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Unter uns das Meer

steinkellner

Ein Junge, ein Mädchen, beide 16 Jahre alt und beide auf der Suche nach einem bestimmten Menschen. Zufällig begegnen Simon und Antonia sich im Park. Antonia sieht in Simon erst jemand anderen, alles dreht sich vor ihren Augen und sie sinkt in Simons Arme.
Aber wer jetzt eine leicht kitschige Liebesgeschichte vermutet, liegt völlig falsch.
Dieser wilde Ozean den wir Leben nennen von Elisabeth Steinkellner ist viel mehr. Unweigerlich taucht man ein in diesen aus zwei Perspektiven erzählten Roman. Anfangs sind die Wechsel noch etwas verwirrend, doch bald wird klar, dass Simons Passagen immer mit Farben überschrieben sind, Antonias mit prägnanten Begriffen.

Romantische Sehnsucht nach dem Meer

Die Liebe ist nur ein Teilaspekt des Lebens (und des Buchs), wie die formidablen Lassie Singers richtig sangen. Dass die allein schon deutlich mehr sein kann, ahnt Simon bereits: »Woher weiß man, dass man verliebt ist? Dass es wirklich verliebtheit ist und nicht einfach nur anziehung oder der wunsch nach aufregung und abenteuer oder schlichtweg selbstbetrug, weil man in dem anderen jemanden sieht, der man selbst gern ware?«, tippt er ins Telefon. Die Antwort seiner besten Freundin kommt prompt: »Vermutlich gehört das alles irgendwie dazu, der selbstbetrug und die die sehnsucht nach abenteuer und großem gefühlskino …«
Simon ist total verknallt in Paulus, den er vor einem halben Jahr im Zug kennengelernt hat. Leider weiß er kaum mehr als den Vornamen und wo sein Schwarm studiert. Und dass Paulus taucht und unter Wasser fotografiert, weshalb er eine romantische Sehnsucht nach dem ihm unbekannten Meer hat (das Buch spielt in Österreich). Jetzt ist er in den Ferien in jene nicht genannte Universitätsstadt gereist, um Paulus zu suchen – und Farbe in sein eintönig graues Leben zu bringen.

Outing erst drei Jahre später

Dass Simon schwul ist, wird angenehm unaufgeregt thematisiert. Selbst weiß er schon länger, dass er auf Jungs steht. Sich offiziell zu outen, »Farbe zu bekennen«, hat er sich noch nicht getraut. Das passt gut zu den Zahlen einer Jugendstudie, laut der Jungen sich mit gut 13 Jahren innerlich outen, aber im Durchschnitt erst drei Jahre später anderen sagen, dass sie homosexuell sind. Bei Mädchen ist der zeitliche Abstand übrigens nur ein Jahr. Simons Verhalten spiegelt treffend unsere Gesellschaft: Sexualität ist allgegenwärtig, aber das auf T-Shirts des FC St. Pauli aufgedruckte Motto »Liebe doch wen du willst« ist längst noch nicht selbstverständlich.

Die Kapitänin wie ein sterbendes Tier

Antonia vermisst ihren älteren Bruder. Die Leerstelle, die seit Joels Verschwinden in ihrem Leben entstanden ist, bildet auch einen immer breiter werdenden Graben zu allen anderen Menschen in ihrem Leben, zu ihrer besten Freundin, zu ihrer Mutter, zu ihrem Vater, zu ihrem Freund.
»Ich merke, wie unglaublich groß die Wut in mir ist. Die Wut darauf, dass ich immer noch traurig bin wegen Joel und dass ich mich so verdammt machtlos fühle gegen die Leere, die er in mir hinterlassen hat. Die Wut darauf, die falschen Dinge gesagt zu haben, als es darauf angekommen ist, und immer wieder die falschen Dinge tue, wenn es darauf ankommt.«
Antonias Bruder Joel ist kurz vorm Abitur (Österreichisch: Matura) komplett ausgetickt, litt unter Wahnvorstellungen, Angst, Panik, wurde aggressiv. Wie diese schwer zu begreifende Psychose die Familie verzweifelt, hilflos, traurig und wütend macht, Rollen durcheinanderbringt und alles auseinander sprengt, beschreibt Antonia im Laufe des Buchs eindringlich und erschütternd. »Mama war immer die Kapitänin unseres Schiffs … In der Nacht, nachdem sie Joel ins Auto gepackt und in der Psychiatrie abgeliefert hatte, hat sie stundenlang gewimmert wie ein sterbendes Tier.«

