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Auf den Hund gekommen

Der denkbare schlechteste Start in der neuen Klasse: Die 13-jährige Parker lässt sich hinreißen, bellt aus Spaß bei der Kennenlernrunde„Jingle Bells“ – und bekommt prompt den Spitznamen „Barker“ verpasst. Sven, der schlechte Witze auf ihre Kosten macht, um cool zu wirken, gibt selbst plötzlich merkwürdige Geistergeräusche von sich. Und muss allen sagen, dass er Epilepsie hat. Zwei Freaks knallen aufeinander.

In der Nacht begegnen sie sich erneut und sind ganz anders: Parker ist keine Witzfigur, sondern eine faszinierende Einbrecherin. Eine, die das Vertrauen in die Menschen verloren hat und sich nach einem bestimmten Lebewesen sehnt. Und Sven kann mir ihr reden, über seine Krankheit, die vor einem Jahr plötzlich begann und seitdem sein Leben bestimmt. Über seine Angst vor dem nächsten Anfall. Über seine Hilflosigkeit. Zwei verletzte Seelen nähern sich behutsam einander.

Die Verbindung zwischen Parker und Sven, zwischen ihren knalligen Images tagsüber und ihren sensiblen Nachtseiten, ist ein Hund. Genauer gesagt: Jene titelgebende Alaska, eine schneeweiße Golden-Retriever-Hündin. Jenes geliebte Wesen, von dem Parker sich vor vier Monaten trennen musste, weil einer ihrer kleinen Brüder allergisch reagierte. Und die jetzt als sogenannter Assistenzhund bei Sven lebt, von ihm „das Tier“ und „haariges Monster“ genannt, weil ihre Anwesenheit ihn ständig an seine Krankheit erinnert.
„Und da musste der Hund weg?“, fragt Sven seine nächtliche Besucherin.
„Oder Joey“, sagte sie. „Aber meine Eltern wollten ihn behalten. Also musste Alaska weg.“ Und riss ein hundeförmiges Loch in das Herz des Mädchens, dessen Leben ein paar Wochen später erschüttert wird durch einen Raubüberfall auf das Fotogeschäft ihrer Eltern. Parker muss, versteckt hinter einem Vorhang, ohnmächtig miterleben, wie ihre Mutter geschlagen und ihr Vater niedergeschossen wird. Weil die Täter entkommen, ist die Angst seitdem auch ihr ständiger Begleiter.

Ausgedacht hat sich diese vielschichtigen Charaktere die niederländische Autorin Anna Woltz in ihrem nun vierten Roman. In einem Alter, in dem man ohnehin unsicher ist, auf der Suche nach einem Sinn und sich selbst, wenn ein banaler Pickel einen schon aus der Bahn wirft, kann eine unkontrollierbare, beherrschende Krankheit, die einen mit dem Kopf auf den Boden knallen und „sabbernd und mit Gehirnerschütterung“ aufwachen lässt, einem komplett den Boden unter den Füßen wegreißen. Ebenso der Verlust eines geliebten Tieres.

Woltz lässt Sven und Parker aus wechselnder Perspektive erzählen und entspinnt grandiose Dialoge zwischen ihnen. Verständlich, dass Woltz die Lieblingsautorin der Übersetzerin Andrea Kluitmann ist, die erfrischend und glaubwürdig aus dem Niederländischem übersetzt. Mal komisch, mit trockenem Humor und Selbstironie, mal behutsam, dann wieder von entwaffnender Direktheit: „Das will jeder. Etwas Großartiges machen, damit die ganze Schule sofort weiß, wer man ist. Aber klappt das auch? Natürlich nicht! Das liegt wirklich nicht an deiner Epilepsie“, flüstert Parker. „Was hast du erwartet? Dass du Harry Potter bist? Dass man schon seit Jahren auf dich gewartet hat? Dass du die ganze Welt rettest?“

Später blafft Sven Parker an: „Sieh dich um Barker. Alle haben Angst. Oder sie haben nur mal kurz keine Angst – das ist so ziemlich dasselbe. Alle wissen, dass die Welt verdorben ist. Aber warum darfst du mehr Angst haben als alle anderen? Warum darfst du ständig darüber jammern und wir müssen einfach weitermachen mit dem Leben?“

Das erinnert an eine grandiose Szene aus Ally McBeal, in der die Titelheldin gefragt wird, warum eigentlich ihre Probleme immer so wichtig seien. Und Ally antwortet: „Weil es MEINE Probleme sind!“ Wie Sven und Parker nicht nur mit ihrem eigenen Leben weitermachen, wie sie beide über ihren Schatten und dem anderen zur Seite springen, und schließlich mit großem Mut für den anderen da sind – das ist die packende und zum Hinschmelzen schöne Geschichte von Freundschaft und größter Zuneigung.

Zuletzt noch eine kleine Mäkelei: So hübsch die Hündin als treues Bindeglied auch ist, wirkt sie doch etwas zu gut, um wahr zu sein. Kein Zweifel, dass manche Tiere einen sich anbahnenden epileptischen Anfall spüren und rechtzeitig vor dem Fallen warnen können. Aber dass ein Hund wirklich nur aus Wohlgeruch, Wärme und Verantwortungsbewusstsein besteht, sodass auch Sven schließlich vom haarigen Monster ganz hin und weg ist, erscheint doch etwas zu viel des Guten. Trotz Wunderhund ist es aber wieder ein wunderbarer Roman.

Anna Woltz: Für immer Alaska, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 2018, 176 Seiten, ab 10, 12 Euro

Von der Verführbarkeit

Hin und wieder wird mir mit fast entschuldigenden Worten ein Buch angekündigt, das an einem Tabu rührt, das ganz sicher kontrovers diskutiert werden wird, bei dem man Vorbehalte verstehen könne. All das regt natürlich meine Neugierde an – und zeigt gleichzeitig, wie beeinflussbar und manipulierbar ich bin, und sei es nur bei der Bewertung eines Buches.

Genau um das Thema der Beeinflussung, Verführbarkeit und Manipulation geht es in John Boynes neuem Roman Der Junge auf dem Berg, in der vorzüglichen Übersetzung von Ilse Layer. Ich werde trotz der Ankündigungen versuchen, meine eigene Einschätzung der Geschichte hier abzugeben.

John Boyne, der seit seinem Roman Der Junge im gestreiften Pyjama bekannt dafür ist, die deutsche Historie um den Nationalsozialismus aufwühlend anders darzustellen, erzählt nun in drei Teilen von dem Jungen Pierrot, der in Frankreich geboren wurde. Seine Mutter ist Französin, sein Vater Deutscher, der im ersten Weltkrieg gekämpft und dort traumatisiert wurde.
Im ersten Teil verfolgen wir die frühe Kindheit Pierrots in Paris, seine Freundschaft zu dem tauben Nachbarsjungen Anshel, die häusliche Gewalt, die der trinkende Vater an der Mutter auslässt, das Verschwinden des Vater und den Tuberkulose-Tod der Mutter. Pierrot kommt in ein Waisenhaus, erlebt dort weitere Gewalt durch einen anderen Jungen. Schließlich findet sich die Schwester von Pierrots Vater, Tante Beatrix, die den Jungen bei sich aufnimmt.

Dieses „bei sich“ ist jedoch speziell, denn Tante Beatrix arbeitet als Hauswirtschafterin auf dem Berghof Adolf Hitlers in Berchtesgaden.
In den Teilen 2 und 3 des Romans, die die Jahre 1937 bis 1945 umfassen, schildert Boyne das Leben Pierrots auf dem Berghof und wie er sich von einem mitfühlenden Jungen in ein gefühlskaltes, karrieregeiles „Nazi-Spielzeug“ verwandelt.
Zunächst versteht Pierrot noch nicht viel von den Vorgängen auf dem Berghof, wundert sich, warum seine Tante und der Chauffeur ihm einen neuen Namen geben – Peter – und ihm einschärfen, dass er nie von seinem jüdischen Freund Anshel erzählen soll. Doch mit der Zeit, in der Pierrot immer öfter mit Hitler spricht, den Führer mit seinem zackigen Hitlergruß und seiner Ergebenheit beeindruckt, gerät er immer weiter in den Einflussbereich des Diktators.
Das geht so weit, dass er selbst den Chauffeur und damit auch seine Tante verrät, die vor den Augen des Jungen hingerichtet werden.

Mit anderen Worten, der Junge, dem man im ersten Teil alle Sympathien schenkt, wird zu einem echten Kotzbrocken und im Grunde zu einem Mittäter. Dies wird Pierrot am Ende des Krieges schließlich klar, doch seine Reue ist dann nur noch Teil des Epilogs.

Boyne, der konsequent aus der Sicht von Pierrot schreibt, ist ein Meister der Andeutung. Oft beschreibt er Dinge, die er nicht benennt, die er jedoch im Leser evoziert. Diese Art des Erzählens schätze ich sehr, lässt sie doch dem Leser genügend Spielraum, fordert ihn nachzudenken – und hält ihn somit bei der Stange. So leidet man anfangs mit Pierrot unglaublich mit, dessen Leben aus Verlust und Gewalt besteht. Man bekommt eine Ahnung, warum der Junge so von Uniformen begeistert ist, und erschrickt gleichzeitig, wenn der Chauffeur erklärt: „Uniformen erlauben es uns, unsere Grausamkeit auszuleben, ohne jemals Schuld zu empfinden.“
Und jeder, der in dieser Geschichte eine Uniform trägt, übt Gewalt aus.

