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Tempurasushi des Lebens

Tagame

In Japan sind gleichgeschlechtliche Ehen nicht möglich. Und so ist für Yaichi, Vater der etwa siebenjährigen Kana, die Heirat seines Bruders mit dem Kanadier Mike erst einmal so wie Tempurasushi, etwas das es in Japan nicht gibt – dafür aber in Kanada.
Als Mike, dieser riesige Bärentyp mit Vollbart, Undercut, Holzfällerhemd und haarigen Beinen, plötzlich vor Yaichis Haustür steht, weiß dieser nicht, wie er mit dem Fremden und der gesamten Situation eigentlich umgehen soll.
Mike hingegen will zunächst einmal nur die Heimat seines verstorbenen Mannes, Yaichis Zwillingsbruder, kennenlernen.

Welten prallen aufeinander

Und so treffen im Manga Der Mann meines Bruders von Gengoroh Tagame zwei Welten auf einander. Mike als Japan-Fan ist neugierig, will die Kindheitsorte seines Mannes besuchen, freut sich über Tatamimatten und Futons, liebt den Tee und eben Tempurasushi. Yaichi hingegen ist verwirrt, weil er nicht weiß, wie er sich Mike gegenüber verhalten soll. Er fürchtet, dass Mike ihn anmachen könnte, weil er seinem Zwillingsbruder so ähnlich sieht. Dieser Besuch bringt Hetero-Yaichi ziemlich aus dem Konzept und wirft sein wohlgeordnetes Leben ganz schön durcheinander.

Kindliche Offenheit

Doch da ist auch Kana, die mit mangtypischen großen Augen und riesigem Mund, eine Verbindung zwischen diesen beiden Männern aufbaut – und zwar durch ihre liebenswerte unverstellte Kindersicht. Sie wundert sich nicht darüber, dass Männer heiraten können, sondern dass das in einem Land wie Kanada erlaubt ist, in ihrer Heimat Japan aber nicht. Sie hat im wahrsten Sinne des Wortes keine Berührungsängste und krault mit Begeisterung Mikes dichtes Brusthaar. Und Tempurasushi hört sich für sie verlockend an. Jedenfalls empfängt Kana den Onkel aus Kanada – nicht allein wegen dieses Gleichklanges – mit offenen Armen.

Lernfähigkeit von Heteros

Kana wird mit ihrer entwaffnenden Neugierde zu einem Katalysator. Sie entlockt Mike immer mehr Einzelheiten über Yaichis Bruder, sodass dem Leser mehr und mehr klar wird, dass Yaichi seinen Zwilling gar nicht so gut gekannt hat, wie er wohl immer dachte. Ganz nebenbei entlockt Kana ihrem Onkel so einfache Erkenntnisse über die gleichgeschlechtliche Ehe (»Wer von euch beiden war eigentlich der Ehemann und wer die Ehefrau?« Antwort von Mike: »Wir waren beide Husbands«), die Yaichi dann doch über Rollen- und Geschlechterklischees grübeln lassen und letztendlich zum Umdenken bringen. Und damit auch skeptische Lesende – falls es sie für diese Geschichte geben sollte.

Homoerotik in den Panels

Denn neben diesem Aufeinandertreffen von Schwulem und Hetero und dem Abarbeiten der heterosexuellen Vorurteile gegenüber dem anderen, ist dieser Manga auch ganz klar ein Schwulen-Comic. In den Panels findet sich ganz offen eine schwule Blickführung, also wenn Tagame von den zwei Helden den gewölbten Schritt zeigt, Muskelberg Mike unter der Dusche oder Yaichis definierten Körper fast nackt präsentiert. Auch liegen die beiden irgendwann zusammen, wenn auch ungewollt, als Mike sturzbetrunken heimkommt und den Schwager für seinen Mann hält. Das alles hat eine homoerotische Konnotation, ist aber immer noch jugendfrei und nicht pornografisch.

Love is the answer

Tagame zeigt mit seiner Geschichte jedoch vielmehr, dass Zuneigung und Liebe größer sind als Geschlechter- oder Nationenzugehörigkeit. Sie sind universell und sollten so auch respektiert und gewürdigt werden – ganz gleich in welcher Konstellation Menschen zueinanderfinden. Für Japan ist dieser Manga mit Sicherheit ein Plädoyer auch für die gleichgeschlechtliche Ehe.