Szenen zärtlicher Leichtigkeit

Elisabeth Steinkellner verleiht ihren sich so liebenswert selbst im Weg stehenden Charakteren starke Stimmen. Auch den Nebenfiguren, »als Mutter liebst du niemanden auf der Welt so sehr wie deine Kinder. Und trotzdem machst du Fehler, vielleicht aus Unachtsamkeit oder Angst, vielleicht aus Egoismus oder Ungeduld. Bei dir bleibt am Ende das Gefühl der Liebe. Aber wer weiß, bei deinem Kind wiegt vielleicht der Schrecken schwerer«, sagt Antonias Mama zum Ende.
Zwischen spritzigen Dialogen, gern auch in Form von Textnachrichten, schonungslosen Selbstreflexionen und klassischen Fehlinterpretationen, gewinnen Simon und Antonia immer mehr Klarheit über ihre Wünsche. Typisch pubertäre Stimmungsumschwünge beenden Szenen voller unerwarteter Ausgelassenheit und zärtlicher Leichtigkeit. Es gibt echtes Drama, nie künstlich oder überzogen. So kommt es mal zum heftigen Krach zwischen Antonia und ihrer besten Freundin. Aber das ist nicht das Ende: Ines schätzt es nämlich, dass Antonia sehr emotional agiert und sich nicht verstellt, um anderen zu gefallen.

Knoten lösen

»Ich weiß selber nicht, warum ich das Gefühl habe, dass mir die richtigen Worte fehlen«, sagt Simon am Anfang. Auch seine Hände versteckt er lieber zu Fäusten in den Hosentaschen geballt, als jemandem zu nahe zu kommen, seltene Gesten geraten ihm zum Slapstick. Bei Antonia aber macht er von Anfang an instinktiv fast alles richtig. So lösen sich bei beiden nicht nur ein paar hartnäckige Knoten im Schopf. Und beide finden ihren Weg zum Meer, mit dem sie ganz unterschiedliche Gefühle assoziieren.
Steinkellner hat auf jeden Fall genau die richtigen Worte für diesen vielschichtigen, brillanten Roman. Sie ist eine der faszinierendsten Jugendbuchautorinnen aus Österreich, seit der wunderbaren, im vergangenen Jahr gestorbenen Christine Nöstlinger.

Elisabeth Steinkellner: Dieser wilde Ozean den wir Leben nennen, Beltz & Gelberg, 2018, 236 Seiten, ab 14, 13,95 Euro

Herzensbildungsreise

leeDie Mitte ihres Leibes ist vom Nabel bis zum Brustbein frisch vernäht, und ein rötlicher Schimmer dringt von innen durch die Haut, wie wenn eine Laterne unter einem Laken brennt. „Also gut.“ Er packt die Pistole am Lauf, holt aus und zertrümmert der Frau den Brustkorb. Es klingt, wie wenn ein Stein durch eine Eisdecke bricht. Und da liegt das Herz. Es schlägt nicht eigentlich, sondern pulsiert wie eine Wunde.

Dieses Herz soll das Allheilmittel und die Lösung existenzieller Probleme sein. Es soll auch Montys Liebe retten. Die Suche danach hat den jungen Engländer von Frankreich über Barcelona bis in die Gruft auf einer versinkenden Insel vor Venedig getrieben. Und doch muss dieses Herz jetzt vernichtet werden, bevor noch mehr Unheil deswegen geschieht.

