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Post für Mr President

trump

Will man ein Buch lesen, dass den Namen Donald Trump im Titel trägt? Ich war ja anfangs skeptisch, dachte, nee, will ich nicht. Doch dann hat Sam, der Held aus dem Bilderbuch Hallo Donald Trump von Sophie Siers und Anne Villeneuve, mich ganz schnell um seinen Finger gewickelt.

Eine Mauer muss her

Sam teilt sich sein Zimmer mit seinem großen Bruder. Und dieser namenlose Bruder entspricht so ganz der Trump’schen Beschreibung einer »unerwünschten Person«. Er nervt, er daddelt abends immer auf dem Smartphone rum, sodass Sam bei dem Licht nicht schlafen kann, er wirft die frische Wäsche immer vor Sams Bett und nimmt sich einfach dessen Star-Wars-Destroyer. Sam hat die Nase voll, eine Mauer muss her, so wie er es von Donald Trump im Fernsehen gehört hat.
Diesen Beschluss diskutiert Sam mit seiner Familie und schreibt davon auch Donald Trump. So erfährt Mr President, dass Sam die Idee mit der Mauer gut findet – nur eben Sams Familie nicht. Tagelang reden sie über die unterschiedlichsten Mauern, die chinesische, eine in Zimbabwe, den Hadrianswall und natürlich die Berliner Mauer, die aber wieder abgerissen wurde.

Reden hilft

Sam baut zur Probe schon mal eine Mauer aus Steinen und Sand durch den Teich im Garten und nimmt sich vor, als Astronaut später die chinesische Mauer aus dem All zu bewundern. Aber nach und nach merkt er durch die Gespräche mit der Familie, dass eine Mauer keine Lösung sein kann.
Sein Bruder wird einsichtig, legt die Wäsche ordentlich hin, verkriecht sich zum Smartphone-Daddeln unter die Bettdecke und fragt, ob er sich etwas von Sam ausleihen darf. Harmonie zieht ein.
Und so begreift Sam schließlich, dass miteinander reden viel besser ist, als trennende Mauern hochzuziehen. Er fühlt sich zwar blöd, dass er seine Meinung ändert – auch dies schreibt er Trump. Doch Mamas Worte, dass sie Männer bewundert, »die es zugeben, wenn sie sich geirrt haben«, beruhigen ihn wieder.

Die Tolle von Trump

Die Texte von Sophie Siers, in der gelungenen Übersetzung von Steffi Kress, werden von zumeist blau-gelb aquarellierten Federzeichnungen von Anne Villeneuve illustriert. Sie zeigt auf der linken Seite immer Sam in seinem Zuhause, mit Hund und Familie, dem üblichen Spielzeug und dem Hochbett. Eine Szenerie, wie sie heute in Familien gängig ist und daher wunderbar identifikatorisch wirkt.
Rechts jedoch gibt es in kleineren Illus Post-Übergabe-Szenen in Washington zu bewundern. Ein Postbote, eine Angestellte, der Personaltrainer oder die Politberater übergeben Donald Trump jedes Mal einen gelben Umschlag mit Sams Briefen. Von Mr President sieht man Arme & Beine und hauptsächlich seine unsäglich gelbe Haartolle, während er Burger verschlingt, aus Bauklötzen auf dem Schreibtisch eine Mauer baut, über den Golfplatz heizt oder in der Badewanne im Schaum abtaucht. Sein Gesicht sieht man nie. Und das ist auch gut. So ist die Distanz gewahrt, und jeder Betrachter kann sich die Reaktionen von Donald selbst ausmalen.

