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Vertrauen ist dicker als Blut

Vater

Stell dir vor, mein Vater hätte in diesem Moment zufällig am Ufer gestanden. Hätte er mich dann nicht erkannt? Er hat nur ein Babyfoto von mir gesehen, aber trotzdem. Wäre da nicht etwas, eine Art Blitz, in dem ihm klar wird: Das ist mein Kind! Kann man ein Blutsband spüren?« Mit diesen Überlegungen steckt Eva schon mittendrin in einem furiosen Abenteuer in Suriname, weit weg von ihrer niederländischen Heimat. In dem kleinen Land an Südamerikas Nordostküste ist die Zwölfjährige mit den elf Zehen auf der Suche, denn: »Der Urwald hat meinen Vater verschluckt«, wie Simon van der Geests neuer, mitreißender Roman heißt.

Die Lücke in Evas Leben

Eva soll in Biologie eine Projektarbeit zu einem Thema schreiben, das sie ganz besonders interessiert. Und das sind Biologische Väter, genauer: ihr Vater, den sie nie gesehen und kennengelernt hat. Oder »der Wurm«, wie ihre Mutter sagt, wenn sie ihn überhaupt erwähnt. Eigentlich versteht sie sich mit ihrer Mutter sehr gut. Trotzdem ist in Evas Leben eine Lücke, weil sie nichts über ihren Vater weiß und ihre Mutter, eine berühmte Popmusikerin, beharrlich darüber schweigt.

Wie feiert man einen fast-nur-Männer-Geburtstag

Andere Kinder wachsen auch ohne Vater auf, zum Beispiel weil ihre Eltern sich getrennt haben. Aber sie wissen, wer ihr Vater ist. Eva weiß anfangs nichts über ihren Vater. Außer dass er dunklere Haut hat, weil sie selbst eines der wenigen Kinder mit dunkler Hautfarbe an ihrer Schule ist. Ihre Mutter hingegen ist sehr hellhäutig mit weißblonden Haaren.
Der Unterschied ist so extrem, dass gehässige Mitschülerinnen vermuten, sie sei adoptiert. Und Evas bester Freund Luuk will auf Anregungen seines Vaters seinen zwölften Geburtstag als Männerwochenende feiern, also seine Freunde mit ihren Vätern. Natürlich macht er einen »Fast-nur-Männer-Geburtstag« draus. Trotzdem reizt das Thema »Biologische Väter« Eva zunehmend wortwörtlich – und sie beginnt gegen den Widerstand ihrer Mutter und ihrer vorsichtigen Lehrerin zu recherchieren.

»Suriname packt mich. Bäm«

Schließlich landet Eva, mithilfe eines Filmteams, in Suriname. »Suriname packt mich. Im wahrsten Sinne. Die Luft schlägt ihre Arme um mich, die Hitze hält mich fest umschlungen, klebrig und klamm. Bäm.« Als Leser:in spürt man genauso direkt wie Eva die Hitze, die Luftfeuchtigkeit. Man hört den Straßenlärm, das Prasseln des Regens auf Wellblechdächer, das Rauschen und Gurgeln des reißenden Flusses, das Zirpen und Grollen des Urwalds, die schrillen Schreie der Vögel. Riecht die feuchte Erde, süßen Früchte, scharfen Speisen, Dieselabgase des Busses, Benzingestank der Motorboote, Blut geschlachteter Tiere.

Einige Prozent mehr übereinstimmende Gene

Durch ein Team der Fernsehsendung »Verlorene Zeit« ist Eva dorthin gekommen. Mit deren Hilfe suchen Menschen nach lang verschollenen Verwandten. Auch bei diesem Format stellt sich die Frage: Ist biologische Abstammung tatsächlich so wichtig? Was verbindet einen mehr mit jemandem, dessen Erbgut zu ein paar Prozent mehr mit dem eigenen übereinstimmt, als mit dem Rest der Menschheit? Eva hängt die wenig sensiblen, dafür umso mehr auf die Tränendrüsen drückenden Fernsehleute ab und dringt allein ins Landesinnere vor.

Heimweh nach einem Ort, an dem sie noch nie war

Sie stößt im Verlauf ihrer Suche einige Menschen vor den Kopf, auch wortwörtlich: Einem Mitschüler, in den sie kurz ein bisschen verliebt war, gibt sie eine Ohrfeige und den Laufpass, als der sich lustig macht.
Doch ist es bewundernswert, wie mutig und zielstrebig sie sucht. Weil sie eine Leere, eine Lücke, ein Loch in ihrem Herzen zu spüren meint. Und Heimweh verspürt nach einem Ort, an dem sie noch nie gewesen war.
Während ihrer Suche erfährt Eva einiges über Familienbande und ihre unterschiedlichsten Formen. Sie versteht ihre Mutter und auch sich selbst besser. Und sie erkennt sehr direkt und brutal ehrlich, dass biologische oder genetische Bande keinen Vater ausmachen.

Drehbuch für den besten Weihnachtsfilm

Simon van der Geest erzählt erneut eine ganz besondere Familiengeschichte. Bei Das Abrakadabra der Fische reiste Vonkie in die Vergangenheit, enthüllte das traurige Geheimnis ihres brummeligen Großvaters und half ihm, sich auszusöhnen. Der Urwald hat meinen Vater verschluckt ist ein spannender Abenteuerroman – und ein fantastisches Drehbuch für einen der besten Weihnachtsfilme aller Zeiten. Denn es geht um Familie und Freundschaft, Vertrauen und Verbundenheit. „Luuk ist eine Art Bruder. So fühlt es sich an. Kann ein Blutsband wachsen? Ich meine, kann jemand allmählich dein Bruder werden? Vielleicht ist es auch egal, wie ich ihn nennen, aber Freund ist nicht genug. Luuk ist mehr als das.«

Bekannteste Patchworkfamilie

Übrigens war bei der weihnachtlichen Urfamilie auch schon ein Stiefvater dabei, die heilige Familie ist eine der bekanntesten Patchworkonstellationen.
Evas Suche nach ihrem Vater ist so mitreißend, staunend und offenherzig geschrieben, dass man alles wirklich sieht, fühlt und miterlebt. Andrea Kluitmann hat es absolut stimmig und lebendig mit ein paar wichtigen, gut überlegten Einsprengseln aus dem Niederländischen übersetzt. Spannendes Thema, brillantes Buch, großes Kino.

Simon van der Geest: Der Urwald hat meinen Vater verschluckt, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Thienemann Verlag, 432 S., 17 Euro, ab 10 Jahre

Teebeutel ohne Bändchen

Zuhause ist da, wo die Teebeutel keine Bändchen haben. Wo das Brot weich und weiß ist. Heimat ist da, wo die Luft nach warmen Regen und salziger Luft vom rauen Atlantik riecht. Heimat ist da, wo man deine Sprache spricht.
Heimat ist definitiv nicht dort, wo man deinen Namen nicht aussprechen kann und dich mit fiesen Lauten als Affe verspottet. So ergeht es Emmas kleiner Schwester Aoife an ihrem ersten Schultag in der tiefsten Provinz Mecklenburg-Vorpommerns. Kurz zuvor hat Emmas Mutter mit ihren drei Kindern Dublin verlassen, um nach Deutschland umzuziehen. »Nach Velgow, in das Dorf unserer Mutter, in das sie seit zwanzig Jahren keinen Fuß und keins von ihren Kindern gesetzt hat.« Mit einer Auswanderung von West nach Ost, einer Reise ohne Rückfahrkarte, die für niemanden eine Heimkehr ist, beginnt Susan Krellers betörender und sprachgewandter Roman Elektrische Fische.

Innere Emigration im Schweigen

»Wir waren noch gar nicht fertig«, sagt die zwölfjährige Emma. »Dara hat mit der Hockeymannschaft alle Spiele und Mädchenherzen gewonnen. Auch Aoife und ich waren mittenrein und noch gar nicht fertig mit unserem Leben in Dublin.« Für Emma ist klar, sie will so schnell wie möglich zurück in ihr vertrautes Leben, zu den irischen Großeltern ziehen.
Aoife geht nach dem verstörenden ersten Schultag in die innere Emigration. Sie verstummt, sagt kein Wort mehr, nicht auf Englisch, nicht auf Irisch und erst recht nicht im von ihr verhassten Deutsch. Fortan kommuniziert die kleine Schwester nur noch über gelbe Klebezettel.

Leben zwischen zwei Sprachen

Zwar sind die drei Geschwister zweisprachig aufgewachsen und auf die deutschsprachige Schule in Dublin gegangen. Aber: »Die englische Sprache bin ich. Deutsch spreche ich nur. Deutsch ist immer noch ein paar Meere von mir entfernt«, stellt Emma sehr bald fest.
Sprache, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, und wie man zwischen zwei Sprachen lebt – das alles spielt eine zentrale Rolle in Susan Krellers Jugendbuch. Die 1977 in Ostdeutschland geborenen Autorin hat Germanistik und Anglistik studiert. Bei ihr ist das nicht nur ein biografisches Detail. Allein das angehängte Glossar macht Elektrische Fische schon lesenswert.

