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Vom Tragen des Leids

Nils

Heute, am Gratis-Comic-Tag hätte ich mir einen Haufen Heftchen holen können, die mir Einblick in die neuesten Comics auf dem Markt liefern würden. Hab ich aber nicht. Ich hatte viel mehr das Bedürfnis die Graphic Novel, Nils der Illustratorin Melanie Garanin zu lesen – obwohl ich um das schwere und bedrückende Thema dieser Geschichte wusste.

Melanie Garanin erzählt darin von ihrem Sohn Nils, der mit nicht einmal vier Jahren stirbt. Sie findet für dieses Unfassbare berührende, teils poetische Bilder aus klarem Strich und perfekt akzentuierten Aquarellfarben, die tatsächlich so mühelos erscheinen, wie es sich Garanin in ihrem Interview (s. unten) wünscht. Diese visuelle Mühelosigkeit und Leichtigkeit steht jedoch im Gegensatz zu der Schwere des Inhalts. Nils, der unerschrockene Ritter mit dem Laserschwert, erkrankt mit zwei Jahren an Leukämie. Die Familie – aus Eltern Melanie und Georg, sowie die drei Geschwister Artur, Greta und Julius – bangt um den Jüngsten. Mal scheinen die Prognosen gut, mal machen die Ärzte Hoffnung, mal verschlimmert sich Nils‘ Zustand, rein ins Krankenhaus, wieder raus. Ein fürchterliches Hin und Her, das per se schon kaum ein Mensch ertragen könnte. Irgendwann bekommt Nils Bauchschmerzen, deren Ursachen jedoch nicht festgestellt werden können. Er stirbt schließlich an einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung, etwas das mit der richtigen Behandlung wohl hätte geheilt werden können. Doch »hätte«-Sätze sind in dieser Geschichte nicht erwünscht.

Empathielose Ärzteschaft

Dieses an sich schon Unerträgliche wird jedoch durch das Verhalten der Ärzteschaft noch gesteigert. Oberflächlich betrachtet wird sich um den Jungen gekümmert, sein »Fall« ist interessant, er soll Teil einer Studie werden. Die Behandlung wird durch die Studie bestimmt. Die Bedenken der Eltern räumen die Behandelnden aus dem Weg, besser gesagt, sie beachten sie eigentlich nicht, sondern reden darüber hinweg, hören nicht zu. Garanin markiert den Fachsprech der Ärzte und Ärztinnen in serifenloser, steriler Druckschrift, während sie selbst die Geschichte in einer fast krakeligen Schreibschrift erzählt. Diese Druckschriftblöcke mit dem unverständlichen Fachvokabular wirken wie undurchdringliche Mauern, hinter denen sich die Behandelnden verrammeln, nur um sich nicht auf eine menschliche Kommunikationsebene zu begeben. Niemand gibt zu, irgendeinen Fehler gemacht oder gar nachlässig gehandelt zu haben.
Garanin bedient sich bei diesen Dialogen einem fantastischen (im Sinne des Wortes) Erzähltrick, indem sie ihrer Schreibtischlampe Leben einhaucht und sie zur »Mitarbeiterin«, die die Behandlenden verhört. Mit aller Wut und berechtigter Penetranz befragt die Lampe Frau Doktor Königin Antibiotika-Aber, ohne dass es ihr gelingt, deren Schutzwall aus Fachsprech zu durchdringen. Es hat was liebevoll humoristisches, wie die Mitarbeiterin den »Hals« verdreht und nur durch winzige Striche an den Augen, die Mimik ändert – wenn es nur nicht so erschütternd wäre.
Denn hier zeigt sich neben all der Trauer, die die Familie durchmacht, die Wut, die so überaus berechtigte Wut auf ein System, das versagt hat, weil sich dort – immer noch! – Behandelnde für etwas Besseres, Reineres, Weißgöttisches, Wissenderes halten. Sie sind von besorgten Eltern abgenervt, verstecken sich hinter einer unverständlichen Sprache, lassen keine Gefühle und kein Mitgefühl zu, weil ihre Karriere, ihr Ruf und ihr Status auf dem Spiel stehen. Es wäre wohlfeil zu sagen, auch Mediziner sind Menschen, die Fehler machen, die unter Druck stehen. Natürlich. Doch wenn so etwas wie mit Nils versteht, sollte es selbstverständlich sein, Mitgefühl zu zeigen. Als Leserin blättere ich fassungslos weiter, hoffe auf irgendein winziges Zeichen irgendeiner Menschlichkeit. Doch nichts.

Bewundernswerte Stärke

Umso mehr bewundere ich die Stärke von Mutter Melanie und ihrer Familie, die sich nicht einfach in ihr Schicksal ergeben, wozu sie alles Recht hätten, denn das Weiterleben nach so einem Schlag ist anstrengend genug. Die Eltern kämpfen viel mehr für Aufklärung, wollen, dass die Behandelnden für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen werden, ihre Fehler zugeben oder sich – zumindest – entschuldigen. Unnötig zu sagen, dass sie gegen Druckbuchstabenwände rennen, durch die kein menschliches Wort dringt.
Die Schreibschrift-Krakel-Erzählung hingegen ist durchzogen von allen menschlichen Regungen, inklusive einer leichten Ironie und einer guten Portion Humor. Denn »Humor ist in der Trauer sehr wichtig«, wie Garanin im Interview sagt. Und nur so scheint das alles in einem gewissen Maße ertragbar zu sein. Was jedoch nicht verhindert hat, dass mein Exemplar ein paar Tränen abbekommen hat, die sich in den Aquarellfarben auflösten.

Von Gänsen und Kämpferinnen

Im vierten und letzten Kapitel kämpft eine – imaginäre – Ritterschar für den kleinen Ritter Nils, für große, allumfassende Gerechtigkeit, darum, dass wenigstens einige um Verzeihung bitten. Am Anfang und am Ende fliegen Gänse. Eine von ihnen markiert jedes Kapitel, sie trägt ein Laserschwert und erinnert mich sehr stark an Wolf Erlbruchs Ente aus Ente, Tod und Tulpe – was ich als wunderschöne Hommage empfinde. Sie wandelt sich immer mehr in eine Kämpferin, so wie sich Garanin in eine Kämpferin verwandelt hat. Durch ihre Graphic Novel, an der sie dreieinhalb Jahre gearbeitet hat (wenn ich das recht sehe, entspricht das ungefähr den Lebensjahren von Nils und diese Koinzidenz treibt mir schon wieder die Tränen …), hat sie Nils auf ihre ganz eigene, sehr persönliche Art unsterblich gemacht.
Andere Eltern, die ähnlich Schlimmes erleben müssen, werden hier vielleicht ihr eigenes Gefühlschaos wiederfinden und somit auch ein Quäntchen Trost. Falls es so etwas in diesen Fällen überhaupt geben kann.
Alle anderen dürften sich ihres Glücks bewusst(er) werden und den hohen Wert des Mitgefühls erkennen. Hoffentlich.

Melanie Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut, Carlsen, 2020, 200 Seiten, ab 16, 22 Euro

Im Hier und Jetzt

wilkeWelches Kind liest ein Buch über ein dickes Mädchen, einen Jungen mit Down-Syndrom und einen mit bunten Haaren, der ein Versprechen an seinen verstorbenen Opa halten will?
Hoffentlich ganz viele!

Jutta Wilkes Stechmückensommer ist so bittersüß, wie es der Titel bereits ahnen lässt. Eine Sommergeschichte, in schönster schwedischer Wald- und Seenlandschaft – jedoch voller quälender Mücken.
Die fast 14-jährige Ich-Erzählerin Madeleine, von allen nur Made genannt, berichtet als extrem gut beobachtende Zeitgenossin von ihren Sommerferien, die sie in einem Ferienlager – ohne die Eltern – verbringen soll. Die Eltern brauchen Zeit für sich, nachdem das zweite Kind tot geboren wurde. Madeleine selbst kann mit diesem toten Bruder, der nie gelebt hat, eigentlich auch nicht umgehen, doch hat sie niemandem, mit dem sie darüber reden kann. Sie fühlt sich unsichtbar, versteckt ihren dicken Körper unter Zeltkleidern und versucht, nur nicht aufzufallen.