Es ist kinderleicht

In dieser vorzüglichen Kombination aus Text und Bild wird auf äußerst charmante Weise klar gemacht, wie zum einen der Familienfrieden wieder hergestellt werden kann, wenn Geschwister sich ein Zimmer teilen, aber auch, dass machtgeile, twitternde Ego-Politiker sich von der Diskussionsfreude und dem Miteinanderreden in Familien eine große Scheibe abschneiden können. Es besteht zwar nur wenig Hoffnung, dass Donald Trump – oder auch andere Rechtspopulisten – dieses Bilderbuch je zu Gesicht bekommen und es dann auch noch verstehen würden. Aber der Gedanke ist einfach tröstlich, dass es im Grunde kinderleicht ist, Meinungsverschiedenheiten auszuräumen und sich das Zusammenleben gegenseitig zu erleichtern. Und dass selbst Kinder verstehen, dass Mauern und Grenzen nie eine Lösung sein können.
Doch wenn diese Erkenntnis mit diesem Bilderbuch nun bei den Politikern der kommenden Generationen verankert wird, dann gibt es immer noch Hoffnung, dass diese Welt eines Tages ohne solche Gebilde auskommen kann.

Sophie Siers: Hallo Donald Trump, Illustrationen: Anne Villeneuve, Übersetzung: Steffi Kress, Esslinger, 2019, 32 Seiten, ab 5, 13 Euro

Zeitreise nach Ostberlin

krauseWir nähern uns ja schon wieder den Jahrestagen, und in gar nicht all zu langer Zeit „nullt“ der Mauerfall. Jaja. Dreißig Jahre ist es dann her, dass die DDR sich abschaffte und der Westen zugriff. Wir Älteren erinnern uns noch, so einigermaßen. Die Jüngeren, die nach der Jahrtausendwende Geborenen, kennen höchstens unsere Anekdoten und die „Damals-war-alles-anders“-Geschichten. Nicht immer können wir (ich als Westfrau schon mal gar nicht) das Gefühl, wie es denn in dieser DDR wirklich war, noch mitreißend vermitteln. Mag sein, dass es Ost-Groß-Eltern noch gelingt, aber allen anderen?

Eine spannende Version hat nun Ute Krause vorgelegt mit ihrem Kinder-Roman Im Labyrinth der Lügen. Darin versetzt sie junge Leser_innen in die Mitte der Achtziger Jahre nach Ostberlin. Paul, 12, wohnt bei seiner Großmutter und seinem Onkel Henri, nachdem seine Eltern versucht haben, über Ungarn das Land zu verlassen. Sie sind erwischt und eingesperrt worden. Nun bekommt Paul die Nachricht, dass seine Eltern von der Bundesrepublik freigekauft wurden.

Natürlich ist ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass er seine Eltern vielleicht nie mehr wiedersehen wird. Doch seine Oma und Onkel Henri tun ihr Bestes, damit der Junge nicht verzweifelt. So darf Paul den Onkel abends im Pergamonmuseum besuchen, wenn Oma im Hotel Metropol als Klofrau arbeiten muss. Allein im Museum, nur mit Onkel Henri, das ist aufregend und gruselig zugleich. Paul meint ungewöhnliche Geräusche zu hören. Der Onkel jedoch beruhigt ihn – versucht er zumindest.

Das gelingt jedoch nur mäßig, vor allem seit Paul die neue Mitschülerin Millie kennengelernt hat, deren Vater im Berliner Ensemble arbeitet. Gemeinsam streifen die beiden durch das Ostberlin rund um die Museumsinsel, beobachten, wie Onkel Henri ein merkwürdiges Paket hin- und herträgt, und fangen an, sich Fragen zu stellen: Zu dem, was die Erwachsenen ihnen erzählen, was Henri wohl verbirgt, über was man reden und worüber man am besten schweigen sollte. Sie vertrauen einander, doch irgendwo ist ein „Leck“ und eines Tages ist die Wohnung von Oma durchwühlt und Onkel Henri verschwunden.