Für mich sind es solche Sätze, die manchmal noch mehr als die Geschichte selbst, Messages transportieren, über die wir genauer nachdenken sollten.
Die Verführbarkeit die Boyne anhand von Pierrot schildert, ist ebenso wichtig, aber durch die Ausnahme-Kombination von „Junge trifft Führer und wird zum Nazi“, auch eher unrealistisch. Genau deshalb wird sein Roman schon als Parabel bezeichnet, aber Parabeln zeichnen sich auch durch den Abstand zum Leser aus. Man kann diese Geschichte dann wegschieben und sagen: „Ist ja nur Fiktion.“
Dass jeder Mensch verführbar ist, und Kinder ganz besonders, ist nicht unbedingt etwas Neues. Jedes Gespräch mit anderen, jeder Werbespot, jede Rede, jede Predigt, jedes Bild kann uns verführen. Die Frage ist, wie wir dem begegnen können. Vor allem, wenn es um die Manipulation durch Populisten geht. Die Wirkung solcher Geschichten wäre sicher nachhaltiger und fruchterregender als diese Parabel.

Zumal Boynes Geschichte im ersten Teil durch einen erzählerischen Kniff die deutsche Leserschaft etwas irritierend dürfte. Pierrot ist da bereits auf dem Berghof angekommen und für eine ganze Weile sprechen die Angestellten nur von dem „Herren“ und der „Herrin“, statt vom „Führer“ und von Eva Braun. Das ist so offensichtlich auf Spannung geschrieben, dass es mich immer wieder hat stolpern lassen und schon etwas genervt hat. In Teil 2 und 3, wo Boyne tatsächlich stattgefundene Begebenheiten auf dem Berghof verarbeitet hat (hier können sich Historiker über den Wahrheitsgehalt der Szenen auslassen), wechselt dann die Anrede, und es klingt sofort authentischer.

Sich darüber aufzuregen, dass Boyne Hitler fiktive Dialoge in den Mund legt, ist meines Erachtens unnütz. In diesem Sinne darf Fiktion einiges, was uns in genügend Filmen zu dieser Person bereits vorgeführt wurde. Das schockiert mich nicht. Pierrot sieht in Hitler zwar eine Vaterfigur, doch das macht den Diktator mitnichten sympathisch. Boyne gelingt es immer wieder, den Horror des Nazionalsozialismus‘ durchscheinen zu lassen, zudem konfrontiert er Pierrot immer wieder mit Menschen, die nicht für Hitler sind – was der Leser besser begreift als der verblendete Junge.

Man liest dieses Buch sehr schnell, durch die exzellente Erzählkunst Boynes und die geschmeidige Übersetzung von Ilse Layer, dennoch lässt es einen nicht so schnell wieder los. Auch wenn ich das eine oder andere anzumerken habe, habe ich lange gegrübelt. Anderen wird es womöglich ähnlich gehen.
Die Form der Parabel böte sich natürlich hervorragend an, diese Geschichte im Schulunterricht zu diskutieren. Allerdings nur mit der Einschränkung, dass umfassend über den Nationalsozialismus aufgeklärt wird, damit das gesamte Unrecht eingeordnet wird und die Schüler mit dem Schrecken nicht allein bleiben. So finden sie dann möglicherweise eine Haltung und einen Weg, sich gegen die allgegenwärtigen Verführer in unserer heutigen Gesellschaft zu wappnen.

John Boyne: Der Junge auf dem Berg, Übersetzung: Ilse Layer, Fischer, 2017, 304 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

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Bilder gegen Neonazis

drei steineBrutal zusammengeschlagen liegt ein Junge auf dem siffigem Fußboden eines Schulklos. Seine Schulsachen sind ausgekippt, an den Wänden Kritzeleien, die Comicfigur Werner, BVB Logo, ein verdrehtes Hakenkreuz.

Mit dem Titelbild seiner autobiographischen Graphic Novel Drei Steine springt Nils Oskamp direkt in die Geschichte: Dortmund-Dorstfeld in den 80er Jahren. Zechen werden geschlossen, mit der Stahlindustrie geht es bergab, die Arbeitslosigkeit steigt und die rechtsradikale Szene erstarkt.

Der Schüler Nils Oskamp hat bei den immer lauter werdenden, faschistischen Parolen an seiner Schule nicht weggehört und den Neonazis seine Meinung gesagt – und hätte das fast mit dem Leben bezahlt. Doch die rechte Gewalt hat ihn nicht mundtot gemacht – im Gegenteil: Statt den Neonazis mit den gleichen Mitteln zu begegnen und die Spirale der Gewalt weiterzudrehen, schlägt der Illustrator jetzt mit Drei Steine zurück.

Seine Geschichte zeigt, dass man sich wehren muss. Vor allem wird deutlich, wie gefährlich die Rechtsradikalen waren und immer noch sind. Und wer dachte, dass die Neonazi-Szene früher nur im repressiven DDR-Staat gedeihen konnte und wie aus dem Nichts mit der Wiedervereinigung über Deutschland hereingebrochen ist, dem werden mit diesen Szenen aus Dortmund, einer Hochburg der Rechtsradikalen seit Jahrzehnten, unmissverständlich die Augen geöffnet.

Zur Story: Oskamp, der auch Trickfilm studiert hat, beherzigt die alte Filmregel, mit einer Explosion zu beginnen und sich dann langsam zu steigern. Gleich auf dem Vorsatzpapier knallt es: Mit einem gewaltigem „BÄÄM“ wird ein riesiger Förderturm gesprengt und kracht in sich zusammen. Das Ende von Bergbau und Stahlindustrie im Ruhrgebiet Anfang der 80er Jahre. Und dann gerät der Leser unvermittelt in einen Albtraum: Mehrere Skinheads mit Baseballschlägern treiben einen Teenager in eine Falle, prügeln und treten auf ihn ein. Es ist ein wiederkehrender Albtraum, aus dem der Erzähler Nils Oskamp erwacht, geweckt von seinem kleinen Sohn Tom. Der ist nach einem Schulfreund Oskamps benannt, und jetzt erzählt der Vater seinem Jungen die Geschichte.

Die gegenwärtige Rahmenhandlung ist in warmen Sepiatönen gehalten. Die eigentliche Geschichte in kaltem Blau-Grau. Die Atmosphäre ist sofort so bedrückend wie das Geschehen. Als 14-Jähriger erlebt Oskamp, wie Mitschüler rechtsradikale Parolen grölen, ungeniert antisemitische Meinungen äußern, die Nazidiktatur verherrlichen und Wände mit Hakenkreuzen beschmieren. Er beobachtet, wie Altnazis Kinder für „kameradschaftliche“ Freizeitaktivitäten anwerben. Im Geschichtsunterricht verbreitet der Lehrer, früher Wehrmachtssoldat und Ostfrontkämpfer, angefeuert von interessierten Schülern, ungehemmt revanchistisches Gedankengut. Nils Oskamp kann und will das nicht hinnehmen. Seine vermeintlich neutralen Mitschüler lachen zwar, wenn er Paroli bietet, sich Wortgefechte liefert und aus dem Unterricht fliegt. Aber er ist isoliert und bleibt im unfairen Kampf gegen die Neonazis allein.

Die Gewalt, die die Faschos ausüben, um Andersdenkende mundtot zu machen, ist erschütternd anzusehen. Das sind nicht nur Einschüchterungen. Bei „mundtot“ liegt die Betonung auf dem zweiten Teil, so brutal und hemmungslos wie die Schläger auf ihre Opfer einprügeln. Da gibt es keine Anzeichen von Mitgefühl, Empathie oder Verständnis für den Schmerz des anderen. Ihre Ideologie scheint alle diese Emotionen auszuschalten und jedes Mittel zu rechtfertigen.

Fast ebenso schlimm und wirklich übelkeitserregend ist das Weggucken Außenstehender. Passanten drehen sich weg, Fenster werden geschlossen, Lehrer verkennen Tatsachen und Zusammenhänge. Als auf Oskamp in seinem Elternhaus durch ein Fenster geschossen wird, verharmlosen Polizisten den Anschlag als Luftgewehrstreich und „am Sonntag kommt die Spurensicherung nicht“. Richter ahnden rechtsradikale Verbrechen als Straftaten Minderjähriger und verurteilen Gewalttäter, falls es überhaupt zur Anzeige und einem Verfahren kommt, zu geringen Bewährungsstrafen. Oskamps Eltern sind von familiären und finanziellen Problemen absorbiert.

Das ist wirklich schwer auszuhalten und macht ungeheuer wütend. Nur Tom, eigentlich ein Kumpel seines ebenso ignoranten, älteren und pseudocoolen Bruders, hilft Nils gegen die Neonazis und haut ihn auch mal aus einer brenzligen Situation raus. Kurzzeitig war Tom selbst für die „kameradschaftlichen“, sportlichen Verlockungen der rechtsradikalen Verbände empfänglich, aber sein Verstand hat ihn vor falschen Freunden und deren kranken Ideologien bewahrt.

Umso erstaunlicher und bewundernswerter, dass Oskamp noch als Jugendlicher in einem entscheidenden Moment innehält, nicht mit dem Stein in seiner Hand zum finalen Schlag ausholt, sondern beschließt, mit anderen Mitteln und einer anderen Sprache zu kämpfen. Davon erzählt seine Graphic Novel Drei Steine sehr eindringlich.

Nur wie die Nazis ihre Propaganda so effektiv verbreiten können und was Menschen dafür so empfänglich macht, wird in dieser Geschichte nicht deutlich, insbesondere für jüngere Leser, die wenig von den gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen wissen. Oskamp erzählt aus der Perspektive eines 14-Jährigen. Auch der ausführliche Informationstext am Ende des Buchs ist eher eine zeitgeschichtliche Rekapitulation der erstarkenden Neonaziszene in Dortmund und Westdeutschland.

