig später in Waldeck bei Antonia, einer Freundin ihrer verstorbenen Mutter an, die der Familie die Hilfe angeboten hat. Lotte mag Antonia, doch das hilft ihr nur bedingt, sich an das Leben auf dem Hof zu gewöhnen. Im Pferdeland Ostpreußen dreht sich nämlich alles um die geschätzten Trakehner, und das Reiten ist eine unabdingbare Voraussetzung. Lottes Reitkünste sind jedoch ziemlich beschränkt. Und so blamiert sie sich beim ersten Ausritt. Emilia, Antonias Nichte, ebenfalls 14, verspottet das Stadtkind – und es sieht nicht so aus, als könnten die beiden Mädchen Freundinnen werden, wie Antonia es sich gewünscht hat.
Stattdessen soll zunächst Harro, 17, Sohn des ehemaligen Verwalters, Lotte den Umgang mit den Pferden inklusive Reiten und Springen beibringen. Die beiden verbringen Zeit bei Ausritten in den Weiten Masurens, baden in den Seen – und Lotte verknallt sich in den gut aussehenden Jungen. Doch auch Emilia ist in Harro verliebt.
In dieser Konstellation verbringt Lotte ein Jahr auf Waldeck. Anfangs ist der Krieg scheinbar weit weg, zu schön, zu idyllisch ist die Landschaft, zu wichtig die Arbeit mit den Pferden. Doch rasch begreift Lotte, dass hier jede Familie bereits Angehörige im Krieg verloren hat, dass die Zwangsarbeiter nicht ohne Grund auf dem Hof sind, und alle Männer und Jungen fürchten, jederzeit eingezogen werden zu können.

Die Idylle zerfällt. Antonia hört alliierte Radiosender, um über die wirkliche Lage im Krieg besser unterrichtet zu sein. Den Durchhalteparolen und Falschinformationen der Nazis schenken immer weniger Menschen Glauben. Doch Kritik darf man nicht äußern, zu groß ist die Gefahr, verraten und drakonisch bestraft zu werden. Das Leben auf dem Hof wird immer schwieriger. Antonia beschließt, einen Teil ihrer Pferde nach Pommern zu evakuieren – und die Jugendlichen als Begleitung mitzuschicken.
So verlassen Lotte, Emilia und Harro im Herbst 1944 Ostpreußen und landen auf dem Lindenhof bei Stettin, wo Harros Vater und Emilias Mutter, die vor Jahren für einen Skandal auf Gut Waldeck gesorgt haben, zusammen leben. Hier hoffen die drei, dass Antonia mit den Bewohnern Waldecks, darunter Harros Mutter, und den restlichen Pferden zu ihnen stoßen wird. Doch Ostpreußens Gauleiter Koch hat unter Strafe verboten, die Provinz zu verlassen.
Ein eiskalter Winter bricht an, und Anfang 1945 greifen die Russen ultimativ an.
Endlose Flüchtlingstrecks machen sich auf den Weg in den Westen. Als auch Gräfin von Dobschütz, eine gute Freundin Antonias, den Lindenhof auf ihrem Hengst erreicht, erfahren die Jugendlichen, dass Ostpreußen unwiederbringlich verloren ist.

Mehr und mehr merkt Lotte zudem, dass sie – anders als auf Waldeck – nicht mehr zur Gemeinschaft von Lindenhof, der Familie von Harro und Emilia, dazugehört. Für sie wird es Zeit wieder nach Hannover zurückzukehren. Sie kann Gräfin von Dobschütz überzeugen, sie auf dem zweiten Pferd der Gräfin mit nach Westen reiten zu lassen. Entbehrungsreiche Wochen durch Schnee und Kälte beginnen.

Anne C. Voorhoeve, bekannt für die Romane Unterland und Nangking Road, führt auch hier wieder die jugendliche Leserschaft in die düsteren Kapitel deutscher Geschichte. In einem komplexem Plot verpackt sie die Schrecken von Bombenangriffen, Verlust der Heimat und die Verbrechen der Nationalsozialisten auf feinfühlige, aber dennoch eindrückliche Art. Sie erinnert an das alte Leben in Ostpreußen, an den Stolz der Trakehner-Züchter und räumt neben all der Trauer um Menschen und Orte auch den Tieren ihren Raum ein.
Da sie Lotte als Ich-Erzählerin agieren lässt, die sich entweder an Schreckliches erinnert (das Verschüttetsein) oder von anderen die Schrecknisse erzählt bekommt, mildert Voorhoeve das Grauen für die Leser_innen gekonnt ab. So bekommen sie zwar einen Eindruck, was vor allem im Winter 44/45 in Ostpreußen passiert ist, werden aber nicht durch die Gräueltaten traumatisiert. Diese erzählerische Gratwanderung ist hervorragend gelungen.

Die Figur der Gräfin Dobschütz ist zudem eine ganz wunderbare Hommage an Marion Gräfin von Dönhoff, deren eigene Flucht per Pferd nach Westdeutschland hier Pate stand. Realität und Fiktion verweben sich zu einer eindrucksvollen Erzählung, die die Geschichte lebendig werden lässt und die Erinnerung an Menschen und Orte bewahrt.

Das Einzige, was ich nicht gelungen finde, sind, wie schon angedeutet, der Titel und das Cover. Dass es dort nicht einen Hinweis auf den historischen Hintergrund der Geschichte gibt, grenzt für mich schon fast an Lesertäuschung und suggeriert, dass hier eine klassische Mädchen-Pferde-Geschichte erzählt wird. Ich möchte mir die Enttäuschung der Mädchen nicht ausmalen.
Wobei man sich dabei zudem fragen könnte, warum die Geschichte über diese Kombination so angelegt wurde, dass sie für Jungs nicht mehr interessant ist. Dabei besteht die Enkel- und Urenkelgeneration der aus Ostpreußen Geflüchteten ja nicht nur aus Mädchen. Umso mehr würde es mich freuen, wenn auch Jungs den Mut hätten, sich auf diese Geschichte einzulassen – denn das Erzählte geht sie genauso an.

Anne C. Voorhoeve: Gefährten für immer, Sauerländer, 2018, 480 Seiten, ab 13, 17 Euro

Mit den Augen der Opfer

corradiniNeulich habe ich ja bei Lütte Lotte etwas ausführlicher über italienische Kinder- und Jugendliteratur geschrieben. Nun habe ich den Roman Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge von Matteo Corradini genauer gelesen und dem Autor ein paar Fragen zu seinem Werk gestellt, das ich im Abschnitt zu den „Stillen“ nur kurz angerissen habe.

In seiner Geschichte, die feinfühlig von Ingrid Ickler ins Deutsche übertragen wurde, erzählt Corradini von einer Handvoll Jungen, die während des 2. Weltkrieges in Theresienstadt eingesperrt und später nach Auschwitz deportiert wurden.
Diese Jungen mit Namen Zappner, Edison, Embryo, Petr, Josif und Zdenek haben in ihrer Zeit im Ghetto eine Art Zeitung geschrieben. In diesen Blättern, die sie einmal pro Wochen abends mit Bleistift auf alle erdenklichen Papiere geschrieben haben, berichten sie von den Vorfällen und Vorgängen im Ghetto. Hatten sie anfangs die Blätter noch öffentlich wie eine Wandzeitung ausgehängt oder Kopien verkauft, so lesen sie irgendwann ihre Texte anderen Kindern und Erwachsenen nur noch heimlich vor, zu gefährlich war es, die Texte in Umlauf zu bringen.

Corradini bezieht sich hier auf dokumentierte Fakten: Mehrere jugendlichen Gruppen im Ghetto haben tatsächlich Zeitungen geschrieben. „Meine Absicht war, dass die Jugendlichen von heute die Geschichte der gleichaltrigen Jugendlichen aus Theresienstadt lesen können“, sagt Corradini.

Acht Jahre hat er recherchiert und dabei mit vielen Zeitzeugen und Überlebenden gesprochen.  Eines jedoch hat ihn besonders berührt: „Die Vorstellung die 800 Seiten der Zeitung Vedem lesen zu können, die von den Jugendlichen produziert worden waren.“ Diese Seiten hat man nach dem Krieg gefunden. Wie sie entstanden sind, davon erzählt Corradini in seinem Roman, den er dann in nur fünf Wochen niedergeschrieben hat.

Die Jugendlichen im Roman berichten in ihren Artikeln von kleinen Anekdoten, veröffentlichten Gedichte, malen Bilder, schildern das Fußballspiel und die Vorbereitungen für die Filmaufnahmen, die für die Öffentlichkeit im Ghetto inszeniert werden. So sollten die Menschen außerhalb der Mauern von Theresienstadt davon überzeugt werden, dass es den Menschen hier gut ging, sich die vielen Künstler und Kreativen, die hier zusammengepfercht worden waren, austauschen und ein vermeintlich normales Leben führen konnten.