Man könnte nun annehmen, es hier mit einer aktuelleren Version von Emil und die Detektive oder Pünktchen und Anton zu tun zu haben. Doch dem ist nicht so – denn in dem System der DDR bleibt den Kindern nicht viel Spielraum, selbst zu ermitteln. Zu schnell stoßen sie im eigenen Land an Grenzen, und sei es, dass Paul sogar am heimischen Küchentisch nicht mehr laut und unbeschwert reden kann, weil die Wohnung verwanzt ist.
So lösen am Ende zwar nicht die Kinder das Rätsel um Henri – es wird ihnen dann doch von den Erwachsenen erzählt –, aber sie und mit ihnen die Leser_innen bekommen einen fesselnden Eindruck davon, wie sehr vor mehr als dreißig Jahren die Atmosphäre in Ost- und Westberlin durch Misstrauen und Überwachung vergiftet war: Nicht linientreue Mitbürger wurden abgestraft, indem sie ihre Jobs oder Studienplätze verloren, Privatsphäre selbst in der eigenen Wohnung existierte so gut wie nicht und wenn jemand das Land verlassen wollte, wurde die Familie quasi in Sippenhaft genommen. So musste Paul eine Zeit in einem Kinderheim verbringen, ohne dass seine Oma wusste, wo der Junge eigentlich war. Eine schreckliche Vorstellung, die jedoch die Härte des DDR-Systems noch einmal eindrücklich zeigt, da nicht einmal vor den Kindern Halt gemacht wurde.

Fast nebenbei gelingt es Ute Krause zudem den Fremdenhass, den es offiziell in der DDR nicht gab, der jedoch im Alltag spürbar gewesen ist, einzuflechten. Das Mädchen Millie hat nämlich eine kubanische Mutter und daher dunkle Haut und schwarze Haare, was sie auffällig macht und ihr den Spott der Mitschüler einbringt.

Diese Facetten des DDR-Alltags verwebt Krause in Kombination mit einem Rätsel um das Pergamonmuseum zu einer fesselnden Agentengeschichte, der – zumindest für mich als Westsozialisierte – die beklemmende Atmosphäre des Stasi-Staates durchaus anhängt. Vielleicht sehen die in der DDR aufgewachsenen Menschen das anders – es wäre eine interessante Diskussion.

Im Glossar finden sich schließlich die Erklärungen zu den wichtigsten Begriffen aus DDR-Zeiten, die erwachsene Leser im Text vermutlich überhaupt nicht stören, weil sie altbekannt sind, die Kinder von heute jedoch irritieren können.
Schön ist zudem, dass im Vorsatz vorn und hinten Karten von der Museumsinsel und von Osterberlin eingefügt sind. Eine Karte des geteilten Deutschlands ergänzt diesen geografischen Überblick, der noch einmal das veranschaulicht, was heute in der Landschaft des Grünen Bandes und auf dem Mauerstreifen in Berlin kaum noch zu erkennen ist und man nur noch sieht, wenn man etwas darüber weiß.

Eins darf man bei diesem Buch allerdings nicht: sich von dem Cover abschrecken lassen. Mir sagt die Fotomontage aus sommerlich gekleidetem Jungen der Gegenwart vor der Rykestraße aus DDR-Zeiten in einer Farbgebung aus den Siebzigern nicht zu, auch wenn ich die Rykestraße sehr schön finde.  Zumal – jetzt werde ich mal wieder pingelig: An den Bäumen in der Straße sind keine Blätter, sprich: Es ist also Winter. Und der Winter in Berlin ist eisig. Da läuft kein Mensch im T-Shirt rum… Wer das also entspannt sehen kann, wird mit einer atmosphärisch dichten Geschichte belohnt, die der jungen Leserschaft einen annähernd authentischen Einblick in die DDR-Zeit gibt.
Mit diesem Wissen kann das dreißigjährige Jubiläum des Mauerfalls im kommenden Jahr dann mit noch mehr Wissen begangen werden. Und der nächste Familienausflug nach Berlin wird auf jeden Fall noch erhellender!