Als sie sich auf einem Ausflug in ein Bergwerk früher in den Bus zurückzieht, lernt sie Julian kennen. Dieser klaut den Bus und will damit zum Nordkap, weil er es seinem kürzlich verstorbenen Großvater versprochen hat. Dass dieser Road-Trip zu einem ganz anderen Ziel führt, wird spätestens dann klar, als sich zu diesen beiden unfreiwilligen Reisegenossen auch noch der 16-jährige Vincent gesellt. Der trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Keep calm! It’s only an extra Chromosome“. Seine Eltern scheinen jedoch nicht so cool mit dem Extra-Chromosom umzugehen, verbringen sie doch nur die Ferien mit dem Sohn und schieben ihn die restliche Zeit des Jahres in ein Heim ab.

Mit anderen Worten: Hier treffen drei Jugendliche aufeinander, die alle ihr unbequemes Päckchen zu tragen haben. Als Leser möchte man sie alle drei drücken und trösten – und die Erwachsenen sonst wohin wünschen. Die drei selbst jedoch haben erst einmal keine Zeit fürs Trösten. Das Leben ist nämlich kein Ponyhof, und auch Bullerbü ist in Schweden nur noch schwer zu finden. So raufen sie sich mühsam zusammen. Madeleine kämpft gegen ihre Unsicherheit, Vincent führt allen vor Augen, dass er zwar das Down-Syndrom hat, aber eben kein Idiot ist, und Julian muss schmerzlich von seinem Vorhaben absehen, das Nordkap zu erreichen, und seine persönliche Schwäche eingestehen.

Die Erwachsenen spielen zum Glück keine Rolle bei dem Abenteuer dieses Trios, das zwischen Bäumen, Seen und festgefahrenem Auto sein Coming-of-Age erlebt und eine Ahnung davon bekommt, was im Leben wirklich wichtig ist – trotz all der traurigen Facetten, die das Leben prägen.

Sehr unaufgeregt entwickelt Jutta Wilke diese Geschichte, zeigt mit wunderbarer Leichtigkeit, dass Down-Menschen zu unserer Gesellschaft dazugehören – ohne dass sie mahnend den Inklusions-Zeigefinger hebt. Sie lässt Madeleine erkennen, dass auch sie trotz Übergewicht glücklich sein kann und sich eben nicht verstecken braucht. Und auch für Julian, der hinter all seiner Trauer noch ein weiteres Problem verbirgt, gibt es Hoffnung.

Überhaupt: Hoffnung und die Erkenntnis, dass der wichtigste Moment immer das Hier und Jetzt ist, das lässt einen beglückt zurück – und liefert jungen Leser_innen jede Menge Stoff zum Überdenken eigener Vorurteile, zur Diskussion, wie weit man gehen darf, und wie man sein Leben schließlich selbst besser gestaltet. Und wie wichtig richtig gute Freunde sind.

Jutta Wilke: Stechmückensommer, Knesebeck, 2018, 208 Seiten, ab 10, 15 Euro

Auf den Hund gekommen

Der denkbare schlechteste Start in der neuen Klasse: Die 13-jährige Parker lässt sich hinreißen, bellt aus Spaß bei der Kennenlernrunde„Jingle Bells“ – und bekommt prompt den Spitznamen „Barker“ verpasst. Sven, der schlechte Witze auf ihre Kosten macht, um cool zu wirken, gibt selbst plötzlich merkwürdige Geistergeräusche von sich. Und muss allen sagen, dass er Epilepsie hat. Zwei Freaks knallen aufeinander.

In der Nacht begegnen sie sich erneut und sind ganz anders: Parker ist keine Witzfigur, sondern eine faszinierende Einbrecherin. Eine, die das Vertrauen in die Menschen verloren hat und sich nach einem bestimmten Lebewesen sehnt. Und Sven kann mir ihr reden, über seine Krankheit, die vor einem Jahr plötzlich begann und seitdem sein Leben bestimmt. Über seine Angst vor dem nächsten Anfall. Über seine Hilflosigkeit. Zwei verletzte Seelen nähern sich behutsam einander.

Die Verbindung zwischen Parker und Sven, zwischen ihren knalligen Images tagsüber und ihren sensiblen Nachtseiten, ist ein Hund. Genauer gesagt: Jene titelgebende Alaska, eine schneeweiße Golden-Retriever-Hündin. Jenes geliebte Wesen, von dem Parker sich vor vier Monaten trennen musste, weil einer ihrer kleinen Brüder allergisch reagierte. Und die jetzt als sogenannter Assistenzhund bei Sven lebt, von ihm „das Tier“ und „haariges Monster“ genannt, weil ihre Anwesenheit ihn ständig an seine Krankheit erinnert.
„Und da musste der Hund weg?“, fragt Sven seine nächtliche Besucherin.
„Oder Joey“, sagte sie. „Aber meine Eltern wollten ihn behalten. Also musste Alaska weg.“ Und riss ein hundeförmiges Loch in das Herz des Mädchens, dessen Leben ein paar Wochen später erschüttert wird durch einen Raubüberfall auf das Fotogeschäft ihrer Eltern. Parker muss, versteckt hinter einem Vorhang, ohnmächtig miterleben, wie ihre Mutter geschlagen und ihr Vater niedergeschossen wird. Weil die Täter entkommen, ist die Angst seitdem auch ihr ständiger Begleiter.

Ausgedacht hat sich diese vielschichtigen Charaktere die niederländische Autorin Anna Woltz in ihrem nun vierten Roman. In einem Alter, in dem man ohnehin unsicher ist, auf der Suche nach einem Sinn und sich selbst, wenn ein banaler Pickel einen schon aus der Bahn wirft, kann eine unkontrollierbare, beherrschende Krankheit, die einen mit dem Kopf auf den Boden knallen und „sabbernd und mit Gehirnerschütterung“ aufwachen lässt, einem komplett den Boden unter den Füßen wegreißen. Ebenso der Verlust eines geliebten Tieres.

Woltz lässt Sven und Parker aus wechselnder Perspektive erzählen und entspinnt grandiose Dialoge zwischen ihnen. Verständlich, dass Woltz die Lieblingsautorin der Übersetzerin Andrea Kluitmann ist, die erfrischend und glaubwürdig aus dem Niederländischem übersetzt. Mal komisch, mit trockenem Humor und Selbstironie, mal behutsam, dann wieder von entwaffnender Direktheit: „Das will jeder. Etwas Großartiges machen, damit die ganze Schule sofort weiß, wer man ist. Aber klappt das auch? Natürlich nicht! Das liegt wirklich nicht an deiner Epilepsie“, flüstert Parker. „Was hast du erwartet? Dass du Harry Potter bist? Dass man schon seit Jahren auf dich gewartet hat? Dass du die ganze Welt rettest?“

Später blafft Sven Parker an: „Sieh dich um Barker. Alle haben Angst. Oder sie haben nur mal kurz keine Angst – das ist so ziemlich dasselbe. Alle wissen, dass die Welt verdorben ist. Aber warum darfst du mehr Angst haben als alle anderen? Warum darfst du ständig darüber jammern und wir müssen einfach weitermachen mit dem Leben?“

Das erinnert an eine grandiose Szene aus Ally McBeal, in der die Titelheldin gefragt wird, warum eigentlich ihre Probleme immer so wichtig seien. Und Ally antwortet: „Weil es MEINE Probleme sind!“ Wie Sven und Parker nicht nur mit ihrem eigenen Leben weitermachen, wie sie beide über ihren Schatten und dem anderen zur Seite springen, und schließlich mit großem Mut für den anderen da sind – das ist die packende und zum Hinschmelzen schöne Geschichte von Freundschaft und größter Zuneigung.

Zuletzt noch eine kleine Mäkelei: So hübsch die Hündin als treues Bindeglied auch ist, wirkt sie doch etwas zu gut, um wahr zu sein. Kein Zweifel, dass manche Tiere einen sich anbahnenden epileptischen Anfall spüren und rechtzeitig vor dem Fallen warnen können. Aber dass ein Hund wirklich nur aus Wohlgeruch, Wärme und Verantwortungsbewusstsein besteht, sodass auch Sven schließlich vom haarigen Monster ganz hin und weg ist, erscheint doch etwas zu viel des Guten. Trotz Wunderhund ist es aber wieder ein wunderbarer Roman.