Sehr viele Arten der Trunkenheit

Durch Emma lernen wir zum Beispiel fundamentale Unterschiede in Umgangsformen kennen. Man bekommt beim Lesen selbst einen ganz trockenen Mund, nachdem sie das einmal aus Höflichkeit angebotene Getränk abgelehnt hat – und niemand erneut nachfragt oder insistiert, etwas zu trinken zu bringen.
Es gibt auch traurige Gemeinsamkeiten: »Es stimmt tatsächlich, in Irland kann man auf sehr viele Arten betrunken sein, man ist zum Beispiel pissed oder stocious oder on his ear oder langered oder einfach nur full as a bingo bus. Mein Vater beherrschte fast alles davon.« Der Vater ist Alkoholiker und hat Frau und Kinder verlassen. Deshalb sind sie nach Deutschland umgezogen, Emmas Mutter konnte allein das Haus nicht bezahlen, es drohte der Umzug ins berüchtigte Northern Dublin.

Ausgerechnet in diesen Teil der Welt

Als der 16-Jährige Dara eines Nachts sturztrunken nach Hause kommt, fürchtet die Mutter, auch ihren Sohn an den Alkohol zu verlieren und flippt total aus. Dabei findet sie im Plattdeutschen erstaunlich viele Begriffe: »Buddelbroder. Sprietkopp. Suupbüdel.«
Oder wie ihre Großmutter es auf den Punkt bringt: »Sie steht neben mir und sagt etwas zu mir, was sie wahrscheinlich schon die ganze Zeit mal zu irgendjemand sagen wollte: wie verrückt es ist, vor dem Alkohol wegzurennen und dann ausgerechnet in diesen Teil der Welt zu ziehen.«

Verbunden durch das Meer

Emma erträgt die provinzielle Einöde, die unbekannten und schroffen deutschen Großeltern, ihre niedergeschlagene Mutter, das harte dunkle Brot und die Unfreundlichkeit der desillusionierten Dorfbewohner durch den Gedanken an ihre Heimreise. Und weil sie das Meer, in dem Fall die Ostsee für sich entdeckt. Sie schwimmt stundenlang, sie taucht unter und fühlt sich der irischen Heimat verbunden.
Ihr Mitschüler Levin hat einen Plan ausbaldowert, wie man als Minderjährige, ohne Flugzeug, nach Irland kommt. Levin in seinen übergroßen, ausgewaschenen Heavy-Metal-Band-T-Shirts, »dünn wie Dünengras«, ist selbst ein Außenseiter und Einzelgänger.

Entwurzelte Kinder

Zwar lassen die anderen den Jungen in Ruhe, doch wie Emma bald hautnah erfährt, hat auch Levin kein Zuhause. Seine Mutter ist psychisch krank, verweigert die Therapie, hält in ihrem Wahn ihre ganze Familie gefangen. Levin, sein Vater und sein älterer Bruder schweigen aus Scham und Hilflosigkeit. Durch seinen Plan für Emmas Flucht droht Levin den einzigen Menschen zu verlieren, dem er vertraut und sich verbunden fühlt.
Sprachdifferenzen, entwurzelte Kinder, die Kraft des Meeres und viele verschiedene Arten des Schweigens, kreative Schimpftiraden, zauberhafte, aber auch brutale Begriffe – das alles verbindet Susan Kreller zu einer herzzerreißend traurigen und schönen Geschichte.
Es heißt »home is where the heart is«. Das klingt kitschig, stimmt aber. Zum Schluss kommt Emmas Herz zu Hause an.

Susan Kreller: Elektrische Fische, Carlsen, 192 Seiten, 15 Euro, ab 12

Knallermädchen

Manchmal allerdings, da kochte die Energie über und spülte eine rasche rote Welle in Helsins Körper hoch, und dann sieht und hört und riecht und schmeckt Helsin nichts anderes mehr als FEUERROT. Ihr ganzer Körper kribbelt von den Beinen bis in die Haarspitzen, die Nasenspitze zittert wie eine Autoantenne bei 200 Stundenkilometern, und die rote Kribbelwelle wird immer gewaltiger, bis sie überschwappt: schwupp, raus aus Helsin, und zack! Hinaus in die Welt.«
Das ist der titelgebende Wutanfall aus Stefanie Höflers erstem Kinderbuch Helsin Apelsin und der Spinner. Mit letzterem ist nicht der Neue in der Klasse gemeint. Spinner, so nennen alle diese kurzen, heftigen Gewitter, die die achtjährige, quirlige Helsin überkommen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt oder etwas in den falschen Hals bekommt.

Explosiv wie Barb Wire

Zum Beispiel als Louis, während ihm seine Mitschüler vorgestellt werden, spontan Helsin, Apelsin, Apfelsine reimt. Der für ihn überraschende Effekt erinnert an die legendäre cleaning woman aus dem Film Tote tragen keine Karos oder Pamela Andersons drohend gefauchtes »Nenn mich nicht Babe!« im Actionheldin-Knaller Barb Wire. Und endet in dem Fall mit Louis‘ blutig gehauener Nase.
Stefanie Höflers neue Heldin Helsin ist ein ganz besonderes Mädchen und mir auch gerade wegen ihrer Ausraster sehr sympathisch, weil es sie gleichzeitig stark und verletzlich macht. Mit Louis beginnt ein wahrhaftig actiongeladenes Abenteuer, ein fast Roadmovie, eine Geschichte von Freundschaft und Familie.

Finnen spinnen auch nicht mehr als andere Leute

Helsin heißt nach der Stadt, aus der sie adoptiert wurde – Helsinki, der Hauptstadt Finnlands.
»Glaubst du, dass meine Spinner irgendwas mit Finnland zu tun haben?« »Quatsch!«, lachte Mama. »Die Finnen spinnen auch nicht mehr als andere Leute.«
»Und glaubst du, dass meine ersten Eltern auch Spinner hatten?«
Mamas Gesicht wurde wieder ernst. Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Helsin hat wirklich die weltbesten und geduldigsten Eltern, die man sich vorstellen kann. Die ruhige, rationale, liebevolle Mutter, die auch mal bad-hair-Tage hat. Und den immer gut gelaunten, herzlichen Vater. Sie sind nur zwei von einem ganzen Panoptikum außerordentlich lebendig und vielschichtig gezeichneter Persönlichkeiten. Mit der klugen, einfühlsamen Grundschullehrerin Frau Coroni hat Höfler, wie sie selbst überrascht in einem Interview feststellte, ihre erste absolut sympathische Lehrerfigur geschaffen.

Gefahr für Eichhörnchen, Hamster und Fidschileguan

Weil Helsin spürt, wie anders sie in ihrem Wesen ist und aussieht, beschäftigt sie das Thema ihrer Herkunft. Finnland wird nicht nur deshalb zeitweilig zum Sehnsuchtsort. Das Mädchen mit der biegsamen Grashüpferfigur, den wild in alle Richtungen abstehenden Locken und bitterschokoladenbraunen Augen wird im Laufe der Geschichte wiederholt zur Diebin. Sie lügt, verzweifelt über sich selbst und schweigt im falschen Moment. Sie setzt Freundschaften aufs Spiel und bringt nicht nur diverse Tiere in Lebensgefahr. Eichhörnchen, eine Hamsterin namens Tyrannosaurus und ein Fidschileguan spielen nämlich auch wichtige Rollen.

Irrational und unvernünftig die Kurve kriegen

Das ist manchmal beim Lesen schwer auszuhalten. Aber Kinder können nun mal nicht rational und vernünftig handeln, dafür fehlt ihnen einfach die Erfahrung und die Fähigkeit zur nüchternen Distanz. »Ich möchte Konflikte so erzählen, wie sie halt oft auch stattfinden, wie sie vor allem auch gelöst werden, nämlich unerwartet«, sagt Höfler. Das beschreibt sie bewundernswert konsequent und überzeugend – und höchst spannend.
Umso schöner und herzzerreißender ist es, wie dieses wilde Mädchen zu guter Letzt nicht nur die Kurve kriegt – sondern sogar ihre Spinner in den Griff.

Onomatopoesie und Kuhlsche Kulleraugen

Nach Mein Sommer mit Mucks und Tanz der Tiefseequalle, zwei ausgezeichneten Jugendbüchern über häusliche Gewalt und Mobbing, hat Stefanie Höfler, die übrigens immer noch aus Überzeugung als Lehrerin arbeitet, ein hinreißendes Kinderbuch geschaffen.
Besonders lebendig ist Höflers Sprache auch durch die zahlreich eingestreuten onomatopoetischen Wörter: Rätsch. Boing, boing, boing. Wusch. Dazu passen Anke Kuhls witzige Illustrationen, lauter quicklebendige Kinderfiguren mit den typisch Kuhlschen Kulleraugen. Mit Manno! hat Kuhl übrigens ihre eigene Kindheit zum coolen Kindercomic gemacht. Brillante Bücher für junge Leser, bitte mehr davon.