Was in diesem Auftaktband der Trilogie bis zum Schluss ungeklärt bleibt, ist das Schicksal von Kanas Mutter. Man sieht sie zwar auf einem Foto, erfährt jedoch nichts über sie. Was zu wilden Spekulationen Anlass gibt, denen gegen Ende auch Mike erliegt.
Tagame löst es für den Moment mit einem überraschenden Cliffhanger, der sofort die Neugierde auf Band zwei steigert. Bis dahin – Band 2 erscheint Ende April, Band 3 Ende Juli – sollten alle viel Tempurasushi essen, denn das ist lecker und gut gegen Vorurteile.

Gengoroh Tagame: Der Mann meines Bruders, Übersetzung: Sakura Ilgert, Carlsen Manga, 2019, 180 Seiten, ab 15, 10 Euro

Für die Liebe

Seit ein paar Wochen ist bei uns in Deutschland die Ehe für alle eine beschlossene Sache, und ich freue mich, dass alle Liebende, egal, welche sexuellen Präferenzen sie haben, heiraten können, wenn sie das denn wollen.

Mit dem Beschluss der Ehe für alle haben jedoch in gewissen Kreisen die Diskussionen und die Ablehnung der Ehe für Homosexuelle nicht aufgehört, sondern nehmen zum Teil echt absurd maßlose Züge an, wenn pauschal Homosexuellen pädophile Neigungen unterstellt werden. Man fasst sich an den Kopf und möchte diese Menschen eigentlich nur schütteln. Alternativ könnte man ihnen jetzt auch das Buch Väterland des Franco-Algeriers Christophe Léon in die Hand drücken, damit sie alle noch mal genau überlegen, was sie da eigentlich von sich geben.

In Väterland beschreibt Léon ein dystopisches Frankreich, in dem einst die Ehe für alle üblich, also eigentlich nicht der Rede wert war. So haben George und Phil vor 15 Jahren geheiratet und dann Gabrielle als Baby aus Somalia adoptiert. Jahrelang führen die beiden Künstler und das Mädchen ein unbeschwertes Familienleben. Gabrielle liebt ihre beiden Väter über alles.
Doch nach und nach ändert sich die Stimmung im Land. Die Nachbarn schauen das Paar anders an, Gabrielle wird in der Schule von Mitschülern beschimpft, ehemalige Freunde meiden die Familie. Die Regierung veranlasst, dass Homosexuelle neue Pässe bekommen, mit dem offensichtlichen Vermerk ihrer sexuellen Ausrichtung. Die Betroffenen werden gezwungen, eine rosa Stoffraute an der Kleidung zu tragen, und müssen schließlich aus der Pariser Innenstadt in ein Ghetto am Stadtrand ziehen.

Spätestens hier kommen definitiv unangenehme Assoziationen hoch, an die Zeiten vor über 70 Jahren, als die Nazis genau das in unserem Land getan haben. Nur dass sie die Homosexuellen nicht ins Ghetto, sondern gleich ins Konzentrationslager deportiert haben. Doch auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Diskriminierung von Homosexuellen hier noch lange nicht aufgehört. Trotz Ehe für alle sind wir, meines Erachtens, noch weit von einer Gesellschaft entfernt, in der es völlig egal ist, welche sexuellen Vorlieben man hat, und in der man gelassen und ohne journalistischen Voyeurismus damit umgeht. So lange das jedoch nicht erreicht ist, kann die Stimmung immer wieder umschlagen, und genau das zeigt Christophe Léon.

In seinem kurzen Roman schafft er sehr rasch eine bedrohliche Atmosphäre von Angst und Überwachung. Er nutzt dafür die Ich-Erzählung der 12-jährigen Gabrielle, die davon berichtet, wie ihre Väter unerlaubterweise nach Paris fahren, um ihr ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Auf dem Weg in die Stadt haben die Väter einen Unfall und flüchten verletzt durch die Straßen – auf Hilfe von Mitbürgern können sie nicht hoffen. Diese rufen vielmehr sofort die 666 – eine sehr schöne teuflische Metapher –, damit die Miliz sofort mit der Jagd auf die „Rosa Rauten“ beginnt. George und Phil versuchen, den allgegenwärtigen Überwachungskameras und Abfangbrigaden zu entgehen und wieder zu ihrer Tochter zu gelangen …