Anna Woltz: Für immer Alaska, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 2018, 176 Seiten, ab 10, 12 Euro

Von der Leidenschaft

vincentVor ein paar Wochen war der niederländische Maler Vincent Van Gogh den Medien kurz mal wieder eine Schlagzeile wert. Experten streiten sich seit Jahren um ein Skizzenbuch, das nun für die breite Öffentlichkeit herausgegeben wurde. Solange die sich Experten nicht einig sind, finde ich so ein Unterfangen ja immer etwas dubios. Das riecht mir zu sehr nach Geldmacherei mit einem großen Namen.
Aber mögen sich die Experten doch ruhig noch weiter darum streiten, wer sich wirklich für Vincent Van Gogh interessiert und seine Leidenschaft mit Kindern teilen möchte, der ist mit der Graphic Novel Vincent von Barbara Stok, in der feinen Übersetzung von Andrea Kluitmann, sowieso besser beraten.

In satten, fröhlichen Farben, umrandet von dickem schwarzen Strich zeichnet die niederländische Künstlerin das Bild eines Kunstbesessenen. Vincent bricht von Paris nach Südfrankreich auf, um sich dort zu erholen. Licht, Luft und Landschaft der Provence tun ihm gut, er malt wie verrückt, sucht nach der Seele seiner Themen, will sie einfangen. In Paris ist er mit seinen oft radikalen Ansichten mit anderen Kollegen aneinandergeraten, seinen gutmütigen Bruder hat er ständig zur Weißglut getrieben. Dennoch unterstützt dieser ihn treu, verkauft seine Bilder und schickt jede Woche 50 Francs, von denen Vincent lebt.

Van Gogh träumt davon eine Künstlervereinigung zu gründen, wo gemeinsam der Lebensunterhalt verdient wird. Doch bis es soweit ist, malt Vincent, entdeckt die Schönheit einer Landschaft, die andere öde finden, erfreut sich am Sternenhimmel, an weiten, endlosen Feldern. Er mietet schließlich ein Haus, das sein Künstlerhaus werden soll. Er lädt Gauguin ein, doch sein Traum soll ein Traum bleiben.
Er malt weiter, Bild um Bild, rechnet nach, wie viel Geld er seinem Bruder schuldet, fühlt sich als Nichtsnutz, weil er nichts verkauft. Doch er hat keineswegs die Absicht seinen Stil den Wünschen der Käufer anzupassen, um mehr Bilder umzusetzen. Er will Charakter und Gefühl festhalten, sich treu bleiben. Seiner Gesundheit bekommt all dies nicht. Vincent steigert sich immer weiter in seinen Arbeitswahn, kann nicht mehr abschalten, was Gauguin schließlich wieder vertreibt. Vincent dreht durch, schneidet sich das Ohr ab und landet in einer „Anstalt“. Nur das Malen verschafft ihm Erleichterung.

Stok erzählt nur einen kleinen Teil aus Vincent Van Goghs kurzem Leben, doch der ist so angefüllt mit Leidenschaft, Kreativität und Umtriebigkeit, dass es für drei gereicht hätte. Sie zeigt die Zerrissenheit eines Künstlers, der wahre Kunst schaffen und dafür gerecht entlohnt werden will. Seinem Bruder auf der Tasche zu liegen, behagt Vincent gar nicht. Und doch kann er ohne Kunst nicht. Vincent brennt dafür und zwar so, dass er bereits mit 37 Jahren stirbt, ein Alter, in dem heute manche erst anfangen.

Als Leser erfährt man in den knallbunten Bildern, die das Leben, die Natur und die Kunst feiern, den Kern von Vincent van Goghs Denken, seine Haltung gegenüber Massengeschmack und Kommerz, man ist gerührt von der bedingungslosen Bruderliebe, und nach und nach finden sich die Werke Vincents in den Panels wieder. Die Sonnenblumen, die Bauern auf dem Feld, der Sternenhimmel, der Postbote. Bilder, die wir Erwachsenen schon seit gefühlten Ewigkeiten kennen. Jungen Lesern werden sie hier in ihrem Entstehungskontext angedeutet, so dass die Kids, sollten sie später einmal in einem Museum vor einem echten Van Gogh stehen, wissen, wie es zu diesem Bild kam.

Eine schönere Annäherung an einen genialen Künstler, seine Kunst und die mit ihr verbundenen Leidenschaft, die ein Leben gegen alle Widrigkeiten bis zum Schluss prägt, kann ich mir kaum vorstellen. Sie bringt uns Van Gogh nahe, aber erinnert jeden großen und kleinen Leser daran, dass es sich immer lohnt, etwas mit bedingungsloser Leidenschaft zu tun.

Barbara Stok: Vincent, Übersetzung: Andrea Kluitmann, E.A. Seemann Bilderbande, 2016, 144 Seiten, ab 10, 19,95 Euro

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[Jugendrezension] Pirateske Schatzsuche

61dHKVlRYXL._SX324_BO1,204,203,200_Was würde man machen, wenn auf dem Supermarktparkplatz plötzlich ein riesiges Piratenschiff auftaucht? Vor diese Frage wird das Mädchen Marill im Buch Die Weltensegler – Die phantastische Suche nach der Überallkarte von Carrie Ryan und John Parke Davis gestellt. Auf den insgesamt 476 Seiten wird die Frage gelöst, aber alles ist noch viel komplizierter, als es am Anfang erscheint.

Als Marill das Schiff entdeckt hat, fragt ein Mann sie viele Dinge, von denen sie nichts weiß. Als sie erfährt, dass es sich um Magier handelt, die Menschen heilen können, klettert sie an Bord, da ihre Mutter krank ist. Jedoch war das Schiff schon wieder im Aufbruch, und plötzlich befindet sie sich in einer anderen Welt, die ziemlich verwirrend ist. Um wieder nach Hause zu kommen, braucht Marill die Überallkarte.

Kurz zur Erläuterung, da diese Parallelwelt sehr kompliziert aufgebaut ist, und sehr vereinfacht gesagt: Es gibt den Großen Strom, an oder in dem alle Dinge dieser Welt liegen. Um als Mensch wieder zurück in die Menschenwelt zu kommen, benötigt man die Überallkarte. Diese besteht aus einer Windrose, einer Karte, einem Band usw.

Zum Glück hat Marill durch die Piraten Helfer, die mit ihr nach der Karte suchen. Und Fin, ein Meisterdieb aus Charrot Quay, einem sehr, sehr verrückten Ort, wo einige Menschen fliegen können, schließt sich auch noch an. Zuerst suchen Marill & Co. nach der Windrose und begeben sich damit auf eine Reise, die bis ins tiefste Eis führt. Doch sie sind nicht die Einzigen …

Ich fand das Buch sehr schön, obwohl ich eher selten derartige Geschichten aus dem Fantasybereich lese. Es gibt aber einen großen Kritikpunkt: Das Buch ist viel zu kompliziert. Man braucht sehr lange, bis man die Welt von Fin und den Piraten versteht. Trotzdem kann ich das Buch vor allem für schnell denkende Menschen durchaus weiterempfehlen.

Ich halte das Buch für Leser ab 10 oder 11 Jahren geeignet. Für Jüngere ist es einfach zu verworren und zu aufregend, vielleicht sogar zu gruselig.

Lector03 (12)

Carrie Ryan/John Parke Davis: Die Weltensegler – Die phantastische Suche nach der Überallkarte, Übersetzung: Wolfram Ströle, Fischer Sauerländer, 2015, ab 10, 480 Seiten, 14,99 Euro

Der hellsichtige Meister

terzaniVor Jahren, als ich noch ziemlich neu im Übersetzer-Geschäft war, schlug mir meine italienische Freundin M. vor, doch die Bücher von Tiziano Terzani zu übersetzen. Ich hatte keine Ahnung, wer der Mann war, stellte aber ganz schnell fest, dass seine Bücher bereits alle übersetzt waren. Terzani verschwand wieder aus meinem Bewusstsein, hatte ich doch anderes zu tun – und diese Journalistengröße Terzani war damals eh eine Nummer zu groß für mich.
Aber wie es im Leben so ist, man begegnet sich irgendwie doch immer zweimal, und so bekam ich in diesem Sommer die Anfrage, ob ich die Tagebücher von Tiziano Terzani lektorieren könnte.

Trotz der sportlichen Vorgabe mehr als 700 Manuskriptseiten in zwei Monaten zu bearbeiten, habe ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen. Und einen so intensiven Sommer der gedanklichen Reise in Raum und Zeit erlebt, wie noch nie zuvor.