Passend zum 200. Geburtstag von Mary Shelleys unsterblichem Klassiker über menschliche Allmachtsphantasien verbreitet die Autorin Mackenzi Lee in ihrem furiosen Historienroman Cavaliersreise, übersetzt von Gesine Schröder, sanftes Frankenstein-Grauen.

Ebenso passend und weiblich pragmatisch packt ausgerechnet Montys jüngere Schwester beherzt zu und beendet den makabren Spuk. Wie hatte sie zuvor sehr richtig bemerkt und damit den jungen Männern die Schamesröte ins Gesicht getrieben: „Frauen können es sich nicht leisten, in Bezug auf Blut zimperlich zu sein.“

Ein solch gruseliges Finale der gemeinsamen Bildungsreise hätte sich weder Henry Montague, genannt Monty, noch sein gestrenger Vater in ihren kühnsten Träumen ausdenken können. Ihre Albträume hatten auch mit Herzensangelegenheiten zu tun, aber ganz anderer Art.

Vor wenigen Monaten noch war Monty halbnackt und verdreht, mit Megaschädel und ohne Erinnerung an den vorherigen Abend aufgewacht, schlonzte kurz am Frühstückstisch vorbei, küsste flüchtig seine Mutter zum Abschied, ließ eine ätzende Unterredung mit seinem Vater über sich ergehen und sprang in die Kutsche. So unbekümmert und formvollendet nonchalant würde man auch gern reisen. Für Monty und Percy, seinen Freund seit Kindertagen, ist es der Auftakt zur Cavaliersreise. Auf die begaben sich im 17. und 18. Jahrhundert junge Adelige nach dem Schulabschluss, um sich zu bilden in Kunst und Architektur, um klassische Kapitalen kennenzulernen wie Rom, Paris, Wien, Florenz oder Amsterdam, und um Verbindungen zu knüpfen in der gehobenen, herrschenden Gesellschaft Europas. Und nicht zuletzt, um sich noch einmal richtig auszutoben, bevor sie Verantwortung für Gut und Ländereien übernehmen.

Heute reist man ganz demokratisch und klassenübergreifend per Billigfluglinie, wobei der Bildungsaspekt mittlerweile kaum eine Rolle spielt und von anschließendem seriösen Lebenswandel auch nicht auszugehen ist.

Was ein großer Spaß für den 18-jährigen Monty und seinen Freund Percy werden könnte, bekommt gleich einen fetten Dämpfer: Nicht nur müssen sie Montys jüngere, ernsthafte Schwester Felicity mitschleppen, die kaum ihre bebrillte Nase aus ihren Schundromanen nimmt. Als absolute Spaßbremse wird ihnen noch ein Tutor aufgedrückt, mit allen notwendigen Reisepapieren und strengem Zeitplan sowie erzieherischem Auftrag.

„Ich verspüre den Drang, mich auf seine Schnallenschuhe zu übergeben“, kommentiert Monty für sich den ungewünschten Reisebegleiter. Aber man ahnt, dass sich hinter seiner reizend schnodderigen Fassade tiefe Gefühle und große Ängste verbergen. Und er wiederum kapiert, dass auch Percy und Felicity Geheimnisse haben. Und überhaupt ist die Welt ganz anders, als er sie bisher aus seiner privilegierten Perspektive als junger, attraktiver, wohlhabender und weißer Mann wahrgenommen hat. Allein für diese Erfahrung lohnt sich die Reise.

Schon bald ist klar, dass die amerikanische Historikerin Mackenzi Lee nicht nur eine packende Abenteuergeschichte geschrieben hat, gewürzt mit reichlich Promille und Flirts, prunkvollen Festen und üppigen Kostümen, inklusive Verfolgungsjagden, Räubern und Piraten. Wenn Monty aufgescheucht von einem Techtelmechtel nackt über den Rasen von Versailles flitzt, muss ihm seine kleine Schwester sagen, dass die Situation für ihn jetzt ein vielleicht ein bisschen peinlich ist, für sein Gespielin aber mehr als den sozialen Tod bedeutet.