Schon nach den ersten Seiten finden sich die Leser in einem orwellschen Kosmos in der Gegenwart wieder, den man so überhaupt nicht möchte. Der jedoch, wenn wir ehrlich sind, gar nicht so weit entfernt ist. Dieses Unbehagen an der allgegenwärtigen Überwachung paart sich mit der so großartigen Liebe zwischen George, Phil und Gabrielle, so dass man das gesamte Buch mit den dreien mitfiebert. Man leidet mit, wenn die Väter verfolgt werden, man empört sich, wenn sie die Raute tragen sollen, man freut sich, wenn sie ihre Tochter mit hintersinnigem Witz verteidigen oder eine letzte große Ausstellung eröffnen.
Am Ende, das dann fast viel zu schnell kommt, möchte man die drei gar nicht loslassen, will wissen, wie es mit ihnen weitergeht, und hofft, dass sie es den Häschern entkommen.

Und genau so soll Literatur für mich sein. Sie soll mich gefühlsmäßig aufwühlen und gleichzeitig für gesellschaftliche Zustände sensibilisieren, die ganz schnell wieder in fürchterliche Extreme kippen können. Wehret den Anfängen, möchte man rufen, nicht nur angesichts von Rechtsrockkonzerten mit Tausenden von Nazis, sondern auch von verbohrten Menschen, die in Vorurteilen und Angst (vor was?) verhaftet geblieben sind und sich keine Liebe jenseits von Mann und Frau vorstellen können.

Väterland ist eine bittere Lektüre, doch vielleicht trägt sie zu mehr Akzeptanz und Selbstverständlichkeit von anderen Lebens- und Liebesformen bei.
Das wünsche ich mir jedenfalls.

Christophe Léon: Väterland, Übersetzung: Rosemarie Griebel-Kruip, Mixtvision, 2017, 116 Seiten, ab 14, 9,90 Euro

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Der Chor der Mutmacher

levithanZwei Jungs, die sich küssen, regt das heute noch irgendjemanden auf? Man möchte meinen, nicht. Doch wenn die es in aller Öffentlichkeit tun und das über 32 Stunden, um einen neuen Rekord aufzustellen, dann ist das ein Ereignis, dass die Gemüter bewegt.

Von so einem real durchgeführten Ereignis, das ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen wurde, erzählt David Levithan in seinem Roman Two Boys Kissing, vorzüglich übersetzt von Martina Tichy.
Harry und Craig wollen ein Zeichen setzen, wollen andere schwule Jungs ermuntern, sich zu outen, zu ihrer sexuellen Neigung zu stehen, sich nicht zu verstecken. Dafür küssen sie sich vor der Highschool ihres Ortes, in aller Öffentlichkeit, knapp anderthalb Tage, ohne sich hinzusetzen, ohne zu essen, ohne auf Toilette zu gehen, ohne zu schlafen. So wie die Qualen der beiden – schmerzende Muskeln, Hitze, Kälte, eine volle Blase, Schwindel, Kopfweh – zunehmen, so wächst auch die Schar der Zuschauer an. Anfangs sind nur ein paar Freunde und Lehrer vor der Schule, die die Küssenden mit Getränken und Klamotten versorgen oder sich um die Live-Übertragung des Ereignisses ins Internet kümmern. Doch mit jeder Stunde verbreitet sich der Rekordversuch im Netz immer weiter, in alle Winkel der Welt. Die Medien werden aufmerksam, die konservativen Mitmenschen des Ortes aber auch, die gegen diese angeblich ungebührliche Aktion protestierten.

Neben den Küssenden schildert Levithan jedoch auch noch zwei weitere schwule Paare sowie einen unglücklichen Einzelgänger. Bei dem einen können die Eltern nichts mit den Neigungen des Sohns etwas anfangen, bei dem anderen handelt es sich um einen Transgender-Jungen, der einst im Körper eines Mädchens geboren wurde, aber alle Unterstützung von seinen Eltern bekommt. Der Einzelgänger sucht sein Glück im Internet, wird jedoch nur enttäuscht. Als seine Eltern ihn unfreiwillig beim Chatten erwischen und ihn somit zwangsouten, haut er von zu Hause ab.