„Glaubst du, jemand hat ihnen geglaubt?“
„Ein paar Erwachsene vielleicht?“

Wie man weiß, haben sich internationale Kontrolleure blenden lassen – unvorstellbar in heutigen Zeiten.
Die Jugendlichen jedoch schauen genau hin. Sie beobachten: die Soldaten, die Inhaftierten, erzählen vom Leben in der ehemaligen Garnisonsstadt, die durch ihre Stadtmauern für die Nazis perfekt zu kontrollieren war. Sie kämpfen um Kartoffelschalen, teilen sich die karge Beute.

Corradini hat sich bei den geschilderten Episoden dicht an das gehalten, was er über die Kinder und ihre Erlebnisse hat recherchieren können. Bezüglich der Vermengung von Fiktion und Fakten sagt er: „Ich respektiere die Fiktion, sie ist eine wunderschöne Sache. Doch im Fall eines Buches über die Shoah, die für sehr viele Menschen extrem schmerzhaft war, kann die Fiktion schnell respektlos werden. Beispielsweise, wenn man unnütze, absurde oder sogar antihistorische Szenen erfindet. Oder auch, wenn man die Geschehnisse abmildert, um sie Jugendlichen zu erzählen. Das ist schlechte Fiktion. Mein Buch hat zwar die Form eines Romans, doch ich erzähle zu 99 Prozent von Dingen, die tatsächlich geschehen sind.“

Corradini bedient sich dabei eines Ich-Erzählers, was mich zunächst etwas irritiert hat. Denn es erscheint schrecklich, wenn der Protagonist, dem man als Leser_in durch diese Erzählart sehr nahe kommt, am Ende in den Tod geschickt wird. Corradini erklärt es so: „Ich habe mich für die Ich-Erzählung entschieden, um einen namenlosen Helden zu erschaffen, der einer von uns sein könnte. Der auch der Leser sein könnte oder aber jemand anderes. Der jemand wäre, dem man die Geschichte anvertrauen würde. Die jugendlichen Leser_innen können sich mit so einer Geschichte bestimmt gut auseinandersetzen, auch wenn die Geschichte voller Schrecken ist. Zum Erwachsenwerden gehört eben auch dazu, dass Schreckliche zu erfahren und sich damit zu befassen. Nur so kann man das alles verstehen, es verinnerlichen, sodass es in Zukunft nie wieder passiert.“

Ein Anliegen des Autors ist es unter anderem, dass Jugendliche möglichst viele Bücher über die Geschichte und die Shoah lesen. Durch die jungen Protagonisten in seinem Roman können sie sich – seiner Meinung nach – besser in die Historie einfühlen: „Die Jugendlichen wissen dann, dass das, was passiert ist, Menschen in ihrem Alter zugestoßen ist. Sie sehen die Geschichte mit den Augen derjenigen, die den Schrecken erlebt haben.“

Diese Buch, das bereits im vergangenen Jahr erschienen ist, und das scheinbar nicht wahrgenommen wurde, ist ein stiller Schatz. Es beleuchtet ein weniger bekanntes Kapitel des Holocaust und lenkt den Fokus auf die Kinder und Jugendlichen, die nicht weniger gelitten haben als die Erwachsenen. Es ist keine spaßige Lektüre, natürlich, doch bietet sie einen Zugang auf Augenhöhe für jugendliche Leser zu den Schrecken von damals und sorgt für Diskussionsstoff und Sensibilisierung.

Matteo Corradini: Im Ghetto gibt es keine Schmetterlinge, Übersetzung: Ingrid Ickler, cbj, 2017, 288 Seiten, ab 12, 8,99 Euro

Unsere Herzen brauchen Liebe

parnassMit manchen Persönlichkeiten geht es mir wie mit gewissen Sehenswürdigkeiten in meiner Heimatstadt: Sie sind da, ich kenne ihre Namen, ahne etwas über sie und habe mich aber noch nie näher mit ihnen befasst.
So ist es bei mir mit Peggy Parnass. Sie war immer irgendwie da, in Hamburg, in meinem Bewusstsein, da war diese Ahnung, dass sie etwas Linkes, Revolutionäres, Emanzipiertes gemacht hat. So in der Art.
Gestern habe ich sie auf der Buchpräsentation von Kindheit kennengelernt. Und eine weitere Bildungslücke annährungsweise geschlossen.

Kindheit ist ein Buch mit einer ganz eigenen Geschichte, neben der Geschichte, die darin erzählt wird. Zugrunde liegt allem die Freundschaft zwischen der Künstlerin Tita do Rêgo Silva und Peggy Parnass. Die beiden sind seit vielen Jahren Nachbarinnen in der Langen Reihe in Sankt Georg. Tita wurde auf Peggy aufmerksam, als diese immer splitterfasernackt ihre Blumen auf dem Balkon goss. Aus Neugierde wurde Nachbarschaftshilfe, Freundschaft, Liebe.
Tita, von Peggys Kindheit fasziniert, initiierte vor zwei Jahren dieses Buchprojekt. Der Text Kindheit aus Peggy Parnass‘ Buch Unter die Haut bildet dabei die Grundlage für Titas Illustrationen.

Tita, die vor vielen Jahren aus Brasilien nach Hamburg gekommen ist, stellt Holzschnitte her. Ursprünglich plante sie das Buch mit einer Auflage von 100 Exemplaren. Doch der Verleger und Drucker Klaus Raasch überzeugte sie davon, eine größere Auflage zu produzieren. Im Museum der Arbeit in Barmbek stehen nämlich noch die alten Druckmaschinen, die die Kunst des Holzschnittes perfekt umsetzen können.
Die Drucke für Kindheit entstanden mit der Technik der „verlorenen Form“, bei der Tita nach jedem Druckdurchlauf an der Holzplatte weiter schneidet, bis die nächste Farbe damit auf die zuvor gedruckten Bögen aufgebracht werden kann. Das erfordert ungemeine Präzision, Geduld und Geschick von allen Beteiligten, denn es gibt kein Zurück, kein Verbessern, kein Nochmal. So entstanden 1000 Exemplare von Kindheit, mit viel leuchtendem Gelb und Figuren mit Unmengen an Locken, was sich Peggy gewünscht hatte. Peggy durfte allerdings bis zum Schluss die Holzschnitte nicht sehen. Tita wollte sich nicht von ihr hereinreden lassen. Eine verständliche, im Nachhinein aber völlig unbegründete Sorge: Peggy war begeistert, von Titas Stil und ihren sympathischen Mensch-Tier-Figuren, die Peggys Geschichte genau entsprachen. 2013 prämierte die Stiftung Buchkunst Kindheit als eines der schönsten Bücher des Jahres.
Die 1000 Exemplare waren rasch vergriffen. Nachdruck durch die Technik der „verlorenen Form“ unmöglich. Bis die beiden Urheberinnen von Kindheit 2013 in der NDR-Talkshow saßen, ihr Buch präsentierten und meinten, sie suchten einen Verlag. Der Ausruf von Hubertus Meyer-Burckhardt noch in der Sendung: „Der ist hiermit gefunden“ sollte sich bewahrheiten.
Der Fischer Verlag sicherte sich die Rechte und hat nun Kindheit in der Reihe „Die Bücher mit dem blauen Band“ in einer Reproduktion neu herausgegeben. Es ist zwar kleiner im Format, aber dennoch strahlen die Farben, vor allem Peggys Gelb ganz warm und wohlig. Die Holzschnitte von Tita zeigen das Paradies, in dem Peggy lebte, bevor ihre Eltern in Treblinka umkamen. Aber auch die Hölle von Naziterror und Kinderverschickung. Den Anfang mach die Liebe zwischen Peggys Mutti und ihrem Vater Pudl – sie hätte nicht schöner und größer sein können. Pudl, der Filou und Zocker, stellt die Mutter zwar immer auf eine harte Probe, wenn er mal tagelang verschwindet, doch die Wiedersehen werden zu einem Fest der Liebe und einem Kussmarathon. Als Pudl deportiert wird, verschickt die Mutter Peggy und ihren kleine Bruder Bübchen nach Schweden. Sie rettet damit den Kinder zwar das Leben, doch Liebe gab es für die beiden ab dem Moment nicht mehr. Waisenhäuser, Pflegefamilien, Erziehungsdrachen wechselten sich ab. Peggy stürzte sich nach dem Krieg ins Leben und in die Liebe.

