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Super kritisch

Doch die herrliche Aussicht darauf, gleich in der geheizten Schule sitzen zu können, trieb ihn weiter.« An der Schule angekommen, steht der zehnjährige Rupert aber vorm menschenleeren Schulgebäude. Auf dem Rückweg verfängt sich sein löchriges Sweatshirt am aufschwingenden, verzierten Tor einer Villa. Rupert knallt gegen die Eisenstangen und fällt in Ohnmacht.
Er erwacht in der Villa der Familie Rivers. »Mit einem toten Mitschüler auf dem Rasen habe ich nun doch nicht gerechnet. Ich habe dich reingeschleppt. Schwer bist du nicht gerade.«
»Aber tot auch nicht«, sagte Rupert.
»Lebendig sieht anders aus! Wie bist du hinters Tor gekommen?«, fragte Turgid.
»Soweit ich weiß, wurde ich mit einem Elektroschock drüber geschleudert«, antwortete Rupert.
»Oh, unser Sicherheitssystem. Aber wieso bist du nicht zu Hause bei deiner Familie? Morgens früh an Weihnachten?«
»Weihnachten?«
»Ja, klar. Das musst du doch wissen«, sagte Turgid.
»Deshalb war niemand in der Schule.«

Märchenhaft elende Verhältnisse

So beginnt das außergewöhnliche Weihnachten des immer hungrigen, immer frierenden Rupert. Und so beginnt Polly Horvaths besonderer Roman Super reich. Mit einer schon klassisch märchenhaften anmutenden Beschreibung von wirklich prekären, also ganz und gar elenden Verhältnissen. Zu viele Kinder, zu wenig Platz, zu wenig Geld, zu wenig Liebe – und vor allem viel zu wenig zu essen.
Dann wird Rupert in eine völlig andere Welt geschleudert, in die der Superreichen. Für die köstliche Speisen im Überfluss und alle erdenklichen Konsumartikel so selbstverständlich sind, dass sie sich verquere Regeln für ein Spiel ausgedacht haben, bei dem an Weihnachten einer zum Schluss alles gewinnt – oder verliert. Ein bisschen Nervenkitzel für die Upperclass.

Hoffnung auf warme Füße

Sie laden Rupert ein. Er kann essen, so viel er will. Das tut das ausgehungerte Kind auch, bis ihm schlecht wird. Und er darf mitspielen. Rupert gewinnt alles, Bücher, Spielkarten, Eisenbahn, Stofftiere, Pullover in allen Farben. Vor allem freut er sich über gefütterte Winterstiefel. »Er hatte es ausgehalten, an den Füßen zu frieren, weil ihm nichts anderes übrig geblieben war. Aber jetzt, da er wusste, sie würden warm bleiben, konnte er die Vorstellung, sie könnten jemals wieder frieren, nicht ertragen. Offenbar konnte man die Dinge nur über sich ergehen lassen, bis es Hoffnung auf Erlösung gab. Entsetzt stellte er fest, dass dies alles nur noch schlimmer machte, denn jetzt hoffte er tatsächlich auf bessere Zeiten. Und Hoffnung ist etwas Schreckliches, weil es die Notwendigkeit erstickte, das Schlimmste zu ertragen.«

Klug komprimierte Hunger Games

Dann kommt eine letzte Frage. Rupert gibt die korrekte Antwort zwei Sekunden zu spät. Und verliert alles. Polly Horvath beschreibt dieses Weihnachten als bitterböse Gesellschaftssatire. Die vermeintlich absurden Regeln des Spiels der Familie Rivers sind die Regeln des Kapitalismus. Von den Reichen erdacht und verselbstständigt. Die, die bereits alles haben, gewinnen immer mehr. Und wenn sie mal verlieren, ist es egal. Weil es ihnen an nichts mangelt und sie das vorhandene Vermögen nur zwischen sich hin- und herschieben. Der arme Rupert hat Spannung und Dramatik ins familiäre Vergnügen gebracht. Weil er hoffte, bangte, sich freute. Für ihn ging es um Existenzielles. Jetzt hat er zwar einmal einen vollen Bauch. Dafür ist er bar jeder Hoffnung. Horvaths Weihnachten ist die klug komprimierte Variante der Hunger Games.

