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Großmutters Geheimnis

warschauErben ist eine heikle Sache. Besonders, wenn es sich um alten Besitz aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg handelt. Das muss die junge Mika feststellen, die in der Graphic Novel Das Erbe der Israelin Ruth Modan, feinfühlig von Gundula Schiffer aus dem Hebräischen übersetzt, mit der Großmutter Regina von Israel nach Warschau reist.

Beide haben einen Verlust erlitten. Zwei Monate zuvor ist Mikas Vater, Reginas Sohn, an Krebs gestorben. Nun will sich die Großmutter endlich um den ehemaligen Besitz, den ihre jüdischen Eltern im Krieg zurücklassen mussten, wiederholen. Angeblich hat sie auch schon einen Termin bei einem Anwalt, der sich um die Angelegenheit kümmert. Doch Genaues sagt sie Mika nicht. Nach der Ankunft im Hotel überkommt die Großmutter eine scheinbar plötzliche Anwandlung, das Erbe doch nicht haben zu wollen. Mika ist ratlos, ob des Sinneswandels und der Sturheit der alten Dame. Mika stibitzt sich das Anwaltsschreiben und sucht den Rechtsanwalt auf. Währenddessen geht die Großmutter ihre eigenen Wege in der Stadt und macht sich auf die Suche nach ihrer Jugend.

Rutu Mordan erzählt im Ligne-Claire-Stil auf eine feinsinnig verwobene Art die Geschichte von Regina, die zwar im Warschauer Ghetto gelebt hat, aber den Schrecken der Naziverfolgung entkommen ist – auf Kosten ihrer großen Liebe. In Erinnerungsrückblenden erfährt der Leser von Reginas Schicksal.
Dem gegenüber stehen die Erlebnisse von Mika im Warschau von heute. Sie lernt einen jungen Comiczeichner kennen und lieben, erlebt ein historisches Rollenspiel für Touristen, in dem die Deportation der Juden aus dem Ghetto nachgespielt wird, und muss sich mit einem israelischen Bekannten rumschlagen, der ein Auge auf Mikas Tante Zilla und das Erbe geworfen hat.
Modan geht es dabei nicht um eine weitere Darstellung des Holocaust à la Maus von Art Spiegelman. Sie verweist mit Humor und Ironie auf die heutigen Auswirkungen der Nazizeit sowohl auf die Polen als auch die Israelis. Da trifft die Sehnsucht der Israelis nach der alten Heimat auf die Angst der Polen vor den jüdischen Besitzansprüchen. Sie zeigt den gesellschaftlichen Umgang mit Erinnerung – das Flugzeug aus Israel ist voll mit Schulklassen auf Exkursion zum „grausigsten“ KZ, in Warschau braucht die Internetgeneration authentische Action – und stellt ihn damit gleichzeitig in Frage.

Die Verbindung der Vergangenheit mit den persönlichen Geschichten von Großmutter und Enkelin offenbart dann jedoch die Kraft der Liebe zwischen den Menschen. Diese Liebe überdauert in manchen Fällen auch Jahrzehnte der Trennung oder entflammt in kürzester Zeit – als stärkstes Zeichen der Zusammengehörigkeit und Versöhnung, jenseits von Erbschaftsansprüchen.

Rutu Modan: Das Erbe, Übersetzung: Gundula Schiffer, Carlsen, 2013, 224 Seiten, 24,95 Euro

Mut zur Veränderung

oma miethaie ich tanya lieskeEin unschönes Phänomen treibt seit ein paar Jahren viele Menschen in beliebten Großstadtvierteln um: Gentrifizierung, also die Verdrängung langjähriger Mieter aus ihren Wohnungen, damit diese nach einer (Luxus-)Sanierung zu einem höheren Preis neu vermietet werden können. Dass das nicht gerade eine gerechte oder soziale Sache ist, bleibt auch Kindern nicht verborgen. Die zehnjährige Salila aus dem Roman Oma, die Miethaie und ich von Tanya Lieske kann ein Lied davon singen.