Gestern Abend zeigte sie in der Galerie Morgenland, dem Veranstaltungsraum der Geschichtswerkstatt Eimsbüttel, Fotos von ihren Lieben und ihrem Leben. Der verwegene Pudl, der „so dumm war wie die meisten Männer der Welt“ (Peggy-O-Ton), die schöne Mutter, das blondgelockte Bübchen, den die Nazijugend auf der Straße übel verprügelt haben, Peggys Sohn Kimmi, alle sind hier zu sehen. Immer wieder verharrt Peggy voll Sehnsucht vor den Fotos, um dann mit wachem Geist, die unglaublichsten Dinge zu erzählen. Wie selbstverständlich lässt sie die Namen ihrer Wegbegleiter fallen, Erich Fried, Erika Runge, Axel Eggebrecht, Georg Stefan Troller, Peter Weiss, Peter Rühmkorf, Ralph Giordano und jede Menge weitere. Viele Namen sagen mir nichts, da bin ich trotz meines Alters entweder zu jung oder zu ignorant gewesen, andere verweisen auf die kultur-politische Szene Deutschlands, die in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren das Land geprägt haben. Und Peggy immer mittendrin.

Es sind die kurzen, fast nebenbei erzählten Anekdoten, die ihr ganzes Engagement und ihre Liebe zum Leben erkennen lassen. Da sieht man Peggy auf Demos, in Brockdorf, „der verbotenen“, oder aber auf der Demo „Frauen in die Bundeswehr? Wiederstand jetzt“ von 1982. Statt wie Alice Schwarzer die Gleichberechtigung in Form von weiblichen Soldaten zu fordern, sagte Peggy: „Nicht die Frauen sollten rein, sondern die Männer sollten raus.“ Eine Gegenposition, die man in anderen Kontexten auch heute noch ziemlich gut vertreten kann.
Peggy ließ und lässt sich nicht einschüchtern. Und sie stellt sich Diskussionen, die unsereins vermutlich von vornherein als vergebene Hassmüh bezeichnen würde. So setzte sie sich mit dem Nazi Michael Kühnen einst drei Stunden beim Chinesen am Hamburger Hauptbahnhof hin und diskutierte mit ihm. „Aber dem konnte ich nichts beibringen“, sagt sie dann. Man hätte es ihr gegönnt. Die Gründe für ihr ungebrochenes Engagement findet man in Kindheit.
Ungeschönt, direkt und streckenweise rotzig erzählt sie von ihren frühen Erlebnissen. Das wird nicht jedem gefallen. Aber man kann das nicht lesen, ohne ergriffen zu sein. Die Trauer um das verlorene Paradies ist zu groß, der Hass auf die Nazis ungebrochen. Das Werk ist, obwohl unter dem Label KJB bei Fischer erschienen, kein Kinderbuch. Dennoch ist es für Jugendliche eine Bereicherung, hört man doch die Stimme einer der letzten Zeitzeuginnen ganz unmittelbar und mit allen emotionalen Schattierungen. Die Holzschnitte von Tita do Rêgo Silva fangen mit ihrer Heiterkeit viel von dem Schrecken auf, der aus den Worten spricht. Ein gelungener Kontrast, allemal.

In Sachen Peggy Parnass habe ich nun noch eine Menge nachzuholen, an Lektüre und Film und Zeitgeschichte, aber nach diesem erhellenden Abend bleibt mir im Moment nur, mich vor dieser großen Dame des Widerstands zu verneigen.

Peggy Parnass/Tita do Rêgo Silva: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete, Fischer KJB, 2014, 80 Seiten, 14,99 Euro

Der Mangel an Mut

irminaGab es „normale Deutsche“ während der Nazizeit? Aus der zeitlichen Entfernung möchte man sagen, nein, entweder gab es stramme Nazis, feige Mitläufer oder Verfolgte. Das ist die Außensicht. Eine Sicht von innen versucht Barbara Yelin in ihrer Graphic Novel Irmina darzustellen.

Darin erzählt sie die Geschichte der anfangs 17-jährigen Irmina, die 1934 nach London geht und dort eine Ausbildung als Fremdsprachensekretärin macht. Das Mädchen träumt von der Freiheit, will reisen, arbeiten und unabhängig sein. Auf einer Party lernt sie den Oxford-Studenten Howard kennen. Howard kommt aus Barbados und wird wegen seiner dunklen Hautfarbe angefeindet. Beide sind auf ihre Art Außenseiter, denn Irmina wird zwar als zuverlässige, fleißige Deutsche geschätzt, gleichzeitig ist sie jedoch keine Emigrantin und muss immer wieder Fragen zur Politik in Deutschland beantworten. Doch Irmina hat keine Antworten, sie changiert zwischen Trotz und Naivität, kann die Verhältnisse aus der Ferne nicht genau einschätzen.
Halt gibt ihr die Freundschaft zu Howard, die sich langsam in Liebe verwandelt.
Dann jedoch muss  Irmina nach Deutschland zurück, da die Eltern kein Geld mehr ins Ausland schicken dürfen, ihr Zimmer für eine Emigrantin gebraucht wird und sie nicht den Mut hat, sich einen Job zu suchen. Irmina verspricht Howard, so schnell wie möglich zurückzukommen.
In Deutschland findet sie zwar Arbeit im Kriegsministerium, doch das Gehalt ist schmal und ihr Antrag, nach London versetzt zu werden, wird abgelehnt. Gerade als sie sich mit geliehenem Geld ein Schiffsticket nach London gekauft hat, kommt einer ihrer Briefe an Howard zurück mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“. Daraufhin gibt sie den Avancen des Architekten Gregor nach, heiratet ihn, bekommt einen Sohn, wird zur Hausfrau und  Mitläuferin und Profiteurin des Regimes. Ihr mangelnder Mut wandelt sich in die Schuld, sich arrangiert, weggesehen und den Mund gehalten zu haben.

Yelin lenkt mit ihren gedämpft grau-braunen Panels den Blick auf das alltägliche Schicksal einer jungen Frau, deren Träume zerplatzen, die ganz auf sich gestellt ist. Die Not, der Kampf ums Überleben scheinen sie zu ihren Entscheidungen zu zwingen. Der Leser hingegen sieht die Alternativen, hadert mit ihr Angst, meint es besser zu wissen, wünscht ihr mehr Mut, empört sich über ihre Feigheit und ihr Schweigen – und hat doch auch keine Lösungen parat. Denn die Frage: „Was hätte ich damals getan?“ kann niemand wirklich beantworten, der nicht dabei gewesen war. Aber genau über dieser Frage denkt man nach der Lektüre dieser Graphic Novel verstärkt nach. Und leidet dann mit Irmina umso mehr mit, als sie nach Jahren, als alte Frau, Howard noch einmal wiedersieht und ihr die verpasste Chance so überdeutlich vor Augen geführt wird.

Irminas Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht, macht nachdenklich und zwar sehr. Yelin zeigt, wie es Menschen damals gegangen sein könnte, ohne es platt zu verurteilen. Das besorgt der Leser selbst, obwohl es kaum einfache Lösungen und Antworten gibt. Wie so oft im Leben. Aber Irmina mahnt und macht Mut, öfter mal mutig zu sein.

Barbara Yelin: Irmina, Reprodukt, 2014, 300 Seiten, 39 Euro

Entronnen

kindertransportDie Zeitzeugen, die den zweiten Weltkrieg und vor allem die Judenverfolgung überlebt haben, werden immer weniger. Umso wichtiger ist es, die wenigen, die noch erzählen können, anzuhören. So kann man jetzt die Geschichte der Jüdin Marion Charles nachlesen und zwar in ihrem autobiografischen Roman Ich war ein Glückskind, den Anne Braun souverän ins Deutsche übersetzt hat.

Mit Hilfe von alten Briefen und ihrem Tagebuch erzählt Marion Charles der Schülerin Anna von ihrem Schicksal. Marion wächst in Berlin-Dahlem in einer wohlhabenden Fabrikanten-Familie auf. Die Familie empfindet sich nicht als jüdisch, sondern als durch und durch deutsch. Marions Vater hat im ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und ist schwer verletzt zurückgekehrt. Das Gebaren der Nazis scheint die Familie zunächst nicht zu betreffen.
Doch mit der Progromnacht vom 9. November 1938 ändert sich alles. Die Familie muss ihre Villa verlassen und in eine kleine Wohnung ziehen. Marion muss sich von Möbeln und Spielzeug trennen. Auch in ihrer alten Schule kann sie nicht mehr bleiben, sie wechselt auf eine rein jüdische Schule. Da die Situation immer bedrohlicher wird, beschließen Marions Eltern, ihre Tochter mit dem Kindertransport nach England in Sicherheit zu bringen.