Stefanie Höfler/Anke Kuhl (Ill.): Helsin Apelsin und der Spinner, Beltz & Gelberg, 205 Seiten, ab 8, 12,95 Euro

Hund adoptiert Familie

Rosoff

Allem Anfang wohnt angeblich ein Zauber inne. Kann sein, aber auch etwas zu beenden kann magisch sein und wahre Wunder bewirken. So im Fall der Familie Peachey, bestehend aus Vater, Mutter und drei Kindern, zumindest in der ursprünglichen Formation, als Mama Peachey beschließt Schluss zu machen und »ihren Job als Mutter an den Nagel zu hängen«: »Ich gebe auf«, sagte sie. »Ich habe keine Lust mehr, zu kochen und sauberzumachen und verlorene Schlüssel zu suchen. Ich habe keine Lust mehr auf langweilige und undankbare Aufgaben. Ich höre auf.«
Anfangs sind fast alle noch ganz begeistert. »Schluss mit gesundem Essen! Schluss mit mütterlicher Unterdrückung!« Doch schon nach kurzer Zeit versinken Vater und Kinder in Durcheinander und Dreckwäsche. Es gibt nur noch scheußlich schmeckende Fertiggerichte, die noch mehr Müll produzieren. Und keiner kommt mehr pünktlich zu Schule und Arbeit, weil der menschliche Familienwecker streikt.

Faire Arbeitsteilung ist eine schöne Wunschvorstelliung

Ein absolut glaubwürdiges Szenario und schöner Schlamassel, in den sich Mister Tavish, toller Hund und psychologisches Superhirn, in Meg Rosoffs famoser Familiengeschichte Glück für alle Felle begibt.
Nur die sonst sehr kluge Kinderbuchexpertin Ute Wegmann hat in ihrer Radiosendung den ziemlich dummen Einwand vorgebracht, das sei ja ein Frauenbild wie aus den 50ern. Blödsinn, denn erstens hat Mama Peachey einen guten Job als Buchhalterin, dem sie unverändert nachgeht. Und zweitens ist es in jeder modernen Familie nachweislich so, dass die Mütter am meisten im Haushalt arbeiten, neben ihren bezahlten Jobs, in ihrer Freizeit. Weil es auch nach mindestens 50 Jahren Frauenbewegung, Gleichberechtigung und Emanzipation immer noch nicht klappt mit der fairen Arbeitsteilung. Meg Rosoffs vermeintlich harmlose Tiergeschichte hat es also in sich.

Keine pflegeleichte Familie

Der andere raffinierte Dreh ist, dass der Hund die Familie adoptiert: »Er spürte sofort, dass sie nicht zu den pflegeleichten Familien gehörte. Ob sie schon sehr früh traumatisiert worden waren oder von Natur aus schwierig, konnte Mister Tavish natürlich nicht wissen. Aber er wusste, sie zu adoptieren würde Geduld, Disziplin und harte Arbeit erfordern … Doch es war schon zu spät. Mister Tavish hatte sich in die Peacheys verliebt.«
Nach Eoin Colfers Der Hund, der sein Bellen verlor ist jetzt auch Meg Rosoff auf den Hund als besonderes Familienmitglied gekommen. Wobei sie bereits 2013 in Alles was ich weiß über dich der zwölfjährigen Mila auch ein paar bemerkenswerte Fähigkeiten verliehen hat.

Soziopathen sondieren herrenlose Hunde

Besondere Bilder, pointierte Dialoge und grandiose Situationskomik machen auch den Charme dieser Geschichte aus. Während Vater Peachey zunächst »unverbindlich die Lage im Tierheim sondieren will«, bekommt er von seiner 14-jährigen, existenzialistisch angehauchten Tochter Ava bescheinigt, er sei ein Soziopath. Im Geiste schreibt Ava das Buch »Erinnerungen an eine zerrüttete Kindheit«, während der zwölfjährige Ollie seinem Vater klar macht, wie alt er tatsächlich ist: »Zu deiner Zeit sind noch Dinosaurier über die Erde gewandert.«
Wirklich bei Verstand ist abgesehen von der streikenden Mutter nur die achtjährige Betty, neben dem smarten Hund die wahre Heldin der Geschichte.

Famoses Familienporträt, Fortsetzung folgt

Brigitte Jakobeit, seit So lebe ich jetzt von 2005 Meg Rosoffs zuverlässige Übersetzerin, überträgt diese Geschichte für jüngere Leser erfrischend witzig und wohltuend klar (so schreibt sie zum Beispiel »Unterhosen« statt des alberner Begriffs »Schlüpfer«).
Man hätte dem Buch nur einen weniger kalauernden Titel gewünscht, im Original heißt die Geschichte Good Dog, Mister Tavish. Good book, Mrs Rosoff, indeed. Ein entzückendes, wenn auch schmales Familienporträt, das im Frühjahr fortgesetzt wird unter dem Titel (man ahnt es) Ferien für alle Felle.

Meg Rosoff: Glück für alle Felle, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Illustrationen: Anke Faust, Fischer KJB 2019, 128 Seiten, ab 8, 10 Euro

Von eigenen Welten und Liebestränken

Zipfel

Lucie, 13, braucht einen Job. Sie will weg von der Mutter, die sich schon wieder so einen seltsamen Typen angelacht hatte. So ein ökologisches Weichei mit Namen der Michi.
Da kommt ihr im Roman von Dita Zipfel der Zettel mit dem Angebot, als Hundesitter zu arbeiten, ganz gelegen. 20 Euro pro Stunde scheinen zudem ungemein lohnend.
Doch als sie an der Tür von einem gewissen Klinge läutet, ist da kein Hund sondern nur ein seltsamer Alter in Outdoor-Klamotten mit Sprachfehler, der sie einfach nur »Mädchen« nennt und ihr vegetarische Rezepte diktiert. Angeblich haben diese Rezepte Zauberkraft und sollen Ungeheuer fernhalten oder als Liebestrunk wirken.

Rösti des Lebens/Sterbens

Eigentlich glaubt Lucie an nichts davon, beobachtete Klinge aber überaus aufmerksam, stellt sich Fragen zu seinem Geisteszustand – und dennoch: Das mit dem Liebestrank muss sie ausprobieren, als Marvin, der angesagteste Boy der Schule, sie um ein Treffen im Freibad bittet. Er könnte schließlich funktionieren – man weiß ja nie.

Amüsante Weltbetrachtung

Lucies Beobachtungen und Schlussfolgerungen sind eine Mischung aus amüsanter Weltbetrachtung voller skurriler Menschen und der Entdeckung der eigenen Wünsche, des eigenen Weges, den Lucie schließlich einschlägt. Ihre Skepsis und ihre Verwunderung gegenüber Menschen wie Klinge oder der Michi kennen wir Lesende alle nur zu gut. Manchmal hält man einzelne Menschen für »verrückt«, manchmal auch die ganze Welt und steht mittendrin – mit seinen eigenen Zweifeln oder der leisen Ahnung, dass man vielleicht selbst »ver-rückt« ist.

Der Einfluss anderer

Dann bleibt die Frage, wie sehr man sich beeinflussen lässt, wie sehr man an gewissen Menschen hängt, wie sehr man Trends folgt – und dann feststellen muss, dass so ein Marvin vielleicht der Schwarm von vielen ist, im Grunde aber nicht gut riecht und auch ansonsten ein ziemliches A*loch sein kann.
Lucie begreift, dass es nicht nur eine objektive Welt gibt, sondern jeder von uns in seinem kleinen Kosmos lebt. Dass wir im Grunde vom anderen immer viel zu wenig wissen – und an dem Spruch »wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für verrückt« ziemlich viel Wahres dran ist. Und dennoch neigen die Menschen dazu, andere immer und ständig in Schubladen zu stecken und sie zu bewerten. Lucie kann sich da gar nicht ausnehmen, aber sie lernt dazu und zwar in einer extrem steilen Lernkurve, die tatsächlich auf die Lesenden abfärben kann, wenn sie nur offen für dieses charmant wilde Buch von Dita Zipfel sind.

Anregend illustriert

Illustriert hat diese Wahnsinnsgeschichte (sorry, der passte jetzt grade!) Rán Flygenring, und es ist eine Wonne, die grellrot-schwarzen Drachen- und Punamy-Bilder zu betrachten. Und mögen die Rezepte nun Drachen im Zaum halten oder die Liebe heraufbeschwören, sie lesen sich so lecker, dass ein Nachkochen nach dieser Lektüre nur folgerichtig ist.