Terzanis Aufzeichnungen setzen 1981 ein, als er gerade für den SPIEGEL ein Büro in Peking eröffnet hat. Auf diesen Seiten offenbart er seine Betrachtungen, die nicht in seine bereits veröffentlichten Büchern eingeflossen sind. Kürzere und längere Einträge wechseln sich ab, nicht jeden Tag schreibt TT – wie er später die Briefe an seine Frau Angela signiert –, doch als Leser taucht man fast augenblicklich in seinen Kosmos und seine Zeit ein. Man erlebt seine Ausweisung aus China, sein Unbehagen in Japan, seine Kritik an Konsum und Anpassung, sein unermüdliches Streben im Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Mehr und mehr hadert Terzani jedoch mit der Welt, dem raschen Wandel, der Globalisierung, der Gleichgültigkeit. Er möchte sich zurückziehen, als Namenloser irgendwo unerkannt leben. Immer wieder jedoch schimmert der eitle Journalist durch, der sein Business genau kennt, nach Aufmerksamkeit heischt und gleichzeitig abgestoßen ist von der Oberflächlichkeit dieser Medienwelt.

Terzani ist ständig unterwegs. Hongkong, Bangkok, Ban Phe in Thailand, dazwischen immer wieder nach Hause, nach Florenz und Orsigna zur Familie, dann schnell wieder zurück nach Asien, nach Islamabad, Neu Dehli oder Dharamsala. Er schreibt, er hadert und zieht sich in den Himalaja zurück, meditiert, versucht, dem weltlichen Leben zu entsagen, nicht immer mit Erfolg. Die Ereignisse vom September 2001 holen ihn vom Berg zurück. Obwohl er da schon an Krebs erkrankt ist, wirft er sich noch mal mitten ins Weltgeschehen, beobachtet die Vorgänge in Pakistan. Unzählige Geschichten erzählt er, sehr persönlich, sehr offen. Jede Zeile zeugt von seiner unbändigen Lebenslust und Lebenssucht. Terzanis Aufzeichnungen enden im April 2003, im Juli 2004 erliegt er seinem Leiden. Für alle Kenner von Terzanis Werken sind diese Tagebücher quasi der Blick hinter die Kulissen, der Blick auf den Journalisten Terzani, den Ehemann, den Vater, den Reisenden, den Krebspatienten, den Weisen, den Namenlosen.

Ich hatte vor diesem Auftrag noch nie viel mit Tagebüchern zu tun gehabt oder viele gelesen. Doch hier hat sich mir die ganze Faszination dieses Genres erschlossen. Das ist mehreren Faktoren zu verdanken: der schillernden Persönlichkeit von Terzani, seinem extrem umtriebigem Leben, seiner klaren Sprache, seiner kurzweilige Erzählart, seiner Widersprüchlichkeit, aber auch seiner Hellsichtigkeit, mit der er gesellschaftliche Zustände vorausgesehen und beurteilt hat, mit denen wir heutzutage kämpfen. Seine Sicht auf unseren heutigen Irrsinn hätte mich brennend interessiert. Ein wenig ahnt man, was er davon gehalten hätte. Ich habe es während des Lektorierens bedauert, seine Reportagen nicht schon zu seinen Lebzeiten gelesen zu haben, und habe mir vorgenommen, die Lektüre seiner anderen Bücher, so schnell es geht, nachzuholen.

Auch die Arbeit an diesem Text an sich war auf den unterschiedlichsten Ebenen ein Vergnügen. Zur inhaltlichen Bereicherung kam die vorzügliche Übersetzung von Barbara Kleiner, die mir das Lektorieren sehr erleichtert hat. Eine wertvolle Erfahrung war für mich darüber hinaus, dass ich auch den Auftrag hatte, den Anmerkungsapparat für die deutschen Leser anzupassen. Da ich dabei  quasi freie Hand hatte, konnte ich für die Anmerkungen etliche Punkte neu recherchieren und erweitern und so noch ein Quentchen mehr zu dem Buch beitragen.

Wenn mich TT jetzt also vom Buchcover mit diesem irgendwie verschmitzt-weisen und selbstbewussten Blick anschaut, freue ich mich noch einmal extra, dass ich diesen Sommer auf eine ganz eigene Weise mit dem Mann verbracht habe, den mir vor so vielen Jahren M. aus Florenz ans Herz gelegt hat.

Tiziano Terzani: Spiel mit dem Schicksal. Tagebücher eines außergewöhnlichen Lebens, Übersetzung: Barbara Kleiner, DVA, 2015, 576 Seiten, 22,99 Euro

Kinderarmut existiert … nicht?

ajumVergangene Woche war ich als Referentin auf die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (AJuM) eingeladen. Hinter dem etwas sperrigen Namen stehen 500 Lehrer_innen und Pädagog_innen, die als Ehrenamtliche die Kinder- und Jugendbuchliteratur des Landes lesen und rezensieren. Dies macht die AJuM bereits seit über 100 Jahren, doch seit 2003 gibt es die Rezensionen auch im Internet auf der Seite ajum.de zu lesen. Hier prüfen die Rezensent_innen die Publikationen vor allem auf den pädagogischen Nutzen und die Einsatzmöglichkeiten im Unterricht. Im Archiv der AJuM kann man auf mehr als sagenhafte 50.000 Rezensionen zugreifen, mit ganz differenzierten Meinungen.

Ich war gebeten worden, in der evangelischen Akademie in Loccum über meine Arbeit als Buchbloggerin zu erzählen. So traf ich mit zwei Dutzend überaus interessierten Pädagog_innen, aktiven und bereits pensionierten, zusammen und diskutierte zwei Tage lang mit ihnen über Bücher, missratene Klappentexte, Kinderarmut als literarisches Thema, die Verlagswelt im Allgmeinen und wie gute Rezensionen auszusehen haben.
Da ich das Rezensieren auch nur durch learning-by-doing und journalistisches Ausprobieren gelernt habe, war ich dankbar, einmal über die Kategorien eines solchen Textes nachdenken zu können. Hier auf dem Blog unterliege ich zwar nicht den Vorgaben und Zwängen, an die sich die AJuM-Rezensenten halten müssen, doch gibt es Punkte, die auch für mich gelten: Eine Rezension ist mehr als eine Inhaltsangabe, sollte gut lesbar und nicht zu lang sein, das Ende der rezensierten Geschichte darf natürlich nicht gespoilert werden, Erzählperspektive, Sprache, Stil sollten erläutert, die Besonderheiten daran aufgezeigt und eventuell mit einem aussagekräftigen Zitat belegt werden, Worthülsen sollte man vermeiden und sie stattdessen mit Inhalt füllen (beispielsweise sagt das Wort „emotional“ nicht besonders viel, fragt sich der Leser einer Rezension dann vermutlich, ob man denn nun weint oder lacht …). Die Buchausstattung, die Illustrationen oder die Recherche-Arbeit der/s Autor_in sollten ebenfalls gewürdigt werden.
Das hört sich für Viel-Rezensenten möglicherweise völlig selbstverständlich ist, doch alle in der Runde waren dankbar für solche Handreichungen, da das tägliche Schreiben oftmals so automatisiert – oder unter Stress – abläuft, dass wichtige Aspekte manchmal einfach untergehen. Das passiert jedem.

ajumPraktische Anwendung fand dieser Kriterien-Katalog dann an zwei Büchern, die im Vorfeld als Lektüre aufgegeben worden waren. Thema dieser Tagung war die Kinderarmut in Deutschland, flankiert wurde dies durch einem umfang- und aufschlussreichen Vortrag von Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Uni Stendal, und einer Lesung von Dirk Reinhardt aus seinem aktuellen Roman Train Kids.
Bei den beiden Büchern für den Rezensions-Workshop handelte es sich um Dave Cousins 15 kopflose Tage, in der Übersetzung von Anne Brauner, und Donna Gepharts Tod durch Klopapier, ins Deutsche gebracht von Sabine Hübner. Letzteres stammt aus den USA, ersteres aus Großbritannien. Die Wahl fiel auf diese beiden Titel auch aus dem Grund, dass es keine deutschen Produktionen zum Thema Kinderarmut gibt. So wie – laut Professor Klundt – für die Politik momentan Kinderarmut in Deutschland nicht existiert, so ist für die Verlage dieses Thema eben nicht lukrativ genug. An diesen zwei Tagen in Loccum haben wir ziemlich häufig die Köpfe geschüttelt.

In Bezug auf die beiden vorzustellenden Bücher war ich anfangs etwas unentschlossen, wie ich sie finden sollte, denn das gesellschaftliche amerikanische und britische Umfeld sticht in beiden Geschichten nämlich ziemlich hervor. Doch im Gespräch in der Runde taten sich dann die Vorzüge dieser Lektüren auf.