Drei Steine ist ein starkes Buch, eine eindringliche Graphic Novel. Es ist nur zum Kotzen (sorry für die deutlichen Worte), dass solche Geschichten immer noch und immer wieder erzählt werden müssen.

Elke von Berkholz

Nils Oskamp: Drei Steine, Panini Comics, 2016, 160 Seiten, ab 13, 19,99 Euro

Auswanderungskunst

MigrarWimmelbücher stehen ja hoch im Kurs. Seit vielen Jahren schon. Nun hat mich eines erreicht, das man Kindern kaum in die Hand geben möchte, so kunstvoll ist es gemacht, und so düster ist seine Botschaft. Ein Kunstbuch für Erwachsene mehr als für Kinder. Und doch geht es auch die Kinder etwas an.
Anfangs, oben auf dieser ausklappbaren meterlangen Seite, scheint die Sonne freundlich vom Himmel. Vögel schwirren zwischen den Wolken umher, links geht schon der Mond auf. Eine Idylle, möchte man meinen. Doch was der Autor José Manuel Mateo hier in einem kurzen Text, übersetzt von Ilse Layer, erzählt und was der Illustrator Javier Martínez Pedro in schwarz-weiße Bilder umgesetzt hat, ist keine Idylle.

Mateo erzählt in Migrar.Weggehen von dem Wandel, der in einem mexikanischen Dorf vonstatten geht. Die Männer verlassen das Dorf, die Felder bleiben unbestellt, die Frauen und Kindern haben nicht mehr genug Geld. So auch die Familie des namenlosen Erzählers. Als sein Vater kein Geld mehr schickt, machen sich der Junge, seine Mutter und seine Schwester auf in die USA.
Mit dem Bus geht es zu den Bahngleisen, dort springen sie illegal auf einen Güterzug. Auf Zwischenhalts müssen sie sich vor uniformierten Männern verstecken. Die drei laufen zu Fuß weiter und überwinden den Zaun, schaffen es bis nach Los Angeles.

MIGRAR 2Das Thema der Auswanderung aus Mexiko bzw. der illegalen Einwanderung in die USA habe ich hier im Sommer schon einmal anhand von Dirk Reinhardts Buch Train Kids vorgestellt. Das Werk von Mateo und Martínez Pedro passt genau dazu. Hier werden zwar die Qualen der Reise nicht ausführlich beschrieben, der Text ist kurz und deutet die ganzen Gefahren und Hindernisse eher an, doch dafür klappt man hier ein dichtbemaltes schwarz-weißes Leporello auf.

Auf neun querformatigen Seiten hat Martínez Pedro in der Tradition des alten aztekischen Kodex‘ ein Wimmelbild gemalt, das die Stationen der Reise illustriert. Im anfänglichen Idyll sind die Häuser bewohnt, die Felder bestellt. Die vielen Menschen haben die Arme vor Freude erhoben, sie scheinen zu tanzen. Die Frauen holen Wasser vom Brunnen, die Kinder baden. Doch dann packen die Männer Taschen und Rucksäcke, verlassen das Dorf, die Fenster der Häuser werden vernagelt. Ein Leben ist dort nicht mehr möglich.
An dem Zug, den auch die Mutter mit ihren beiden Kindern nimmt, hängen viele Menschen oder sitzen auf dem Dach. Mit der Zugfahrt wandelt sich auch die Landschaft, Felder und Palmen verschwinden, Kakteen wachsen stattdessen in der Wüste.
In den USA schließlich beherrschen Autobahnen und Hochhäuser alles. Die Plattenbauten am unteren Ende des Leporello sind nicht schön, erinnern mich fast an Osterberlin, aber sie beherbergen die Hoffnung, den Vater wiederzufinden und endlich ein besseres Leben zu führen.

Dieser Leporello bietet sehr viel zum Schauen und Entdecken. In der verwobenen Gesamtkomposition macht man den Schrecken der Geschichte nicht gleich aus. Mit kleineren Kindern kann man auf visuelle Schatzsuche gehen, sollte und muss aber auch einiges erklären, damit keine Angst aufkommt, wenn die Einwanderer von den Zügen geholt werden.

Diese illustratorische Perle, edel in schwarzes Leinen gebunden, mit Satinband zum Verschließen versehen, kann man wenden und dann die Geschichte auch im spanischen Original lesen. Sie wurde mit dem Preis der Kinderbuchmesse Bologna ausgezeichnet und erinnert uns daran, dass kein Mensch seine Heimat freiwillig verlässt, dass so eine Flucht oder Reise kein Zuckerschlecken und keine Vergnügungstour ist, und dass am Ende nicht immer das Paradies steht, sondern immer noch sehr viel Kummer und Heimweh. Das sehen wir momentan täglich in den Flüchtlingsunterkünften in unserem Land … und es sollte uns immer wieder zu denken geben.

José Manuel Mateo: Migrar. Weggehen, Illustration: Javier Martínez Pedro, Übersetzung: Ilse Layer, Edition Orient, 2015, 20 Seiten, 28,90 Euro

Gegen Unterdrückung, gegen Hass

nuriIch bin fertig. Völlig fertig. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Eben haben ich den Roman Sommer unter schwarzen Flügeln von Peer Martin beendet. Nach überdurchschnittlich langer Lesezeit. Aber es ging nicht schneller. Denn die Geschichte von Nuri und Calvin ist keine leichte Kost. Zumal die aktuellen Nachrichten aus Syrien und Tröglitz die reale Bestätigung von Martins Fiktionalisierung sind. Aber der Reihe nach.

Martin erzählt von der 18-jährigen Nuri, die mit ihrer Familie vor dem Krieg aus Syrien geflüchtet ist und nun in einem Flüchtlingsheim in Stralsund lebt. Eines Tages trifft sie bei der alten Jüdin Frau Silbermann auf Calvin, ebenfalls 18, der seine jüngeren Brüder vom Nachhilfeunterricht abholt.
Calvin ist Neo-Nazi, mit Springerstiefeln, rechten Tattoos am Körper und rechten Ideen im Kopf. Die Asylbewerber sind für ihn und seine rechte Clique das Feindbild schlechthin. Dennoch ist er von der schwarzlockigen Nuri vom ersten Moment fasziniert.
Nuri beginnt, ihm von der Revolution, den Misshandlungen durch die Geheimdienstleute, dem Krieg und den Zerstörungen in Syrien zu erzählen.
Will Calvin das alles anfangs überhaupt nicht hören, entwickeln Nuris Geschichten jedoch so einen Sog, dass er immer mehr in die untergegangene Welt Syriens eintaucht. Immer öfter begegnen sich Nuri und Calvin. Zuerst zufällig, dann ganz gezielt. Nuri weiß um Calvins politische Einstellung, doch seine grünen Augen und seine Sommersprossen lassen sie nicht mehr los. Über viele, viele Seiten entwickelt sich ganz langsam eine große Liebe zwischen den beiden. Und Calvin fängt genauso langsam an, seine politische Einstellung abzulegen.
Immer größer wird der Zwiespalt in ihm: Nach außen macht er noch in seiner Clique mit, wird der neue Anführer, plant etwas „Großes“ gegen die Asylanten, innerlich jedoch geht er immer mehr auf Abstand, hintergeht die alten Freunde, fängt an Arabisch zu lernen.
Seine Kameraden werden misstrauisch, und als die Polizei ihre Laube im Kleingartenverein durchsucht und gehortetes Benzin sicherstellt, wird eine Gewaltspirale in Gang gesetzt, die bis zur letzten Seite andauert.

Martins Roman erzählt zwei Geschichten in einer. Ich war hin- und hergerissen zwischen den Welten, manchmal wollte ich den Wechsel nicht. Doch es fügt sich hervorragend zu einem erschreckend aktuellen Bild und spannenden Plot zusammen. Die Ereignisse in Syrien rollt Martin durch Nuris Erzählungen akkurat recherchiert von Anfang an auf, man wird daran erinnert, wie alles vor nur wenigen Jahren begann. Die Bilder in den Nachrichten und im Internet betrachtet man nach dieser Lektüre mit anderen Augen, mit Nuris Augen, und hat wie Calvin den Eindruck dort gewesen zu sein. Es nimmt einen mit, im Guten wie im Schlechten.
Auf eine andere Art erschreckend sind die Einblicke, die Martin in die rechte Szene Deutschlands gewährt. Lange hat er als Sozialarbeiter mit Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten gearbeitet und dort den Rechtsextremismus täglich erlebt. Diese Erfahrung schlägt sich in authentisch gezeichneten Szenen, Dialogen und Ansichten der Figuren wieder. Man mag es eigentlich nicht lesen, so real kommen die Diskussionen in der Clique daher. Doch Martin gelingt es, dass keine Verherrlichung dieses Gedankengutes aufkommt. Denn Calvins Zweifel und sein Wandel zum Aussteiger widerlegen die irrsinnigen Überzeugungen der Neo-Nazis und zeigt die Absurdität der Deutschtümelei (ein bisschen zum Schmunzeln sind die internationalen Namen der Clique wie Calvin, Kevin, Cindy, Kimberley …).