Ute Krause: Im Labyrinth der Lügen, cbt, 2018, 288 Seiten, ab 10, 8,99 Euro

Mehr als Wiedervereinigung

geschichteDie Sonne strahlte heute über Deutschland, das ein Vierteljahrhundert Wiedervereinigung feierte. Ein merkwürdiges Datum, von dem ich nicht mehr weiß, warum es genau auf diesen Tag gelegt wurde. Das verrät auch Peter Zolling in seinem seinem Werk Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart nicht. Zwar erfahre ich, dass am 3. Oktober 1990 „das Grundgesetz in ganz Deutschland in Kraft trat und die Einheit verwirklicht war“, aber wieso gerade dieser Tag dafür ausgewählt worden war, bleibt im Dunkeln. Wahrscheinlich hat man damals gewürfelt, oder einfach nach einem passenden Termin für einen weiteren Feiertag zwischen Ostern, Pfingsten, Sommerferien und Weihnachten gesucht. Mir soll es recht sein. Vor 25 Jahren jedenfalls stand ich in Florenz auf dem Ponte Vecchio und wurde gefragt, ob die Deutschen denn nun glücklich seien, so wiedervereint. Ich hatte damals keine Antwort darauf, zu sehr ging mir die großdeutsche Euphorie auf den Senkel. Die Beurteilung der aktuellen Ereignissen hat mich in jener Zeit ziemlich überfordert. Heute ist es manchmal auch nicht viel einfacher. Zu komplex scheint die Welt zu sein, zu undurchsichtig die Machenschaften der Politik und der Wirtschaft.

Für die Einordnung von Vergangenem und Tagesgeschäft durch Historiker bin ich daher immer dankbar. Zollings Werk, das jetzt in aktualisiert Form vorliegt, liefert einen grundlegenden Überblick über fast 170 Jahre deutsche Geschichte. Dabei reiht er nicht nur die Fakten aneinander, sondern bringt dem Leser auch die Akteure aus Politik und Gesellschaft mit ihren menschlichen Abgründen näher. Neben den klassischen Stationen – Reichsgründung, Kaiserreich, Weltkriege und Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, Teilung, RAF-Terror, Bonner Republik und Wiedervereinigung – reicht Zollings Abriss nun bis zum Sommer diesen Jahres heran.
Die deutsche Politik der ersten anderthalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts ist dabei in verstärktem Maße von den globalen Einflüssen und Katastrophen geprägt. Dies wird gerade in der komprimierten Darstellung offensichtlich und eindrucksvoll. Es wird deutlich, wie wenig wir uns hier nur um unseren Kram kümmern können, sondern immer weiter über den Tellerrand hinausblicken müssen, sei es in Sachen Umwelt- oder aktuell in der Flüchtlingspolitik.

Zollings Buch kann eine gute Ergänzung zu den Geschichtsbüchern der Schule sein, jugendliche Leser müssen sich jedoch auf eine journalistisch geprägte Sprache einstellen, die manchmal nicht ganz einfach zu verstehen ist.

Peter Zolling: Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Macht in der Mitte Europas, Hanser, 2015, 448 Seiten,  ab 12, 21,90 Euro

Von Schuld und Unschuld

schuldGute Bücher über den Fall der Mauer und die Flucht aus der DDR gibt es zuhauf, zum Beispiel  Tonspur. Das Schicksal der Kinder von Stasi-Mitarbeitern wird eher selten literarisch verarbeitet. Die Lebensläufe von Kindern hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter hat Ruth Hoffmann vor zwei Jahren in ihrem Sachbuch Stasi-Kinder erzählt.

Nun liefert Grit Poppe einen Jugendbuch-Roman zu diesem Thema. Schuld spielt in den Jahren 1988/89 sowie 1992 und erzählt von den 15-jährigen Jugendlichen Jana und Jakob.
Jana kommt neu in eine Schule am Rande von Ostberlin. Vom ersten Moment an fühlt sie sich zu dem Außenseiter Jakob hingezogen. Dessen Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt. Jakob selbst schreibt und verteilt illegal Flugblätter, engagiert sich im Neuen Forum und kämpft für Meinungsfreiheit. Eines Tages gibt er Jana ein solches Flugblatt, das sie bei sich zu Hause versteckt.

