Endlich, endlich halte ich mein frisch gedrucktes, neu aufgelegtes, neu bearbeitetes italienisches Herzensbuch in Händen: Renata Viganòs Roman Agnese geht in den Tod.
Lange Jahre war dieses Buch auf Deutsch nur als antiquarische Version von 1951 oder 1959 erhältlich. Damals hatte der Ostberliner Verlag Volk und Welt den Partisanen-Roman veröffentlicht, der heute in Italien zum Schulkanon gehört. Jetzt hat editionfünf diesen Text wieder aus der Versenkung geholt. Passend zum 75. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkriegs.
Renata Viganò erzählt die Geschichte der einfachen Bäuerin und Wäscherin Agnese in den Jahren 1943 bis 1945. Agnese kümmert sich rührend um ihren kranken Mann Palita, bis im Spätsommer 1943, nachdem Mussolini gestürzt wurde und die deutsch-italienische Achse gefallen ist, die Deutschen durch ihr Dorf ziehen. Sie verhaften Verräter und Kommunisten und deportieren in die KZs. Palita überlebt den Transport nach Deutschland nicht. Agnese, eine äußerlich barsche, innerlich jedoch loyale und aufrichtige Frau, erschlägt einen deutschen Soldaten, nachdem dieser Palitas Katze erschossen hat. Nichts hält sie mehr auf ihrem Hof. Sie flüchtet und schließt sich den Partisanen der Gegend an.
Die Widerstandskämpfer verstecken sich zu der Zeit in der riesigen Lagune von Comacchio, die in dem Roman eine zweite Hauptrolle spielt. Von dort aus planen sie ihre Aktionen und brechen meist nachts auf, um ihre Vorräte aufzustocken, Waffen zu besorgen oder den deutschen Soldaten Fallen zu stellen. Agnese schlüpft auf der Flucht vor den deutschen Vergeltungsmaßnahmen bei ihnen unter und wandelt sich dort zur „Mutter der Kompanie“ und zu einer überzeugten Widerstandskämpferin.
Sehnsüchtig erwartet sie zusammen mit den Partisanen die Alliierten, die von Süden aus Italien befreien. Doch die Front rückt nur langsam nach Norden, zu sehr wehren sich die Deutschen und ihre letzten Verbündeten, die italienischen Faschisten. Der strenge Winter 1944/45 verzögert die Befreiung von Norditalien zusätzlich. Die Partisanen in ihren notdürftigen Unterkünften im Schilf leiden unter Regen, Schnee, Frost. Das Wasser der Lagune gefriert, einige der Genossen werden in einem überschwemmten Haus eingeschlossen.
Agnese, die mit der Organisation der „Staffette“, den Botengängerinnen, beauftragt ist, versucht alles, um den Nachschub an Lebensmittel für die Jungs zu gewährleisten. Die alte Frau wächst dabei über sich hinaus, sie wird zur „la Responsabile“, zur Verantwortlichen. Kilometer um Kilometer radelt sie über die Deiche, schleppt Körbe mit Brot, Wein und Käse, aber auch mit Sprengstoff und Flugblättern. Begegnet sie deutschen Patrouillen macht sie aus ihrer Verachtung den Besatzern gegenüber keinen Hehl. Immer wieder ist sie der Gefahr ausgesetzt, als Mörderin eines deutschen Soldaten erkannt zu werden.
Viganòs Roman ist harter Stoff. Der Tod ist ein beständiger Begleiter bei der Lektüre. Dazu kommen das Leiden der italienischen Partisanen, die Übergriffe und Greultaten der Deutschen, die Verschlagenheit der italienischen Faschisten, die Passivität der Alliierten. Der Krieg an und für sich ist hautnah zu spüren. Viganò schrieb in der Tradition des Neorealismus. Ihr Roman kam in Italien 1949 heraus und wurde noch im selben Jahr mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Die Autorin, die selbst bei den Partisanen gekämpft hat, vermischt darin eigene Erfahrungen mit fiktiven Gestalten. Und illustriert so auf eindrucksvolle Weise, wie sich die Wehrmacht und die SS in den letzten Kriegsjahren in Italien verhalten haben.
Deutschlands Beziehung zu Italien scheint eine ewige Liebesbeziehung, seit Goethes Zeiten und den Filmschmonzetten aus den 50er Jahren (die in neuem Gewand heute immer noch produziert werden). Italien steht oftmals für Amore, Gelato, Kunst und Leichtigkeit. Die bittere Realität des Landes liefern uns Geschichten über Mafia und Korruption, manchmal spannend verpackt als Krimis, wie bei Carlo Lucarelli oder Patrizia Rinaldi, neuerdings mischen sich darunter auch vermehrt die Berichte über die Flüchtlinge aus Afrika. Gern hört man das hierzulande jedoch nicht. Dass Deutschlands Beziehung zu Italien jedoch selbst auch eine ganz düstere Seite hat, ist vielen nicht bekannt oder schon wieder vergessen. Renata Viganòs Roman erinnert nun ganz plastisch wieder daran, dass die Verbrechen der Wehrmacht nicht nur in Osteuropa stattfanden, sondern auch dort. Mit der gleichen Härte, der gleichen Unbarmherzigkeit. Aufgearbeitet sind diese Verbrechen noch viel zu wenig, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission in ihrem Abschlussbericht im Juli 2012 festgestellt hat, und zwar auf beiden Seiten.
Mir ist Viganòs Roman zum ersten Mal 1992 während meines Studienjahres in Florenz untergekommen, und schon damals war ich fasziniert. Aus meinem Vorhaben, über den Roman meine Magisterarbeit zu schreiben, ist damals leider nichts geworden. Dann stand der Roman bei mir im Regal und lauerte in meinem Hinterkopf – bis sich editionfünf bereit erklärte, ihn in neuem Gewand herauszubringen.
Ich hätte gern eine richtige Neuübersetzung gemacht, doch wie immer ist das auch eine Frage der Finanzen. So konnte ich aber immerhin die alte Übersetzung von Ina Jun-Broda, die 1959 schon einmal von Ernst-August Nicklas redigiert worden war, gründlich überarbeiten. Es war nicht weniger Arbeit, vielmehr eine Gratwanderung zwischen drei verschiedenen Versionen (dem italienischen Original und den beiden DDR-Ausgaben). Ich glaube jedoch, dass nun Viganòs Text auch auf deutsch so frisch und hoffentlich zeitlos wirkt wie das italienische Original. Agnese geht in den Tod ist ein Puzzlestück, das eine weitere Nuance des zweiten Weltkrieges beleuchtet und damit zur Aufarbeitung beiträgt, die die Historiker einfordern.
Es bleibt die Hoffnung, dass sich das romantische Italienbild vielleicht ein winziges Bisschen zum Realistischen hin verschiebt und der nächste Italienurlaub möglicherweise mit anderen Augen genossen wird.
Renata Viganò: Agnese geht in den Tod, Übersetzung: Ina Jun-Broda, Neubearbeitung und Nachwort: Ulrike Schimming, editionfünf, 2014, 316 Seiten, 21,90 Euro