Die Erschütterung, die von diesem Buch also ausgeht, ist für mich vielfältig: Der Schrecken in Syrien rückt unglaublich nah, gleichzeitig wächst die Wut, dass scheinbar niemand diesem Land und seinen Menschen hilft. Und dass die Asylpolitik in diesem Land noch sehr zu wünschen übrig lässt, um es mal „nett“ zu formulieren. Hinzu kommt der Horror und die Abscheu vor den rechten Strömungen im eigenen Land, die mich fast krank machen.
Dennoch sollte Sommer unter schwarzen Flügeln gelesen werden, nicht nur von jungen Leuten, sondern von allen. Denn es bietet neben einer spannenden Liebesgeschichte vor allem Aufklärung und Diskussionsstoff – so dass kleingeistiges Denken, welcher Couleur auch immer, Gewalt und Unterdrückung in Zukunft hoffentlich keine Chance mehr bekommen.

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, Oetinger, 2015, 528 Seiten,  ab 16, 19,99 Euro

Durch die Hölle

khmerNormalerweise versuche ich immer einen schönen Einstiegssatz für eine neue Rezension zu finden, einen aktuellen Bezug oder etwas, das mit meinem Leben zu tun hat. Bei diesem Buch, Der Tiger in meinem Herzen, dem neuen von Patricia McCormick, fällt mir das gerade unglaublich schwer. Denn mit Kambodscha und den Roten Khmer hatte ich bis jetzt noch nichts zu tun. Aktuell ist das Thema auch nicht gerade, dafür mal wieder ein Gedenkjahr. Denn vor 40 Jahren übernahmen die Roten Khmer die Macht. Grund genug, daran zu erinnern.

Autorin Patricia McCormick tut dies auf eine erschütternde und zugleich mitreißende Art, indem sie die Lebensgeschichte des Human-Rights-Aktivisten Arn Chorn-Pond nacherzählt. Arn war neun Jahr alt, als die Roten Khmer 1975 an die Macht kamen und das Land in eine Art von Agrarkommunismus überführen wollten. Dies taten sie mit aller Gewalt und ohne jegliche Gnade. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen verloren ihr Leben. McCormick lässt Arn in der Ich-Perspektive erzählen und das, es sei hier vorweggenommen, ist nichts für zartbesaitete Leser, egal welchen Alters.

Denn Arn hat Dinge gesehen, die man sich kaum vorstellen kann und mag. Beginnend mit der Vertreibung der Bevölkerung aus der Stadt erlebte der Junge, wie die Roten Khmer alle Menschen liquidierten, die ihrer Meinung nach bourgeoise oder Freunde Amerikas waren. Wer auch nur einen Hauch von Bildung besaß, wurde hingerichtet, wer kein Bauer war, wurde hingerichtet, wer nicht genug körperlich arbeitete, wurde hingerichtet, wer den Marsch aus der Stadt nicht durchhielt, Alte, Kinder, Kranke, wurde liegen gelassen oder erschossen. Wer die Fragen der Roten Khmer beantwortete, auf die eine oder die andere Art, wurde hingerichtet. Man konnte es ihnen nie richtig machen.
Arn machte sich unsichtbar, versuchte, nicht aufzufallen. Vielleicht die einzige Möglichkeit, der Willkür zu entkommen. Er arbeitete auf den Reisfeldern, den Killing Fields, in unendlich langen Schichten, die nicht einmal Erwachsene unbeschadet überstehen konnten. Er beobachtete, er sah, wie Kinder fortgebracht wurden und nicht wiederkamen. Er sah die Leichenberge im Mangohain. Und er fiel nicht auf.

Erst als eines Tages Musiker gesucht wurden, meldete er sich. Vielleicht war das seine Rettung. Jedenfalls lernte er die Khim zu spielen und die Machthaber mit ihren Revolutionsliedern zu unterhalten. Doch die Musik, die er zusammen mit anderen Kindern spielte, wurde auch per Lautsprecher auf die Reisfelder übertragen – um das Töten zu übertönen.
Als der Krieg aus Vietnam auf Kambodscha übergriff, fiel Arn wieder nicht auf. Er wurde Kindersoldat, konnte anfangs das Gewehr kaum halten. Er lernte das Töten, wurde selbst zum Roten Khmer und überlebte auch dieses Grauen.
Schließlich gelang ihm die Flucht nach Thailand.

Arns Geschichte ist die Hölle.

Gerade deswegen muss sie erzählt und erinnert werden, zeigt sie doch auf die grausamste Art, was Menschen anderen Menschen antun können. Sie mag zwar 40 Jahre her sein, doch die aktuellen Konflikte auf der Welt beweisen immer wieder, dass der Mensch nicht unbedingt aus der Geschichte lernt. Laut UNO-Angabe kämpfen derzeit etwa 250000 Kindersoldaten auf dem Globus. Jeder einzelne ist einer zuviel. Arns Geschichte zeigt, wie es dazu kommen kann, dass Kinder zu Kanonenfutter, Ködern, willigen Helfern und Mördern werden können. Die Art des Regimes, das dahinter steckt, ist fast schon egal, sobald Kinder dafür missbraucht werden und das Kämpfen für sie die einzige Überlebenschance darstellt.

Bei all dem Elend auf dieser Welt bin ich immer völlig überfordert, wie man Abhilfe schaffen kann. Es zerreißt mir immer schier das Herz, wenn ich so etwas wie von Arn lese – und mir klar mache, dass er gerade einmal ein Jahr älter ist als ich und diese Hölle immer noch in sich trägt. Und die derzeitigen Kindersoldaten in diesem Moment in dieser Hölle leben müssen. Es ist so verdammt fürchterlich.
Umso mehr sei Arn Chorn-Pond und Patricia McComick gedankt, dass sie diese Geschichte erzählen – die übrigens sehr angenehm von Maren Illinger ins Deutsche übersetzt wurde – und so das Bewusstsein sowohl für die Historie als auch für den gegenwärtigen Missbrauch von Kindersoldaten schärfen.

Lest dieses Buch.

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem HerzenÜbersetzung: Maren Illinger, FISCHER KJB, 2015, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Hinter der Fassade

prinzessinManchmal bin ich ratlos. Wie soll man ein Buch beschreiben und empfehlen, dass einen in den Bann zieht und gleichzeitig unendlich traurig ist?
Das ist der Fall bei Inken Weiands Roman Ich bin eine Prinzessin.

Darin erzählt sie die Geschichte von Mellani und ihren zwei Geschwistern. Sie leben in einer Familie, die kein Glück kennt. Der Vater trinkt, ist gewalttätig und ohne Arbeit. Die Mutter kann die Kinder nicht schützen, sie wird selbst gewalttätig. Sie kann nicht einmal sich selbst schützen, sucht Schutz und Liebe bei einem anderen Mann.
Mellani wird misshandelt. Sie kann nichts dagegen tun, sie deckt die Mutter, die sie gegen die Heizung geschlagen hat. Denn sie hat Angst in ein Kinderheim zu müssen, aus dem sie nie wieder herauskommt. Mellani übersteht den Horror nur, weil sie sich in eine Fantasiewelt flüchtet, in der sie die Prinzessin ist. In dieser Traumwelt ist alles schön, alle sind lieb und zuvorkommend zu Mellani. Dort hat sie Würde und übernimmt die Verantwortung für „ihr Volk“. Mehr und mehr kümmert sie sich um die Geschwister, versucht, ihnen wenigstens ein bisschen Essen zu besorgen, und geht mit ihnen zur Jugendstunde in der Gemeinde, weil es da Kekse gibt. Gegenüber den Damen vom Jugendamt spielt sie die häusliche Situation herunter. Erst als die Lage zu Hause zu eskalieren droht, ist Mellani bereit, Hilfe zu suchen …

Mellanis Geschichte ist keine schöne Geschichte. Keine, die man Kindern zu lesen geben möchte, und doch eine, die vermutlich viel zu oft in unseren Landen tatsächlich passiert. Weiand schreibt stringent aus der Perspektive Mellanis, erzählt von der Verwahrlosung, dem Hunger, dem Problemviertel, in dem die Familie lebt. Man ist als Leser dicht bei Mellani, erlebt ihre Ängste, Sorgen, versteht, warum sie handelt, wie sie handelt, und leidet doppelt, weil man weiß, dass es Hilfe gäbe.
Doch man verzweifelt auch fast, weil so viel schief läuft: Das Jugendamt lässt sich mit Ausreden abspeisen, ein düsteres Gespensterbild, das Mellani malt, wird zwar als ausdrucksvoll bewertet, doch nicht als Hilferuf gesehen. Da möchte man die Erwachsenen schütteln und rufen: „Macht doch mal die Augen auf.“ Es ist ehrlich frustrierend, weil man weiß, dass man manchmal nicht helfen kann.

Und genau deshalb habe ich so lange gebraucht über diesen preisgekrönten Roman zu schreiben. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Buch für Kinder ist. Möglicherweise kann es betroffene Kinder trösten, andere jedoch durchaus schockieren. Erwachsenen kann es möglicherweise eine Hilfestellung sein, wie es in misshandelten und traumatisierten Kindern aussieht, wie sie sich zu schützen versuchen. Mag sein, dass es beim Umgang mit solchen Kindern weiterhilft. Ich muss sagen, ich kenne mich da zu wenig aus. Beschwingte Unterhaltung ist dieser Roman auf jeden Fall nicht. Er legt den Finger auf eine wunde Stelle in unserer Gesellschaft, erzählt von den misshandelten Kinder, die viel zu oft allein gelassen werden.
Weiands Roman ist trotz allem packend und hält einen auch nach der Lektüre noch lange im Bann. Er löst intensive Gefühle aus, macht nachdenklich und eben auch ratlos.

Sicher ist aber auch, dass dieser Roman ein großartiges Stück Literatur ist.