Dita Zipfel: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte, Illustration: Rán Flygenring, Hanser Verlag, 2019, 200 Seiten, ab 12, 15 Euro

Bruderliebe

Bruder

In den vergangenen Jahren gab es erstaunlich wenige Bücher, bei denen ich weinen musste. Die Britin Katya Balen hat es geschafft, dass mir nun beim Lesen immer wieder die Tränen kamen. Tränen der Rührung, der Trauer, der Freude …
Dabei hatte ich zwar immer auch den Gedanken im Kopf, welches Kind den Roman Mein Bruder und ich und das ganze Universum wohl mit Freude lesen würde, denn Balen erzählt eine nicht ganz einfache Geschichte.

Alltag mit einem autistischen Bruder

Der zehnjährige Frank hat nämlich einen autistischen Bruder. Max kann nicht sprechen, trägt immer nur ein bestimmtes T-Shirt, braucht seinen ganz besonderen Teller und isst nur gelbliche Lebensmittel. Wenn etwas anders ist, sich verändert, dann »schmilzt« Max: Er versteift sich, schreit und kreischt und flattert mehr als sonst mit den Händen. Und Max braucht natürlich Aufmerksamkeit – mehr als Frank. Die Mutter, eine ehemalige Künstlerin, kümmert sich rührend um beide Söhne, doch steht Max immer ein bisschen mehr im Fokus. Frank versteht das durchaus, doch natürlich hat er auch Momente, in denen er sich vernachlässigt fühlt. Dann versucht er, seine Welt mit Codes zu ordnen. Er morst mit der Mutter, hat einen Zahlencode, in dem er seine Gedanken aufschreibt – und in dem die Überschriften in der Geschichte verschlüsselt sind (eine sehr gelungene Art, um die Lesenden aus dem gewohnten Lektüretrott zu holen und zu veranschaulichen, wie es sein kann, wenn man das Leben nicht sofort entschlüsseln kann oder von Veränderungen immer wieder aus der sicheren Routine gebracht wird).
Der Spott in der Schule über seinen Bruder macht ihm das Leben zusätzlich schwer, da er manchmal nicht so souverän reagieren kann, wie er es gern möchte. Dann ärgert sich Frank jedoch mehr über sich selbst, als über den Mitschüler, der den dummen Kommentar abgeliefert hat.
Nun steht die Einschulung von Max kurz bevor, und Frank zählt in einem Countdown die Tage runter. Denn diese Veränderung im Leben seines Bruders betrifft die ganze Familie, da niemand sagen kann, wie Max reagieren wird.

Bis hierhin ist das Buch bereits großartig, konsequent aus der Perspektive von Frank erzählt, und bietet daher jede Menge Identifikation für alle Kinder, die Geschwister mit Behinderungen haben. Sie können sich in Franks emotionaler Zerrissenheit gegenüber dem Bruder wiederfinden, in der Liebe zu ihm und in dem manchmal aufkommenden Hass, weil der Bruder eben doch irgendwie immer der Mittelpunkt ist.

Die wahre Tragödie

Dann jedoch setzt Katya Balen dieses »Drama« in Bezug zum dem, was eine wirkliche Tragödie ist. Sicher ist das Leben mit Kindern mit Genveränderungen, Krankheiten oder Behinderungen anstrengend, vielleicht anstrengender als mit »normalen« Kindern sowieso, doch es ist ein Leben und zwar ein sehr lebenswertes. Das sieht man in dieser Geschichte an Max, der das Leben und alles, was dazu gehört, liebt: den Hund von nebenan, das Schlittenfahren, er drückt sich auf seine ganz eigene Art aus, lernt, spielt Theater und feiert so sein Dasein. Ein wirkliches Drama ist der Dreh, den Balen nun einbaut – und der muss hier verraten werden, denn sonst versteht man diese Rezension nicht: Die Mutter stirbt, und für Frank bricht sein Universum richtig zusammen. Die Ordnung kommt nicht nur für Max, sondern auch für ihn durcheinander. Die Leere und die Trauer sind immens.
Der Vater ist anfangs durch die Trauer um die geliebte Frau und die neue Rolle, die er nun für seine zwei Jungs spielen muss, völlig überfordert. Die Großmutter kann nur eine vorübergehende Hilfe sein.
Frank fehlt die Mutter, mit der er sich über Morse-Codes unterhalten konnte, unglaublich. Aus dem Countdown bis zu Max‘ Einschulung wird eine Zählung, wie lange die Mutter bereits tot ist.

Die Brüder entwickeln sich weiter

Das alles ist zum Teil nur schwer zu ertragen, aber gleichzeitig auch so großartig erzählt, dass ich das Buch nicht weglegen konnte. Franks Schmerz geht auf die Lesenden über, aber seine Wandlung zu einem liebevollen großen Bruder macht gleichzeitig stolz und rührt ungemein. Denn Frank berichtet weiter von Max – und seinen Fortschritten, die er mit seinen sechs Jahren nun in der Schule macht. Und so wie Max sich entwickelt, mit den drastischen Ereignissen auf seine Art umzugehen lernt, so verändert sich auch Frank, der nun blöde Sprüche über Max nicht mehr einfach so schluckt, sondern Widerworte gibt.
Frank, der einen Faible für Spiralgalaxien und Codierungen hat, lernt, sein Universum neu zu ordnen.

Was ist schon eine Genveränderung im Vergleich zum Tod

Dachte ich zunächst ja, welches Kind so ein Buch mit Freude lesen würde, so sage ich jetzt viel mehr: Welches Leser_in wäre nicht von Frank beeindruckt? Denn dieser Held zeigt in seinen eigenen Worten – wunderbar von Annette von der Weppen ins Deutsche übersetzt –, dass das Leben bekanntermaßen kein Ponyhof ist, aber der Mensch unglaublich zäh ist und mit vielen Schicksalsschlägen umzugehen weiß. Durch die Relativierung von Autismus zu Tod feiert die Autorin die Vielfalt und Diversität des Lebens in all seinen Facetten. Nicht die Andersheit des Bruders ist schlimm, ganz und gar nicht, sondern das Fehlen der Mutter. Das lernt Frank, das lernen die Lesenden.
Man wird demütig, wenn man sagen kann, dass man die Liebsten noch um sich hat. Wie unwichtig ist dagegen schon eine Genveränderung? Frank entdeckt so, wie viel Liebe er für seinen Bruder empfindet und wie viel Kraft sie ihm gibt, mit dem größten aller Verluste zu leben. Und diese Botschaft macht Hoffnung, und zwar allen.

Katya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum, Übersetzung: Annette von der Weppen; Carlsen, 2019, 208 Seiten, ab 11, 13 Euro

Unter uns das Meer

steinkellner

Ein Junge, ein Mädchen, beide 16 Jahre alt und beide auf der Suche nach einem bestimmten Menschen. Zufällig begegnen Simon und Antonia sich im Park. Antonia sieht in Simon erst jemand anderen, alles dreht sich vor ihren Augen und sie sinkt in Simons Arme.
Aber wer jetzt eine leicht kitschige Liebesgeschichte vermutet, liegt völlig falsch.
Dieser wilde Ozean den wir Leben nennen von Elisabeth Steinkellner ist viel mehr. Unweigerlich taucht man ein in diesen aus zwei Perspektiven erzählten Roman. Anfangs sind die Wechsel noch etwas verwirrend, doch bald wird klar, dass Simons Passagen immer mit Farben überschrieben sind, Antonias mit prägnanten Begriffen.

Romantische Sehnsucht nach dem Meer

Die Liebe ist nur ein Teilaspekt des Lebens (und des Buchs), wie die formidablen Lassie Singers richtig sangen. Dass die allein schon deutlich mehr sein kann, ahnt Simon bereits: »Woher weiß man, dass man verliebt ist? Dass es wirklich verliebtheit ist und nicht einfach nur anziehung oder der wunsch nach aufregung und abenteuer oder schlichtweg selbstbetrug, weil man in dem anderen jemanden sieht, der man selbst gern ware?«, tippt er ins Telefon. Die Antwort seiner besten Freundin kommt prompt: »Vermutlich gehört das alles irgendwie dazu, der selbstbetrug und die die sehnsucht nach abenteuer und großem gefühlskino …«
Simon ist total verknallt in Paulus, den er vor einem halben Jahr im Zug kennengelernt hat. Leider weiß er kaum mehr als den Vornamen und wo sein Schwarm studiert. Und dass Paulus taucht und unter Wasser fotografiert, weshalb er eine romantische Sehnsucht nach dem ihm unbekannten Meer hat (das Buch spielt in Österreich). Jetzt ist er in den Ferien in jene nicht genannte Universitätsstadt gereist, um Paulus zu suchen – und Farbe in sein eintönig graues Leben zu bringen.