Und nicht nur Felicitys vermeintliche Liebeslektüre lehrt einen einmal mehr, dass man ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen soll: Nur weil für Monty Percys dunkle Hautfarbe – Percys früh verstorbene Mutter stammt aus der britischen Kolonie auf Barbados – kein Thema ist, sondern ihn in Montys Augen eher noch attraktiver macht, ist der relativ behütet aufgewachsene, farbige Junge trotzdem alltäglichem Rassismus und Vorurteilen ausgesetzt. Wie auch Montys Schwester als Mensch zweiter Klasse gilt, eben weil sie ein Mädchen ist. Beiden wird eine fundierte Ausbildung, ein Studium und ein selbstbestimmtes Leben verweigert.

Selbst Monty darf nicht so leben und vor allem nicht so lieben, wie er will. Wie ein blutroter Faden zieht sich seine Herzensangelegenheit durch die Geschichte. Es ist das ewige, verwirrende, erregende, auch nervtötende Spiel aus Anziehung und Zurückstoßen, Schüchternheit und Mut, Sprachlosigkeit und der Angst endgültig die Antwort zu bekommen, die man am meisten fürchtet, die Angst vor dem Verlust. Hier wird sie nicht unwesentlich dadurch kompliziert, dass Monty Percy liebt, einen Mann, und sich nach dessen Körper sehnt. Vor 200 Jahren galt die sogenannte „Sodomie“ als Kapitalverbrechen und ist auch erst seit den 1970er-Jahren kein Verbrechen mehr – hierzulande.

Es ist eine packende Herzensbildungsreise: Für Monty, der immer ein charmanter Exzentriker bleiben wird, nun gezeichnet mit ein paar Narben und oberflächlich nicht mehr ganz so schön, dafür innerlich gereift und wesentlich weniger egoistisch. „Tausend Meilen musste ich reisen, um zu begreifen, dass ich nicht so übel bin wie meine übelsten Taten“, schreibt er abschließend aus dem griechischen Exil. Und für den Leser, der diesen kuriosen Gentleman mit dem größten Vergnügen fast 500 Seiten lang begleitet.

Mackenzi Lee: Cavaliersreise. Bekenntnisse eines Gentlemans, Übersetzung: Gesine Schröder, Carlsen, 496 Seiten, ab 16, 19,99 Euro

Der Chor der Mutmacher

levithanZwei Jungs, die sich küssen, regt das heute noch irgendjemanden auf? Man möchte meinen, nicht. Doch wenn die es in aller Öffentlichkeit tun und das über 32 Stunden, um einen neuen Rekord aufzustellen, dann ist das ein Ereignis, dass die Gemüter bewegt.

Von so einem real durchgeführten Ereignis, das ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen wurde, erzählt David Levithan in seinem Roman Two Boys Kissing, vorzüglich übersetzt von Martina Tichy.
Harry und Craig wollen ein Zeichen setzen, wollen andere schwule Jungs ermuntern, sich zu outen, zu ihrer sexuellen Neigung zu stehen, sich nicht zu verstecken. Dafür küssen sie sich vor der Highschool ihres Ortes, in aller Öffentlichkeit, knapp anderthalb Tage, ohne sich hinzusetzen, ohne zu essen, ohne auf Toilette zu gehen, ohne zu schlafen. So wie die Qualen der beiden – schmerzende Muskeln, Hitze, Kälte, eine volle Blase, Schwindel, Kopfweh – zunehmen, so wächst auch die Schar der Zuschauer an. Anfangs sind nur ein paar Freunde und Lehrer vor der Schule, die die Küssenden mit Getränken und Klamotten versorgen oder sich um die Live-Übertragung des Ereignisses ins Internet kümmern. Doch mit jeder Stunde verbreitet sich der Rekordversuch im Netz immer weiter, in alle Winkel der Welt. Die Medien werden aufmerksam, die konservativen Mitmenschen des Ortes aber auch, die gegen diese angeblich ungebührliche Aktion protestierten.