Inken Weiand: Ich bin eine Prinzessin, Ruhland Verlag, 2014,  94 Seiten, ausgezeichnet mit dem Kinder- und Jugendliteraturpreis des Landes Steiermark 2012, 14,80 Euro

Pädagogische Abgründe

ludwigGibt es Kinderbücher, die keine Kinderbücher sind? Im Falle von Sabine Ludwigs neuem Roman Schwarze Häuser möchte ich fast sagen, ja. Aber ganz so einfach ist es nicht.

Ludwig erzählt die Geschichte der 12-jährigen Uli, die für sechs Wochen in ein Kinderheim an die Nordsee geschickt wird, zur Erholung. Das Ganze ist Mitte der 1960er Jahre angesiedelt.
Uli kommt aus Berlin, dort wohnt sie bei ihrer Oma. Auf der Insel lernt sie die Mädchen Fritze, Freya und die kleine Anneliese kennen. Jede von ihnen hat Probleme: Fritze kommt aus einem Künstlerhaushalt und wird von den Mitschülern gemobbt, Anneliese lutscht mit acht Jahren noch am Daumen und scheint in ihrer Entwicklung etwas zurückgeblieben zu sein, Freya meint aus einer intakten Arztfamilie zu kommen, doch auch da liegt etwas im Argen. Uli selbst ist unehelich geboren, und erst vor kurzem hat die Mutter einen Mann geheiratet, der nicht Ulis Vater ist.

Doch anstatt sich von den häuslichen Dramen erholen zu können, erwartet die Kinder im Heim das strenge Regime von Schwester Hildegard und der Heimleiterin Frau Butt. Mädchen und Jungen werden getrennt und zwar nicht nur in Sachen Schlafsäle, sondern auch beim Essen und beim Spielen. Kontakt unerwünscht. Die Jungs werden durchweg „netter“ behandelt als die Mädchen: Sie bekommen Brötchen zum Frühstück, während die Mädchen mit Milchsuppe versorgt werden. Das Essen wird zu einem beherrschenden Moment für die Mädchen, denn es ist schlecht, sehr, sehr schlecht. Es ist zu wenig, eklig, alt, verschimmelt, mit Maden durchsetzt, einfach fürchterlich. Die vier Hauptfiguren leiden regelrecht Hunger. Wagen sie es, die Qualität des Essens anzumahnen, werden sie drakonisch bestraft: Fensterputzen, Essensentzug oder umgekehrt Zwangsessen mit schrecklich fetter Butterkremtorte – die ihnen natürlich auch nicht bekommt. Dazu ist es kalt, es zieht durch die Fenster, Kuscheltiere sind nicht erlaubt, die Post wird kontrolliert. Es ist ein elender Leidensweg, den Uli und ihre Zimmergenossinnen beschreiten müssen. Sie magern ab, werden krank und die Stimmung ist alles andere als rosig oder gar erholsam. Als Freya dann noch eine schlechte Nachricht von zu Hause bekommt, reißt sie aus. Ihre Freundinnen kommen ihr zu Hilfe, doch die Rettungsaktion endet im Watt …

Sabine Ludwig beschreibt die schwarze Pädagogik, die vor einem halben Jahrhundert hier an der Tagesordnung war, sehr präzise und mit all der psychologischen Perfidität, die den Kindern immer wieder das Gefühl vermittelte, sie wären selbst an ihrem Unglück Schuld. Es ist eine ergreifende Lektüre, auch in dem Sinne, dass man als Ältere das alles so verdammt gut nachvollziehen und mitleiden kann. Dabei habe ich noch Glück gehabt und so Schlimmes nicht selbst erlebt, höchsten die Ausläufer noch mitbekommen. Was mir aber schon gereicht hat.

Vielleicht hadere ich deshalb damit, dieses Buch als Kinderbuch zu bezeichnen. Keinem Kind wünscht man solche Erlebnisse. Nie. Und schon die Lektüre kommt mir fast zu grausam vor. Dann jedoch denke ich, vielleicht sollten sie es gerade deshalb auf jeden Fall lesen, auch um zu erfahren, dass es andere Zustände gab (obwohl sich in manchen Heimen heute noch Ähnliches, wenn nicht gar Schlimmeres abspielt …). Denn auch diese Art des Umgangs mit Kindern ist ein Teil unserer Vergangenheit. Daran zu erinnern, damit es nicht wieder passiert, ist wichtig. Daran zu erinnern, was Eltern und Großeltern in der Kindheit durchgemacht haben könnten, ist ebenso wichtig, kann es doch eine mögliche Ursache für ihr heutiges Verhalten sein. Das sollten Kinder durchaus wissen. Nur sollte man sie bei der Lektüre von Schwarze Häuser nicht allein lassen, sondern ihre Fragen, die mit Sicherheit kommen werden, in aller Offenheit beantworten und ihnen so den Grusel nehmen.

Sabine Ludwig: Schwarze Häuser, Dressler, 2014, 352 Seiten,  ab 10, 14,99 Euro

 

Agnese, die Lagune und die Deutschen

agneseEndlich, endlich halte ich mein frisch gedrucktes, neu aufgelegtes, neu bearbeitetes italienisches Herzensbuch in Händen: Renata Viganòs Roman Agnese geht in den Tod.
Lange Jahre war dieses Buch auf Deutsch nur als antiquarische Version von 1951 oder 1959 erhältlich. Damals hatte der Ostberliner Verlag Volk und Welt den Partisanen-Roman veröffentlicht, der heute in Italien zum Schulkanon gehört. Jetzt hat editionfünf diesen Text wieder aus der Versenkung geholt. Passend zum 75. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkriegs.

Renata Viganò erzählt die Geschichte der einfachen Bäuerin und Wäscherin Agnese in den Jahren 1943 bis 1945. Agnese kümmert sich rührend um ihren kranken Mann Palita, bis im Spätsommer 1943, nachdem Mussolini gestürzt wurde und die deutsch-italienische Achse gefallen ist, die Deutschen durch ihr Dorf ziehen. Sie verhaften Verräter und Kommunisten und deportieren in die KZs. Palita überlebt den Transport nach Deutschland nicht. Agnese, eine äußerlich barsche, innerlich jedoch loyale und aufrichtige Frau, erschlägt einen deutschen Soldaten, nachdem dieser Palitas Katze erschossen hat. Nichts hält sie mehr auf ihrem Hof. Sie flüchtet und schließt sich den Partisanen der Gegend an.
Die Widerstandskämpfer verstecken sich zu der Zeit in der riesigen Lagune von Comacchio, die in dem Roman eine zweite Hauptrolle spielt. Von dort aus planen sie ihre Aktionen und brechen meist nachts auf, um ihre Vorräte aufzustocken, Waffen zu besorgen oder den deutschen Soldaten Fallen zu stellen. Agnese schlüpft auf der Flucht vor den deutschen Vergeltungsmaßnahmen bei ihnen unter und wandelt sich dort zur „Mutter der Kompanie“ und zu einer überzeugten Widerstandskämpferin.
Sehnsüchtig erwartet sie zusammen mit den Partisanen die Alliierten, die von Süden aus Italien befreien. Doch die Front rückt nur langsam nach Norden, zu sehr wehren sich die Deutschen und ihre letzten Verbündeten, die italienischen Faschisten. Der strenge Winter 1944/45 verzögert die Befreiung von Norditalien zusätzlich. Die Partisanen in ihren notdürftigen Unterkünften im Schilf leiden unter Regen, Schnee, Frost. Das Wasser der Lagune gefriert, einige der Genossen werden in einem überschwemmten Haus eingeschlossen.
Agnese, die mit der Organisation der „Staffette“, den Botengängerinnen, beauftragt ist, versucht alles, um den Nachschub an Lebensmittel für die Jungs zu gewährleisten. Die alte Frau wächst dabei über sich hinaus, sie wird zur „la Responsabile“, zur Verantwortlichen. Kilometer um Kilometer radelt sie über die Deiche, schleppt Körbe mit Brot, Wein und Käse, aber auch mit Sprengstoff und Flugblättern. Begegnet sie deutschen Patrouillen macht sie aus ihrer Verachtung den Besatzern gegenüber keinen Hehl. Immer wieder ist sie der Gefahr ausgesetzt, als Mörderin eines deutschen Soldaten erkannt zu werden.

Viganòs Roman ist harter Stoff. Der Tod ist ein beständiger Begleiter bei der Lektüre. Dazu kommen das Leiden der italienischen Partisanen, die Übergriffe und Greultaten der Deutschen, die Verschlagenheit der italienischen Faschisten, die Passivität der Alliierten. Der Krieg an und für sich ist hautnah zu spüren. Viganò schrieb in der Tradition des Neorealismus. Ihr Roman kam in Italien 1949 heraus und wurde noch im selben Jahr mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Die Autorin, die selbst bei den Partisanen gekämpft hat, vermischt darin eigene Erfahrungen mit fiktiven Gestalten. Und illustriert so auf eindrucksvolle Weise, wie sich die Wehrmacht und die SS in den letzten Kriegsjahren in Italien verhalten haben.