Levithan, dessen Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal gerade von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, konzentriert sich hier ganz auf den Kosmos schwuler Jugendlicher, rund um ihr Coming-out und ihre erste Liebe. Anfangs ist die Fülle an männlichen Figuren etwas verwirrend, doch mehr und mehr nimmt die Erzählung an Fahrt auf und die Jungs wachsen einem ans Herz. Dies liegt auch an der sehr präsenten Erzählerstimme, die eine ungewöhnliche und erfrischende Alternative zu den vorherrschenden Ich-Erzählern bildet. Denn hier erzählt ein unbenanntes WIR, ein Chor, der den jungen Schwulen fast väterlich über die Schulter schaut, sie ermutigt, Tipps gibt, von eigenen Erfahrungen berichtet, von eigenen Ängsten, Sorgen und Freuden. Es ist ein Chor einer Generation von Schwulen, die Anfang der 90er Jahre die AIDS-Katastrophe am eigenen Leib erlebt hat, deren Partner, Freunde, Bekannte an der Krankheit gestorben sind, die die Diskriminierung noch schärfer erlebt haben, als die junge Generation heute. Sie waren die Wegbereiter dafür, dass seit diesem Sommer in den USA gleichgeschlechtliche Ehen legal sind. Sie erheben die Stimme, ermutigen, warnen aber auch und machen klar, dass es ein langer Weg war bis zu diesem Punkt, aber auch, dass noch ein langer Weg vor allen LGBT*-Leuten liegt, bis diese rechtlich völlig gleichgestellt sind.

Dieses Buch macht Mut. Keine Frage. Jedem Jungen, der mit seinen sexuellen Vorlieben hadert, sei diese Lektüre empfohlen. Levithan zeigt zwar, dass es nicht einfach ist – weder sich 32 Stunden lang zu küssen, noch mit seinen Eltern zu reden, noch die richtigen Freunde zu finden – doch er zeigt auch, dass es sich lohnt, zu sich selbst zu stehen und sich auf das Abenteuer Leben einzulassen.

Demnächst würde ich gern auf diesem Kanal die weibliche Variante dieses Themas vorstellen können … die aber wohl noch nicht geschrieben ist. Liebe Verlage, bitte kümmert euch darum!

David Levithan: Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt, Übersetzung: Martina Tichy, Fischer KJB, 2015, 288 Seiten,  ab 14, 14,99 Euro

Es lebe die sexuelle Vielfalt!

gayDas Leben auf dieser Erde ist alles andere als einfach, und der Mensch und seine vermeintlichen Regeln tragen nicht gerade dazu bei, dass es leichter wird. Vor allem, wenn es um Sexualität geht und wie die angeblich zu sein hat. Für Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz klar sind, macht die Hetero-Normierung unserer Gesellschaft es auch nicht besser.

Gegen diese Normierung und eine angeblich normale Sexualität stellt der britische Autor James Dawson sein Handbuch How to be gay. Er richtet sich an die Jugendlichen, die vor allem eins sind: neugierig. Auf sich, auf das Leben, auf andere Arten der Sexualität, die ihnen nicht in der Schule erklärt und in den Medien oftmals als Stereotypen präsentiert werden. Dawson hingegen lädt die jungen Leser mit klaren, oft witzigen und ironischen Worten – von Volker Oldenburg in charmant-coole deutsche Varianten übersetzt, die eine unterhaltsame Lektüre garantieren – in den Club der LGBT*-Leute ein, d.h. in die Welt der LesbischGayBiTrans*-Menschen (wobei das * für die Gesamtheit aller sexuellen Orientierungen, sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten steht). Das mag sich, so referiert, vielleicht etwas sperrig lesen, doch geht es Dawson darum, sich unbefangen seinen sexuellen Phantasien zu stellen und herauszufinden, was Mädchen/Junge eigentlich mag. Der Respekt vor sich selbst und den anderen steht dabei im Mittelpunkt – ist der gegeben, ist es egal, wen und wie man liebt und mit wem oder wie man Sex hat.

Ist sie oder er sich seiner sexuellen Vorlieben erst einmal klar geworden, hilft How to be gay als Gebrauchsanleitung für das tägliche Leben weiter.  Dawson liefert wichtige Gedanken, wie ein Coming-out am besten gestaltet werden kann, verrät, was bei schwulem und lesbischen Sex abgeht, bietet Argumentationshilfen, wenn man als LGBT* zu einer religiösen Diskussion genötigt wird, zeigt, was bei Sex-Apps  zu beachten ist, oder wie man als homosexuelles Paar eine Familie gründet. Gleichzeitig warnt er auch vor lästigen und unnötigen Geschlechtskrankheiten und wie man sich durch respektloses Verhalten oder die gedankenlose Benutzung von Begriffen zum Vollhorst machen kann. Er nennt die Dinge dabei ungeschminkt beim Namen, und genau das tut gut, damit die Jugendlichen nicht ewig im Nebel von Unausgesprochenem, Angedeuteten, Klischees, Vorurteilen, Diskriminierung und angeblicher Unnormalität herumstochern müssen.