Outing erst drei Jahre später

Dass Simon schwul ist, wird angenehm unaufgeregt thematisiert. Selbst weiß er schon länger, dass er auf Jungs steht. Sich offiziell zu outen, »Farbe zu bekennen«, hat er sich noch nicht getraut. Das passt gut zu den Zahlen einer Jugendstudie, laut der Jungen sich mit gut 13 Jahren innerlich outen, aber im Durchschnitt erst drei Jahre später anderen sagen, dass sie homosexuell sind. Bei Mädchen ist der zeitliche Abstand übrigens nur ein Jahr. Simons Verhalten spiegelt treffend unsere Gesellschaft: Sexualität ist allgegenwärtig, aber das auf T-Shirts des FC St. Pauli aufgedruckte Motto »Liebe doch wen du willst« ist längst noch nicht selbstverständlich.

Die Kapitänin wie ein sterbendes Tier

Antonia vermisst ihren älteren Bruder. Die Leerstelle, die seit Joels Verschwinden in ihrem Leben entstanden ist, bildet auch einen immer breiter werdenden Graben zu allen anderen Menschen in ihrem Leben, zu ihrer besten Freundin, zu ihrer Mutter, zu ihrem Vater, zu ihrem Freund.
»Ich merke, wie unglaublich groß die Wut in mir ist. Die Wut darauf, dass ich immer noch traurig bin wegen Joel und dass ich mich so verdammt machtlos fühle gegen die Leere, die er in mir hinterlassen hat. Die Wut darauf, die falschen Dinge gesagt zu haben, als es darauf angekommen ist, und immer wieder die falschen Dinge tue, wenn es darauf ankommt.«
Antonias Bruder Joel ist kurz vorm Abitur (Österreichisch: Matura) komplett ausgetickt, litt unter Wahnvorstellungen, Angst, Panik, wurde aggressiv. Wie diese schwer zu begreifende Psychose die Familie verzweifelt, hilflos, traurig und wütend macht, Rollen durcheinanderbringt und alles auseinander sprengt, beschreibt Antonia im Laufe des Buchs eindringlich und erschütternd. »Mama war immer die Kapitänin unseres Schiffs … In der Nacht, nachdem sie Joel ins Auto gepackt und in der Psychiatrie abgeliefert hatte, hat sie stundenlang gewimmert wie ein sterbendes Tier.«

Szenen zärtlicher Leichtigkeit

Elisabeth Steinkellner verleiht ihren sich so liebenswert selbst im Weg stehenden Charakteren starke Stimmen. Auch den Nebenfiguren, »als Mutter liebst du niemanden auf der Welt so sehr wie deine Kinder. Und trotzdem machst du Fehler, vielleicht aus Unachtsamkeit oder Angst, vielleicht aus Egoismus oder Ungeduld. Bei dir bleibt am Ende das Gefühl der Liebe. Aber wer weiß, bei deinem Kind wiegt vielleicht der Schrecken schwerer«, sagt Antonias Mama zum Ende.
Zwischen spritzigen Dialogen, gern auch in Form von Textnachrichten, schonungslosen Selbstreflexionen und klassischen Fehlinterpretationen, gewinnen Simon und Antonia immer mehr Klarheit über ihre Wünsche. Typisch pubertäre Stimmungsumschwünge beenden Szenen voller unerwarteter Ausgelassenheit und zärtlicher Leichtigkeit. Es gibt echtes Drama, nie künstlich oder überzogen. So kommt es mal zum heftigen Krach zwischen Antonia und ihrer besten Freundin. Aber das ist nicht das Ende: Ines schätzt es nämlich, dass Antonia sehr emotional agiert und sich nicht verstellt, um anderen zu gefallen.

Knoten lösen

»Ich weiß selber nicht, warum ich das Gefühl habe, dass mir die richtigen Worte fehlen«, sagt Simon am Anfang. Auch seine Hände versteckt er lieber zu Fäusten in den Hosentaschen geballt, als jemandem zu nahe zu kommen, seltene Gesten geraten ihm zum Slapstick. Bei Antonia aber macht er von Anfang an instinktiv fast alles richtig. So lösen sich bei beiden nicht nur ein paar hartnäckige Knoten im Schopf. Und beide finden ihren Weg zum Meer, mit dem sie ganz unterschiedliche Gefühle assoziieren.
Steinkellner hat auf jeden Fall genau die richtigen Worte für diesen vielschichtigen, brillanten Roman. Sie ist eine der faszinierendsten Jugendbuchautorinnen aus Österreich, seit der wunderbaren, im vergangenen Jahr gestorbenen Christine Nöstlinger.

Elisabeth Steinkellner: Dieser wilde Ozean den wir Leben nennen, Beltz & Gelberg, 2018, 236 Seiten, ab 14, 13,95 Euro

Diese ganze Energie stirbt nie

Long

Ein brüllendheißer Julitag. Ein Stau vor New York. Mittendrin eine Familie in einem Mini. Supersympathische Leute, Vater, Mutter, zwei Jungs, der jüngere, Griff Rhyss, hat Geburtstag, 13 Jahre ist er. Hayley Long erzählt aus der Sicht des zwei Jahren älteren Dylan Thomas. Nicht zufällig trägt der den Namen des berühmten walisischen Dichters: Ein Junge sparsam und behutsam ausgewählter Worte und ein faszinierender und pointierter Erzähler.
Die Familie lebt nach längeren Aufenthalten in London, München, Shanghai und Barcelona jetzt in New York und überlegt erstmals zu bleiben. Es sind waschechte Briten, sie sagen Motor- nicht Highway und die Mutter, eine Waliserin, tadelt Griff mit gespielter Empörung, als der stöhnt: »Ich schwitze mir den Arsch ab.«

Letzte Hoffnung Wales

Dann passiert ein schrecklicher Unfall. Zurück bleibt ein schwer traumatisierter, zutiefst verzweifelter und todtrauriger 13-Jähriger. Und Dylan Thomas, der sich an den nächstfernen Ort wünscht. Und doch alles versucht, um seinen jüngeren Bruder ins Leben zurückzuholen.
Weil die Familie eigentlich immer nur sich selbst hatte, landen die Brüder zunächst bei der einzigen Freundin in New York, Blessing Knowles, Arbeitgeberin der Eltern, die als Lehrer gearbeitet haben, und Schuldirektorin der Jungs, was an sich schon eine komische Situation ist. Auf der Suche nach Angehörigen landen die Brüder durch Vermittlung des britischen Konsulats schließlich bei der Cousine ihrer Mutter und deren Mann in Wales.
»Aberythwyth war unsere letzte Hoffnung«, sagt Dylan. Obwohl sich Blessing wirklich rührend gekümmert hat und Griff sogar überzeugen konnte, am »Tag des B-Wortes« mitzukommen, »ihr wisst schon Asche zu Asche und Staub zu Staub und so weiter«, der Tag, »an dem mein Hirn wie ein Panik-Tornado davonzuwirbeln droht«, bleibt Griff wie versteinert, ein totenstiller, dunkler Schatten seines früheren überschäumenden Ichs.

Eine Katze wie ein Früchtebrot

Nun also Aberythwyth in Wales, ein Kaff im Vergleich zum gigantischen New York, eingeklemmt zwischen schiefergrauen Bergen, unter einem meist grauen Himmel, am silbergrau schimmernden Meer. Mit einer Sprache, die man nicht versteht und Straßenschildern, deren Schriftzüge man nicht mal aussprechen kann. Bei einem kinderlosen, mittelaltem Paar, das so ganz anders ist als es die lebenslustigen, weltgewandten, viel jünger und wilder, auch verrückter und verliebter wirkenden Eltern es gewesen waren.
Griff erkennt zwar, wie freundlich und liebevoll bemüht Tante und Onkel sind. Aber in ihm drin ist nur Trauer und Verzweiflung, nichts und niemand kommt an ihn ran. Ein winziges bisschen können Tiere ihn trösten, erst Blessings Labrador Marlon, dann in Wales die schwarz und karamellfarbene Katze Bara Brith, benannt nach dem so aussehenden walisischen Früchtebrot, von dem Griff auch noch nie gehört hat.