Sowohl Cousins als auch Gephart verstehen es vorzüglich, schwierige Familiensituationen, bedrückende Ereignisse und bedrohliche Zukunftsaussichten durch eine liebevolle Darstellung und eine humorvolle Einbettung erträglich zu machen.
In 15 kopflose Tage ist es der 15-jährige Ich-Erzähler Laurence, der mit seinem 6-jährigen Bruder Jay und der alkoholkranken, depressiven Mutter, in einem Brennpunktviertel in einer nicht genannten britischen Großstadt lebt. Eines Tages verschwindet die Mutter und die Jungs sind auf sich allein gestellt. Aus Angst vor dem Jugendamt spielt Laurence gegenüber den Nachbarn vor, dass die Mutter immer gerade bei einem von ihren zwei Jobs ist. Trotz all der Probleme – das Geld geht ihnen aus, Jay wird krank – lieben die Brüder ihre Mutter über alles. Laurence versucht, ihr einen dringend nötigen Urlaub zu verschaffen, den er bei einem Radio-Quiz gewinnen will. Dafür gibt er sich als sein eigenen Vater aus, der die Familie vor Jahren verlassen hat.

Auf der anderen Seite des Atlantiks ist es der 10-jährige Ben, der ebenfalls als Ich-Erzähler in Tod durch Klopapier, seiner Mutter helfen will, nicht aus der Wohnung zu fliegen. Bens Vater ist an Krebs gestorben, die Mutter kann die Miete nicht mehr bezahlen, der Vermieter kündigt ihnen die Wohnung. Ben macht daher bei allen möglichen Gewinnspielen mit, in der Hoffnung, eines Tages den Jackpot zu knacken. Nebenher zieht er an der Schule einen illegalen Handel mit Schokoriegeln auf. Als der demente Großvater bei Ben und seiner Mutter einzieht spitzt sich die Situation zu.

Erstaunlich ist, dass es bei beiden Geschichten gewisse Parallelen gibt: Die Protagonisten können auf gute Freunde zählen, die ihnen ungeachtet ihrer Probleme, für die sie sich schämen, helfen und ihnen den Rücken stärken. Radio-Quiz und Preisausschreiben sind quasi die Ticks der Jungs, die, wenn man die Bücher hintereinander liest, fast wie ein nerviger Erzähl-Trick wirken, aber dennoch eigenständige Funktionen haben. Sie zeigen die Kreativität, Hilfsbereitschaft und Verzweiflung der jungen Helden.
In beiden Fällen handelte es sich vor den dramatischen Entwicklungen bei den Figuren um ganz normale Familien, die durch Schicksalsschläge wie Tod oder Scheidung zu Außenseitern der Gesellschaft werden. Für Kinder und Jugendliche, die in ähnlichen Situationen stecken, mag das vielleicht keine verlockende Lektüre sein, sie könnten dort jedoch das Gefühl finden, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind und Hilfe – trotz aller Scham – möglich ist.
Für alle anderen, die nicht von Armut bedroht sind, bieten die Bücher die Möglichkeit, eine Sensibilität für Freunde, Mitschüler und  Nachbarn mit diesen Problemen zu entwickeln.

Die schwierigen Lebenssituationen der Jungs wird von humoristischen Szenen in den Plots erträglich gemacht: Bens Freund Zahnstocher ist ein Meister in Sachen Horror-Maskenbild, was sich später als überaus hilfreich erweist; Jay hält sich für Scooby-Doo, beißt gern mal zu und bringt den großen Bruder in peinliche Situationen. Zudem ist jedes Buch mit Details ausgestattet, die ein weiteres Aufatmen erlauben: 15 kopflose Tage eröffnet jedes Kapitel mit einer Comic-Seite, die Autor Cousins selbst gezeichnet hat. Tod durch Klopapier liefert an jedem Kapitelanfang hintersinnig-witzige Informationen rund um die Geschichte des Klopapiers.

Die Diskussionsrunde in Loccum war sich bei der Beurteilung dieser Bücher jedoch auch einig, dass die Kinder und Jugendlichen bei dieser Lektüre begleitet werden sollten. Denn im humoristischen Kleid stecken bittere Schicksale, die man nicht so locker wegsteckt.

Zu wünschen bliebe, dass es auch deutsche Geschichten ähnlicher Couleur zu diesem Thema gäbe. Die Politik mag uns ja so Einiges vormachen und Kinderarmut geflissentlich übergehen, doch Bücher sollten die Realität in unserem Land spiegeln, egal wie trist sie ist oder wie wenig lukrativ. Sie könnten als Helfer und Mutmacher eine wichtige Rolle spielen.

Donna Gephart: Tod durch KlopapierÜbersetzung: Sabine Hübner, cbt, 2015, 288 Seiten, ab 10-99, 12,99 Euro

Dave Cousins: 15 kopflose TageÜbersetzung: Anne Brauner, Freies Geistesleben, 2015, 288 Seiten, ab 13, 17,90 Euro

Ansteckend

fieberVor ein paar Monaten gingen die Berichte über die Ebola-Epidemie in Westafrika fast täglich durch die Presse. Nun scheint das Übel bekämpft und Normalität – soweit man das von hier aus beurteilen kann – wieder eingezogen. Wir in Nordeuropa haben das Glück, dass hier schon lange keine wirklich verheerende Krankheit mehr ausgebrochen ist, die unzählige Tote gefordert hätte. Ich weiß, es ist ein heikles Terrain, denn auch hier gibt es Opfer von Masern oder Grippe, und jedes ist eines zuviel. Doch ich möchte den Blick auf richtige Epidemien richten, die es auch in unseren Breiten gegeben hat und die sich junge Menschen wahrscheinlich nur schwer vorstellen können.

Eine Ahnung, wie es gewesen sein könnte, als vor fast 100 Jahren die Spanische Grippe ausbrach, liefert der Roman Das Fieber von Makiia Lucier, feinfühlig ins Deutsche gebracht von Katharina Diestelmeier. Erzählt werden knapp zwei Monate im Leben der fast 17-jährigen Cleo. Sie lebt in einem Internat in Portland, Oregon, hat Vater und Mutter vor Jahren bei einem Kutschenunfall verloren und nur noch ihren Bruder Jack und dessen Frau Lucy. Es ist Herbst 1918, in Europa tobt noch der große Krieg und an der Ostküste breitet sich gerade die Spanische Grippe aus. In Portland, an der Westküste, glauben sich Cleo und ihre Familie in Sicherheit. So brechen Jack und Lucy in ihre Flitterwochen auf, Cleo soll die Herbstferien im Internat verbringen.

Die Grippe schert sich natürlich nicht um irgendwelche Küstenverläufe, und wenige Tage später werden die ersten Krankheitsfälle in der Stadt gemeldet. Das Internat muss schließen. Cleo macht sich allein zum Haus des Bruders auf, obwohl dort niemand ist. Als sie in der Zeitung einen Aufruf vom Roten Kreuz liest, das Freiwillige sucht, meldet sie sich, um zu helfen.
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Aus dem behüteten, gut bürgerlichen Zuhause erlebt Cleo auf einmal die Welt von Krankheit, Siechtum und Tod. Sie holt erkrankte Kinder und Frauen aus ihren Wohnungen, hilft im Notkrankenhaus aus, das im örtlichen Theater eingerichtet wurde – und würde nach einem Tag am liebsten weglaufen. Doch die Krankenschwestern Kate und Hannah und der junge Medizinstudent Edmund, der schwer verwundet aus Europa zurückgekehrt ist, machen ihr Mut.

Lucier versteht es meisterhaft, den Leser in die Zeit vor 100 Jahren zurückzuversetzen, wo es nicht selbstverständlich war, dass Mädchen Auto fahren oder gar allein in einem Haus wohnen, wo es noch keine Impfung gegen die Grippe gab und die Waschmaschinen noch nicht selbsterklärend waren. Und mittendrin Cleo, die ihren eigenen Kopf hat und täglich neu ihre Ängste überwindet. Das ist für eine Coming-of-Age-Geschichte sicherlich ein ungewöhnliches Setting, mit dem man sich heute vielleicht nicht besonders gut identifizieren kann. Doch es ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie man in nicht alltäglichen Situationen über sich hinauswachsen kann, wie in schwierigen Zeiten Freundschaft und Liebe entstehen können, wie man auf eigenen Beinen stehen kann. Eingebettet in die historische Tatsache der Spanischen Grippe und kombiniert mit einer sich zart andeutenden Liebesgeschichte ist Makiia Lucier eine sehr fesselnde Geschichte gelungen.