Weihnachtsgeschichte und Kapitalismuskritik

Weihnachtsgeschichten und Kapitalismuskritik haben Tradition, siehe Charles Dickens. Ebenezer Scrooge, der erste literarische Verfechter des Geiz-ist-geil-Diktums, wird wegen Weihnachten sentimental. Auch die Erwachsenen der Familie Rivers haben Mitleid mit Rupert. Jeder für sich wollen sie, ohne Wissen der andern, sein niederschmetterndes Erlebnis wieder gutmachen.
Die Weihnachtsgeschichte ist nur Polly Horvaths Auftakt für viele verrückte Episoden und fantastische Abenteuer durch Raum und Zeit. Dabei erfährt Rupert viel über Abhängigkeiten, unerfüllte Träume, Einsamkeit und unterschiedliche Konstellationen von Liebe und Zusammenleben. Restaurantgäste fliegen vor lauter Genuss unter die Decke. Eingeheiratete Tanten finden ihr Traumziel in Mendocino. Sich immer nur anraunzende Eltern waren einst wirklich verliebt. Teure Anzüge verändern Menschen. Doch nicht jeder möchte Präsident der Vereinigten Staaten werden.

Den eigenen, nahenden Kältetod korrekt diagnostiziert

Das ist so mitreißend und witzig beschrieben, dass man immer mehr lesen möchte. Anne Brauner hat es so frisch und locker übersetzt, dass es sich wie ein Originaltext liest. Hierfür großes Lob an den Verlag Freies Geistesleben, der nicht wie so viele Kinder- und Jugendbuchverlage an der Übersetzung spart.
Polly Horvath kennt sich offensichtlich sehr gut mit Kälte aus. Dass Zehen aufhören zu schmerzen, wenn sie taub gefroren sind, beim Wiedererwärmen dafür umso mehr wehtun, weiß ich aus eigener Erfahrung. Sehr lustig ist es, wie Rupert, angesichts der durch eine Sitzheizung ausgelösten, verwirrenden Heiß-Kalt-Empfindungen wissenschaftlich korrekt seinen nahenden Kältetod diagnostiziert.

Unüberbrückbare Unterschiede

Die abgehobenen Rivers können sich gar nicht vorstellen, dass Rupert nicht wegen einer »Abneigung gegen wärmende Oberbekleidung« statt eines Mantels drei Hemden und einen kaputten Pullover übereinander trägt. Rupert und seine kleine Schwester trauen sich auch nie, das Gratis-Frühstück in der Schule in Anspruch zu nehmen, denn sie werden an der Essensausgabe immer so böse angeguckt – weil sie arm sind. Es sind diese von Horvath geschickt gesetzten Spitzen, die unüberbrückbaren Unterschiede zwischen sehr arm und superreich zum Ausdruck bringen.
Letztlich gehen alle die höchst amüsanten und eigentlich gut gemeinten Gefälligkeitsaktionen in erster Linie für die Mitglieder der Familie Rivers gut aus.
Materiell landet Rupert immer wieder bei Null. Ein Running Gag ist, dass der ständig hungrige Junge immer wieder um das versprochene Essen und den ersehnten ersten Hamburger seines Lebens geprellt wird. Da wird man selbst als Vegetarier schon beim Lesen ganz hungrig.

Etwas zu versöhnlich – aber, hey, es ist Weihnachten

Zu guter Letzt wird Ruperts Hunger überraschend gestillt. Nicht nur sein knurrender Magen ist zufrieden. Der einzige Wermutstropfen dieses Romans ist nämlich, dass sein Ende etwas zu versöhnlich ist. Aber hey, es begann als Weihnachtsgeschichte.
Übrigens hat Super reich dieses Jahr auch deshalb so viel Beachtung erfahren, weil Polly Horvath in British Columbia wohnt und deshalb als kanadische Autorin gilt, aus dem Gastland der Buchmesse. Aufgewachsen ist sie aber in Ohio, dort kennt sie sich aus und dort spielt auch ihre Geschichte.
Ob kanadisch oder nicht – Polly Horvath ist eine geniale Erzählerin. Und Super reich ist eine ganz und gar außerordentlich super gute Geschichte. Nicht nur zu Weihnachten.