Als diese Flugblätter auch in der Schule auftauchen, fliegt Jakob erst von der Schule, später finden Stasileute einen weiteren Entwurf mit einem Aufruf zur Demo bei ihm. Der Junge kommt in Untersuchungshaft, wird verurteilt und in das Jugendgefängnis Halle gesteckt.
Jana ist verzweifelt. Zum einen, weil sie nicht weiß, wann und ob sie Jakob wiedersehen wird, zum anderen, weil ihre Eltern, linientreue Sozialisten, beständig gegen sie und ihre Beziehung zu Jakob arbeiten. Sie verbieten ihr schließlich, Jakob zu schreiben.
Jana ist da jedoch schon lange in der Protestbewegung engagiert, in die Jakob sie eingeführt hat, und lässt sich von ihrem Weg nicht abbringen.

Grit Poppes Roman Schuld schildert die letzen Jahre der DDR konsequent aus den Perspektiven von Jana und Jakob. Vor allem bei Jana ist das sehr beeindruckend gelungen, den das Mädchen durchschaut erst nach und nach das Überwachungssystem der DDR. Die Rebellion gegen den Staat geht mit der Rebellion gegen die Eltern einher – das verzahnt Poppe so geschickt, dass man eigentlich nicht weiß, was zuerst war. Allerdings bleibt Jana die perfide Ausspionierung durch den eigenen Vater bis zu letzt verborgen. Nur im Leser, vor allem im erwachsenen, macht sich ein fieses Gefühl von Abscheu breit.
Mit Jakob hingegen erlebt man die grausamen Zustände, die in den DDR-Jugendknästen geherrscht haben. Nach ihren Romanen Weggesperrt und Abgehauen zeigt Poppe auch hier noch einmal, wie sehr Jugendliche in der DDR gelitten haben, wenn sie nicht dem Ideal der vorgegebenen Doktrin entsprachen.

25 Jahre nach dem Mauerfall macht Grit Poppe mit ihren Büchern die dunkle Geschichte der DDR für junge Leser anschaulich und lebendig. Was in den Schulen meist nur als Faktenansammlung vermittelt wird, reichert sie mit Gesichtern, persönlichen Schicksalen und jeder Menge Emotionen an. Schuld legt man daher nicht mehr aus der Hand, man leidet mit den beiden Helden bis zur letzten Seite mit, ist gleichzeitig erleichtert, wie frei wir heute leben, wundert sich dann aber auch, wie wenig momentan noch protestiert wird (Gründe gäbe es genug).

Grit Poppe: Schuld, Dressler Verlag, 2014, 365 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Soundtrack einer Flucht

tonspurMusik kann ein starker Motor sein. Das muss man wohl niemandem erklären. Was wir nur heute gern vergessen, ist, dass wir diesbezüglich in einer überaus bequemen Welt leben, in der jede Art von Musik jederzeit verfügbar ist, selbst nachts übers Internet können wir so gut wie alles kaufen, streamen, kopieren. Dass es Zeiten und Länder gab, in denen das alles anderes als selbstverständlich war, davon erzählen Olaf Hintze und Susanne Krones in Tonspur.

Doch es geht natürlich um mehr als Musik, denn bei dieser Geschichte handelt es sich um Hintzes autobiografischen Bericht, wie er im Sommer 1989 aus der DDR flüchtet. Aber die Musik aus dem Westen ist einer der treibenden Faktoren, die den damals 25-Jährigen dazu bringen, Eltern, Geschwister, Freunde zu verlassen. Hintze ist ein Kulturmensch, der ohne Musik und Literatur nicht leben kann und will. Die Einschränkungen, die der sozialistische Staat ihm auferlegt, drücken mit der Zeit immer mehr. Sein Wunsch nach Abitur und Studium bleibt ihm unerfüllt, da sich der Junge nicht den politischen Vorgaben und Ansprüchen der DDR-Gesellschaft anpasst. Auf eine ruhige Art bleibt Hintze ein Außenseiter, für den Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ zu einem Wegweiser und Lebensbuch wird.