Neben den Küssenden schildert Levithan jedoch auch noch zwei weitere schwule Paare sowie einen unglücklichen Einzelgänger. Bei dem einen können die Eltern nichts mit den Neigungen des Sohns etwas anfangen, bei dem anderen handelt es sich um einen Transgender-Jungen, der einst im Körper eines Mädchens geboren wurde, aber alle Unterstützung von seinen Eltern bekommt. Der Einzelgänger sucht sein Glück im Internet, wird jedoch nur enttäuscht. Als seine Eltern ihn unfreiwillig beim Chatten erwischen und ihn somit zwangsouten, haut er von zu Hause ab.

Levithan, dessen Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal gerade von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, konzentriert sich hier ganz auf den Kosmos schwuler Jugendlicher, rund um ihr Coming-out und ihre erste Liebe. Anfangs ist die Fülle an männlichen Figuren etwas verwirrend, doch mehr und mehr nimmt die Erzählung an Fahrt auf und die Jungs wachsen einem ans Herz. Dies liegt auch an der sehr präsenten Erzählerstimme, die eine ungewöhnliche und erfrischende Alternative zu den vorherrschenden Ich-Erzählern bildet. Denn hier erzählt ein unbenanntes WIR, ein Chor, der den jungen Schwulen fast väterlich über die Schulter schaut, sie ermutigt, Tipps gibt, von eigenen Erfahrungen berichtet, von eigenen Ängsten, Sorgen und Freuden. Es ist ein Chor einer Generation von Schwulen, die Anfang der 90er Jahre die AIDS-Katastrophe am eigenen Leib erlebt hat, deren Partner, Freunde, Bekannte an der Krankheit gestorben sind, die die Diskriminierung noch schärfer erlebt haben, als die junge Generation heute. Sie waren die Wegbereiter dafür, dass seit diesem Sommer in den USA gleichgeschlechtliche Ehen legal sind. Sie erheben die Stimme, ermutigen, warnen aber auch und machen klar, dass es ein langer Weg war bis zu diesem Punkt, aber auch, dass noch ein langer Weg vor allen LGBT*-Leuten liegt, bis diese rechtlich völlig gleichgestellt sind.

Dieses Buch macht Mut. Keine Frage. Jedem Jungen, der mit seinen sexuellen Vorlieben hadert, sei diese Lektüre empfohlen. Levithan zeigt zwar, dass es nicht einfach ist – weder sich 32 Stunden lang zu küssen, noch mit seinen Eltern zu reden, noch die richtigen Freunde zu finden – doch er zeigt auch, dass es sich lohnt, zu sich selbst zu stehen und sich auf das Abenteuer Leben einzulassen.

Demnächst würde ich gern auf diesem Kanal die weibliche Variante dieses Themas vorstellen können … die aber wohl noch nicht geschrieben ist. Liebe Verlage, bitte kümmert euch darum!

David Levithan: Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt, Übersetzung: Martina Tichy, Fischer KJB, 2015, 288 Seiten,  ab 14, 14,99 Euro

Es lebe die sexuelle Vielfalt!

gayDas Leben auf dieser Erde ist alles andere als einfach, und der Mensch und seine vermeintlichen Regeln tragen nicht gerade dazu bei, dass es leichter wird. Vor allem, wenn es um Sexualität geht und wie die angeblich zu sein hat. Für Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz klar sind, macht die Hetero-Normierung unserer Gesellschaft es auch nicht besser.