Tod und Trauer, Leben und Liebe

Ist  Der nächstferne Ort die perfekte Ferienlektüre? Ja! Und zwar nicht, weil es im Juli auf einem kochend heißen Highway in New York beginnt und ein Jahr später, an Griffs 14. Geburtstag im mildem Wales endet. Sondern weil Dylan Thomas so hinreißend und fantastisch erzählt und uns mitnimmt zu ganz besonderen Momenten. Berührend erinnert er sich an Situationen, Orte und Menschen, seine Eltern und seine große Liebe Matilda aus München.
Es ist ein Buch über Verlust und Trauer – und doch voll von unfassbar viel Leben. Und von Liebe, die Liebe von Eltern zu ihren Kindern, die irre peinliche Liebe zwischen den Eltern (»ich und Dylan hätten fast gekotzt, weil unsere Eltern rumgeknutscht haben«), das erste Verlieben, die erste enttäuschte Liebe, die tröstende Liebe zu Tieren, die Kraft der Liebe: »Die Menschen, die man liebt, sind nie wirklich weg«, sagte Griff. »Diese ganze Energie muss schließlich irgendwohin.«

Beach Boys, Oasis und One Direction

Man lernt tolle, ganz unterschiedliche Menschen kennen. Auch Musik, die Magie, die von ihr ausgeht, spielt ein große Rolle: Nicht nur das titelgebende, kaum bekannte Instrumentalstück von den Beach Boys, The Nearest Faraway Place. Auch der kraftvolle, warme Souls Aretha Franklins, Brit-Pop von Oasis und Grunge von Nirwana begleiten die Geschichte. Sogar The Story of my Life der Boyband One Direction gehört dazu. Und ein bisschen Dylan Thomas, also der Originalschriftsteller und sein Poem Clown im Mond. Hayley Long motiviert einen nebenbei, ein paar Musikvideos zu gucken. Oder nach dem Gedicht zu suchen.
Man erfährt auch ein bisschen von anderen Städten und Ländern. Nicht zuletzt ist es eine Liebeserklärung an Hayley Longs Heimat, das spröde Wales und seine eigentümlichen und herzlichen Bewohner. Josefine Haubold übersetzt ganz im Sinne Dylan Thomas’, also des jüngeren Erzählers, warm, einfühlend, witzig und authentisch, jedes Wort treffend, keins überflüssig. »Ich sah, wie ihr Lächeln in sich zusammenfiel. Wie bei jemanden, dessen iPhone gerade in den Gully gefallen ist.«
Das ist nur ein Beispiel, Dylan beschreibt so eine hilflose Krankenschwester. Und »dann schaute eine Traumatherapeutin vorbei, die es tatsächlich fertigbrachte, dass wir uns noch traumatisierter fühlten.«
Leider ist dies auch das letzte Buch aus dem Verlag Königskinder. Was auch noch ein guter Grund ist, Hayley Longs Der nächstferne Ort  in diesen Sommerferien zu lesen und vielen davon zu erzählen.

Hayley Long: Der nächstferne Ort, Übersetzung: Josefine Haubold, Königskinder, 2018, 328 Seiten, ab 14, 19,99 Euro

Wunderbar altmodisch

willoughby

Ich muss dich etwas fragen.« Mr Willoughby kaute einen Moment an seiner Lippe.
»Ja, Liebster?«
»Magst du unsere Kinder?«
»Oh, nein«, antwortete Mrs Willoughby. »Hab ich noch nie. Besonders den Großen. Wie heißt der noch mal?«
»Timothy Anthony Malachy Willoughby.«
»Genau, der. Den mag ich am allerwenigsten. Aber die anderen sind ebenfalls schrecklich. Das Mädchen quengelt ständig, und vor zwei Tagen hat sie sogar versucht, mich dazu zu bringen, einen hässlichen Säugling zu adoptieren.«
Ihrem Mann schauderte.
»Und dann sind da noch die beiden, die ich nie auseinanderhalten kann«, fuhr Mrs Willoughby fort.
»Die Zwillinge.«
»Ja, genau die. Wieso um Himmels willen müssen die so gleich aussehen?«

Mr und Mrs Willoughby können ihre Kinder nicht ausstehen.
Kein Wunder, dass die Abneigung längst gegenseitig ist und sich die vier Willoughby-Kinder, der zwölfjährige Timothy, die Zwillinge Barnaby A und B, zehn Jahre alt, sowie ihre sechsjährige Schwester Jane nichts sehnlicher wünschen als Waisen zu sein.

Vertrackt. Teuflisch. Gruselig

Als Ältester härtet Timothy seine jüngeren Geschwister mit Schikanen, demütigenden Spielen und Beschimpfungen gegen jede Gefühlsduselei ab, was ihn im Vergleich mit den Eltern sehr fürsorglich macht. Dass Mr und Mrs Willoughby überhaupt so viele Kinder bekommen haben, liegt daran, dass sie einander in ihrer Bösartigkeit sehr zugetan sind – Unfähigkeit oder Unwillen, Kinder groß zu ziehen, schützen leider nicht vor Schwangerschaft.
Als Erwachsener ist man noch kurz geneigt, die Eltern teilweise zu entschuldigen: Dass die Mutter nur widerwillig kocht, macht sie fast sympathisch. Auch dass der Vater Waffen hasst und Ehrfurcht ihn abstößt, sind nicht die schlechtesten Charakterzüge.
Doch spätestens als die Erwachsenen sich auf eine Reise begeben, das Haus zum Verkauf anbieten und ihre Kinder rausschmeißen lassen wollen, ist klar: Diese Eltern sind wirklich schrecklich! Oder wie die Kinder ganz richtig sagen: »Vertrackt. Teuflisch. Gruselig. Widerlich, absolut widerlich.«

Kinderbuchklassiker mit schrägem Humor

Das ist die perfekte Ausgangssituation für eine wunderbar altmodische Geschichte, die gleichzeitig zahlreiche Kinderbuchklassiker und Märchen karikiert.
Zwar sind es vor allem angloamerikanische Erzählungen wie Der geheime Garten, Die Abenteuer des Huckleberry Finn, James und der Riesenpfirsich oder Betty und ihre Schwestern, aber das Prinzip ist auch hierzulande verinnerlicht worden: Grundvoraussetzung ist fast immer, dass die Helden dieser Geschichten Waisen und auf sich allein gestellt sind.
Zur schrecklichen Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby gehören noch ein Findelkind und ein depressiver Millionär, dessen Frau und Kind von einer Lawine verschüttet wurden.
Autorin Lois Lowry, Jahrgang 1937, mischt exzellent Kinderbücher, die sie geprägt haben, mit erfrischender Direktheit und schrägem Humor: Zum Beispiel zeigt sie Amerikaner in der Schweiz, die genau jene Arroganz an den Tag legen, wie umgekehrt alle die Leute, die denken, sie könnten Englisch sprechen, weil es vermeintlich so simpel ist. »It makesch me vant to kotz«, ist zwar sehr treffend, aber kein Deutsch, nicht mal Schwyzerdütsch. Johanna Spyris Heidi wird von Tim beim Anblick eines späten Heimkehrers originell zusammengefasst: »Das ist der Ziegenpeter! Wir könnten ihm Lesen und Schreiben beibringen, und danach lächeln wir, umarmen uns und sagen irgendwelche religiösen Sachen.«

Kompetentes Kindermädchen

Es ist eine ziemlich gefühlskalte und kinderfeindliche Welt, in der sich nicht nur die Geschwister Willoughby behaupten müssen. Das Gegenteil der Realität vieler Kinder heutzutage, die sich vor ihren Helikoptereltern kaum retten können.
Und wenn wirklich alles ganz elend ist, dann geschieht manchmal ein Wunder – in diesem Fall in Gestalt einer handfesten, grundehrlichen und herzensguten Kinderfrau, die aber auf gar keinen Fall mit Mary Poppins verglichen werden will. »Diese Nachtschwärmerin, ich werde fast zuckerkrank, wenn ich nur an sie denke.« Womit sie  P .L. Travers selbstbewusster und eigenwilliger Originalfigur Unrecht tut, aber das gleichnamige Musical dominiert eben das Image.
»Ich bin einfach ein kompetentes und professionelles Kindermädchen«, sagt sie über sich selbst.
Neben ihr ist die kleine Jane die zweite, anders starke und sehr intelligente weibliche Figur. Beide bieten den notorischen Dulderinnen von Unglück und sozialer Ungerechtigkeit wie Jane Eyre oder Polyanna Paroli.

Wie am Ende (fast) alle glücklich werden und was das mit Schokoriegeln, einem sehr unglücklichen Jungen in der Schweiz und der Tatsache, dass eine protestantische Nanny nicht ins Kloster gehen kann, zu tun hat, erfährt man in dieser schrecklich schönen und abscheulich witzigen Geschichte.

Lois Lowry: Die schreckliche Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby (Und wie am Ende alle glücklich wurden), Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, dtv junior, 2019, 176 Seiten, ab 9, 12,95 Euro

Sommer der Veränderungen

moon

Gustav schämt sich. Denn ihr wachsen zwei Erbsen auf der Brust.
Doch, doch, das Geschlecht im zweiten Satz stimmt schon, denn Gustav ist ein Mädchen, heißt eigentlich anders, aber daran scheint sich in Lara Schützsacks Roman Sonne Moon und Sterne niemand mehr zu erinnern.
Gustav wird bald zwölf, und sie merkt, dass ab diesem Sommer nichts mehr so sein wird wie zuvor. Nicht nur wegen der Erbsen.
Denn zwischen ihren Eltern Iris und Erik herrscht Krise – die Pubertät der Eltern wie Gustav das nennt. Weshalb der Urlaub in Dänemark ausfällt, denn die Erwachsenen brauchen Abstand voneinander und wollen nicht im engen Camper aufeinander hocken. Gustavs Schwestern Ramona und Sara sind da auch keine Hilfe. Sie ziehen Gustav wegen der Erbsen auf, hängen nur am Musiktropf des iPods und jammern über nicht sichtbare Pickel. Und schwärmen von Jungs. Was Gustav völlig unerträglich findet.