Polly Horvath: Super reich, Übersetzung: Anne Brauner, Verlag Freies Geistesleben, 293 Seiten, ab 9, 18 Euro

Jahreszeitenübergangsrituale

herbstIn diesen Tagen gehen in allen Bundesländern die Sommerferien zu Ende, die nächste Generation von Leser_innen betritt die Schulen, und meteorologisch hat auch der Herbst bereits Einzug gehalten. Da passt die Lektüre des reizenden Erstlesebuchs Finn und Frida halten den Herbst auf von Martin Klein und Kerstin Meyer bestens ins Programm.

An einem Sonntagmorgen stellen darin die beiden Helden erstaunt fest, dass es auf einmal richtig kalt geworden ist und die nackten Zehen plötzlich wehtun. Die Zähne klappern, und um warm zu werden müssen die beiden sich gegenseitig durch den Garten jagen. Und auch den Herbst wollen die Geschwister nicht einfach so hinnehmen. Sie veranstalten einen Sonnentanz mit Poolnudel und Taucherbrille um das Planschbecken herum.

Aber statt Sonnenschein schickt der Himmel Regen auf die Erde, und auch die Blätter hält es nicht mehr an den Bäumen. Aber Finn ist ein schlaues Kerlchen und überredet Frida, den Herbst wieder rückgängig zu machen.

Gerade nach den letzten warmen Sommertagen kann man Finn und Frida so richtig gut verstehen, man möchte all die schönen Dingen des Sommers, das Baden, die Sonnenstrahlen, das kühlende Eis, das Geplansche, die nackten Füße und die wenigen Kleidungsstücke am Leib nicht einfach so von einem Tag auf den anderen aufgeben. Der Übergang fällt schwer, Socken und Pulli engen ein, das Haus oder die Wohnung sind auf einmal viel zu klein. Jede Verlängerung des Sommers wäre also wirklich sehr willkommen!

Und so können Finn und Frida als sehr coole Vorbilder dienen, die sich auch von Unausweichlichem nicht so einfach unterkriegen lassen, die dieser neuen Situation mit kreativen Ideen begegnen und so spielerisch Übergangsrituale erfinden, die das Vergangene würdigen und das Neue wahrnehmen. Auch dies ist eine Art, wie man kann die kommende Jahreszeit schätzen und begrüßen kann.

Dieses Erstlesebuch macht es Leseanfängern zudem einfach, einen Übergang vom Bilderbuch zum längeren Roman zu finden. Die Illustrationen von Kerstin Meyer, die in einer Kombination aus bunten Sommerblumen und warmen Herbstfarben strahlen, bieten genügend Pausen im Text. Sie laden zum Schauen ein und kitzeln die eigenen Erinnerungen an den vergangenen Sommer hoch.
Der Text von Martin Klein wiederum besticht durch verständliche, nicht zu lange Sätzen, in denen aber durchaus ungewöhnliche Worte zu finden sind wie „Sommerregentropfen“ oder „Nordsee-Anfang-Juni-Temperatur“. Langweilig wird das sicher nicht.
Und ich bin ganz neidisch, dass die Schulanfänger von heute mit so coolen und kreativen Geschichten lesen lernen!

Martin Klein: Finn und Frieda halten den Herbst auf, Illustratorin: Kerstin Meyer, Tulipan, 2017, 48 Seiten, ab 7, 8,95 Euro

 

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Menschlichkeit im Unmenschlichen

ravensbrückHeute stelle ich nach sehr langer Zeit mal kein Kinder- oder Jugendbuch vor, auch wenn der Titel von Valentine Gobys Roman das vermuten lassen könnte. Doch Kinderzimmer ist alles andere als ein Kinderbuch.

Die Französin Goby nimmt den Leser hierin auf eine überaus bittere Reise ins Konzentrationslager Ravensbrück mit. Dort kommt im Frühjahr 1944 die junge Suzanne Langlois, genannt Mila, an. Mila war im französischen Widerstand tätig, hat Nachrichten für den Untergrund kodiert (mit einem Notensystem, das Übersetzerin Claudia Steinitz im Detail nachgebildet hat, was eine Heidenarbeit gewesen sein muss) und für eine Nacht einen Widerstandskämpfer versteckt. Von ihm ist sie schwanger. Schwanger im KZ.