Angereichert hat Dawson seine Tipps mit O-Tönen von LGBT*-Menschen, die von ihren Erfahrungen und Geschichten berichten. Sie zeigen die Facetten von Leben, in denen die Menschen sich nicht nach der angeblichen Norm richten, sondern zu ihren Vorlieben und damit zu sich selbst stehen. Das sind durchweg großartige Vorbilder.

Einziger Wermutstropfen bei diesem Buch ist die fehlende Lokalisierung für die deutsche Szene. Dawson schildert vornehmlich britische Gegebenheit, also die Geschichte, Gesetzeslage und Rechte in Großbritannien. Und auch das „kleine Lexikon der großen Schwulen- und Lesbenikonen“ ist von angloamerikanischen Star beherrscht. Bei all dem hätte von Verlagsseite durchaus eine Anpassung und/oder Erweiterung für Deutschland vorgenommen werden können: Die Fragen zu Homo-Ehe und Kinder von Homosexuellen in Deutschland müssen sich die jungen Leser nun selbst recherchieren. Die Doppelseite mit nützlichen Websites am  Ende ist da nur ein schmaler Anfang. Und allein für das Ikonen-Lexikon fallen mir spontan bereits ein Dutzend deutscher LGBT*-Leute ein, die man hätte integrieren können.

Trotz dieses Mankos kann man Jugendlichen How to be gay als wegweisenden und hilfreichen Ratgeber an die Hand geben, den Eltern sei die Lektüre nicht minder empfohlen – denn man lernt auch als cisgender Hetero noch so Einiges dazu, sowohl über einen selbst, als auch über die Feinheiten, die für einen sensiblen und respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft einfach nötig sind.

James Dawson: How to be gay. Alles über Coming-out, Sex, Gender und Liebe, Übersetzung: Volker Oldenburg, Fischer TB, 2015, 304 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Im Strudel der Gefühle

danteAch, die Pubertät. Eine schwierige Zeit, alles verändert sich, der Körper vor allem, aber auch der Geist. Die Sicherheiten gehen verloren, die Richtung im Leben wird unklar. Alles gerät durcheinander. Von diesen Zuständen im Leben des 15-jährigen Aristoteles, genannt Ari, erzählt Benjamin Alire Saenz in seinem Roman Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums.

Ari trifft 1987 in El Paso, Texas, gleich an der Grenze zu Mexiko, Dante im Schwimmbad. Die Jungen könnten unterschiedlicher nicht sein: Ari ist introvertiert, verunsichert, hat keine Freunde. Er ist schwermütig, unter anderem, weil sein Vater nicht über seine Erlebnisse aus dem Vietnamkrieg berichtet. Zudem wird in der Familie nicht über Aris älteren Bruder gesprochen, der im Gefängnis sitzt.
Dante hingegen ist selbstsicher, liebt Poesie und Kunst, in seiner Familie gibt es keine Geheimnisse – und er weiß, dass er Jungs liebt. Nach und nach freunden sich die beiden an. Dante bringt Ari das Schwimmen bei, aber nicht nur das. Sie verbringen immer mehr Zeit miteinander, fahren in die Wüste und beobachten die Sterne, lesen Gedichte, diskutieren über ihre mexikanischen Wurzeln und ihr Leben in einer weißen Gesellschaft.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Aristoteles, und so stehen vor allem die Zweifel und Unsicherheiten des Heranwachsenden im Vordergrund. Lange, ganz lange kann und will er sich nicht eingestehen, dass er Dante liebt, zu außergewöhnlich ist das doch für einen Jungen, der aus einer katholischen Familie mit mexikanischen Wurzeln stammt. Aris Hadern, seine Wut, seine Suche, sein Übergang vom Kind zum Erwachsenen bekommt der Leser hautnah mit. Seine Gefühle werden quasi zu den Gefühlen des Lesers, so unmittelbar erzählt Saenz, in der lässigen deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit. Und gerade das macht diesen Roman für pubertierende Jungen interessant. Hier finden sie eine Identifikationsfigur, die ihnen zeigt, dass all dieses Gefühlschaos zum Erwachsenwerden dazugehört, dass es okay ist, nicht dem Mainstream anzugehören, dass es in Ordnung ist, sich von familiären und gesellschaftlichen Traditionen zu verabschieden.
Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund finden in Ari und Dante zwei Helden, die sich aus ihrem alten Kontext lösen und um der Liebe willen ihren eigenen Weg gehen.