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen/Königskinder, 2015, 368 Seiten,  ab 14, 17,99 Euro

[Jugendrezension] Unzertrennlich

lilly„Ich liebe dich April. Ich liebe dich so sehr, dass ich in der Klinik einbrechen würde, um dich da rauszuholen und zurück nach Hause zu bringen.“

Phoebe und April aus dem Roman Was fehlt, wenn ich verschwunden bin von Lilly Lindner sind Geschwister und lieben sich, trotz kleiner Streitigkeiten, sehr.

Gegenseitig geben sie sich Halt, in einer Familie, die nicht mehr funktioniert, denn ihre Eltern sind maßlos überfordert. Deshalb reagieren sie in den meisten Situationen auch falsch. In den Momenten, in denen ihre Kinder Halt bräuchten, geben sie ihnen keinen. Als April in eine Klinik kommt, weil sie magersüchtig ist, fühlt sich Phoebe oft alleine, obwohl sie ihre guten Freundinnen hat.
Zu Hause ist nichts mehr, wie es vorher war. Das Mädchen wird nicht mehr von ihren Eltern verstanden. Ihr Vater arbeitet viel und ihre Mutter strickt nur noch. Phoebe will auf jeden Fall Kontakt mit April halten, deshalb schreibt sie oft Briefe an sie. Selbst wenn April nicht antwortet, schreibt sie trotzdem immer weiter. Sie erzählt von ihrem Leben zu Hause, von ihren Eltern und Freunden und von den schönen Erinnerungen mit April. Sie vermisst ihre große Schwester sehr und hofft, dass sie bald wieder zurück nach Hause kommt.

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin von Lilly Linder ist ein trauriges und herzzerreißendes Buch. Die Beziehung zwischen Phoebe und April ist so stark, dass sie unzertrennlich scheint.

Diesen Roman zu lesen war sehr schön, denn er zeigt, wie sehr sich Geschwister lieben können, wenn sie getrennt sind und nicht mehr den ganzen Tag beisammen sind. Gleichzeitig war das Buch nicht nur angenehm, sondern auch sehr traurig, denn es wurde auch von der schlimmen Krankheit Magersucht erzählt. Da Lilly Lindner einen ganz eigenen Schreibstil hat und das Buch nur in Briefen geschrieben ist, kann man es rasch in einem Zug durchlesen. Wegen all diesen guten Sachen kann ich dieses Buch nur weiterempfehlen.

Laura (15)

Lilly Lindner: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin, FISCHER Kinder- und Jugendtaschenbuch, 2015, 400 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Anders sein

lorisIn unserer Gesellschaft nicht der vermeintlichen Norm  zu entsprechen ist schwierig. Für jeden. Für Kinder jedoch ist es noch um ein Vielfaches schwieriger, müssen sie ihr Selbstbewusstsein und ihr dickes Fell erst entwickeln und sich in den Untiefen der menschlichen Verhaltensweisen erst noch zurecht finden.

Zwei Bücher nun versuchen, Kindern, die anders sind, und ihren Familien und Freunden zu helfen und den Rücken zu stärken. Bei den Lesern schaffen sie Verständnis.

In Ich bin Loris erzählt der neunjährige Loris wie er als Autist die Welt erlebt und sein Leben gestaltet. Er sammelt Uhren, mag geregelte Tagesabläufe und kann supergut Mathe. Schwieriger ist es für ihn, wenn Gruppenarbeit in der Schule ansteht. Das strengt ihn an, denn wildes Durcheinander macht ihn schwindelig. Als er jedoch mit Annika und Leo über ein Tier berichten soll, nimmt er die Herausforderung an. Durch seine besondere Beobachtungsgabe trägt Loris dazu bei, dass die Kinder die verschwundene Katze einer Nachbarin wiederfinden und dabei ein schöne Überraschung erleben. Gleichzeitig erfährt Loris, dass es manchmal gar nicht so schlimm ist, wenn ein Tag nicht genau gleich verläuft.

Jungen Lesern werden hier die Verhaltensweisen von Autisten durch den Ich-Erzähler Loris einfach erklärt. Da man Loris sofort ins Herz schließt, nimmt man auch seine „Macken“ als ganz selbstverständlich an, so wie es Annika und Leo tun. Dabei bereichern sich die Kinder gegenseitig.
Loris‘ Geschichte wird von schwarz-grauen Illustrationen flankiert, in denen Loris mit seinem rote Pulli heraussticht. Die Farbe markiert ihn zwar als anders. Doch ohne ihn würde in den Bildern etwas fehlen  – so wie im Leben und in der Gesellschaft etwas Wichtiges fehlen würde, wenn es keine Menschen gäbe, die anders sind. Sie machen das Grau bunt.

andersDas Bilderbuch Samus ganzer Stolz schildert die Geschichte des Igels Samu, einem aufgeweckten Zeitgenossen, in den alle Mädchen aus dem Dorf  verschossen sind. Doch eines Tages verliert Samu seine Stacheln. Der glücklichste Igel der Welt verwandelt sich in ein nacktes Wesen, das sich vor den anderen schämt. Zum Glück aber gibt es Ricky, die zu Samu steht und ihn so nimmt, wie er ist. Happy End und Familiengründung inklusive.

Dieses niedliche Igel-Buch entstand aus einem ernsten Grund. Der Sohn der Schweizer Autoren erkrankte mit vier Jahren an Kreisrundem Haarausfall am ganzen Körper (Alopecia areata universalis). Mit Samus Geschichte wollten sie ihm zeigen, dass Schönheit, Einzigartigkeit und Liebe nicht von so etwas „Nebensächlichem“ wie Haaren abhängt. Dieses Buch macht Mut, jungen und alten Lesern. Erkrankten Kindern gibt es Halt und eine knuffiges Vorbild, dem man gerne nachfolgt. Das Buch bringt zwar die verlorenen Haare nicht zurück, doch es steigert das Selbstbewusstsein ganz ungemein. Und das kann man in allen Lebenslagen gut gebrauchen.

Pascale Hächler/Barbara Tschirren/Martine Mambourg: Ich bin Loris
Kindern Autismus erklären, Balance buch + medien, 2014, 40 Seiten, ab  5,  14,95 Euro

Jacqueline und Daniel Kauer: Samus ganzer Stolz. Ich bin anders. Na und?, KaleaBook, 2014,  36 Seiten,  ab 4, 20 Euro

Im Strudel der Gefühle

danteAch, die Pubertät. Eine schwierige Zeit, alles verändert sich, der Körper vor allem, aber auch der Geist. Die Sicherheiten gehen verloren, die Richtung im Leben wird unklar. Alles gerät durcheinander. Von diesen Zuständen im Leben des 15-jährigen Aristoteles, genannt Ari, erzählt Benjamin Alire Saenz in seinem Roman Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums.

Ari trifft 1987 in El Paso, Texas, gleich an der Grenze zu Mexiko, Dante im Schwimmbad. Die Jungen könnten unterschiedlicher nicht sein: Ari ist introvertiert, verunsichert, hat keine Freunde. Er ist schwermütig, unter anderem, weil sein Vater nicht über seine Erlebnisse aus dem Vietnamkrieg berichtet. Zudem wird in der Familie nicht über Aris älteren Bruder gesprochen, der im Gefängnis sitzt.
Dante hingegen ist selbstsicher, liebt Poesie und Kunst, in seiner Familie gibt es keine Geheimnisse – und er weiß, dass er Jungs liebt. Nach und nach freunden sich die beiden an. Dante bringt Ari das Schwimmen bei, aber nicht nur das. Sie verbringen immer mehr Zeit miteinander, fahren in die Wüste und beobachten die Sterne, lesen Gedichte, diskutieren über ihre mexikanischen Wurzeln und ihr Leben in einer weißen Gesellschaft.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Aristoteles, und so stehen vor allem die Zweifel und Unsicherheiten des Heranwachsenden im Vordergrund. Lange, ganz lange kann und will er sich nicht eingestehen, dass er Dante liebt, zu außergewöhnlich ist das doch für einen Jungen, der aus einer katholischen Familie mit mexikanischen Wurzeln stammt. Aris Hadern, seine Wut, seine Suche, sein Übergang vom Kind zum Erwachsenen bekommt der Leser hautnah mit. Seine Gefühle werden quasi zu den Gefühlen des Lesers, so unmittelbar erzählt Saenz, in der lässigen deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit. Und gerade das macht diesen Roman für pubertierende Jungen interessant. Hier finden sie eine Identifikationsfigur, die ihnen zeigt, dass all dieses Gefühlschaos zum Erwachsenwerden dazugehört, dass es okay ist, nicht dem Mainstream anzugehören, dass es in Ordnung ist, sich von familiären und gesellschaftlichen Traditionen zu verabschieden.
Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund finden in Ari und Dante zwei Helden, die sich aus ihrem alten Kontext lösen und um der Liebe willen ihren eigenen Weg gehen.