Mila, deren Mutter sich umgebracht hat, als sie klein war, befindet sich in einem fast unvorstellbaren Zustand des Nicht-Wissens: Sie weiß nichts über die Vorgänge in ihrem Körper, sie weiß nichts über den Vater des Kindes, sie weiß nicht, wo sie in Deutschland ist oder wie das Leben in einem KZ laufen soll. Sie versteht kein Deutsch. In diesem Nicht-Wissen ist sie zunächst auf sich allein gestellt und erlebt den ganzen Horror im Frauenlager: Den Austausch der Kleidung, das Rasieren der Haare, die unsensible gynäkologische Untersuchung, dazu der tägliche Kampf um das Essen, um den Schlafplatz, die Zahnbürste, die Blechschüssel. Mila ahnt, dass sie schwanger ist, wagt es jedoch nicht, ihren Bauch zu betrachten. Dieser Bauch, der durch die Entbehrungen und den Hunger nicht richtig wächst.

Valentine Goby erzählt von Milas Schicksal in kurzen, oftmals fast schon nüchternen Sätzen, von Claudia Steinitz höchst feinfühlig ins Deutsche gebracht. Goby schönt nichts. Sie benennt den Hunger, die Auszehrungen, die drangvolle Enge in den Baracken, die Krankheiten, die Ausscheidungen, den Gestank, das Sterben, die ausgemergelten Toten. Die Bilder, die sie dadurch im Leser heraufbeschwört, sind kaum zu ertragen.
Und mittendrin Mila, in der ein kleiner Mensch heranreift.
Man wagt es kaum zu hoffen, doch Mila bringt ihren Sohn tatsächlich zur Welt. Anfangs ist James noch rosig, hat schwarzes Haar. Zusammen Teresa, einer Polin, die zu Milas bester Freundin wird, und ein paar anderen Frauen, versucht sie, James durchzubringen.
Doch James ist nicht das einzige Baby in Ravensbrück. Es gibt ein Kinderzimmer, in dem etwa 50 Babys untergebracht werden. Sie liegen aufgereiht auf Strohmatratzen, pro Kind gibt es nur eine Windel. Die Kinder dämmern folglich in ihren Exkrementen vor sich hin und verwandeln sich, je älter sie werden, in winzige Greise. Es gibt nicht genug Nahrung für sie, denn die meisten Mütter haben keine Milch. Auch Mila muss James irgendwann einer anderen Frau zum Stillen geben. Sie versuchen, sich gegenseitig zu helfen. Doch neben dem Hunger setzt auch die Kälte im Winter den Kleinsten zu. Kohlen für das Kinderzimmer gibt es nicht.

In all diesem Elend wird James zur Stütze für Mila und für Teresa. Er ist der Einbruch des freien Lebens in das Lager. Er ist der Hoffnungsschimmer auf ein Leben nach dem KZ, für ihn bleiben die Frauen stark.

Goby verhandelt in diesem Buch nichts weniger als die Essenz des Lebens, die das Sterben so lange hinauszuzögern weiß, wie es nur geht. Selbst unter den unmenschlichsten Umständen. Doch dazu braucht der Mensch Hoffnung und das Mitgefühl anderer Menschen. So erlebt Mila immer wieder Hilfe und eben dieses Mitgefühl. Die gefangenen Frauen bauen sich gegenseitig auf, so gut es eben geht, sie bringen sich Deutsch bei, singen Lieder, erzählen sich Geschichten, teilen das Wenige, wärmen sich. Natürlich gibt es auch Eigennutz, doch der geht letztendlich in der Menschlichkeit unter, die die Frauen zusammenschweißt.
Doch auch von den Frauen, die Mila helfen, überleben nicht alle. Zu heftig wüten Ruhr, Cholera und Flecktyphus, zu niederschmetternd ist es, das eigene Kind zu verlieren. Mila jedoch hält sich an ihrem Kind fest, klammert sich an das Leben und schafft es schließlich wieder nach Frankreich zurück.