Im August 1989 reist Hintze mit Freunden durch Rumänien und Bulgarien, setzt sich schließlich von der Gruppe ab und fährt nach Sopron. Er erkundet die Gegend, sucht nach Möglichkeiten, die Stacheldrahtzäune der österreich-ungarischen Grenze zu überwinden. Dass die Grenze durchlässig geworden ist, entnimmt er westdeutschen Zeitungen. Dennoch ist er sich der Gefahr bewusst, der er immer noch ausgesetzt ist. Seine Flucht gelingt – allerdings anders, als man es bei dem Ort Sopron gemeinhin denken mag.

Tonspur ist auf eine ganz besondere Art ein packendes Buch. Die Schilderung von Olaf Hintzes Flucht ist verpackt in die Erinnerung an seine Kindheit in der DDR. Er erzählt vom Alltag des Mangels, vom Schlangestehen, von den kleinen Gefälligkeiten für ein bisschen besseres Leben. Von einer Schule, in der die politische Haltung wichtiger ist als das Wissen, von einer Zeit bei der Armee, die eigentlich nur Schikane ist, von seiner Leidenschaft für Nachrichtentechnik und selbstgebastelten Radios. Und davon wie er sich bei jeder Gelegenheit, in der DDR kaum zu bekommende Musik-Platten besorgt. So unspektakulär sich das vielleicht anhört, so sehr zieht einen dieser scheinbar ewige Hindernislauf in den Bann.
Flankiert wird der Text von Fotos aus Hintzes Leben – und Abbildungen von den Beschriftungen seiner geliebten Mixtapes. Die sind einfach rührend, denn lange Zeit hatte Hintze keine Möglichkeit, die Namen der Künstler und die englischen Titel irgendwo abzuschreiben. Lautmalerisch hat er die aufgezeichneten Künstler und Songtitel dokumentiert, so dass man dort dann von „Mikel Schäksen“ und „Biedet“ liest. Mag man im ersten Reflex grinsen, so offenbaren diese liebenswerten Kleinigkeiten doch die immens große Sehnsucht nach selbstbestimmtem Musikgenuss und im Endeffekt nach Freiheit.

Im Jahr 25 nach dem Mauerfall stellt Tonspur eine rundum gelungen Erinnerung an eine Welt von Gestern dar, an die ältere Generationen sich noch erinnern, manche sie möglicherweise verherrlichen werden, die die jüngeren Leser aber nicht mehr kennen. In der Geschichte von Hintze und Krones finden sie einen klaren Blick auf das „normale“ Leben in der DDR, der gleichzeitig den Luxus unserer Welt von Heute spiegelt und zeigt, wie wertvoll ein selbstbestimmtes Leben ist.

Olaf Hintze/Susanne Krones: Tonspur – Wie ich die Welt von gestern verließ, dtv/Reihe Hanser, 2014, 360 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Blutzoll an eine Stadt

BerlinIn diesem Herbst habe ich Berlin nach vier Jahren verlassen. Aus guten Gründen. Dennoch blutet mein Herz. Als Kur gegen Heimweh habe ich mich dieses Mal auf die Graphic Novel Berlinoir von Reinhard Kleist und Tobias Meissner gestürzt. Und wurde in ein kongeniales Spektakel hineingezogen.

Berlinoir wird von Vampiren beherrscht. Die Menschen liefern ihnen das Blut – freiwillig oder gezwungenermaßen. Es regt sich Widerstand, immer wieder werden wirtschaftliche und politische Stützen der Vampir-Gesellschaft von Menschen umgebracht. Die Menschen setzen ihre Hoffnung in den Vampirjäger Niall, der als kommender Anführer die Stadt von der Unterdrückung durch die Untoten befreien könnte. Doch Niall sieht sich nicht als Messias, viel mehr ist er von den Vampiren angewidert, gleichzeitig aber auch angezogen. Er verliebt sich in eine Vampirfrau.
Wenig später treibt dann auch noch ein Mörder sein Unwesen in der Megacity, der eigentlich auch nur ein Vampir sein kann. Um die Vampire zu besiegen bleibt Niall schließlich nur ein Weg – er muss selbst zum Vampir werden …