Benjamin Alire Saenz: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums,  Übersetzung: Brigitte Jakobeit,  Thienemann Verlag, 2014, 384 Seiten,  ab 14, 16,99 Euro

Jedem Ende wohnt ein Maulzauber inne

maulina 3Nein, man möchte das nicht. Dass es vorbei ist. Mit Maulinas Mama und mit dieser Geschichte. Man wünscht Maulina ein maultastisches Happy End. Und man möchte unbedingt und auf jeden Fall wissen, wie es mit Maulina weitergeht. Aber irgendwann hat alles ein Ende. Jetzt ist der letzte Teil von Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt von Finn-Ole Heinrich erschienen. Man weint nicht nur, weil darin Maulinas Mama schließlich wirklich stirbt.

Noch ein drittes Mal erzählt Maulina von ihrem Leben in Plastikhausen, ihrer kranken Mama, die immer schwächer wird, von ihrem Freund Paul und dessen Hund Kurt, vom General für Käse und dem Maulzauber. Das Leben schreitet voran, unerbittlich, und doch auch zauberhaft, liebens- und lebenswert. Maulina redet wieder mit dem Mann. Dieser ist mittlerweile zum zweiten Mal Vater geworden, von den Zwillingen Theo und Ron. Nur deren Mutter, der „Flamingo“, raubt Maulina noch den letzten Nerv.
Aus dem Dachboden über Mauldawien hat Maulina Maultropolis gemacht und baut dort ein Museum für Mama, in dem sie alle möglichen Erinnerungsstücke – vom Schal bis zur Haarlocke – sammelt.
Bei allen Veränderungen, den guten, wie den schlechten, steht Paul ihr rührend und unerschütterlich zur Seite, ebenso wie Ludmilla und der General für Käse. Maulina verliert ihre Mama, und das ist an Traurigkeit nicht zu überbieten. Aber sie kann auf ein dichtes Netz an Menschen zählen, die ihr Halt geben.

Maulinas Schicksal wünscht man keinem Kind, egal, wie alte es ist. Und doch genau diese Dinge passieren. Täglich. Und als Erwachsener steht man da und fragt sich, wie Trost möglich sein kann. Finn-Ole Heinrich zeigt eine mögliche Art von Trost und Trauer: erinnern, feiern, maulen. Das hört sich hier vielleicht ziemlich schräg an, aber so wie Heinrich das Maulina erzählen lässt, überzeugt es sofort. Jedenfalls mich.

Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt finden mit Ende des Universums ein würdiges Ende. Das geht allerdings nicht ohne Tränen. Das Herz scheint zu reißen, gleichzeitig ist es erfrischt und hoffnungsfroh. Maulina – das ist mal klar – vergisst man nicht so schnell, dafür vermisst man sie bereits, sobald die letzte Seite gelesen ist.

Bleibt nur noch zu sagen, dass die Illus von Rán Flygenring wieder einmal ganz wunderbare Ergänzungen, Leckerbissen und Schauzeug bieten. Und die liefern bei all der Trauer und Schwere die richtige Portion an visueller Leichtigkeit.

Finn-Ole Heinrich: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Das Ende des Universums, Illustrationen: Rán Flygenring, Hanser Verlag, 2014, 192 Seiten, 12,90 Euro

Liebe im Angesicht des Todes

schicksalEigentlich bin ich bei Sonnenschein ja am liebsten draußen, aber heute drängte es mich ins Kino. Am Nachmittag. Die Neugierde trieb mich hin. Denn lange angekündigt ist nun endlich Das Schicksal ist ein mieser Verräter in den deutschen Kinos angekommen.

Nachdem ich den gleichnamigen Roman von John Green vor zwei Jahren verschlungen und hier, hier und hier besprochen habe, war es für mich fast wie ein Pflichttermin, nun auch die Verfilmung zu begutachten. Als Vorbereitung hatte ich mir die Geschichte noch einmal per Hörbuch ins Gedächtnis gerufen. Gelesen von Anna Maria Mühe lieferte das mir einen ersten Vorgeschmack, wie es ist, wenn eine Geschichte das Medium wechselt, also vom selbst zu lesenden Text auf einmal von einer fremden Stimme vorgetragen wird.
Anfangs war ich von der Lesung etwas irritiert, da mir die Stimme von Anna Maria Mühe zu hoch und mädchenhaft vorkam. Doch zur 16-jährigen Hazel passt das ziemlich gut, und so war ich zum Schluss mit diesem Hörbuch sehr glücklich.

Mit dem Film ist es ähnlich, was die Gewöhnung angeht. Wie immer, wenn man nach einer Lektüre eigene Bilder von den Figuren, Settings und Szenen im Kopf hat, ist jede visuelle Umsetzung erst einmal ein kleiner Schock. Da John Green über die sozialen Netzwerke im vergangenen Jahr kontinuierlich von den Filmaufnahmen gebloggt, getwittert, getumblert, gevbloggt hat, konnte ich mich schon im Vorfeld an die beiden jungen Hauptdarsteller Shailene Woodley und Ansel Elgort gewöhnen. Woodley hätte ich aus The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten kennen können, war aber nicht so (wahrscheinlich hat mich damals George Clooney zu sehr von ihr abgelenkt). Elgort ist für mich ein ganz frisches Gesicht.
Frisch sind die Hauptdarsteller beide, und erfrischend ist es, wie sie wortlos miteinander kommunizieren, nur mittels hochgezogenen Augenbrauen oder Augenzwinkern. Woodley und Elgort haben das Zeug zu einem der tränenreichsten und dramatischsten Film-Liebespaare der Filmgeschichte zu werden. Das muss ich auf jeden Fall weiterverfolgen.
Auch sonst ist die Film-Version durchaus handfest. Regisseur Josh Boone hat sich so dicht es ging an die Vorlage gehalten, an einigen Stellen medienbedingt gekürzt und verändert, was aber durchaus vertretbar ist. So ist ein typischer Hollywood-Mainstream-Film entstanden, der zu Tränen rührt und keinen Zuschauer kalt lassen dürfte. Die deutsche Synchronisation entspricht in weiten Teilen dem Buchtext, was einen angenehmen Wiedererkennungseffekt birgt.

Was mir jedoch beim Schauen auf den Nerv ging, war das Phänomen, dass die visuelle Umsetzung extrem zum Kitsch neigt. Das, was im Buch völlig logisch daher kommt, nämlich das Hazel so unbedingt die Antworten ihres Lieblingsautor Peter Van Houten zu ihrem Lieblingsbuch haben will, wirkt im Film merkwürdig aufgesetzt. Da mag ich jetzt zu streng sein (schließlich ist dies ein Dreh- und Angelpunkt im Buch und gehört folglich im Film unbedingt dazu). Aber dennoch kam es für mich nicht richtig glaubwürdig rüber, dass ein krebskrankes Mädchen nichts Wichtigeres im Kopf hat als ein Buch (was ihr irgendwann auch Peter Van Houten, gespielt von Willem Dafoe, entgegenhält. Ich verbünde mich also gerade mit dem depressiven Säufer des Films … hoffentlich heißt das nicht, dass ich schon völlig verbittert bin …) Vermutlich ist es aber gerade das, was eine todkranke 16-Jährige umtreibt und so liebenswert macht. Und liebenswert ist Hazel allemal. Nur ob das eben einen ganzen Film trägt, das frage ich mich gerade. Vermutlich bin ich verdorben. Ich bin gespannt, wie andere das sehen werden.
Was mir allerdings echt zu dick aufgetragen war, war die Kuss-Szene im Anne-Frank-Haus. Auch hier hält sich der Regisseur sehr genau an die Buch-Vorlage. Doch wenn man es dort im Rausch des Lesens in sich aufsaugt, fast darüber hinwegfegt, so kann man im Film dem amerikanischen Pathos und dem Hollywood-Zuckerguss einfach nicht entkommen. Ich habe mich ein wenig gewunden. Hier wäre weniger vielleicht mehr gewesen. Aber vermutlich würden sich dann die Hardcore-Fans beschweren. Okay … mit der Film-Kritik ist es ein Kreuz.