Trotz aller Grausamkeiten, die Mila in Ravensbrück erlebt, die einem sehr, sehr nahe gehen und bedrücken, konnte ich dieses Buch nicht weglegen. Denn man hofft und bangt mit ihr. Man erlebt, wie sie von der Nicht-Wissenden zur Wissenden wird, und wie sie schließlich am Ende ihr Wissen um die Vorgänge in Ravensbrück weitergibt.
Denn auch darum geht es bei Valentine Goby: Wissen weitergeben, erinnern, immer wieder erinnern, jeden Tag.

Und wer jetzt sagt, so etwas darf man auf fiktive Art aber nicht, dem erwidert Mila:
„Man braucht Historiker, um über die Ereignisse zu berichten; Zeugen, die ihre persönliche Geschichte erzählen, und Schriftsteller, um zu erfinden, was für immer verschwunden ist: den Augenblick.“

Valentine Goby holt viele Augenblicke zurück, die so oder so ähnlich nicht nur in Ravensbrück stattgefunden haben. Damit wir, die Nachgeborenen, ein unmittelbareres Gefühl für die Zustände in einem KZ bekommen, damit wir das Leid der Insassen auch heute noch verspüren, es nie wieder vergessen und nicht zulassen, dass auch nur ansatzweise so etwas wieder passiert. Hier oder anderswo.

Für dieses eindrucksvolle Buch ist die Autorin mit dem Prix des Libraires 2014 und dem Annalise-Wagner-Preis 2017 ausgezeichnet worden.

Traut euch, es zu lesen.

Valentine Goby: Kinderzimmer, Übersetzung: Claudia Steinitz, ebersbach & simon, 2017, 234 Seiten, 19,95 Euro

Die Qualen einer Flucht

train kidsNeulich läuteten in Köln und Umgebung die Glocken im Gedenken an die Flüchtlinge, die seit dem Jahr 2000 im Mittelmeer, vor den Grenzen Europas, umgekommen sind. 23000 Mal erklangen die Glocken, für jeden Toten ein Glockenschlag. Eine schöne Geste, aber längst wieder verhallt.
Dass es nicht nur im Mittelmeer Flüchtlinge gibt, die ihr Leben riskieren, weil sie sich in der Ferne ein menschenwürdigeres Leben erhoffen, ist bekannt. Eine Art der Flucht holt uns Dirk Reinhardt mit seinem Roman Train Kids eindrücklich ins Bewusstsein.

Die Jugendlichen Miguel, Fernando, Emilio, Angel und das Mädchen Jaz machen sich von der Südgrenze Mexikos auf nach Norden. Auf Güterzügen wollen sie bis nach Nuevo Laredo an der Grenze zu den USA gelangen, um von dort illegal in das anscheinend gelobte Land einzuwandern. Jeder von ihnen hat gute Gründe, die Heimat in Guatemala, El Salvador oder Honduras zu verlassen. In den USA hoffen sie, Verwandte wiederzufinden, Mütter oder Brüder, und endlich ein besseres Leben ohne Elend und Hunger führen zu können. Doch der Weg dorthin ist lang, beschwerlich und gespickt mit Gefahren.

Fernando, der die Tour bereits einmal gemacht hat und von den mexikanischen Behörden erwischt und zurückgeschickt wurde, wird zum Leitwolf der Gruppe. Gemeinsam haben die Kids bessere Chancen durchzukommen, denn Fernando weiß, wo die Gefahren lauern und wie man sie am besten umgehen kann. Die Jugendlichen lernen das Aufspringen auf die Züge, wie man sich vor Ästen und Hochspannungsmasten schützt, wie man Tunnel übersteht, im Fahren Orangen pflückt. Doch trotz aller Vorsicht und aller Warnungen von Fernando bleibt es nicht aus, dass sie Banditen, Drogenhändlern und Polizisten in die Hände fallen. Sie müssen Schutzgelder zahlen, werden erpresst und ausgeraubt. Sie leiden Hunger und Durst, frieren nachts in der Wüste und in den Bergen, aber sie erleben auch die Hilfsbereitschaft eines Pastors und seiner Gemeinde und von der einfachen Landbevölkerung. Und die Freundschaft in der Gruppe. Dennoch schaffen es nicht alle der fünf es bis an die Grenze …

Reinhardts Buch fesselt und macht gleichzeitig betroffen, denn das, was er erzählt entspricht den Tatsachen. Reinhardt hat vor Ort in Mexiko recherchiert, mit realen Train Kids gesprochen und ihren Leidensweg hautnah nachvollzogen. Etwa 50 000 von diesen Kindern sind ständig in Mexiko unterwegs, schreibt Reinhardt in seinem Nachwort. Laut Amnesty International gehört die Flucht auf den Güterzügen durch das Land zu den gefährlichsten Fluchten der Welt. Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge erreicht das Ziel. Warum das so ist, weiß man nach der Lektüre von Train Kids ziemlich genau.