Benjamin Alire Saenz: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums,  Übersetzung: Brigitte Jakobeit,  Thienemann Verlag, 2014, 384 Seiten,  ab 14, 16,99 Euro

Kampf um Emanzipation und Liebe

robin jenniferKonventionen sind eine zweischneidige Angelegenheit. Wir brauchen sie, damit die Gesellschaft und das alltägliche Miteinander funktioniert. Gleichzeitig können Konventionen zu einer Qual werden, wenn sie uns vorschreiben wollen, wie wir zu leben und zu lieben haben. Dass die gesellschaftlichen Konventionen sich wandeln, ist in so einem Fall ein Glück – nur geht das nicht von heute auf morgen. Gegen die Konvention, die vor hundert Jahren in Deutschland geherrscht haben, kämpfen die Mädchen Robin und Jennifer in dem gleichnamigen Roman von Elke Weigel.

Robin wächst als Halbwaise in Cannstadt auf, Jennifer lebt mit Mutter und Stiefvater in Paris. Beide Mädchen fühlen sich zu ihren jeweiligen Freundinnen hingezogen. Robin leidet dabei in dem eher kleinbürgerlichen Umfeld der väterlichen Apotheke mehr als Jennifer, da in dem reichen Haus ihrer Mutter Künstler und Andersdenkende der Pariser Bohéme ein und aus gehen.
Aus den beiden Perspektiven der Mädchen erzählt Weigel die jeweilige Emanzipation. Robin weigert sich schrittweise, die herrschenden Konventionen zu akzeptieren. So lehnt sie das Korsett ab, das ihr die Tante aufdrängen will, stattdessen entscheidet sie sich für Reformkleider und probiert die Herrenklamotten ihrer Brüder. Zudem setzt sie sich durch, dass sie zunächst auf ein Gymnasium, dann auf die Universität gehen kann. Mit Hauswirtschaft und Heiratsplänen hat Robin, im Gegensatz zu ihrer Freundin Paula, nichts am Hut. Als Robins Vater stirbt, zieht Robin zu einem Bruder auf den Monte Verità im Schweizer Tessin.
Jennifer hingegen muss miterleben, wie ihr Stiefvater die Mutter verprügelt und sich, als Jennifer älter wird, an sie heranmacht. Befreiung findet Jennifer im Tanz. Unterstützt von der Mutter lernt sie den so genannten Neuen Tanz. Auf der Flucht vor dem gewalttätigen Ehemann zieht es auch Jennifer und ihre Mutter in die Alternativkolonie.
Dort begegnen sich die nun schon erwachsenen Mädchen  …

Elke Weigel hat mit Robin & Jennifer einen Coming-of-age-Roman der besonderen Art vorgelegt. Eingebettet in die Zeit von 1900 bis 1913 zeigt sie sehr anschaulich, wie schwer es die Mädchen damals hatten, sich in einer patriarchalischen Gesellschaft zu behaupten, wenn sie zum einen mehr wollten als nur einen Ehemann und Kinder und zum anderen gleichgeschlechtlich liebten. Sowohl den Kampf gegen äußere Hindernisse – die lesbische Liebe wurde als krankhaft angesehen – als auch gegen die inneren Ängste – Robin ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Jennifer und der Gefahr, die durch den Paragrafen 175 damals Homosexuellen drohte – schildert Weigel fesselnd und mitfühlend.
Die Kulisse des Monte Verità und der alternativen Lebenswelt, die sich die Bewohner dort erschaffen hatten, illustriert zudem den historischen Hintergrund der Entstehung des Ausdruckstanzes, der auf seine Art zur Befreiung eines Menschen von quälenden Konventionen beitragen kann.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass Elke Weigel von den Anfängen der Frauenbewegung und der Emanzipation erzählt und das, ohne die Umstände zu verklären oder zu mystifizieren. Die Leserinnen bekommen einen hervorragenden Eindruck, wie mühsam es war, für das zu kämpfen, was uns heute selbstverständlich erscheint (von momentanen Gegenbewegungen möchte ich hier grad nicht reden…). Der Blick in die Vergangenheit weist dabei in mehrfacher Hinsicht in unsere Gegenwart, denn das Erkämpfte sollten wir uns um nichts in der Welt wieder nehmen lassen. Gleichzeitig macht die Geschichte von Robin & Jennifer deutlich, dass es nie einfach war, für sein persönliches Glück, seine Überzeugungen und seine Liebe zu kämpfen. Dabei befruchten sich persönlicher und öffentlicher Kampf immer auch gegenseitig und sind vermutlich ohne einander nicht denkbar. In diesem Sinne macht Weigels Roman Mut, sich in den Kampf zu stürzen.