Geheimnisvolle Glitzerleggins

Doch kurz vor den Sommerferien taucht in ihrer Klasse Moon auf. Er trägt Glitzerleggins und lange Haare und ist irgendwie geheimnisvoll. Während Gustavs Familie also im Krisen-Chaos versinkt, geht sie mit ihrem altersschwachen Hund Sand Gassi – und trifft Moon beim Flaschensammeln wieder.
Und in dem brütend-heißen Berlin entspinnt sich eine der charmantesten und ans Herz gehendsten Freundschafts- und Erste-Liebe-Geschichten, die mir seit langem untergekommen ist.

Jenseits aller Klischees

Schützsack erzählt mit wunderbaren Bildern (»In der Küche macht sich eine beklemmende Stimmung breit wie ein Tiefdruckgebiet.«) von einer Umbruchzeit im Leben eines Kindes – ohne auch nur irgendwie klischeehaft zu werden. Sie thematisiert nicht, warum Gustav Gustav genannt wird oder Moon Glitzerleggins trägt, sie zeigt es einfach und lässt ihren Figuren alle Freiheiten, so zu sein, wie sie wollen. Das ist in Zeiten, wo sich gefühlt alle Welt auf Instagram als Supermodel darstellt, so erholsam und wohltuend, dass man Gustav und Moon nach dem Schluss der Geschichte eigentlich gar nicht gehen lassen möchte. Aber man ahnt zum Glück, dass die beiden noch eine ganze Weile den Weg des Lebens gemeinsam bestreiten und dabei ganz viel Knisterkaugummi futtern werden.

Hoffnungsfroh in die Zukunft

Das soll jetzt nicht heißen, dass in Sonne Moon und Sterne alles schön und positiv ausgeht. Der Tod gehört zu dieser Geschichte genauso wie das Ende einer Liebe und der Anfang einer neuen. Damit macht Lara Schützsack ihren Leser_innen, die am Ende ihrer Kindheit ankommen, klar, dass das Leben eben nicht nur Glitzer und Knister bereithält. Doch dies gelingt ihr auf ganz großartige und hoffnungsfrohe Art, sodass diese Geschichte noch lange nachhallt – und man sich auf den nächsten Sommer, die kommenden Umbrüche und vielleicht eine neue Liebe freut.

Lara Schützsack: Sonne Moon und Sterne, Säuerländer, 2019, 240 Seiten, ab 10, 14 Euro

Plötzlich Mama

Dass das mit dem „großen bösen Fuchs“, wie der französische Illustrator Benjamin Renner seinen neuen Comic nennt, pures Wunschdenken des Helden ist, sieht man schon auf dem Titelbild: An das ziemlich müde, verkatert und absolut harmlos aussehende Pelztier kuscheln sich liebe- und vertrauensvoll drei putzmuntere Küken .

Tatsächlich haben Füchse kleine Vögel und auch schon deren Vorstufen, die Eier, zum Fressen gern, wortwörtlich. Friedlich mit ihnen zu spielen liegt nicht in ihrer Natur und entspricht bestimmt nicht dem Image eines gefährlichen Raubtiers. Das nennt man eine klassische Text-Bild-Schere – ein sehr anschaulicher Begriff aus dem Journalismus. Und etwas, das jeder aus seinem eigenen Leben nur allzu gut kennt: Man wäre gern souverän, cool, über den Dingen stehend und von allen respektiert. Oder eine erfolgreiche Karrierefrau, die Chefin, auf die alle hören, immer Herrin (absurder Ausdruck!) der Lage, die nebenher lässig Kinder wuppt und ebenso beiläufig ein fünfgängiges, total leckeres und gesundes Menü aus dem Ärmel zaubert. Aber so läuft’s selten mit den lieben Kleinen.

Aber wie ist der arme Fuchs überhaupt an den Anhang gekommen? Womit wir wieder zum klaffenden Unterschied zwischen Vorstellung und Realität kommen: Dieser Fuchs ist ein Loser, die totale Lusche. Niemand nimmt ihn ernst, wenn er sich auf den Bauernhof schleicht, um ein Ei zu klauen gegen seinen großen Hunger, da lachen ja die Hühner, im besten Fall. Meist sind sie ziemlich genervt vom notorischen Einbrecher, dem „rothaarigen Irren“ und schmeißen ihn hochkant wieder raus.

Vom Wolf kommt dann der vermeintlich raffinierte, todsichere Plan, dass der Fuchs ein paar Eier klauen soll, sie ausbrütet, und schon hat man deutlich mehr davon, nämlich ein paar leckere Hühnchen. Blöd nur, dass das frisch geschlüpfte Federvieh sich in bester Konrad-Lorenz-Manier auf das erstbeste Lebewesen fixiert, das sie sehen. Fortan denken die drei Federbälle nicht nur, der Fuchs sei ihre Mami, sondern halten sich selbst für kleine Füchse. Sie sind voller Bewunderung für ihre Mami und ihr liebstes Spiel wird eben das vom großen, bösen Fuchs, der sogar dem Wolf Angst macht. Natürlich lässt sich Isegrim überhaupt nicht von dem deutlich kleineren, rotbraunen Mit(-wald-)bewohner einschüchtern und fordert schon bald seinen Anteil vom genialen Plan: Hühnchenhappen. Dem stehen aber die neu entdeckten Gefühle des Fuchses entgegen. Er ist ganz gerührt von seinen Kükenkindern, geht ganz in der Mutterrolle auf und lässt sich schließlich auf enorme, auch schmerzhafte Kompromisse ein, um mit seinen Kleinen zusammensein zu können … und das kommt einem irgendwie bekannt vor.

Jüngere Leser erfreuen sich an den cartoonesken Übertreibungen, da wird ordentlich zugeschlagen, Gegner im Tom-und-Jerry-Stil mit Raketen in den Himmel geschossen, es gibt absurde Kostüme, und die Kampfküken behalten fast immer die Oberhand, ob es um Schlafplätze, Spielzeiten, Geschwisterrangeleien oder Mäkeleien beim Essen geht, und wenn’s wirklich brenzlig wird, rettet Mama sie.

Und sie lernen mal wieder, dass es nicht schlau ist, sich mit dem obercoolen Wald- bzw. Spielplatzmacker einzulassen, wenn es dem eigenen Naturell widerspricht.

Eltern erkennen sich in den pointierten, von Benjamin Mildner nonchalant mit trockenem Humor übersetzten Dialogen wieder, nämlich, was die Erziehung, die angeblich „zu emotionale Bindung“ angeht und auch in den nervtötend sinnfreien „Gesprächen“ mit dem frisch die Welt erkundenden Nachwuchs. Schlaflose, kräftezehrende Nächte, nie seine Ruhe haben und mal für sich sein können, immer verfügbar sein zu müssen ist ebenso dabei wie totale Sentimentalität angesichts kindlicher Liebesbekundungen für die „beste, liebste Mami“ (geht einem später auch so, wenn der pubertär-grummelige Sohn plötzlich sagt „Hab dich lieb, Mama“; der Verstand sagt „Was für ein Hollywood-Kitsch“, aber das Herz ist gerührt).

Für alle gibt’s schräge Nebenfiguren und Charaktertypen, etwa der schluffige Hofhund, der sich wie ein Dorfbürgermeister um die Begehrlichkeiten der Hofbewohner kümmern soll und geschickt alle Arbeit delegiert. Oder die extrem dominante, meckernde Oberhenne mit ihren militärischen Bürgerwehrambitionen gegen einen eigentlich harmlosen, höchstens lästigen Gegner.

Genial sind Benjamin Renners Illustrationen: Im Fuchs spiegelt sich das gesamte emotionale Spektrum, er ist euphorisch, frustriert, voller Liebe, Fürsorge und Zuneigung, zweifelt und verzweifelt, völlig erschöpft, am Rand des Nervenzusammenbruchs, wütend bis zum Ausflippen, manchmal treudoof und manchmal sehr schlau – das alles zeigt sich in absolut treffend gezeichneten Grimassen und Gesten. Bei den Küken, die kaum mehr sind als ein helles Oval (auch als sie schon lange nicht mehr in der Eierschale stecken) gelingt es Renner sogar in absolut minimalistischer Form, ihnen enorm viel Leben einzuhauchen.