Reinhardts Quintessenz aus seinem Nachwort, gilt jedoch nicht nur für Mittelamerika: „Will man wirklich etwas tun, um dieses Problem anzugehen, so kann die Lösung nicht darin bestehen, die Grenzen abzuriegeln und Migranten zu jagen, als wären sie Kriminelle. Langfristig ist es sinnvoller die Wirtschaft in den [jeweiligen] Ländern zu stärken und die Armut zu bekämpfen.“ Ist das wirklich so schwierig?

Dirk Reinhardt: Train Kids, Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro

Agnese, die Lagune und die Deutschen

agneseEndlich, endlich halte ich mein frisch gedrucktes, neu aufgelegtes, neu bearbeitetes italienisches Herzensbuch in Händen: Renata Viganòs Roman Agnese geht in den Tod.
Lange Jahre war dieses Buch auf Deutsch nur als antiquarische Version von 1951 oder 1959 erhältlich. Damals hatte der Ostberliner Verlag Volk und Welt den Partisanen-Roman veröffentlicht, der heute in Italien zum Schulkanon gehört. Jetzt hat editionfünf diesen Text wieder aus der Versenkung geholt. Passend zum 75. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkriegs.

Renata Viganò erzählt die Geschichte der einfachen Bäuerin und Wäscherin Agnese in den Jahren 1943 bis 1945. Agnese kümmert sich rührend um ihren kranken Mann Palita, bis im Spätsommer 1943, nachdem Mussolini gestürzt wurde und die deutsch-italienische Achse gefallen ist, die Deutschen durch ihr Dorf ziehen. Sie verhaften Verräter und Kommunisten und deportieren in die KZs. Palita überlebt den Transport nach Deutschland nicht. Agnese, eine äußerlich barsche, innerlich jedoch loyale und aufrichtige Frau, erschlägt einen deutschen Soldaten, nachdem dieser Palitas Katze erschossen hat. Nichts hält sie mehr auf ihrem Hof. Sie flüchtet und schließt sich den Partisanen der Gegend an.
Die Widerstandskämpfer verstecken sich zu der Zeit in der riesigen Lagune von Comacchio, die in dem Roman eine zweite Hauptrolle spielt. Von dort aus planen sie ihre Aktionen und brechen meist nachts auf, um ihre Vorräte aufzustocken, Waffen zu besorgen oder den deutschen Soldaten Fallen zu stellen. Agnese schlüpft auf der Flucht vor den deutschen Vergeltungsmaßnahmen bei ihnen unter und wandelt sich dort zur „Mutter der Kompanie“ und zu einer überzeugten Widerstandskämpferin.
Sehnsüchtig erwartet sie zusammen mit den Partisanen die Alliierten, die von Süden aus Italien befreien. Doch die Front rückt nur langsam nach Norden, zu sehr wehren sich die Deutschen und ihre letzten Verbündeten, die italienischen Faschisten. Der strenge Winter 1944/45 verzögert die Befreiung von Norditalien zusätzlich. Die Partisanen in ihren notdürftigen Unterkünften im Schilf leiden unter Regen, Schnee, Frost. Das Wasser der Lagune gefriert, einige der Genossen werden in einem überschwemmten Haus eingeschlossen.
Agnese, die mit der Organisation der „Staffette“, den Botengängerinnen, beauftragt ist, versucht alles, um den Nachschub an Lebensmittel für die Jungs zu gewährleisten. Die alte Frau wächst dabei über sich hinaus, sie wird zur „la Responsabile“, zur Verantwortlichen. Kilometer um Kilometer radelt sie über die Deiche, schleppt Körbe mit Brot, Wein und Käse, aber auch mit Sprengstoff und Flugblättern. Begegnet sie deutschen Patrouillen macht sie aus ihrer Verachtung den Besatzern gegenüber keinen Hehl. Immer wieder ist sie der Gefahr ausgesetzt, als Mörderin eines deutschen Soldaten erkannt zu werden.