Gegen diese Normierung und eine angeblich normale Sexualität stellt der britische Autor James Dawson sein Handbuch How to be gay. Er richtet sich an die Jugendlichen, die vor allem eins sind: neugierig. Auf sich, auf das Leben, auf andere Arten der Sexualität, die ihnen nicht in der Schule erklärt und in den Medien oftmals als Stereotypen präsentiert werden. Dawson hingegen lädt die jungen Leser mit klaren, oft witzigen und ironischen Worten – von Volker Oldenburg in charmant-coole deutsche Varianten übersetzt, die eine unterhaltsame Lektüre garantieren – in den Club der LGBT*-Leute ein, d.h. in die Welt der LesbischGayBiTrans*-Menschen (wobei das * für die Gesamtheit aller sexuellen Orientierungen, sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten steht). Das mag sich, so referiert, vielleicht etwas sperrig lesen, doch geht es Dawson darum, sich unbefangen seinen sexuellen Phantasien zu stellen und herauszufinden, was Mädchen/Junge eigentlich mag. Der Respekt vor sich selbst und den anderen steht dabei im Mittelpunkt – ist der gegeben, ist es egal, wen und wie man liebt und mit wem oder wie man Sex hat.

Ist sie oder er sich seiner sexuellen Vorlieben erst einmal klar geworden, hilft How to be gay als Gebrauchsanleitung für das tägliche Leben weiter.  Dawson liefert wichtige Gedanken, wie ein Coming-out am besten gestaltet werden kann, verrät, was bei schwulem und lesbischen Sex abgeht, bietet Argumentationshilfen, wenn man als LGBT* zu einer religiösen Diskussion genötigt wird, zeigt, was bei Sex-Apps  zu beachten ist, oder wie man als homosexuelles Paar eine Familie gründet. Gleichzeitig warnt er auch vor lästigen und unnötigen Geschlechtskrankheiten und wie man sich durch respektloses Verhalten oder die gedankenlose Benutzung von Begriffen zum Vollhorst machen kann. Er nennt die Dinge dabei ungeschminkt beim Namen, und genau das tut gut, damit die Jugendlichen nicht ewig im Nebel von Unausgesprochenem, Angedeuteten, Klischees, Vorurteilen, Diskriminierung und angeblicher Unnormalität herumstochern müssen.

Angereichert hat Dawson seine Tipps mit O-Tönen von LGBT*-Menschen, die von ihren Erfahrungen und Geschichten berichten. Sie zeigen die Facetten von Leben, in denen die Menschen sich nicht nach der angeblichen Norm richten, sondern zu ihren Vorlieben und damit zu sich selbst stehen. Das sind durchweg großartige Vorbilder.

Einziger Wermutstropfen bei diesem Buch ist die fehlende Lokalisierung für die deutsche Szene. Dawson schildert vornehmlich britische Gegebenheit, also die Geschichte, Gesetzeslage und Rechte in Großbritannien. Und auch das „kleine Lexikon der großen Schwulen- und Lesbenikonen“ ist von angloamerikanischen Star beherrscht. Bei all dem hätte von Verlagsseite durchaus eine Anpassung und/oder Erweiterung für Deutschland vorgenommen werden können: Die Fragen zu Homo-Ehe und Kinder von Homosexuellen in Deutschland müssen sich die jungen Leser nun selbst recherchieren. Die Doppelseite mit nützlichen Websites am  Ende ist da nur ein schmaler Anfang. Und allein für das Ikonen-Lexikon fallen mir spontan bereits ein Dutzend deutscher LGBT*-Leute ein, die man hätte integrieren können.

Trotz dieses Mankos kann man Jugendlichen How to be gay als wegweisenden und hilfreichen Ratgeber an die Hand geben, den Eltern sei die Lektüre nicht minder empfohlen – denn man lernt auch als cisgender Hetero noch so Einiges dazu, sowohl über einen selbst, als auch über die Feinheiten, die für einen sensiblen und respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft einfach nötig sind.

James Dawson: How to be gay. Alles über Coming-out, Sex, Gender und Liebe, Übersetzung: Volker Oldenburg, Fischer TB, 2015, 304 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Im Strudel der Gefühle

danteAch, die Pubertät. Eine schwierige Zeit, alles verändert sich, der Körper vor allem, aber auch der Geist. Die Sicherheiten gehen verloren, die Richtung im Leben wird unklar. Alles gerät durcheinander. Von diesen Zuständen im Leben des 15-jährigen Aristoteles, genannt Ari, erzählt Benjamin Alire Saenz in seinem Roman Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums.