Deutschlands Beziehung zu Italien scheint eine ewige Liebesbeziehung, seit Goethes Zeiten und den Filmschmonzetten aus den 50er Jahren (die in neuem Gewand heute immer noch produziert werden). Italien steht oftmals für Amore, Gelato, Kunst und Leichtigkeit. Die bittere Realität des Landes liefern uns Geschichten über Mafia und Korruption, manchmal spannend verpackt als Krimis, wie bei Carlo Lucarelli oder Patrizia Rinaldi, neuerdings mischen sich darunter auch vermehrt die Berichte über die Flüchtlinge aus Afrika. Gern hört man das hierzulande jedoch nicht. Dass Deutschlands Beziehung zu Italien jedoch selbst auch eine ganz düstere Seite hat, ist vielen nicht bekannt oder schon wieder vergessen. Renata Viganòs Roman erinnert nun ganz plastisch wieder daran, dass die Verbrechen der Wehrmacht nicht nur in Osteuropa stattfanden, sondern auch dort. Mit der gleichen Härte, der gleichen Unbarmherzigkeit. Aufgearbeitet sind diese Verbrechen noch viel zu wenig, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission in ihrem Abschlussbericht im Juli 2012 festgestellt hat, und zwar auf beiden Seiten.

Mir ist Viganòs Roman zum ersten Mal 1992 während meines Studienjahres in Florenz untergekommen, und schon damals war ich fasziniert. Aus meinem Vorhaben, über den Roman meine Magisterarbeit zu schreiben, ist damals leider nichts geworden. Dann stand der Roman bei mir im Regal und lauerte in meinem Hinterkopf – bis sich editionfünf bereit erklärte, ihn in neuem Gewand herauszubringen.
Ich hätte gern eine richtige Neuübersetzung gemacht, doch wie immer ist das auch eine Frage der Finanzen. So konnte ich aber immerhin die alte Übersetzung von Ina Jun-Broda, die 1959 schon einmal von Ernst-August Nicklas redigiert worden war, gründlich überarbeiten. Es war nicht weniger Arbeit, vielmehr eine Gratwanderung zwischen drei verschiedenen Versionen (dem italienischen Original und den beiden DDR-Ausgaben). Ich glaube jedoch, dass nun Viganòs Text auch auf deutsch so frisch und hoffentlich zeitlos wirkt wie das italienische Original. Agnese geht in den Tod ist ein Puzzlestück, das eine weitere Nuance des zweiten Weltkrieges beleuchtet und damit zur Aufarbeitung beiträgt, die die Historiker einfordern.

Es bleibt die Hoffnung, dass sich das romantische Italienbild vielleicht ein winziges Bisschen zum Realistischen hin verschiebt und der nächste Italienurlaub möglicherweise mit anderen Augen genossen wird.

Renata Viganò: Agnese geht in den Tod, Übersetzung: Ina Jun-Broda, Neubearbeitung und Nachwort: Ulrike Schimming, editionfünf, 2014, 316 Seiten, 21,90 Euro

[Jugendrezension] Vom Opfer zum Täter

knvmmdb.dllWenn man über eine längere Zeit gehänselt wird, was macht man dann?
Diese Frage stellt man sich, wenn man das Buch Der Tag wird kommen von Nina Vogt-Østli liest.

Hans-Petter ist 15 Jahre alt und wird schon seit der Grundschule von Andreas und den anderen Schülern verprügelt und gemobbt. Selbst in der weiterführenden Schule ändert sich daran nichts.
Am liebsten würde Hans-Petter unsichtbar sein und versucht so gut, wie es geht, nicht aufzufallen.
Er zieht sich in sein Zimmer zurück und verbringt die meiste Zeit vor seinem Computer.

Als ihn dann ein Mädchen namens Fera anschreibt, denkt er zuerst, dass es Andreas und seine Gang sei. Doch nach und nach schreibt er immer mehr mit der unbekannten Fera, die behauptet, aus der Zukunft zu kommen – und die beiden werden Freunde. Fera ist Hans-Petters einziger Freund.
Zu den Mobbing-Problemen in der Schule kommen auch noch seine Probleme zu Hause hinzu: Seine Mutter verliebt sich in seinen Lehrer, und sein Vater interessiert sich scheinbar nicht für Hans-Petter. Der Junge fängt an, einen bitter-bösen Plan zu schmieden …

Das Buch liest sich schnell. Die Kapitel sind aus der Sicht von Hans-Petter geschrieben und  relativ kurz. Teilweise kommen kleine Chatprotokolle vor, die sich von dem restlichen Text abheben.

Hans-Petter ist ein Junge, der mir wirklich Leid getan hat, weil er schon seit der Grundschule in der Rolle des Opfers ist, obwohl er nichts macht. Ich habe selbst über so manche Sachen dabei nachgedacht, wie man sich zum Beispiel als Erwachsener entwickelt, wenn man als Kind leiden muss, und ob man auch mit einem bösen Mensch befreundet sein kann.

Das Buch von Nina Vogt-Østli ist an sich interessant und einfach mal was für Zwischendurch. Ich persönlich fand die Chatprotokolle mit am Besten, weil es einfach mal etwas anderes war und sie ab und zu auch lustig geschrieben waren. Das Buch war abrupt zu Ende, was ich nicht erwartet habe.

Ich würde Der Tag wird kommen schon weiterempfehlen, weil es einfach ein Buch der etwas anderen Art ist, was man als erstes nicht erwartet.

Laura (14)

Nina Vogt-Østli: Der Tag wird kommen, Übersetzung: Dagmar Lendt, Coppenrath, 2014, 240 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Das Ende einer Freundschaft

verdachtManche Bücher sind krass. Die möchte ich eigentlich gleich wieder weglegen. Und kann dann  doch nicht von ihnen lassen. Wie von Michael Northrops Roman Schieflage. Der ist krass, sowohl in Bezug auf die Story als auch krass in Bezug auf die Sprache.

Der 15-jährige Ich-Erzähler Micheal ist nicht gerade ein Glückskind. Das fängt schon mit dem falschgeschriebenen Namen an, den sein Vater kurz nach seiner Geburt verbockt hat. Später hat dieser Vater Mike so geschlagen, dass er ein schiefes Gesicht zurückbehalten hat. Und eine Leuchte in der Schule ist er auch nicht. In der Highschool steckt er in der 10F, einem Sammelbecken für die Loser seines Jahrgangs. Am liebsten hängt er mit seinen Kumpels Tommy, Mixer und Bones ab. Auch die drei stehen nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Als Tommy eines Tages von einem Lehrer wegen eines Sprachproblems gequält wird, rastet er aus und verschwindet.
Wenig später fängt der Englischlehrer Haberman im Unterricht mit den anderen Schülern das Buch Verbrechen und Strafe von Dostojewski an. Dazu bringt er eine Tonne mit, in dem irgendetwas steckt, was die Schüler erraten sollen. Er weckt den Verdacht von Mike, Mixer und Bones, als diese nach dem Unterricht die schwere Tonne zum Auto tragen sollen. Da Tommy nicht wieder auftaucht, nicht ans Handy geht und schließlich die Polizei nach ihm sucht, steigern sich die Jungs in die Vermutung hinein, der Lehrer hätte ihren Freund umgebracht und in die Tonne gestopft. Da sie mit niemanden über ihren Verdacht sprechen, kommt es schließlich zur Katastrophe.

Northrop zeichnet die Geschichte von einer Jungen-Clique, die nicht viel vom Leben zu erwarten hat. Mike hat keine Chance bei den Mädchen, Bones neigt zu Gewaltausbrüchen, Mixer klaut. Die Jungs trinken Alkohol, probieren Drogen aus, allerdings auch das ohne „Erfolg“. Und sie verweigern die Mitarbeit im Unterricht. Durch die Ich-Perspektive von Mike ist man direkt in seiner Denke und seiner Gefühlslage. Man leidet mit Mike mit, wenn er vergeblich versucht, Mädchen kennenzulernen, wenn er Bones beim Vögeln beobachtet, wenn er sich Sorgen um Tommy macht. Die Lektüre von Dostojewski stellt zusammen mit dem Unterrichtsexperiment von Haberman für ihn quasi einen Tritt in den Allerwertesten dar, der ihn aus seiner Lethargie holen soll. Zur Läuterung kommt es allerdings erst nach einem gewalttätigen Komplett-Absturz, aus dem Mike die Schlussfolgerung zieht, dass auch Freundschaften ein Verfallsdatum haben und nicht für immer halten.

Seine durchaus krassen Erlebnisse und Gedanken schildert Mike in einer ebenso krassen Jugendsprache. Die hat Übersetzer Ulrich Thiele mit viele Gespür für Umgangssprache mitreißend umgesetzt. Der „Vollpfosten“ gehört dabei eher noch zu den harmlosen Ausdrücken. Mike flucht, beleidigt, ist politisch nicht im geringsten korrekt – alles, was er doof findet, ist „schwul“. Das mag in einem Jugendbuch extrem klingen, passt aber perfekt zu Mike und seinem Leben am Rande der Gesellschaft. Es macht den Jungen authentisch und glaubwürdig, egal, ob man so einen Sprachgebrauch im Buch verwerflich findet. Hinter dieser Sprache jedoch entdeckt man einen Jungen, der natürlich genauso lern- und entwicklungsfähig ist wie alle anderen, die sich vermeintlich gewählter ausdrücken, und der sich im Laufe des Romans vom verunsicherten Teenager zu einem zwar verurteilten, aber sensibilisierten jungen Erwachsenen wandelt.

Schieflage ist ein Buch über Jungs für Jungs. Es bietet jede Menge Diskussionsstoff, wie man mit Verdächtigungen, Scheinbarem, Vermutungen und Vorurteilen umgehen sollte – und was für Konsequenz drohen, wenn die Lage eskaliert. So lösen sich Mikes Vorurteile Homosexuellen gegenüber schließlich auf, und man weiß, dass er das Wort „schwul“ nie wieder als Beleidigung benutzen wird. So zeigt Michael Northrop feinfühlig, dass ein Wandel möglich ist – wenn auch unter Schmerzen. Und das macht Hoffnung für alle Jugendlichen, die ähnlich wie Mike, Mixer und Bones meinen, nicht viel vom Leben erwarten zu dürfen.