Viganòs Roman ist harter Stoff. Der Tod ist ein beständiger Begleiter bei der Lektüre. Dazu kommen das Leiden der italienischen Partisanen, die Übergriffe und Greultaten der Deutschen, die Verschlagenheit der italienischen Faschisten, die Passivität der Alliierten. Der Krieg an und für sich ist hautnah zu spüren. Viganò schrieb in der Tradition des Neorealismus. Ihr Roman kam in Italien 1949 heraus und wurde noch im selben Jahr mit dem Premio Viareggio ausgezeichnet. Die Autorin, die selbst bei den Partisanen gekämpft hat, vermischt darin eigene Erfahrungen mit fiktiven Gestalten. Und illustriert so auf eindrucksvolle Weise, wie sich die Wehrmacht und die SS in den letzten Kriegsjahren in Italien verhalten haben.

Deutschlands Beziehung zu Italien scheint eine ewige Liebesbeziehung, seit Goethes Zeiten und den Filmschmonzetten aus den 50er Jahren (die in neuem Gewand heute immer noch produziert werden). Italien steht oftmals für Amore, Gelato, Kunst und Leichtigkeit. Die bittere Realität des Landes liefern uns Geschichten über Mafia und Korruption, manchmal spannend verpackt als Krimis, wie bei Carlo Lucarelli oder Patrizia Rinaldi, neuerdings mischen sich darunter auch vermehrt die Berichte über die Flüchtlinge aus Afrika. Gern hört man das hierzulande jedoch nicht. Dass Deutschlands Beziehung zu Italien jedoch selbst auch eine ganz düstere Seite hat, ist vielen nicht bekannt oder schon wieder vergessen. Renata Viganòs Roman erinnert nun ganz plastisch wieder daran, dass die Verbrechen der Wehrmacht nicht nur in Osteuropa stattfanden, sondern auch dort. Mit der gleichen Härte, der gleichen Unbarmherzigkeit. Aufgearbeitet sind diese Verbrechen noch viel zu wenig, wie eine deutsch-italienische Historikerkommission in ihrem Abschlussbericht im Juli 2012 festgestellt hat, und zwar auf beiden Seiten.

Mir ist Viganòs Roman zum ersten Mal 1992 während meines Studienjahres in Florenz untergekommen, und schon damals war ich fasziniert. Aus meinem Vorhaben, über den Roman meine Magisterarbeit zu schreiben, ist damals leider nichts geworden. Dann stand der Roman bei mir im Regal und lauerte in meinem Hinterkopf – bis sich editionfünf bereit erklärte, ihn in neuem Gewand herauszubringen.
Ich hätte gern eine richtige Neuübersetzung gemacht, doch wie immer ist das auch eine Frage der Finanzen. So konnte ich aber immerhin die alte Übersetzung von Ina Jun-Broda, die 1959 schon einmal von Ernst-August Nicklas redigiert worden war, gründlich überarbeiten. Es war nicht weniger Arbeit, vielmehr eine Gratwanderung zwischen drei verschiedenen Versionen (dem italienischen Original und den beiden DDR-Ausgaben). Ich glaube jedoch, dass nun Viganòs Text auch auf deutsch so frisch und hoffentlich zeitlos wirkt wie das italienische Original. Agnese geht in den Tod ist ein Puzzlestück, das eine weitere Nuance des zweiten Weltkrieges beleuchtet und damit zur Aufarbeitung beiträgt, die die Historiker einfordern.

Es bleibt die Hoffnung, dass sich das romantische Italienbild vielleicht ein winziges Bisschen zum Realistischen hin verschiebt und der nächste Italienurlaub möglicherweise mit anderen Augen genossen wird.

Renata Viganò: Agnese geht in den Tod, Übersetzung: Ina Jun-Broda, Neubearbeitung und Nachwort: Ulrike Schimming, editionfünf, 2014, 316 Seiten, 21,90 Euro