Marion entkommt den Nazihäschern, bricht aber dennoch in eine ungewisse Zukunft auf. Denn in England wird sie nur scheinbar mit offenen Armen empfangen. Die 12-jährige muss feststellen, dass es den Menschen, die ihr helfen, nicht unbedingt nur um sie geht. So will die erste Frau ihr Image als Wohltäterin in der Gemeinde aufpolieren, die zweite Familie ist auf das Kostgeld angewiesen, das sie für Marions Unterbringung erhält, und in der dritten Station trifft Marion auf eine Antisemitin. Trotz all dieser Widrigkeiten verliert das Mädchen jedoch nie die Hoffnung, ihre Familie wiederzusehen, auch wenn es Jahre dauern soll …

Der Ton in dem Marion Charles ihre Geschichte erzählt ist überaus persönlich und dadurch zutiefst authentisch. Dabei ist sie nicht von Ressentiments oder Hass geprägt, sondern vom Wunsch durchdrungen, gegen das Vergessen zu erzählen. Gebannt verschlingt man dieses Schicksal und sieht so über ein paar strukturelle Schwächen hinweg. So zitiert Charles nämlich anfangs die Briefe der Eltern nicht, und der Leser erfährt nichts von dem bedrohten Leben in Deutschland. Dies ändert sich jedoch im hinteren Teil, so dass eine Ahnung von den Schrecken in Berlin entsteht, aber auch von dem Mut und der Gewitztheit von Marions Mutter, die den Nazis ebenfalls entkommt.

Marion Charles‘ Ich war ein Glückskind ist ein eindrucksvolles Zeugnis einer Facette der Judenverfolgung. Ihre Sehnsucht nach den Eltern berührt. Dafür, dass Marion der Vernichtung entgangen ist, hat sie also durchaus einen Preis gezahlt. Dennoch hält sie sich selbst für ein Glückskind und kehrt später sogar nach Deutschland zurück. An Judith Kerr und Anne Frank kommt Marion Charles zwar nicht heran, doch sie liefert jungen Lesern eine weitere Stimme, die die Geschichte einer jungen Jüdin erzählt, die glücklicherweise überlebt hat. Dass Marion Charles bei all dem nicht verbittert ist, ist wahrscheinlich das Beeindruckendste.

Marion Charles: Ich war ein Glückskind. Mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport, Übersetzung: Anne Braun, cbj, 2013, 224 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Bis ans Ende der Welt

FluchtIn diesen Wochen häufen sich in den seriösen Medien wieder einmal die Berichte über Flüchtlinge aus Afrika, die vor der italienischen Insel Lampedusa Schiffbruch erleiden. Die Glücklicheren unter ihnen schaffen es ans Ufer, viele, zu viele, sind dieser Tage im Mittelmeer ertrunken. Sie ermahnen uns, die wir wohlig, warm und behütet zu Hause sitzen, dass Flucht kein Spaß ist. Niemand flüchtet aus seiner Heimat aus Jux und Dollerei, sondern aus überlebenswichtiger Notwendigkeit.

Auch Deutschland kann auf eine – vielschichtige und komplizierte – Geschichte der Flucht zurückblicken. Erst zwei Generationen liegt es her, dass Juden von hier flüchteten, vertrieben von ihren eigenen Landsleuten. Ein Teil von ihnen nahm ebenfalls den Weg über das Mittelmeer, nur in umgekehrte Richtung, weiter nach Shanghai. Von diesen Menschen erzählt Anne Voorhoeve in ihrem neuen, eindrucksvollen Roman Nanking Road.
Wie schon in ihrem Buch Liverpool Street geht es um die Familie Mangold, die nun in einer anderen Variante des Lebens, die Möglichkeit bekommt auszuwandern.

Mit wenigen Dingen machen sich Ziska und ihre Eltern im Winter 1938 auf den Weg nach Genua, wo sie einen Dampfer besteigen wollen. Onkel Ernst mit Familie bleibt zurück, ebenso Ziskas beste Freundin Bekka. Obwohl die Mangolds gültige Ausreisepapiere haben müssen sie immer wieder mit den Schikanen der Nazis kämpfen, bis sie auf dem Schiff sind. Hatte die 11-jährige Zizka bis dahin geglaubt, dass das Klassendenken ein Ende hat, sobald Deutschland hinter ihnen liegt und sie sich auf dem Schiff befinden, so sieht sie sich auch an Bord mit dauerhaften Vorurteilen und Anfeindungen konfrontiert. Trost bietet da zumindest der zwei Jahre ältere Mischa Konitzer, ebenfalls Jude, der allerdings aus einer reichen Zahnarztfamilie stammt. Gemeinsam durchstehen die Jugendlichen die dreiwöchige Seereise, schmieden Pläne, wo sie sich im Notfall verstecken, und erleben die Ankunft in Shanghai.
In der von den Japanern besetzten Stadt fanden europäische Juden ohne Visum Aufnahme. In Sicherheit waren sie deshalb jedoch noch nicht. Zunächst kommen sie in einer überfüllten Flüchtlingsunterkunft unter, in der Privatsphäre nicht existiert. Ziska erlebt Hunger und Armut, sowohl bei den jüdischen Flüchtlingen, als auch  bei den chinesischen Einheimischen. Mühsam schlagen sich ihre Eltern mit körperlich anstrengenden Jobs durch. Der Vater, der eigentlich Anwalt ist, besserte Kleidungsstücke aus, die Mutter arbeitet als Abwäscherin. Die kleine Familie lebt in zwei winzigen Zimmern ohne Toilette und Küche.
Konitzers hingegen beziehen eine großzügige Altbauwohnung im französischen Sektor und scheinen ihr altes Leben fortführen zu können. Sie helfen den Mangolds, wo sie nur können.
Während all der Zeit versucht Ziska, brieflichen Kontakt zu ihrer besten Freundin Bekka und ihrem Onkel Ernst zu halten. Mit Hilfe eines Engländers, den sie auf dem Schiff kennengelernt hat, schafft sie es, Bekka auf die Liste für die Kinderverschickung nach England zu setzten. Ernst hingegen schlägt sich mit der Transsibirischen Eisenbahn und dem Schiff nach Shanghai durch. Monate später er will seine Frau Ruth, Ziskas Tante, und seine Tochter aus Berlin herausholen. Doch mittlerweile ist der Krieg ausgebrochen.

Anne Voorhoeve, die mich bereits mit Unterland begeisterte, erzählt in Nanking Road eine hochkomplexe Fluchtgeschichte, die enorm viele Aspekte des zweiten Weltkriegs und des Schicksals der Juden thematisiert. Sie verwebt die Plotstränge so geschickt, dass sich alles wie selbstverständlich ergibt und nachvollziehbar bleibt. Ziskas Sicht auf die Geschehnisse und Zustände macht die Absurdität von Judenhass, Klassengesellschaft, Arm und Reich deutlich. Ziska, die aus einer zum evangelischen Glauben konvertierten und eigentlich nicht sehr religiösen Familie stammt, erlebt, wie unterschiedlich jüdische Flüchtlinge auf der Suche nach ihrer Identität und Heimat sind. Für manche ist Shanghai nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika, andere wollen unbedingt nach Palästina. Ziska hingegen fühlt sich auch am Ende der Welt immer noch deutsch.

Neben dem Flüchtlingsschicksal und der Coming-of-Age-Geschichte von Ziska, in der es auch um Freundschaft über Jahre und Entfernungen hinweg geht, schafft Anne Voorhoeve es, die weltweite Dimension des Krieges differenziert zu illustrieren. Sind die Mangolds auch dem Krieg in Europa und dem Holocaust entkommen, so müssen sie in Shanghai den Ausbruch des Pazifischen Krieges miterleben. Die Japaner greifen die USA an, in der Folge wird auch das japanisch besetzte Shanghai bombardiert. In Ziskas Bekanntenkreis gibt es Tote und Verletzte. Flucht wird hier also nicht gleichgesetzt mit Rettung.
In vielen Dingen hat mich Voorhoeves Roman an Judith Kerrs Flucht-Trilogie-Klassiker Als Hitler das rosa Kaninchen stahl erinnert. Voorhoeve führt das Flucht-Genre weiter, und dies auf eine moderne und packend zu lesende Art – und mit sehr viel Respekt und historischem Wissen. Emotional fiebert man mit Ziska und ihrer Familie mit, gleichzeitig lernt man unglaublich viel über eine Facette des zweiten Weltkriegs, die meines Wissens im Jugendbuchbereich noch nicht thematisiert wurde. Diese Erinnerung an die Shanghailänder ist ein wichtiger Beitrag, um jungen Lesern die globale Dimension dieser Katastrophe begreifbar zu machen.

In Bezug auf die Lampedusa-Flüchtlinge könnte sich die deutsche Gesellschaft von diesem Roman eine gehörige Scheibe abschneiden, wenn es um die Aufnahme von Menschen in Not geht. Denn im Gegensatz zum China der 30er und 40er Jahre ist Deutschland ein reiches Land, das durchaus mehr Flüchtlingen Schutz gewähren und ihnen eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnte.