Menschen beim Sterben zuzusehen ist nicht schön. Nie. Nicht im echten Leben und im Film auch nicht. Das geht echt an die Nieren. Handelt es sich dann noch um Jugendliche, ist es noch eine Umdrehung härter. So etwas in eine Geschichte zu gießen ist schwierig, und John Green hat es mitreißend gemacht. Das dann noch in bewegte Bilder umzusetzen, die uns viel direkter treffen, ist eine Gratwanderung. Doch die ist hier – trotz meiner Einwände – mit Respekt und Liebe gelungen. Eben à la Hollywood. Aber mal ehrlich: Wer wünscht sich das nicht – die bedingungslose, große Liebe seines Lebens bis in den Tod … und um das geht es in Das Schicksal ist ein mieser Verräter, um nicht mehr und nicht weniger. Alles andere sind Nebenwirkungen des Lebens und des Sterbens.

 

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter – Filmausgabe, 5 Audio-CDs, Gekürzte Lesung. 369 Min., Übersetzung: Sophie Zeitz, Gelesen von Anna Maria Mühe, Silberfisch, 2014, ab 12, 14,99 Euro

Akustischer Maulzauber

maulinaMittlerweile sollte klar sein, dass ich absoluter Fan von Maulina Schmitt und ihrem Schöpfer Finn-Ole Heinrich bin, was an den Beiträgen auf diesem Blog hier, hier und hier ziemlich offensichtlich ist. Jetzt leg ich noch mal nach, denn neulich trudelte zum einen zu meiner großen Überraschung das Hörbuch zum zweiten Teil von Maulinas Geschichte ein. Zum anderen haben Finn-Ole Heinrich und Rán Flygenring heute den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis erhalten. Doppelte Freude total! Und maultastische Glückwünsche an die beiden!

Obwohl ich Maulinas neue Erlebnisse, ihr Leben in Plastikhausen, die Verschlechterung von Mamas Gesundheitszustand, ihre Freundschaft zu Paul und ihr schwieriges Verhältnis zu dem Mann, schon kannte, hat mir die Hörversion noch einmal die Feinheiten, den Witz und die Wortgewandtheit von Finn-Ole Heinrich verdeutlicht.
Wie schon bei Teil eins ist es auch hier wieder Sandra Hüller, die perfekte Arbeit leistet. An den richtigen Stellen liest sie nüchtern, fast sachlich, dann wieder mault sie anständig. Sie trifft die leisen Töne, wenn es traurig wird, lässt gleichzeitig die Hoffnung durchschimmern, an die Maulina sich heldinnenhaft klammert. Allem verleiht sie den gehörigen Respekt, so dass Maulina nie albern wirkt. Stattdessen möchte man beim Hören Maulina ständig in den Arm nehmen, mit Pauls Brauseeis trösten und ihr für ihren Mut und ihre Kraft danken, mit dem sie jeden Leser und Zuhörer ansteckt.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Die Kombination aus Finn-Ole Heinrich und Sandra Hüller ist der Knaller. Maulina Schmitt ist herzerfrischende und herzzerreißende Literatur, die mit Leichtigkeit die Untiefen des Daseins auslotet und trotz aller Klippen dem Leben eine der schönsten Liebeserklärungen macht.

Finn-Ole Heinrich: Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Warten auf ein Wunder, Sprecherin: Sandra Hüller, Hörcompany, 2014, 150 Minuten, ab 10, 14,95 Euro

 

Von der Pest und vom Leben

pestWie erträgt man ein Buch, in dem fast auf jeder Seite gestorben wird? Diese Frage schoss mir während der Lektüre von Sally Nicholls‘ Keiner kommt davon durch den Kopf. Gleich vorne weg: Man erträgt es – und das bis auf ein paar herzzerreißende Szenen ganz gut. Denn Nicholls bietet mehr als den Horror einer Pest-Epidemie.

Die 14-jährige Isabel lebt im Jahr 1348 in England auf dem Land. Zusammen mit dem Vater, seiner zweiten Frau Alice und den Geschwistern Ned, Maggie und Baby Edward genießt sie das Dorfleben. Die beiden größeren Brüder sind aus dem Haus. Richard hat eine eigene Familie, Geoffrey ist Mönch geworden. Allerdings sind Isabel und ihre Familie Leibeigene des Adligen Sir Edward, und manchmal ist es wirklich anstrengend neben dem eigenen Feld, auch noch die Felder des Herren zu bestellen. Zum Glück gibt es Abwechslung auf dem Johannisfest – und es gibt Robin, in den Isabel verliebt ist.
Doch in diesem Jahr breitet sich das Übel aus: die Pest ist aus Frankreich nach England gekommen und rückt unaufhaltsam vor. Im Dorf hört man von den ersten Toten in der Stadt, dann in der Nähe. Menschen fliehen aus den Städten, ziehen durch das Dorf. Und bringen neben der Pest auch die Angst mit. Mit wachsendem Entsetzen beobachtet Isabel, wie immer mehr Menschen in ihrer Umgebung sterben. Ständig bimmelt die Totenglocken. Noch glaubt sie, dass Thymian und Rosmarin und der Heilige Beda sie vor dem Schwarzen Tod bewahren könnte. Doch ihre Sicherheit schwindet von Tag zu Tag. Als auch Robins Mutter stirbt, nimmt Alice den Jungen kurzerhand bei sich auf. Das Sterben zieht sich bis zum letzten Kapitel durch das Buch – und das ist manchmal wahrlich keine leichte Kost. Zumal man als aufgeklärter Mensch der Gegenwart eine Ahnung von Ansteckung und Ausbreitung von Krankheit hat. Man leidet mit und nimmt beständig das Schlimmste an, weil die Menschen in der Geschichte einfach nicht wissen, wie sie sich schützen können.

Denn vor allem eins hat Sally Nicholls ganz hervorragend dargestellt: das Leben und Sterben im Mittelalter. Man hauste mit dem Vieh unter einem Dach, sanitäre Anlagen und hygienisches Verhalten gab es auf dem Land kaum. Ratten waren allgegenwärtig. Vor 700 Jahren waren die Erreger der Pest noch unbekannt, man wusste nichts von Bakterien, sondern vermutete den Ursprung des Übels im Miasma, im Pesthauch, im Blick der Kranken. Ansteckung, Tröpfcheninfektion, Übertragungswege waren unbekannt, von Medikamenten wie Antibiotika, die wir heute mit schon fast zu großer Selbstverständlichkeit einnehmen, ganz zu schweigen. Hatte man sich infiziert, war das zumeist das Todesurteil, außer man entwickelte Abwehrkräfte.
Rettung erhofften sich die Menschen im Mittelalter von der Kirche oder sie flüchteten sich in den Aberglauben.

All dies schildert Nicholls aus Isabels Perspektive auf eine sehr mitreißende Art, so dass man trotz des Dauersterbens das Buch nicht mehr weglegt. Für Leser, die einen Faible für das Mittelalter haben, ist diese Geschichte eine gelungene Bereicherung. Denn Nicholls zeichnet kein geschöntes, romantisches Bild des Mittelalters, so wie es auf all den Mittelalterfesten im Land anzutreffen ist, sondern nähert sich – soweit das von heute aus möglich ist – der historischen Wahrheit sehr genau an. Das auch durch die sehr treffende Übersetzung von Beate Schäfer. Ein Glossar erläutert zudem die wichtigsten Begriffe aus der vergangenen Zeit.

Keiner kommt davon ist nicht nur eine sehr anschauliche Pest-Darstellung, sondern verweist darüber hinaus in unsere Gegenwart zurück, indem Sally Nicholls den Lesern plastisch vor Augen führt, wie gut es uns heutzutage geht, da die Medizin für eine Vielzahl von Krankheiten Arzneimittel und Behandlungsmöglichkeiten gefunden hat. Daran sollte man sich vielleicht beim nächsten Mittelalterfest erinnern, wenn man sich zur puren Unterhaltung in dieses Zeitalter flüchtet.

Sally Nicholls: Keiner kommt davon – eine Geschichte vom Überleben,  Übersetzung: Beate Schäfer,  Hanser, 2014, 288 Seiten,  ab 12, 14,90 Euro