Ari trifft 1987 in El Paso, Texas, gleich an der Grenze zu Mexiko, Dante im Schwimmbad. Die Jungen könnten unterschiedlicher nicht sein: Ari ist introvertiert, verunsichert, hat keine Freunde. Er ist schwermütig, unter anderem, weil sein Vater nicht über seine Erlebnisse aus dem Vietnamkrieg berichtet. Zudem wird in der Familie nicht über Aris älteren Bruder gesprochen, der im Gefängnis sitzt.
Dante hingegen ist selbstsicher, liebt Poesie und Kunst, in seiner Familie gibt es keine Geheimnisse – und er weiß, dass er Jungs liebt. Nach und nach freunden sich die beiden an. Dante bringt Ari das Schwimmen bei, aber nicht nur das. Sie verbringen immer mehr Zeit miteinander, fahren in die Wüste und beobachten die Sterne, lesen Gedichte, diskutieren über ihre mexikanischen Wurzeln und ihr Leben in einer weißen Gesellschaft.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Aristoteles, und so stehen vor allem die Zweifel und Unsicherheiten des Heranwachsenden im Vordergrund. Lange, ganz lange kann und will er sich nicht eingestehen, dass er Dante liebt, zu außergewöhnlich ist das doch für einen Jungen, der aus einer katholischen Familie mit mexikanischen Wurzeln stammt. Aris Hadern, seine Wut, seine Suche, sein Übergang vom Kind zum Erwachsenen bekommt der Leser hautnah mit. Seine Gefühle werden quasi zu den Gefühlen des Lesers, so unmittelbar erzählt Saenz, in der lässigen deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit. Und gerade das macht diesen Roman für pubertierende Jungen interessant. Hier finden sie eine Identifikationsfigur, die ihnen zeigt, dass all dieses Gefühlschaos zum Erwachsenwerden dazugehört, dass es okay ist, nicht dem Mainstream anzugehören, dass es in Ordnung ist, sich von familiären und gesellschaftlichen Traditionen zu verabschieden.
Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund finden in Ari und Dante zwei Helden, die sich aus ihrem alten Kontext lösen und um der Liebe willen ihren eigenen Weg gehen.

Benjamin Alire Saenz: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums,  Übersetzung: Brigitte Jakobeit,  Thienemann Verlag, 2014, 384 Seiten,  ab 14, 16,99 Euro

Die Vielfalt des Lebens, die große Liebe und der eigene Weg

levithanGibt es jemanden, der nicht schon mal gern das Leben eines anderen führen wollte? Wohl kaum. Zu unzufrieden sind wir oftmals mit unserem Dasein, zu neidisch auf andere, zu neugierig, zu ehrgeizig. Doch wir sind in unseren Körper und unserem Alltag gefangen und müssten uns schon ziemlich anstrengen, mal ein komplett anderes Leben zu führen.

David Levithan hat in seinem neuen Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal ein Gedankenspiel auf sehr faszinierende Weise zu Ende gebracht.
Die 16-jährige Hauptfigur A wacht jeden Morgen im Körper eines anderen Jugendlichen auf. Jeden Morgen muss er/sie sich an einen neuen Körper, neuen Namen, neue Eltern, neues Haus, neue Umgebung, neue Stadt, neue Schule, neue Freunde oder Feinde gewöhnen. A kann diese Fähigkeit nicht steuern, er/sie weiß nie, wo er/sie am nächsten Morgen aufwacht. Eine Kontinuität gibt es nicht, und wenn dann liegt sie nur im beständigen Wandel.