Die Geschichte von Berlinoir ist durchaus komplexer, als ich sie hier kurz anreiße. Doch den verzwickten Plot muss jeder Leser selbst erkunden. Das, was mich vielmehr fasziniert und letztendlich amüsiert hat, sind die nonchalanten Seitenhiebe auf Berlin-Hype und Gewurschtele in der Stadt. Da wird im Blutroten Rathaus in der Kabinetts-Versammlung über die drei Opern und zwei Tierparks der Stadt geschimpft, die Mahnmalkultur aufs Korn genommen und mit „ruhiger Hand“ regiert. Eingebettet wird diese Politik, die nicht einfach auf irgendeine real-existierende Partei zu übertragen ist, in ein überschäumendes Berlinoir, das die wilden, expressionistischen 20er-Jahre wieder aufleben lässt.
Die Stadtarchitektur gleicht einer Mischung aus Metropolis und Gotham City. Fernsehturm, Dom, Potsdamer Platz verschwinden zwischen Hochhäusern, die man eher in New York erwartet. Auf jeder Seite entdeckt man Berliner Sehenswürdigkeiten, meist gut versteckt, oftmals dem Verfall anheim gegeben. Das Leben findet hauptsächlich nachts statt, da das Sonnenlicht bekanntermaßen eine Bedrohung für Vampire darstellt. Fledermäusen sind so zahlreich wie Ratten. Verschiedene Glaubensgruppen agieren in der Stadt. Und selbst unter den Vampiren gibt es Grabenkämpfe, die zu einer Teilung der Stadt in einen Nord- und einen Südsektor führen.
Die Anspielungen an die Stadtgeschichte von Real-Berlin sind offensichtlich, machen in ihrer überraschenden Art aber immer wieder Laune, da man beständig nach einer Einordnung oder einem Wiedererkennungseffekt sucht. Wahrscheinlich lässt sich das nicht eindeutig machen – jedenfalls ist es mir bei dieser ersten Lektürerunde nicht gleich gelungen und ich habe mit Sicherheit noch eine ganze Menge übersehen. Das macht aber erstmal gar nichts, denn so bleibt für die nächsten Male ein riesiges Potential an Neuentdeckungen und -interpretationen.

Kleists Panels wechseln von kalt-blau-dunkeln Farben zu warm-rot-orange, spiegeln so die tote Welt der Vampire und die noch blutgefüllte der Menschen. Die Figuren, die Kleist in ihnen agieren lässt, gleich denen von George Grosz, erinnern an Nosferatu von Murnau – und sind streckenweise nichts für schwache Nerven. Verbranntes Fleisch auf Schädelknochen, spritzendes Blut, rollende Köpfe und Tod reihen sich in einem fiebrigen Tanz um die Macht aneinander. Eine Stadt sucht einen Mörder. Ein Schreckensregime löst das nächst ab. Die Interpretationsebenen in dieser Graphic Novel sind so zahlreich, dass man das schon eher im wissenschaftlichen Rahmen genauer untersuchen müsste. Für den Normalleser ist auf jeden Fall eine Wonne. Das können einem die fiesen Blutsauger von Berlinoir auf gar keinen Fall vermiesen.

Der Narbenstadt Berlin, die „moderat tribalistischen Provinznachwuchs“ mit „den Ausschweifungen der Großstadtnächte“ anzieht, haben Kleist und Meissner ein düsteres, aber überaus hintersinniges Denkmal gesetzt.

Reinhard Kleist/Tobias O. Meissner: Berlinoir, Carlsen, 2013, 150 Seiten, 24,90 Euro

Verratene Kindheit

Gerade habe ich ein „Kinderbuch“ der anderen Art zu Ende gelesen und bin noch ganz berührt. Das Sachbuch Stasi-Kinder von Ruth Hoffmann befasst sich mit einem der dunklen Kapitel der DDR-Geschichte.