PS: Ein schöner Nebeneffekt von Schieflage ist, dass man Lust auf Dostojewskis Verbrechen und Strafe bekommt…

Michael Northrop: Schieflage, Übersetzung: Ulrich Thiele, Loewe Verlag, 2013, 240 Seiten,  ab 13, 6,95 Euro

Sichtbar machen


mobbing
Für den Menschen, der zur Spezies Homo Sociales gehört, ist eine der schlimmsten Pein vermutlich das Nicht-Gesehen-Werden. Mobbing-Opfer, die nirgendwo Hilfe finden gegen ihre Peiniger, werden im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar. So jedenfalls geschieht es im Debütroman Operation Unsichtbar von Helen Endemann.

Eines Tages bemerkt der 12-jährige Nikolas, dass er für seine Umwelt unsichtbar geworden ist. Niemand sieht ihn mehr. Nicht die Schulkameraden, die ihn sonst in der Pause immer quälen, noch die Eltern, die vor allem mit der kleinen Schwester beschäftigt sind. Nikolas kann sich nicht erklären, wie es dazu gekommen ist. Vor allem, dass seine Eltern nicht über ihn reden, ihn nicht vermissen, nicht nach ihm suchen, wundert und bedrückt ihn ganz besonders. Zu Hause sieht ihn nur die kleine Schwester, die aber noch nicht reden kann. Nikolas fühlt sich dort überhaupt nicht mehr wohl. Er kommt nur noch zum Schlafen nach Hause, die übrige Zeit verbringt er in der Schule. Dort ist wenigstens etwas los. Er besucht unterschiedliche Klassen und sucht sich die interessantesten Lehrer und Fächer heraus. Nachmittags geht er ins Kino – und genießt wenigstens für eine kurze Weile den Vorteil, nicht gesehen, also auch nicht kontrolliert zu werden.

Eines Tages stellt Nikolas fest, dass es noch mehr unsichtbare Kinder an der Schule gibt. Vier von ihnen wohnen sogar dort im Keller. Er freundet sich mit Alice an, die bereits seit zwei Jahren unsichtbar ist. Sie wird immer schwächer, isst immer weniger, hat Schwierigkeiten schwere Türen zu öffnen. Manchmal taucht um die Unsichtbaren ein bedrohliches kaltes blaues Licht auf, und sie scheinen endgültig zu verschwinden. Die Jugendlichen sind ratlos, ob und wie sie wieder sichtbar werden können. Einer der Jungen hält es schließlich nicht mehr aus und stürzt sich vom Schuldach. Seine Leiche ist dann plötzlich für die Umwelt wieder sichtbar. Der Schock sitzt tief, bei den Unsichtbaren wie bei den Sichtbaren.

Mit der Zeit stellt Nikolas fest, dass immer wenn er starke Gefühle empfindet, er für empfindsame, aufmerksame Lehrer sichtbar wird. So bemerkt ihn schließlich die Religionslehrerin – und organisiert Hilfe.

Helen Endemann hat in ihrem Debüt das schwierige Thema Mobbing durch die Kombination mit dem fantastischen Element der Unsichtbarkeit zu einem richtig gehenden Page-Turner gemacht. Diese Unsichtbarkeit ist natürlich ein offensichtliches Symbol für die Folgen von Mobbing, doch es ist eingängig und überzeugend dargestellt, so dass sich das Fantastische fast wie selbstverständlich in einen realen Schulalltag fügt. Als Leser nimmt man Endemann diese großartige Idee sofort ab und verfolgt mit wachsender Spannung die Entwicklung von Nikolas und den anderen unsichtbaren Kindern.

Den Ausweg, den die Autorin liefert, orientiert sich an realen Konflikt-Lösungsstrategien, die an manchen deutschen Schulen tatsächlich schon durchgeführt werden. Neben der pädagogischen Absicht, Jugendliche für das Thema Mobbing zu sensibilisieren, sie davor zu schützen und sie davon abzuhalten, kommt somit auch für erwachsene Leser ein Lerneffekt hinzu. Man erfährt in Grundzügen, wie man Mobber möglicherweise ausschalten und den Mobbing-Opfern helfen kann. Dass die Mobber selbst zum Teil aus problembelasteten Familien kommen und auf eine andere Art selber leiden, vergisst Endemann dabei auch nicht.

Ein wichtiger Aspekt in diesem Roman ist zudem der Glaube. Nikolas glaubt an Gott und zieht aus Bibelgeschichten Hoffnung. Ihm gegenüber steht Alice, die trotz atheistischem Zweifel dennoch auf einen guten Ausgang der Geschichte hofft und die Zeit bis dahin mit Unterricht nutzt. Endemann flicht hier das Thema Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit des Menschen in Krisensituationen, geschickt in die Geschichte ein. Sie zeigt, dass sowohl der Glaube, als auch ein starkes Selbstwertgefühl für Kinder und Jugendliche Wege sein können, Hindernisse im Leben zu meistern.

All diese vielen Schichten der Geschichte machen Operation Unsichtbar auch zu einer passenden Schullektüre, die den Lehrern eine spannende Geschichte an die Hand gibt, die die Schüler mit Sicherheit bis zur letzten Seite lesen werden. Diskussionsstoff gibt es danach jede Menge.
Der Höhepunkt des Romans ist zudem so anrührend und filmreif geschrieben, dass man heulen möchte … vor Glück.

Helen Endemann: Operation Unsichtbar, Brunnen-Verlag, 2013, 192 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Geschmackvoll

Manchmal fragt man sich bei bestimmten Produkten der Kulturszene, was die Macher wohl so eingeworfen, geraucht, gesnifft oder sich womöglich gespritzt haben, während sie an dem jeweiligen Werk zugange waren. Da scheint der Wahnsinn vom Irrsinn befallen – und das wird im besten Fall zu einer sehr vergnüglichen Sache. Wie im Fall der aberwitzigen Comic-Serie Chew – Bulle mit Biss! von John Layman und Rob Guillory.

Nach der weltweiten Vogelgrippe mit Millionen von Opfern herrscht in den USA Hühnerprohibition. Sämtliche Hühnerprodukte und –speisen sind verboten, und die Lebensmittelbehörde FDA, die Food and Drug Administration, wacht scharf darüber, dass das Verbot auch eingehalten wird. Zu den Agents der FDA gehört Tony Chu. Chu ist ein so genannter Cibopath, mit anderen Worten, er schmeckt bei allen Lebensmitteln heraus, wo sie gewachsen oder hergestellt, mit was sie gespritzt, behandelt, bearbeitet wurden – oder auf welche schrecklichen Arten die verarbeiteten Tiere abgeschlachtet wurden. Chu isst daher wenig und wenn am liebsten Rote Bete, denn bei der spürt er nichts dergleichen.

Aufgrund seiner Gabe wird Chu bei der Aufklärung von Verbrechen und Morden eingesetzt. Denn sein cibopathisches Gespür hilft auch bei seltsamen Todesfällen. So muss der arme Kerl in schon lang verweste Kadaver beißen, Blut schlecken und echt widerliche Dinge in den Mund nehmen. Nichts für Zartbesaitete. In bereits vier Bänden jagt er nun schon zusammen mit seinem Partner John Hühnerschmuggler, kämpft gegen das Böse, klärt Morde auf und verliebt sich ganz neben bei in Amelia Mintz. Die Restaurantkritikerin ist Saboskripterin und besitzt die Fähigkeit alle Geschmäcker so in Worte zu fassen, dass die Leser die beschriebenen Speisen schmecken können – oder von ihren Beschreibungen das Würgen bekommen. Eine solche Gabe wünsche ich mir gerade, um den Irrwitz dieser megacoolen Comics angemessen würdigen zu können …

Die 2011 mit dem Eisner-Award als beste Comic-Serie ausgezeichnete Reihe sprüht nur so von durchgeknallten Ideen, um Lebensmittelherstellung, Hühnerwahnsinn, illegalen Eierhandel (mit dem man mehr Schotter macht, als mit Heroin-Verkäufen), außerirdischen Geschmacksbomben, Aliens und debilen Kochshows. Die Kampfszenen sind durchaus gewalttätig und das Blut spritzt bisweilen ziemlich weit, weshalb diese Comics nichts für schwache Nerven und nicht für unter 18-Jährige geeignet sind. Die Macher haben herrlich bei Filmen wie Terminator oder Pulp Fiction gewildert. Ganz sicher gibt es aber noch weit subtilere Anspielungen, für die ich aber wahrscheinlich zu ungebildet bin. Jedenfalls entdeckt man auf fast jeder Seite extrem Abstruses und Skurriles.

Wunderbar rotzig sind die Übersetzungen von Marc-Oliver Frisch, der den rüden Bullenton mit schön derben Schimpfwörtern perfekt trifft.

Neben dem Spaß an der Sache ist allerdings eine Nebenwirkung nicht ausgeschlossen: Man denkt ernsthaft nach, Vegetarier zu werden – falls man das nicht schon ist.