Anne Voorhoeve: Nanking Road, Ravensburger Buchverlag,  2013, 480 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

Großmutters Geheimnis

warschauErben ist eine heikle Sache. Besonders, wenn es sich um alten Besitz aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg handelt. Das muss die junge Mika feststellen, die in der Graphic Novel Das Erbe der Israelin Ruth Modan, feinfühlig von Gundula Schiffer aus dem Hebräischen übersetzt, mit der Großmutter Regina von Israel nach Warschau reist.

Beide haben einen Verlust erlitten. Zwei Monate zuvor ist Mikas Vater, Reginas Sohn, an Krebs gestorben. Nun will sich die Großmutter endlich um den ehemaligen Besitz, den ihre jüdischen Eltern im Krieg zurücklassen mussten, wiederholen. Angeblich hat sie auch schon einen Termin bei einem Anwalt, der sich um die Angelegenheit kümmert. Doch Genaues sagt sie Mika nicht. Nach der Ankunft im Hotel überkommt die Großmutter eine scheinbar plötzliche Anwandlung, das Erbe doch nicht haben zu wollen. Mika ist ratlos, ob des Sinneswandels und der Sturheit der alten Dame. Mika stibitzt sich das Anwaltsschreiben und sucht den Rechtsanwalt auf. Währenddessen geht die Großmutter ihre eigenen Wege in der Stadt und macht sich auf die Suche nach ihrer Jugend.

Rutu Mordan erzählt im Ligne-Claire-Stil auf eine feinsinnig verwobene Art die Geschichte von Regina, die zwar im Warschauer Ghetto gelebt hat, aber den Schrecken der Naziverfolgung entkommen ist – auf Kosten ihrer großen Liebe. In Erinnerungsrückblenden erfährt der Leser von Reginas Schicksal.
Dem gegenüber stehen die Erlebnisse von Mika im Warschau von heute. Sie lernt einen jungen Comiczeichner kennen und lieben, erlebt ein historisches Rollenspiel für Touristen, in dem die Deportation der Juden aus dem Ghetto nachgespielt wird, und muss sich mit einem israelischen Bekannten rumschlagen, der ein Auge auf Mikas Tante Zilla und das Erbe geworfen hat.
Modan geht es dabei nicht um eine weitere Darstellung des Holocaust à la Maus von Art Spiegelman. Sie verweist mit Humor und Ironie auf die heutigen Auswirkungen der Nazizeit sowohl auf die Polen als auch die Israelis. Da trifft die Sehnsucht der Israelis nach der alten Heimat auf die Angst der Polen vor den jüdischen Besitzansprüchen. Sie zeigt den gesellschaftlichen Umgang mit Erinnerung – das Flugzeug aus Israel ist voll mit Schulklassen auf Exkursion zum „grausigsten“ KZ, in Warschau braucht die Internetgeneration authentische Action – und stellt ihn damit gleichzeitig in Frage.

Die Verbindung der Vergangenheit mit den persönlichen Geschichten von Großmutter und Enkelin offenbart dann jedoch die Kraft der Liebe zwischen den Menschen. Diese Liebe überdauert in manchen Fällen auch Jahrzehnte der Trennung oder entflammt in kürzester Zeit – als stärkstes Zeichen der Zusammengehörigkeit und Versöhnung, jenseits von Erbschaftsansprüchen.

Rutu Modan: Das Erbe, Übersetzung: Gundula Schiffer, Carlsen, 2013, 224 Seiten, 24,95 Euro

Die Stille im Bunker

flughundeEs ist eine gefühlte Ewigkeit her, dass ich Marcel Beyers Flughunde gelesen habe. Das muss gleich nach dem Erscheinen im Jahr 1995 gewesen sein. Jetzt habe ich die Geschichte vom seltsamen Stimmen- und Geräuschesammler Hermann Karnau in der Graphic-Novel-Version von Ulli Lust noch einmal gelesen.

Es ist keine leichte Lektüre, aber das war es bei der Romanversion auch schon nicht. In zumeist monochromen, sehr düsteren Panels, die nur hin und wieder von lichten Szenen unterbrochen werden, entwickelt Ulli Lust den Horror, der sich mit und um Hermann Karnau und die Familie Goebbels abspielt.
Als Tontechniker ist Karnau mit dafür verantwortlich, dass die Reden von Propagandaminister Goebbels glasklar und überzeugend bei den Zuhörern ankommen. Daneben sammelt er alle möglichen Geräusche, Töne und Laute, auf der Suche nach dem perfekten Urlaut des Menschen. Dafür schreckt er auch vor grausamen Menschenversuchen und Folter nicht zurück. Durch seine Tätigkeit für das NS-Regime gerät Karnau in den inneren Kreis der Familie Goebbels und lernt in deren Sommerhaus am Bogensee auch die sechs Kinder kennen. Zur Erzählperspektive von Karnau fügt sich die von Helga, der ältesten Tochter. Immer tiefer wird der Leser und Betrachter in die Parallelwelt der Goebbelskinder gezogen. Draußen herrscht Krieg, doch davon bekommen die Kinder scheinbar nicht viel mit. Nur in ihren grausamen Spielen zeigt sich, dass die Atmosphäre von Gewalt und Menschenverachtung auch in das Kinderzimmer vordringt. Und Helga ist groß genug, den Reden des Vaters folgen zu können. Sie beginnt die Bedrohnung für das eigene Leben zu erahnen.

Im Laufe der Zeit rücken die Bomben und das Grauen immer näher. Die Familie zieht in den Führerbunker. Karnau ist dort ebenfalls untergebracht, um die letzten Äußerungen Hitlers aufzuzeichnen. Jahre später wird er als alter Mann die Schellackplatten wieder anhören und die Stimmen der Kinder neu entdecken. Dass die Kinder den Führerbunker nicht mehr verlassen haben, ist hinlänglich bekannt. Doch aus Karnaus Perspektive entspinnt sich ein Rätsel darum, wie die Kinder tatsächlich zu Tode gekommen sind.

Die Visualisierung durch Ulli Lust führt dem Betrachter den skrupellos-verschrobenen Wahnsinn Karnaus sowie das Grauen der letzten Tagen des Nazi-Regimes überaus plastisch vor Augen. Der Krach des Kriegs rückt einem durch die Soundwords genauso auf die Pelle, wie die schlechte Luft bei einer elendig langen Goebbels Rede, die bei Helga Atemnot und Beklemmung auslöst. Die Bilder machen das Leid von Helga fast physisch erlebbar.
Im Bunker schließlich, wo ständig die Lüftungsanlage rattert, bannt Karnau auch die letzten Minuten der Kinder auf Schellack. Als ihr Atem verklingt, breitet sich eine fast greifbare Stille aus: „Es herrscht absolute Stille, obwohl die Nadel noch immer auf der Rille liegt.“ Das ist wahrscheinlich der ergreifendste letzte Satz eines Romans, der mir je untergekommen ist. Und in Kombination mit der schwarzen, leeren Sprechblase einfach atemberaubend.

Ulli Lusts Flughunde ist so vielschichtig und vielgestaltig, dass einmaliges Lesen nicht reicht, um dieses Meisterwerk in seiner gesamten Dimension zu erfassen. Das mag eine Freude sein, weil man länger etwas von dem Buch hat. Doch muss man sich auch dem Schrecken noch ein weiteres Mal stellen.
Mich jedenfalls machte die Lektüre neugierig, wie der Transfer von Roman zu Graphic Novel vor sich gegangen ist. Freundlicherweise hat mir Ulli Lust einen kleinen Einblick in ihre Arbeit an Flughunde gewährt, indem sie mir ein paar Fragen dazu beantwortet hat. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich bei ihr.

Warum wollten Sie gerade diesen Roman als Graphic Novel umsetzen?
Die Geschichte der Goebbelskinder aus der Innenperspektive hat mein Interesse geweckt, und die düstere atmosphärische Sprache des Textes war äusserst reizvoll.

Wie sind Sie an den Stoff herangegangen?
Zuerst habe ich mich gefragt, was kann ich diesem fertigen Werk hinzufügen. Ist es möglich, eine eigene Interpretation zu bieten? Dann habe ich den Text in seine Einzelteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. In der Struktur folge ich dem Roman, auch weil die chronologische Abfolge wichtig ist, aber ich musste sehr viel streichen. Was kann ich weglassen, war also eine der wichtigsten Fragen am Beginn der Arbeit.

Wie haben Sie die Textauswahl getroffen?
Ich habe zuerst die Stellen markiert, die unerlässlich sind.

Haben Sie sich mit Marcel Beyer beraten?
Nein. Er hat mir freie Hand gelassen. Er kannte meinen vorigen Comic und hat mir vertraut.

Gab es Vorgaben von Verlagsseite?
Nein.