Elke Weigel: Robin & Jennifer, Konkursbuchverlag, 2014, 347 Seiten, 10,90 Euro

 

Die Poesie der sexuellen Identitätsfindung

liebeDas Leben ist verwirrend. Umso mehr, wenn man nicht den angeblichen Standards der Gesellschaft entspricht. Das erfährt die 17-jährige Anna im Roman Über ein Mädchen. Geschrieben hat die zarte Coming-of-age-Geschichte die Australierin Joanne Horniman.

Anna arbeitet in einer Buchhandlung und verliebt sich bei einem Popkonzert in die Musikerin Flynn. Der Zufall will, dass sich die beiden Mädchen in einem Cafè wiedersehen. Vorsichtig nimmt Anna Kontakt auf – denn sie weiß schon seit ihrem sechsten Lebensjahr, dass sie Mädchen mag. Und Flynn ist genau der Typ Frau, der Anna fasziniert: Sie ist geheimnisvoll, frech, unberechenbar. Die Mädchen kreisen umeinander, Flynn kommt und geht, wie es ihr gefällt. Anna ist verunsichert, denn sie kann sich bei Flynn nicht sicher sein, ob sie wirklich bei ihr bleiben wird, während sie selbst immer mehr für die andere brennt und ohne sie nicht mehr sein kann.

Nach und nach erzählt Anna ihre Familiengeschichte – die Eltern sind geschieden, die kleine Schwester Molly ist lernbehindert, der Vater hat eine neue Freundin, in die sich Anna anfangs auf den ersten Blick verliebt hatte. Über allem hadert die Ich-Erzählerin mit ihrer „Andersartigkeit“. Sie wagt es nicht, sich der Mutter anzuvertrauen.
Stattdessen bekommt sie Depressionen, liest Finnigans Wake, trägt schwarz, überwirft sich mit ihrem besten Freund und fühlt sich völlig verloren. Sie schmeißt das Studium und zieht in eine andere Stadt – wo sie schließlich Flynn trifft und neue Zuversicht schöpft. Doch Flynn ist nicht nur das leidenschaftliche Mädchen mit der Gitarre, sondern auch sie hat ihre dunklen Seiten.

Auf den ersten Seiten von Über ein Mädchen dachte ich zunächst noch, das würde eine ganz normale Teenie-Liebesgeschichte, wenn auch mit gleichgeschlechtlichen Vorzeichen. Doch dann entwickelte der Roman so einen feinen Sog, dass ich das Buch nicht mehr weglegen konnte. Annas Verunsicherung und Einsamkeit gehen einem ans Herz, ihre Sehnsucht nach Nähe und der schönen, selbstbewussten Flynn nimmt man ihr sofort ab. Und man begreift, was für eine Gefühlsverwirrung diese Liebe auslöst, die nicht dem Mainstream entspricht. Doch genau das macht das allen Leserinnen, die noch auf der Suche nach ihrer sexuellen Veranlagung sind, Hoffnung und Mut.

Über ein Mädchen ist ein leiser, poetischer Roman, sehr feinfühlig von Brigitte Jakobeit übersetzt. Dabei handelt der Roman weniger von einem Coming-out als viel mehr von einem Coming-of-age, bei dem sich die jugendliche Verwirrung der Protagonistin sich auch am Ende nicht legt, denn ihr Weg in die Zukunft eröffnet sich gerade erst. Anna lernt die Liebe kennen, erfährt aber auch, dass Abschied und Tod genauso zum Leben dazu gehören wie Leidenschaft. Dass sich Anna in ein Mädchen verliebt bzw. lesbisch ist, ist hier zunächst einmal eine ganz persönliche Lebensvariante, die in der Gesellschaft durchaus akzeptiert wird. Joanne Horniman moralisiert in keiner Zeile, sondern zeigt die homosexuelle Liebe als gleichberechtige, selbstverständliche Art von Zuneigung und Miteinander. So wird dieses Buch zu einem gelungenen Beispiel, wie man zu sich selbst und seiner sexuellen Identität findet.