John Layman/Rob Guillory: Chew – Bulle mit Biss!, Band 1: Leichenschmaus, Band 2: Reif für die Insel, Band 3: Eiskalt serviert, Band 4: Flambiert, Übersetzung: Marc-Oliver Frisch, Cross Cult, 2011/2012, je 16,80 Euro

Die Schuld der Väter

Vaters Befehl oder Ein deutsches MädelWeit weg und doch immer noch nah ist die Zeit des Dritten Reiches. Aber die Generation, die noch unmittelbar davon berichten kann, stirbt aus, seien es die Opfer des Naziterrors, als auch die Täter, als auch ihre Kinder. Die Stimmen, die erzählen können, was damals vor sich ging und wie es sich anfühlte, in einer Diktatur groß zu werden, verstummen langsam.

Umso besser, dass Elisabeth Zöller eine wirklich beeindruckende Geschichte zu genau diesem Thema geschrieben und so eine dieser Stimmen festgehalten hat. Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel handelt von der 15-jährigen Paula, einer begeisterten Anhängerin des Führers. Stolz präsentiert sie der Familie eine signierte Ausgabe von Hitlers Mein Kampf, sie wird Schaftführerin beim BDM und glüht für das nationale Deutschland. Sie schwärmt für den schneidigen Werner und ist der ganze Stolz ihres Vaters, einem Polizeimajor in Münster.

Doch Paula ist auch mit Mathilda befreundet. Aber schon seit zwei Jahren kommt Mathilda nicht mehr in die Schule, und jetzt erfährt das Mädchen nach und nach die wahren Gründe für das Fehlen der Freundin. Mathilda ist Halbjüdin, und die Stimmung im Land wird Juden gegenüber immer feindseliger. Zunächst merkt Paula noch nicht viel davon, doch Mathilda führt ihr vor Augen, was die gelben Bänke in der Stadt bedeuten und dass immer mehr Menschen verschwinden. Auch Mathilda muss weg und kann sich nicht mehr mit Paula treffen. Die Mädchen richten einen geheimen Briefkasten in einem Baumloch ein und schicken sich so immer noch Nachrichten.

Dann zieht Paulas Familie in eine prachtvoll ausgestattete Villa, der Vater ersteigert einen echten Rembrandt, und immer mehr wundert sich die Ich-Erzählerin über diese Veränderungen, denn reich ist die Familie eigentlich nicht. Paula wird misstrauisch, aber noch hat sie Vertrauen zu ihrem Vater. Und so erzählt sie ihm von den „Swingheinis“, deren Laden Werner hochgehen lassen will. Ein paar Tage später entdeckt sie, dass der Vater einen der Jungen der Swingbewegung verhört und misshandelt hat, obwohl er versprochen hatte, ihm nichts zu tun.

Paulas Misstrauen wächst. Sie wird immer aufmerksamer, was in ihrer Umgebung passiert. Die wenigen Brief von Mathilda, die sie noch erreichen, tragen mehr und mehr den Schrecken der Judenverfolgung in Paulas Alltag. Mathildas Familie ist untergetaucht. Dann wird auch noch Paulas Geschichtslehrer verhaftet, der den Kindern das selbstständige Denken beibringen will.

Irgendwann bekommt Paula ein Telefonat des Vaters mit, in dem er die Deportation von Münsteraner Juden vorbereitet. Als es soweit ist, schleicht sie ihrem Vater hinterher, in der Hoffnung, Mathilda am Bahnhof zu treffen. Doch die Freundin ist nicht dabei. Zuhause erwartet sie der wutschäumende Vater – und die Situation eskaliert.

In einer ganz klaren, fast nüchternen Sprache erzählt Elisabeth Zöller von Paulas Schicksal, das auf einer authentischen Geschichte beruht. Anfang 2005 hatte eine alte Dame die Autorin angerufen und sie gebeten, ihre Jugenderlebnisse aufzuschreiben. Diese alte Dame, die nicht namentlich genannt werden wollte, hatte den dringenden Wunsch, dass die Geschichte über die Kinder der Täter bekannt würde. Auch wenn die alte Dame das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erlebt hat, können wir ihr für ihren Mut dankbar sein, von ihrem Schicksal berichtet zu haben. Denn Elisabeth Zöller ist es hervorragend gelungen, Paulas kontinuierlichen Wandel von der Nazi-Anhängerin zur Kritikerin eindringlich darzustellen. Langsam und fast unmerklich schleicht sich der Horror der damaligen Zeit in die Geschichte und in Paulas Leben. Die Auseinandersetzung mit dem Vater erweitert diesen politischen Roman um eine grausame psychologische Komponente. Denn der Feind ist nicht nur das System draußen vor der Tür, sondern der eigene Vater. Erschreckend deutlicht wird die deutsche Bürokraten-Mentalität, als der Vater Paula die Regeln für ein korrektes Verhör aus der Kladde vorliest. Und dann in seiner Wut bei der eigenen Tochter über die Strenge schlägt und sie mit dem Lineal fast totprügelt. Das ist verdammt beklemmend, aber gleichzeitig ist Vaters Befehl ein großes und wichtiges Buch über den Alltag in einem Nazi-Haushalt. Ein Buch, das in seiner schnörkellosen Erzählart deutlich macht, dass wir Rassenhass, Verfolgung und Holocaust nie wieder zulassen dürfen. Nirgendwo.

Für junge Leser, die mit dem Thema Nationalsozialismus noch nicht vertraut sind, gibt es im Anschluss an die Geschichte ein Glossar, das die wichtigsten Begriffe, Organisationen, Namen und Vorgängen der Zeit erklärt. Dieses gründlich recherchierte Buch eignet sich bestens für anschauliche Unterrichtsdiskussionen.

Elisabeth Zöller: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel, Fischer Schatzinsel, 2012, 268 Seiten, ab 12, 12,99 Euro

Kampf um Selbstbestimmung

meto das hausIn den vergangenen Monaten sind zahlreiche dystopische Romane auf meinen Schreibtisch gelandet. Manche habe ich gelesen, manche nach den ersten Seiten wieder zur Seite gelegt. Méto, der Auftaktband von Yves Grevets Trilogie, wanderte ziemlich lange von einer Ecke in die andere. Bis ich jetzt endlich anfing – und nicht mehr aufhören konnte.

Dabei ist die Geschichte eigentlich etwas sonderbar, geheimnisvoll und erstaunlich sperrig. Der 14-jährige Méto erzählt von seinen Erlebnissen im „Haus“. Wie er dorthin gekommen ist und was er vorher gemacht hat, weiß er nicht. Jetzt lebt er mit 63 anderen Jungen in eine Art Internat mit verschärften Regeln. Die Kinder sind nach Alter in Gruppen unterteilt, dürfen keine neugierigen Fragen stellen, müssen Sport treiben und nur eine gewisse Anzahl an Bissen pro Mahlzeit zu sich nehmen. Halten sie sich nicht an die Regeln der Cäsaren, ihrer Aufseher, drohen heftige Strafen: der Ohrfeigenkreis, Essensentzug und die Kühlkammer. Zudem werden die Jungen mit wachstumshemmenden Spritzen behandelt und mit Schlafmitteln ruhiggestellt. Kein Ort, an dem man gern ist oder der auf eine lustige Internatsgeschichte schließen lässt.

Im Laufe der Zeit stellt Méto sich immer mehr Fragen. Denn sobald ein Kind zu groß für das eigene Bett wird, muss es das Haus verlassen – und niemand weiß, was dann aus ihm wird. Der Ich-Erzähler fängt an zu forschen, sucht den Sinn hinter den harten Regeln und sehnt sich nach Freiheit und Selbstbestimmung. Er findet Verbündete, muss sich aber auch vor Verrätern und Monster-Soldaten hüten. Nach und nach organisiert er die Revolution und sieht sich plötzlich neuen Herausforderungen und Gefahren ausgesetzt.

Irritierend an diesem Roman sind verschiedene Aspekte. Der Handlungsort, also das Haus, ist irgendwie nicht fassbar. Die Zeit, irgendwann in der Zukunft, ebenfalls nicht. Grevet beschreibt kaum, weder Räumlichkeiten, noch Figuren und schon gar nicht die Gefühle der Jungen. Seine Sprache ist nüchtern und staubtrocken. Adjektive und geschmeidige Übergänge scheint er nicht zu kennen. Die Jungen, die allesamt altrömische Namen tragen, wirken unnahbar. Man bleibt als Leser fast ein wenig allein in diesem beklemmend düsteren Szenario und weiß zunächst nicht, mit wem man sich möglicherweise identifizieren soll. Und dennoch entwickelt die Geschichte einen Sog. Denn die vielen offenen Fragen und Geheimnisse um das Haus und die Gesellschaft, in der die Jungen leben, befeuern Fantasie und Neugierde des Lesers.

In dem Moment, wo die Revolution gelingt und die Jungen sich einen neuen Tagesablauf und einen neuen Umgang mit den zuvor versklavten Dienern überlegen müssen, kommt eine neue politische Note dazu. Méto und seine Mitstreiter stehen vor der Frage, ob man eine faschistoide Gesellschaft mit einem Schlag in eine freiheitlich-demokratische verwandeln kann. Dass das nicht so einfach ist, merken die Aufständischen, als sie beinahe die Bestrafungen ihrer eigenen Peiniger übernehmen. Hier liegt meines Erachtens das Bedeutsame der Geschichte, die jugendliche Leser zum Nachdenken und Diskutieren bringen wird.

Wie sich die Revolution und Métos Rolle darin weiterentwickelt, bleibt derweil offen. Denn im wohl spannendsten Moment der Geschichte, endet der erste Teil. Die Fortsetzung erscheint im kommenden Oktober. Bis dahin ist Geduld und ein langer Atem gefragt.

Yves Grevet: Méto – Das Haus, Übersetzung: Stephanie Singh, dtv/Reihe Hanser, 2012, 217 Seiten, ab 14, 14,95 Euro