Wie konzipieren Sie eine Szene bzw. eine Seite mit den Panels?
Schwer zu beantworten. Nach den Erfordernissen der Szene. Jede Seite ist ein kleiner dramaturgischer Bogen innerhalb der Gesamtchoreographie, idealerweise mit einem kleinen Abschluss am Ende der Seite.

Arbeiten Sie am Computer oder mit Stift und Papier?
Die Linienzeichnung zeichne ich mit Bleistift, also analog, ebenso die Farben mit Aquarell auf einem Extrablatt. Beides wird am Computer zusammengefügt.

Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?
Unaufgeregt.

Wie ist das Farbkonzept für Ihre Graphic Novel entstanden?
Die Farbigkeit spiegelt die Stimmung der jeweiligen Szenen. Es sind keine naturalistischen Farben.

Mit welchem Bildmaterial als Vorlagen haben Sie gearbeitet?
Alles, was ich an Foto- und Filmmaterial aus den Jahren 1938 bis 45 finden konnte. Die Goebbelskinder wurden häufig gefilmt und fotografiert – für damalige Verhältnisse.

Was hat Ihnen bei der Visualisierung des Romans die größten Schwierigkeiten bereitet?
Die Massenszenen im Stadion hat der Romantext sehr detailversessen beschrieben, im Comic musste ich mich auf wenige Szenen beschränken.

Auf was mussten Sie verzichten?
Auf den grössten Teil des inneren Monologs des erwachsenen Protagonisten.

Wie lange haben Sie an Flughunde gearbeitet?
Zwei Jahre.

Haben Sie schon ein neues Projekt?
Ja, aber dafür nehme ich mir mehr Zeit. Reden wir darüber in 3 Jahren.

Gerne. Ich bin jetzt schon gespannt…

Ulli Lust: Flughunde, Graphic Novel nach dem Roman von Marcel Beyer, Suhrkamp, 2013, 364 Seiten, 24,99 Euro

Flucht in eine neue Heimat

kerrManchmal stelle ich fest, dass ich Bücher gar nicht gelesen habe, obwohl ich der Überzeugung bin, das schon längst getan zu haben. Judith Kerrs Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist so ein Fall. Bis vor kurzem war ich felsenfest davon überzeugt, es zu kennen. So genau erinnere ich mich an die Zeit in den 70er Jahren, als alle von diesem Buch gesprochen haben und ich ganz seltsame Gefühle dabei hatte, die ich gar nicht einordnen konnte.

Jetzt, aus Anlass von Judith Kerrs 90. Geburtstag, habe ich die Lektüre nachgeholt – und dafür auch gleich noch die beiden Nachfolgeromane Warten bis der Frieden kommt und Eine Art Familientreffen drangehängt. Es war schon bewegend, endlich die Flucht der Familie Kerr ganz bewusst miterleben zu dürfen.

Annas Sicht der Dinge bringt auch heute noch die Zeit von 1933 und die Schrecken, die schon kurz nach der Machtergreifung der Nazis einsetzten, dem Leser eindringlich nah. Man ist unmittelbar dabei, wie die anfangs 9-Jährige die Flucht in die Schweiz und nach Frankreich erlebt, bis die Familie schließlich eine neue Heimat in London findet. Zu all den Neuanfängen kommt die Sorge, wie die Familie überleben soll. Denn Annas Vater, der berühmte Schriftsteller und Theaterkritiker Alfred Kerr, findet im Ausland kaum Möglichkeiten zu veröffentlichen. So muss sich vornehmlich die Mutter um den Unterhalt für die Familie kümmern.
In Warten bis der Frieden kommt schildert Anna die Kriegsjahre in London. Die Familie lebt immer noch in beengten Verhältnissen in einem kleinen Hotel. Anna ist zeitweise bei Bekannten untergebracht, ihr Bruder Michael studiert in Cambridge Jura und möchte zur Royal Air Force. Mittlerweile ist Anna alt genug, um ebenfalls eine Arbeit anzunehmen. Zwischen Bombenangriffen und ihrer Arbeit für einen Wohltätigkeitsverein lernt sie zudem das Zeichnen. Und verliebt sich in ihren Zeichenlehrer.
Eine Art Familientreffen schildert eine Woche im Jahr 1953. Annas Vater ist vor vier Jahren gestorben (auch hier folgt Judith Kerr ihrer eigenen Familiengeschichte), die Mutter lebt wieder in Berlin. Anna selbst ist mit einem TV-Redakteur verheiratet. Da erreicht sie ein Anruf, dass die Mutter in Berlin mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus liegt. Anna reist nach Berlin, trifft dort ihren Bruder und erfährt, dass die Lungenentzündung nur ein Vorwand war und die Mutter eigentlich einen Selbstmordversuch unternommen hat.

kerrVon den drei Bänden ist Eine Art Familientreffen sicherlich der schwächste Teil. Doch rundet er Annas Leben in dem Sinne ab, dass sie mit den Ereignissen der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges abschließen und eine eigene Familie gründen kann.
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ist zweifellos immer noch eine wichtige Lektüre, um die Flucht vor den Nazis aus der Sicht eines Kindes mitzuerleben. Allerdings liest sich die Übersetzung von Annemarie Böll aus den 1970er Jahren heute an manchen Stellen etwas betulich. Hier könnte man durchaus mal über eine Neuübersetzung nachdenken.
Warten bis der Frieden kommt besticht durch die authentische Schilderung der Bombardierung Londons. Sie macht deutlich, wie sehr die britische Metropole unter den Angriffen der Deutschen gelitten hat.

Judith Kerr, die immer noch in London lebt, als Illustratorin arbeitet und sich mittlerweile als vollkommen britisch empfindet, verdanken wir eine der sensibelsten Darstellungen von Flucht. Sie zeigt, dass Kinder sehr viel vom Leid der Erwachsenen mitbekommen, aber auch durchaus in der Lage sind, sich in neue Situationen einfinden und ein glückliches Leben führen zu können. Davor verneige ich mich und gratuliere zum 90. Geburtstag.

Judith Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Eine jüdische Familie auf der Flucht, Übersetzung: Annemarie Böll, Ravensburger Buchverlag, 2013, 576 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Für Freiheit und Toleranz

bücherverbrennungIn Berlin erinnert das Deutsche Historische Museum in diesem Jahr mit der Ausstellung „Zerstörte Vielfalt“ an die Vertreibung von Künstlern und Intellektuellen von 1933 bis 1938. Dafür stehen in Mitte und in anderen Stadtteilen Litfaßsäulen mit den Biografien der Vertriebenen und Ermordeten. Schräg gegenüber vom Deutschen Historischen Museum liegt der Bebelplatz, auf dem vor genau 80 Jahren Goebbels die Bücherverbrennung inszeniert hat, ein weiteres Mosaiksteinchen bei der Zerstörung von geistiger Vielfalt.

Der Atrium Verlag hat nun vier Schriften von Erich Kästner, der bekanntermaßen am 10. Mai 1933 vor der Humboldt-Uni stand und von dort aus dem unsäglichen Treiben der Nazis zusah,  unter dem Titel Über das Verbrennen von Büchern neu herausgegeben. Kästner berichtet in den Texten, die von 1946, 1947, 1953 und 1965 stammen, wie er das Ereignis als 34-Jähriger erlebt hat. In seiner klaren, scharfsinnigen Sprache schildert er den Abend des 10. Mai, und die Ungeheuerlichkeiten des Spektakels erscheinen dem Leser bildhaft vor Augen. Man bewundert Kästner für seinen Mut, sich unter die Menge zu mischen und alles mit anzusehen. Er selbst entschuldigt sich in einem Artikel fast für seine Passivität, was er durchaus nicht müsste. Denn schon sein Bleiben in Nazideutschland, wo er „Chronist der Ereignisse“ sein wollte, verlangte jede Menge Mut und verdient höchsten Respekt.

Erschreckender ist dann umso mehr der Text von 1965, in dem Kästner von einer erneuten Bücherverbrennung in Düsseldorf berichtet. Dort hatte eine Jugendgruppe des „Bundes Entschiedener Christen“ mit Genehmigung des Ordnungsamtes am Rheinufer Bücher verbrannt – unter anderem auch die von Erich Kästner. Wieder einmal. Die Jung-Christen hatten sich dabei angeblich auf einen Brief des Apostel Paulus an die Epheser berufen, der die Verbrennung von heidnischen Zauberbüchern forderte. Von der Bücherverbrennung der Nazis hatten sie angeblich nichts gewusst. Man mag es nicht glauben, und es zeigt deutlich, dass wir auch heute noch nicht genug erinnern können.