Eines Tages jedoch steckt er/sie im Körper von Jason, der mit Rhiannon zusammen ist, das Mädchen jedoch nicht besonders gut behandelt. A verliebt sich auf den ersten Blick in sie und verbringt mit ihr einen wunderschönen, perfekten Tag am Meer. Von da an versucht A, so oft es geht zu Rhiannon zu fahren und sie zu treffen. Da A jedoch ständig in einem anderen Körper, also mal als Junge, mal als Mädchen, auftaucht, muss er/sie das Mädchen irgendwann in sein Geheimnis einweihen.
Natürlich will sie von diesem merkwürdigen Zustand zunächst nichts wissen, zu absurd ist diese Vorstellung. Doch je öfter A bei ihr auftaucht, umso schneller erkennt sie A in den verschiedenen Körpern wieder. Nach und nach kommen sich die beiden immer näher …

David Levithan hat hier vermutlich eine der ergreifendsten und ungewöhnlichsten Liebesgeschichten geschrieben, die mir je untergekommen ist. Trotz der fantastischen Idee ist man bereits auf den ersten Seiten gebannt, akzeptiert das Konstrukt, das Levithan im Laufe der Geschichte genau erklärt, uneingeschränkt. Und während man bei der Lektüre immer mehr mit A und Rhiannon liebt und leidet und sich fragt, wie das alles enden soll, erfährt man so ungemein viel über das Leben von anderen Menschen. Denn A steckt zwar immer wieder in neuen Körpern, kann aber durch seine Erfahrung und durch seinen „Außenblick“ ganz genau erkennen, ob der jeweilige Mensch gut oder schlecht zu seinem Körper ist.

Dabei sind zunächst das Geschlecht und die Hautfarbe völlig egal. A ist mal Junge, mal Mädchen, mal schwul, mal lesbisch, mal transsexuell, er/sie ist weiß, Afroamerikaner_in, Latino/a. Es ist egal, seine Liebe zu Rhiannon bleibt unverändert, und auch ihr ist es zunehmend egal.
Aber A ist daneben auch schon mal alkoholabhängig, übergewichtig, depressiv. Er/Sie steckte eines Tages im Körper eines Mädchens, das Suizidabsichten hegt. Normalerweise hält A sich aus den Leben der anderen heraus, hinterlässt keine Spuren, nur vage Erinnerungen an den Tag, an dem er/sie Besitz von dem/der anderen genommen hat. Doch in diesem Fall hält er/sie sich nicht heraus.
Ansonsten wertet A die körperlichen Zustände der anderen Jugendlichen nicht, zeigt aber, dass die Missachtung des eigenen Körpers ihn/sie an diesen Tagen in Schwierigkeiten bringt. Allerdings macht er/sie auch immer klar, dass es für diese Missachtung durchaus Gründe gibt, die eigentlich hinterfragt werden müssten. Doch dafür reicht sein/ihr einer Tag im Leben eines anderen nicht aus.
In diesen Betrachtungen findet man eine große Liebe und jede Menge Respekt für alle möglichen Lebensarten, bis A schließlich klar macht, dass man sich von den Dingen, die man vielleicht erstrebt und haben möchte auch wieder frei machen muss, um schließlich seinen ganz eigene Weg zu gehen.

Sprachlich gilt bei diesem Roman mein ganzer Respekt der Übersetzerin Martina Tichy, die es ganz fein verstanden hat, dieser ungewöhnlichen Figur A eine geschlechtsneutrale Sprache zu geben. Da A ja eigentlich körperlos ist und daher auch kein festgelegtes Geschlecht hat, kann er/sie nicht durch männliche oder weibliche Sprache charakterisiert werden. Ich-Erzähler_in A, der/die nie eine Aussage macht, welches Geschlecht ihm/ihr am liebsten wäre, erzählt daher in einer so unaufdringlichen und neutralen Sprache, das man als Leser nie stolpert oder gar zu einer Schlussfolgerung über As Geschlecht genötigt wird. Das im Deutschen so hinzukriegen ist eine große Kunst.

Letztendlich sind wir dem Universum egal ist ein großartiger Roman über die Liebe, das Leben und den Respekt, den man allen Arten von Liebe und Leben entgegenbringen sollte. Und das kann man in der heutigen Zeit nicht oft genug zum Ausdruck bringen.

David Levithan: Letztendlich sind wir dem Universum egal, Übersetzung: Martina Tichy, Fischer FJB, 2014, 400 Seiten, 16,99 Euro