Das Mädchen wohnt bei ihrer Großmutter Henriette Meister in Düsseldorf-Bilk. Ihre Wohnung ist zwar alt, dafür aber groß und gemütlich. Im Hinterhof steht eine alte Kastanie, auf die Salila immer klettert, und dort hat Oma auch ihre Werkstatt, wo sie „Reparaturen aller Art“ durchführt. Denn Oma hasst es, Dinge, die man noch mal heil machen kann, einfach wegzuwerfen. Und so repariert sie im ganzen Viertel Kaffeemaschinen, Porzellanfiguren oder quietschende Dielen. Für Salila ist Oma eine Heldin, die leckeres Supermüsli und den besten Kaffee der Stadt macht. Gemeinsam gehen die beiden auf Trödeljagd und suchen nach Schätzen zum Aufpolieren.

Eines Tages jedoch bekommt die Idylle einen Riss, denn im Viertel macht ein Immobilienbüro auf und bietet hübsch hergerichtete Altbauwohnungen zum Kauf an. Irgendwann sind dort auch Bilder von Salilas und Omas Haus zu sehen. Gleichzeitig findet Salila bei Oma einen wichtigen Brief, in dem die Worte „Erbfall“ und „großzügiges Angebot“ stehen. Salila versteht kein Wort, wagt es aber auch nicht Oma zu fragen, da diese die Briefe immer gleich wegwirft. Zusammen mit ihrem türkischen Freund Mehmet recherchiert Salila im Internet. Aber irgendwie hilft ihr das auch nicht weiter, weil Oma sich sehr merkwürdig benimmt und ihr immer wieder ausweicht. Also hört sich das Mädchen im Viertel um: Ihre Nachbarn ziehen zwar aus, aber Oma bräuchte eigentlich nur einen Brief an den neuen Hausbesitzer zu schreiben, dass sie nicht ausziehen will. Das kommt für Oma natürlich gar nicht infrage, und immer wenn Salila mit ihr über den Brief an den neuen Besitzer in Hamburg reden will, wird sie wütend. So schreibt Salila den Brief selbst – und kommt mit Mehmet schließlich darauf, dass Oma Henriette gar nicht lesen und schreiben kann. Nun fügen sich für das Mädchen die Puzzleteile von Omas merkwürdigem Verhalten zusammen: Plötzlich hatte sie die Brille verlegt und Salila musste ihr vorlesen, auf den Zetteln, die sich die beiden auf dem Küchentisch hinterlassen, malt sie Zeichnungen, keine Worte, die Unterschrift unter Salilas Zeugnis ist ganz krakelig. Es dauert jedoch  noch eine Weile, bis Oma ihre Schwäche eingesteht und erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass sie nie richtig lesen und schreiben gelernt hat. Jetzt ist es so, dass sie nicht mal einen neuen Mietvertrag lesen und unterschreiben könnte. Und das macht ihr Angst. Doch zum Glück entdeckt Salila im Internet auch die Schule für Erwachsene – und ihr Brief nach Hamburg zeigt schließlich Wirkung, denn irgendwann steht der Miethai aus Hamburg vor der Tür …

Oma, die Miethaie und ich ist ein liebenswertes und warmherziges Buch über große Problemthemen unserer Zeit. In charmanten Alltagsszenen lernt man zwei starke Frauenfiguren kennen, Großmutter und Enkelin,  die mit Cleverness und Lebensfreude Hindernisse aus dem Weg räumen. So macht Tanya Lieske Mut, nicht die Augen  zu verschließen vor eigenen mangelnden Fähigkeiten. Und auch dem vermeintlich Unabänderlichen sollte man sich nicht einfach beugen. Dafür muss man allerdings schon mal auf die Barrikaden gehen und sich auch an die eigene Nase fassen. Denn für vieles gibt es eine Lösung, das macht die Autorin den jungen Lesern mit ihrer Geschichte unmissverständlich klar. Es gilt jedoch, die Herausforderungen anzunehmen, sich Hilfe zu suchen und Wandel zuzulassen, sei es im Stadtviertel oder im eigenen Leben. Und manchmal geht es dann ganz anders aus, als man am Anfang vermutet …

Tanya Lieske: Oma, die Miethaie und ich, Illustrationen: Daniel Napp, Beltz & Gelberg, 2012, 207 Seiten,  ab 8, 12,95 Euro