Das schmale, aber wertvolle Büchlein liefert neben Kästners Texten einen kurzen chronologischen Abriss der Organisation der Bücherverbrennung, die von langer Hand und generalstabmäßig geplant wurde, sowie eine Liste mit den über 140 Autoren und Autorinnen, deren Bücher im Frühjahr 1933 öffentlich verbrannt wurden. Darunter u.a. Alfred Kerr, Joseph Roth, Maxim Gorki, Stefan Zweig, Nelly Sachs, Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Carl Zuckmayer, Egon Erwin Kirsch, Schriftsteller, deren Bücher und Werke wir heute selbstverständlich aus dem Regal nehmen (eine erweiterte Liste mit den Namen findet sich auf der Website Bücherlesung). Über das Verbrennen von Büchern macht deutlich, dass es Zeiten gab, in denen das gar nicht selbstverständlich war. Diese Zeiten liegen zwar immer weiter zurück, doch das erlaubt uns nicht, sie zu vergessen.

Kästners vier kurze Texte in Über das Verbrennen von Büchern kommen in diesem Rahmen gerade recht, sind sie doch eine eindringliche Mahnung für Freiheit und Toleranz. Etwas das man nicht oft genug einfordern und verteidigen muss.

Und wer heute über den Bebelplatz in Berlin läuft, sollte den Blick auch nach unten lenken, denn im Boden ist ein Raum mit weißen Bücherregalen eingelassen. In ihnen steht kein einziges Buch.

Erich Kästner: Über das Verbrennen von Büchern, Atrium-Verlag, 2013, 56 Seiten, 10 Euro

Die Wunden der Vergangenheit

familieVor vielen Jahren war eine italienische Freundin von mir mit einem Israeli zusammen. Nichts Ungewöhnliches. Nur immer wenn ich die beiden in Italien traf, überkam mich eine seltsame Befangenheit. Der junge Mann war immer nett zu mir, aber auch merkwürdig distanziert. Es war offensichtlich, dass die deutsche Schuld an der Shoah unser Verhältnis trübte. Wir haben es bei unseren Treffen nicht geschafft, über die Geschehnisse von damals, den Wandel der jungen deutschen Generationen, diese Distanz und diese Beklemmung im gegenseitigen Umgang miteinander zu reden. Die Schatten der Vergangenheit reichten bis zu uns, ohne dass wir sie wirklich fassen konnten.

Von einer ähnlichen Sprachlosigkeit, allerdings in wesentlich dramatischer und zugespitzterer Art, erzählt der israelische Autor Avram Kantor in seiner ergreifenden Familiengeschichte Schalom.
Die greise Nechama trauert ihrem vor Jahren verstorbenen Mann Menachem nach und führt ein ziemlich einsames Leben in Haifa, denn ihre beiden Söhne wohnen nicht in der Stadt. Avri, der Älteste, ist mit seiner Frau nach Eilat gezogen, Jaki ist vor über zwanzig Jahren einer Deutschen nach München gefolgt. Seitdem hat Nechama keinen richtigen Kontakt mehr zu ihrem Jüngsten. Ihr Mann hatte einst das Gebot ausgegeben, dass kein Deutscher je ihr Haus betreten dürfe. Und daran hält sich Nechama auch nach seinem Tod. Die Schwiegertochter nennt sie nur „die da“, ohne sie überhaupt zu kennen. Der Hass auf die Deutschen hat sich tief in ihre Seele gebrannt, nachdem sie die Shoah überlebt und Menachem sie damals gerettet hat.

Doch nun kündigt sich ihr deutscher Enkel Gil an. Er will seinen Zivildienst in Israel in einem Altersheim ableisten – und auch bei der Großmutter vorbeischauen, die er nicht kennt. Nechama ist hin- und hergerissen, ob sie den jungen Mann einlassen soll oder nicht. Noch während sie hadert, steht Gil plötzlich vor der Tür – und Nechama trifft fast der Schlag, als sie meint, ihren Menachem wieder vor sich zu haben. Sie „verliebt“ sich stante pede in den Jungen, der seinem Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Nechama hofft, dass Gil sie nun öfter besuchen kommt. Ihre sicher geglaubte Überzeugung wird auf eine harte Probe gestellt.

Dann macht Gil mit einem deutschen Freund einen Ausflug, sagt aber niemandem, wohin er fährt. Als ein Bus verunglückt und ein toter Tourist nicht identifiziert werden kann, breitet sich Sorge in Nechamas Familie aus. Avri telefoniert seinem Neffen hinterher, redet mit dem Altersheim und der Polizei, Jaki reist mit seiner Frau aus Deutschland an, um der Polizei Genmaterial von Gil zu bringen. Nechama, die in ihrem greisen Alter nicht alle Zusammenhänge versteht, stürzt sie in die nächste Unsicherheit, denn „die da“ ist dabei, und Nechama wird sie treffen. Die Sorge um Gil führt die Familie in Eilat zusammen.

Avram Kantor erzählt diese Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven (von Nechama, Avri, Jaki und einem alten Nachbarn Nechamas). Er bleibt dabei sehr eng bei der jeweiligen Figur, so dass man als Leser immer nur das Wissen und die Gefühlslage der gerade erzählenden Person erfährt. Großartig schildert er Nechamas Denken als greise Frau, die in ihrer eigenen Welt lebt, wo Fantasie und Realität schon mal verschwimmen, mit Menachem Gespräche führt und der modernen Welt nicht mehr ganz folgen kann (dass beispielsweise die Telefonverbindung zwischen Israel und Deutschland glasklar ist, verwundert sie sehr).
Kantor fügt die verschiedenen Stimmen nach und nach zu einem Plot zusammen, der nicht alles verrät und durchaus Leerstellen zulässt. Das Trauma, das Nechama und Menachem während der Shoah erlebt haben, wird nur angedeutet und nicht auserzählt. Denn die beiden hatten beschlossen, nie über ihre Erlebnisse zu sprechen. Und ihre Söhne hatten nie das Bedürfnis, danach zu fragen – wie das eben so ist zwischen den Generationen, wo sich die Jungen nicht zwangsläufig für das Schicksal der Eltern interessieren. So erfährt der Leser nicht, was sich damals konkret zugetragen hat.
Zu drängend sind aber auch die aktuellen Probleme in Israel, die durch Avris Sorgen um den eigenen Sohn Guy thematisiert werden. Guy dient in der israelischen Armee und ist in den besetzten Palestinänser-Gebieten ständiger Gefahr ausgesetzt. So trägt jede Generation der Familie ihr Paket an Angst mit sich und ist nicht in der Lage, offen darüber zu sprechen. Die Beklemmung, die sich über Nechamas Familie legt, erzählt Kantor meisterhaft. In Kombination mit der feinfühligen Übersetzung der Grand Dame der Hebräisch-Übersetzungen, Mirjam Pressler, überträgt sich diese unmittelbar auf den Leser, der mit Gils Großmutter, Eltern und Verwandten mitleidet. Die Sorgen um Kind, Enkel, Neffe werden real.

Neben diesem Familiendrama wird zudem deutlich, wie die deutsche Geschichte und die Shoah immer noch nachwirken und sich wie ein Riss durch die Familie ziehen. Der Schrecken von damals war so immens, dass es keine Wort dafür zu geben und der Hass unüberwindlich scheint. Dennoch fordert Kantor zum Dialog auf. Vor allem zum Dialog zwischen den Generationen: Die Opfer sollen erzählen, denn diese Generation stirbt nun immer schneller aus; die Kinder sollen fragen, was passiert ist, damit sie auch ihren Kindern bzw. den Enkeln berichten können. Denn so ein Dialog erklärt mit unter Familienkonstellationen und -konflikte, bewahrt die Erinnerung und trägt zum Verständnis bei, nicht nur der Generationen, sondern auch der Nationen. Womit einer Wiederholung der Geschichte ein Riegel vorgeschoben werden könnte.

Avram Kantors Schalom erzählt den jungen Lesern nicht, was in der Shoah passiert ist, er zeigt jedoch eindringlich, wie sich die Schrecken von vor über 70 Jahren bis in die heutige Zeit fortsetzen. Gerade auch durch diesen Bezug zur Gegenwart lässt sich über dieses herausragende Buch intensiv diskutieren und den nachkommenden Generationen die aktuelle deutsch-israelische Beziehung erklären.

Avram Kantor: Schalom, Übersetzung: Mirjam Pressler, Hanser, 2012, 237 Seiten, ab 12, 15,90 Euro

Die Schuld der Väter

Vaters Befehl oder Ein deutsches MädelWeit weg und doch immer noch nah ist die Zeit des Dritten Reiches. Aber die Generation, die noch unmittelbar davon berichten kann, stirbt aus, seien es die Opfer des Naziterrors, als auch die Täter, als auch ihre Kinder. Die Stimmen, die erzählen können, was damals vor sich ging und wie es sich anfühlte, in einer Diktatur groß zu werden, verstummen langsam.