23 Jahre nach dem Fall der Mauer hat die Autorin die Familiengeschichten von 13 Menschen aufgezeichnet, deren Eltern hauptamtlich bei der Stasi tätig waren. Was sich im ersten Moment vielleicht völlig unspektakulär anhört, entpuppt sich beim Lesen als reinster psychologischer Horror. Denn die Zugehörigkeit der Väter zum Überwachungsapparat der Deutschen Demokratischen Republik wirkte sich auch unmittelbar auf das Klima in den Familien aus. Gehorsam war oberste Pflicht, systemkonformes Benehmen eine Grundvoraussetzung. Kritik an den bestehenden Verhältnissen durfte auf gar keinen Fall geübt und unbequeme Fragen schon gar nicht gestellt werden. Taten die Kinder und Heranwachsenden dann doch, was in ihrem Alter nur natürlich ist und zu einer selbstbewussten Entwicklung gehört – also kritisch hinterfragen, sich auflehnen, den eigenen Weg suchen – konnte es sein, dass die Väter ihren Dienstherren davon berichteten und Sohn und Tochter verrieten. Was sich heute ungeheuerlich anhört, war bei den hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit anscheinend üblich, hatten sie sich doch eidesstattlich zu absoluter Treue verpflichtet. Die leidtragenden waren zumeist die Kinder, die sich nicht gegen das wehren konnten, was nicht zu durchblicken und zu verstehen war. Und die im schlimmsten Fall ins Gefängnis gesteckt wurden.

Die Geschichten von Frank, Vera, Pierre, Edina oder Martin gehen ans Herz, lösen Unbehagen und gleichzeitig ein immenses Mitgefühl aus. Denn die heute Erwachsenen kämpfen zum Teil immer noch mit den Folgen dieser überwachten und schockierenden Kindheit. Manche konnten Vergangenes aufarbeiten, die Eltern befragen, sich im besten Fall mit ihnen aussöhnen, anderen ist dieser Trost verwehrt geblieben, sei es, weil die Eltern sich von den Kindern losgesagt haben, weil sie beharrlich schweigen oder weil sie verstorben sind, bevor es zur klärenden Aussprache kommen konnte.

Ruth Hoffmann gelingt es fabelhaft die Gefühlslagen der Kinder in den 70er und 80er Jahren in Worte zu fassen. Der Leser spürt förmlich am eigenen Leib die Eiseskälte, die Härte und das Misstrauen, die in diesen Familien geherrscht haben. Gleichzeitig schafft die Autorin so plastische Bilder, dass auch die Orte, hauptsächlich die trostlosen grauen Plattenbau-Viertel Ost-Berlins, vor dem inneren Auge des Lesers sichtbar werden, in denen aber Häkeldeckchen Heimeligkeit verbreiten und die man auf einem knallroten Dreirad ziemlich gut erkunden kann. So fern die DDR mittlerweile ist, so gegenwärtig ersteht sie auf diesen Seiten wieder auf.

Die Berichte der Kinder wechseln mit Exkursen, in denen die Autorin die Struktur des MfS, das Selbstverständnis der Mitarbeiter, die Disziplin und das Funktionieren dieses Überwachungsungetüm umreißt und erklärt. So fügen sich die Texte zu einer Facette eines Psychogramms zusammen, dem Psychogramm eines ganzen Staates. Manches des untergegangenen sozialistischen Staates versteht man als Westdeutscher nach der Lektüre besser, anderes bleibt einfach nur unfassbar.

Der Aufarbeitung der DDR-Geschichte fügt die Hamburger Journalistin mit ihrem bewegenden Buch ein wichtiges Puzzleteil hinzu, in dem die schwächsten Bürger der DDR endlich ein Forum bekommen und gehört werden. Man kann nur hoffen und wünschen, dass weitere Stasi-Kinder dadurch den Mut finden, sich zu öffnen und zu erzählen – damit weder sie noch ihre Familien und Kinder weiter an Unausgesprochenem leiden müssen.

Ruth Hoffmann: Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat, Propyläen, 2012, 317 Seiten, 19,99 Euro