Joanne Horniman: Über ein Mädchen, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carlsen Verlag, 2013, 224 Seiten, ab 14, 15,90 Euro

Pflicht der Erinnerung

rosa winkelEigentlich hatte ich die Graphic Novel Rosa Winkel als leuchtendes Beispiel für gelungene Geschichtsaufarbeitung vorstellen wollen. Doch nachdem dieser Tage in St. Petersburg zwei Homosexuelle festgenommen wurden, weil sie sich offen zu ihrer sexuellen Neigung bekannt haben, hat die folgende Geschichte an trauriger Aktualität gewonnen.

Comic-Autor Michel Dufranne erzählt zusammen mit Comic-Zeichner Milorad Vicanovic und Kolorator Christian Lerolle die Geschichte des schwulen Andreas, der Anfang der 1930er Jahre in Berlin lebt. Er arbeitet als Werbezeichner, feiert, genießt das Leben, hat ein Verhältnis mit einem SA-Mann und sieht dem Aufstieg der Nazis eher gelassen entgegen. Anders seine Freunde, die durchaus den Umschwung gegenüber Homosexuellen spüren und vor Repressalien warnen.

So dauert es auch nicht lange, bis Andreas denunziert wird, Drohbriefe erhält, seinen Job verliert und eingeknastet wird. Die Behörden machen ihm das „Angebot“, sich kastrieren zu lassen. Andreas geht nicht darauf ein und erträgt viel mehr die Demütigungen und die Gewalt der Zellengenossen und Polizisten.

Als er nach vierzehn Monaten entlassen wird und glaubt, alles überstanden zu haben, steht plötzlich die Gestapo vor seiner Tür. Der Schrecken geht weiter und findet seine Steigerung im KZ Sachsenhausen, in das Andreas gebracht wird. Auch das übersteht er, jedoch als gebrochener Mann. Nach dem Krieg hofft er auf Anerkennung als Opfer der Nazi-Verfolgung, doch er muss feststellen, dass eine Inhaftierung aufgrund des Paragraphen 175 nicht als entschädigungswürdig angesehen wird. Denn die Entschädigung sei „für die echten Opfer vorgesehen“. Eine Feststellung die eigentlich schlimmer und verletzender ist, als die erlittenen Schmerzen vorher, und bei der man als Leser selbst heftig schlucken muss.

Auch im Nachkriegsdeutschland findet Andreas keine Ruhe und muss sich in eine Scheinehe mit einer lesbischen Freundin flüchten, um unbeschadet leben zu können. Die neugegründete Bundesrepublik behält 1949 den Paragraphen 175 immer noch bei. Das ist zuviel für Andreas und seine Frau. Sie gehen nach Frankreich.

Dem französisch-bosnischen Comic-Trio ist hier eine eindrucksvolle und zutiefst berührende Geschichte über die Verfolgung von Homosexuellen in der Nazizeit gelungen. Eingebettet in eine Rahmengeschichte der Gegenwart, sind die Kapitel schon durch ihre unterschiedliche Koloration eindeutig markiert: Das bunte Heute, wechselt zur sepiagehaltenen Schilderung der „Braunen Jahre“, um schließlich in den „Schwarzen Jahren“ zum ultimativ bedrückenden Schwarzweiß zu werden.

Ein kurzer Abriss zur Geschichte des Paragraphen 175 und der Diskriminierung Homosexueller klärt am Ende darüber auf, dass dieser schändliche Paragraph erst 1994 im wiedervereinten Deutschland endgültig abgeschafft wurde.

Rosa Winkel ist eine bewegende Erinnerung an das Unrecht, das Schwulen und Lesben angetan wurde, und eine Mahnung, so etwas nicht zu vergessen und vor allem nie wieder zu dulden. Auch nicht in Russland.

Michel Dufranne/Milorad Vicanovic: Rosa Winkel, Koloration: Christian Lerolle, Übersetzung: Edmund Jacoby, Jacoby & Stuart, 2012, 144 Seiten, 18 Euro