Umso besser, dass Elisabeth Zöller eine wirklich beeindruckende Geschichte zu genau diesem Thema geschrieben und so eine dieser Stimmen festgehalten hat. Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel handelt von der 15-jährigen Paula, einer begeisterten Anhängerin des Führers. Stolz präsentiert sie der Familie eine signierte Ausgabe von Hitlers Mein Kampf, sie wird Schaftführerin beim BDM und glüht für das nationale Deutschland. Sie schwärmt für den schneidigen Werner und ist der ganze Stolz ihres Vaters, einem Polizeimajor in Münster.

Doch Paula ist auch mit Mathilda befreundet. Aber schon seit zwei Jahren kommt Mathilda nicht mehr in die Schule, und jetzt erfährt das Mädchen nach und nach die wahren Gründe für das Fehlen der Freundin. Mathilda ist Halbjüdin, und die Stimmung im Land wird Juden gegenüber immer feindseliger. Zunächst merkt Paula noch nicht viel davon, doch Mathilda führt ihr vor Augen, was die gelben Bänke in der Stadt bedeuten und dass immer mehr Menschen verschwinden. Auch Mathilda muss weg und kann sich nicht mehr mit Paula treffen. Die Mädchen richten einen geheimen Briefkasten in einem Baumloch ein und schicken sich so immer noch Nachrichten.

Dann zieht Paulas Familie in eine prachtvoll ausgestattete Villa, der Vater ersteigert einen echten Rembrandt, und immer mehr wundert sich die Ich-Erzählerin über diese Veränderungen, denn reich ist die Familie eigentlich nicht. Paula wird misstrauisch, aber noch hat sie Vertrauen zu ihrem Vater. Und so erzählt sie ihm von den „Swingheinis“, deren Laden Werner hochgehen lassen will. Ein paar Tage später entdeckt sie, dass der Vater einen der Jungen der Swingbewegung verhört und misshandelt hat, obwohl er versprochen hatte, ihm nichts zu tun.

Paulas Misstrauen wächst. Sie wird immer aufmerksamer, was in ihrer Umgebung passiert. Die wenigen Brief von Mathilda, die sie noch erreichen, tragen mehr und mehr den Schrecken der Judenverfolgung in Paulas Alltag. Mathildas Familie ist untergetaucht. Dann wird auch noch Paulas Geschichtslehrer verhaftet, der den Kindern das selbstständige Denken beibringen will.

Irgendwann bekommt Paula ein Telefonat des Vaters mit, in dem er die Deportation von Münsteraner Juden vorbereitet. Als es soweit ist, schleicht sie ihrem Vater hinterher, in der Hoffnung, Mathilda am Bahnhof zu treffen. Doch die Freundin ist nicht dabei. Zuhause erwartet sie der wutschäumende Vater – und die Situation eskaliert.

In einer ganz klaren, fast nüchternen Sprache erzählt Elisabeth Zöller von Paulas Schicksal, das auf einer authentischen Geschichte beruht. Anfang 2005 hatte eine alte Dame die Autorin angerufen und sie gebeten, ihre Jugenderlebnisse aufzuschreiben. Diese alte Dame, die nicht namentlich genannt werden wollte, hatte den dringenden Wunsch, dass die Geschichte über die Kinder der Täter bekannt würde. Auch wenn die alte Dame das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erlebt hat, können wir ihr für ihren Mut dankbar sein, von ihrem Schicksal berichtet zu haben. Denn Elisabeth Zöller ist es hervorragend gelungen, Paulas kontinuierlichen Wandel von der Nazi-Anhängerin zur Kritikerin eindringlich darzustellen. Langsam und fast unmerklich schleicht sich der Horror der damaligen Zeit in die Geschichte und in Paulas Leben. Die Auseinandersetzung mit dem Vater erweitert diesen politischen Roman um eine grausame psychologische Komponente. Denn der Feind ist nicht nur das System draußen vor der Tür, sondern der eigene Vater. Erschreckend deutlicht wird die deutsche Bürokraten-Mentalität, als der Vater Paula die Regeln für ein korrektes Verhör aus der Kladde vorliest. Und dann in seiner Wut bei der eigenen Tochter über die Strenge schlägt und sie mit dem Lineal fast totprügelt. Das ist verdammt beklemmend, aber gleichzeitig ist Vaters Befehl ein großes und wichtiges Buch über den Alltag in einem Nazi-Haushalt. Ein Buch, das in seiner schnörkellosen Erzählart deutlich macht, dass wir Rassenhass, Verfolgung und Holocaust nie wieder zulassen dürfen. Nirgendwo.

Für junge Leser, die mit dem Thema Nationalsozialismus noch nicht vertraut sind, gibt es im Anschluss an die Geschichte ein Glossar, das die wichtigsten Begriffe, Organisationen, Namen und Vorgängen der Zeit erklärt. Dieses gründlich recherchierte Buch eignet sich bestens für anschauliche Unterrichtsdiskussionen.

Elisabeth Zöller: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel, Fischer Schatzinsel, 2012, 268 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

Pflicht der Erinnerung

rosa winkelEigentlich hatte ich die Graphic Novel Rosa Winkel als leuchtendes Beispiel für gelungene Geschichtsaufarbeitung vorstellen wollen. Doch nachdem dieser Tage in St. Petersburg zwei Homosexuelle festgenommen wurden, weil sie sich offen zu ihrer sexuellen Neigung bekannt haben, hat die folgende Geschichte an trauriger Aktualität gewonnen.

Comic-Autor Michel Dufranne erzählt zusammen mit Comic-Zeichner Milorad Vicanovic und Kolorator Christian Lerolle die Geschichte des schwulen Andreas, der Anfang der 1930er Jahre in Berlin lebt. Er arbeitet als Werbezeichner, feiert, genießt das Leben, hat ein Verhältnis mit einem SA-Mann und sieht dem Aufstieg der Nazis eher gelassen entgegen. Anders seine Freunde, die durchaus den Umschwung gegenüber Homosexuellen spüren und vor Repressalien warnen.

So dauert es auch nicht lange, bis Andreas denunziert wird, Drohbriefe erhält, seinen Job verliert und eingeknastet wird. Die Behörden machen ihm das „Angebot“, sich kastrieren zu lassen. Andreas geht nicht darauf ein und erträgt viel mehr die Demütigungen und die Gewalt der Zellengenossen und Polizisten.

Als er nach vierzehn Monaten entlassen wird und glaubt, alles überstanden zu haben, steht plötzlich die Gestapo vor seiner Tür. Der Schrecken geht weiter und findet seine Steigerung im KZ Sachsenhausen, in das Andreas gebracht wird. Auch das übersteht er, jedoch als gebrochener Mann. Nach dem Krieg hofft er auf Anerkennung als Opfer der Nazi-Verfolgung, doch er muss feststellen, dass eine Inhaftierung aufgrund des Paragraphen 175 nicht als entschädigungswürdig angesehen wird. Denn die Entschädigung sei „für die echten Opfer vorgesehen“. Eine Feststellung die eigentlich schlimmer und verletzender ist, als die erlittenen Schmerzen vorher, und bei der man als Leser selbst heftig schlucken muss.

Auch im Nachkriegsdeutschland findet Andreas keine Ruhe und muss sich in eine Scheinehe mit einer lesbischen Freundin flüchten, um unbeschadet leben zu können. Die neugegründete Bundesrepublik behält 1949 den Paragraphen 175 immer noch bei. Das ist zuviel für Andreas und seine Frau. Sie gehen nach Frankreich.

Dem französisch-bosnischen Comic-Trio ist hier eine eindrucksvolle und zutiefst berührende Geschichte über die Verfolgung von Homosexuellen in der Nazizeit gelungen. Eingebettet in eine Rahmengeschichte der Gegenwart, sind die Kapitel schon durch ihre unterschiedliche Koloration eindeutig markiert: Das bunte Heute, wechselt zur sepiagehaltenen Schilderung der „Braunen Jahre“, um schließlich in den „Schwarzen Jahren“ zum ultimativ bedrückenden Schwarzweiß zu werden.

Ein kurzer Abriss zur Geschichte des Paragraphen 175 und der Diskriminierung Homosexueller klärt am Ende darüber auf, dass dieser schändliche Paragraph erst 1994 im wiedervereinten Deutschland endgültig abgeschafft wurde.

Rosa Winkel ist eine bewegende Erinnerung an das Unrecht, das Schwulen und Lesben angetan wurde, und eine Mahnung, so etwas nicht zu vergessen und vor allem nie wieder zu dulden. Auch nicht in Russland.

Michel Dufranne/Milorad Vicanovic: Rosa Winkel, Koloration: Christian Lerolle, Übersetzung: Edmund Jacoby, Jacoby & Stuart, 2012, 144 Seiten, 18 Euro