Bücher mit Füchsen gefallen mir per se, diesen hinreißend hübschen, klugen Einzelgängern (umso enttäuschter war ich vom unerträglich naturalistischen Geraune in Sarah Pennybeckers „Mein Freund Pax“, das deshalb hier auch nicht empfohlen wurde). Und Benjamin Renners gar nicht großer, böser Fuchs ist ein besonders liebenswerter.

Nicht zuletzt zeigt sich wieder einmal, dass es keine Blutsverwandtschaft und größtmögliche genetische Übereinstimmung braucht, um echte Familienbande zu knüpfen.

Benjamin Renner: Der große böse Fuchs, Übersetzung: Benjamin Mildner, Avant Verlag, 192 Seiten, ab 10, 25 Euro

 

 

Drachenstark

Eigentlich sage ich ja immer, ich lese keine Fantasy. Aber dann fallen mir doch so viele Titel ein, in denen mich Magier, Hexen, Drachen, fantastische Wesen und mächtige Objekte aufs Beste unterhalten haben, dass ich meine Aussage wohl etwas relativieren muss.

Nur reiht sich ein weiteres Buch in diese Gruppe ein, das mich beglückt hat: Aventurine – Das Mädchen mit dem Drachenherz der walisischen Autorin Stephanie Burgis, wunderbar übersetzt von Sigrid Ruschmeier.
Hierin erzählt Burgis die Geschichte von Aventurine, ihres Zeichens ein junger Drachen-Schlüpfling. Aventurine ist mit ihren 13 Jahren noch viel zu jung, um aus der heimischen Höhle in die Welt hinaus zu können. Doch das Drachenmädchen ist zum einen viel zu neugierig, zum anderen will sie ihrer besorgten Familie beweisen, dass sie draußen überleben kann.

In einem unbeobachteten Moment schleicht sich sich über einen Geheimtunnel aus der Höhle und macht sich auf, die Welt zu erobern. Fest nimmt sie sich vor, der gefährlichsten Beute für Drachen, den Menschen, aus dem Weg zu gehen. So wie ihr Großvater es ihr beigebracht hat. Doch dann wird sie von einem unwiderstehlichen, köstlichen, verführerischen, unbekannten, nie-gerochenen Duft angelockt.
Auf einer Lichtung sitzt ein Mensch und kocht heiße Schokolade. Aventurine kann sich nicht losreißen und merkt zu spät, dass der Mensch ein Essensmagier ist. Zu verlockend ist die mit Zimt verfeinerte Schokolade. Aventurines Leidenschaft erwacht. Doch die bezahlt sie mit einem hohen Preis.

Hier muss ich ein kleines Bisschen spoilern, und das ist in diesem Fall durchaus nötig, um den ganzen Drive dieser Geschichte deutlich zu machen: Der Essensmagier verwandelt Aventurine in ein Menschenmädchen, und nun geht ihre Geschichte erst richtig los.
Denn Aventurine muss sich von einem Moment auf den anderen ohne ihre Familie in einer völlig fremden Welt zurechtfinden. Durch die Gelehrsamkeit, die den Drachen zu eigen ist, hat sie ein Mindestmaß an Menschensprache gelernt, doch das Wenige, was sie weiß, hilft ihr nur bedingt weiter. Wohl oder übel muss sie zunächst neue Worte lernen, wie „Haar“, „Augenbrauen“, „Schuhe“ oder „Lebensunterhalt“.

Der Zufall bringt Aventurine schon bald in die Stadt Drachenburg, wo es immerhin drei Schokoladenhäuser gibt. Für das Mädchen ist sofort klar, dass sie dort arbeiten will.

Burgis entwickelt so eine äußerst charmante Entwicklungsgeschichte eines drachenstarken Mädchens. Denn Aventurine lässt sich von den städtischen Eigenheiten und Schwierigkeiten, von hinterlistigen Stadtbewohnern oder arroganten Regierenden nicht einschüchtern. Sie lernt, Freunde zu erkennen und ihnen zu vertrauen, lernt, sich von ihrer Leidenschaft um nichts in der Welt abbringen zu lassen.
Und mit all ihrem Mut, ihrer Neugierde und ihrem unerschrockenen Drachenherz wird Aventurine so zu einem zauberhaften Role Model für junge Leserinnen.
Natürlich vermisst sie durchaus auch ihre Familie, aber sie ist mit so einer gehörigen Portion Resilienz ausgestattet, dass sie abzuwägen weiß und für ihre Leidenschaft bereit ist zu leiden. Aber Fantasy wäre nicht Fantasy, wenn es nicht doch noch ein Happy-End für Aventurine gäbe.

Von Aventurine, die trotz aller Widrigkeiten ihr Drachenherz behält und sich kommenden Herausforderungen unerschrocken stellt, können sich zehnjährigen Mädchen einen gehörigen Riegel Schokolade abbrechen – und sich den Genuss derselben von nichts und niemandem verderben lassen. Nie wieder.

Stephanie Burgis: Aventurine – Das Mädchen mit dem Drachenherz, Übersetzung: Sigrid Ruschmeier, Fischer KJB, 2017, 320 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

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Die Schatzinsel

„Mitten in der Nacht wachte ich auf und konnte nicht mehr einschlafen. Ich hatte solche Angst. Nie Geld zu haben war beängstigend. Und noch beängstigender war die Frage, wie lange wir überhaupt noch durchhalten würden, wenn uns bei jeder Kleinigkeit, die schiefging, gleich das Geld für die Miete fehlte.“

Kitchen-Sink-Drama heißen im Englischen Filme und Romane, in denen es um die Sorgen und Nöte der sogenannten Kleinen Leute geht. Das Geld ist immer knapp, der finanzielle Ruin stets nah und die Schuldenfalle schnappt schnell zu, wenn zum Beispiel die Schuhe zu klein werden, die Spülmaschine das Haus unter Wasser setzt und das Kaninchen krank ist. Das weiß auch und erlebt hautnah die zwölfjährige Holly Theresa Kennet, die mit ihrem älteren Bruder Jonathan und dem jüngeren Davy in einem heruntergekommenen Haus in London über einem Imbiss lebt. Trotzdem ist ihre Geschichte mit dem Titel Eine Insel für uns allein kein Trauerspiel. Sondern ein packendes, großes Abenteuer, bei dem es nicht nur längs durch Großbritannien auf die im Norden Schottlands gelegenen Orkney-Inseln geht. Schatzsuche, Detektivgeschichte, Familienporträt und Sozialstudie vereint Sally Nicholls brillant in ihrem jüngsten Buch. Und während der Vorgänger Wünsche sind für Versager kaum auszuhalten war ob des Teufelskreises, in dem eine zutiefst verletzte Kinderseele feststeckte, möchte man dieses Buch gar nicht aus der Hand legen, weil seine Helden so charmant sind und ihre Erlebnisse so unglaublich spannend. Beate Schäfer ist es wohl ähnlich ergangen, sie hat den Roman einfühlend und dialogstark, ohne Sozialkitsch und Melodramatik, übersetzt.

Angesichts der prekären Lage, in der sich die Geschwister nach dem Krebstod der Mutter befinden, ist ihre Suche nach dem versteckten Schmuck, den ihre Großtante ihnen vermacht hat, kein Kinderfreizeitvergnügen, sondern schiere Notwendigkeit. Holly ist extrem plietsch, kennt sich mit Computern und Programmieren aus, zählt Schlossknacker zu ihren Freunden und hat die einschlägige Kriminalliteratur gelesen, im Gegensatz zu ihren Schulfreunden, die „Sherlock Holmes auch nur über Benedict Cumberbatch kannten“. Es ist immer wieder nett und interessant zu lesen, welche Rolle in englischen Büchern vor allem der Meister der Deduktion nach wie vor spielt und zu was er inspiriert. Statt mit Lupe und dem Wissen von 100 Variationen von Zigarrenasche helfen heute Rechner, Digitalkameras, GPS-Daten und digitale Netzwerke bei des Rätsels Lösung.

Holly hätte man gern als Freundin: Sie ist mutig, klug, witzig, gibt nicht auf und lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern. Ihre Stärke sind ihre besondere Familie, vor allem ihre Brüder, für die beide sie sich als „halbe Erwachsene“ verantwortlich fühlt, und ihre Freunde – Menschen, denen sie vertraut und auf die sie sich verlassen kann. Das ist der große Unterschied zur kaputten Heldin des vorhergehenden Romans, die immer wieder enttäuscht, verraten und im Stich gelassen wurde und deshalb niemandem vertraut, eine Insel für sich allein sozusagen, eine isolierte, einsame.

Die Insel für uns allein dagegen ist ein Zuhause, gebaut aus der besonderen Dreisamkeit, die die Geschwister zusammenhält. Zwar hat der 18-jährige Jonathan das Sorgerecht für die Jüngeren übernommen, aber jeder trägt seinen Teil bei, dass sie trotz ständiger Geldsorgen, gemeinsam den Alltag gewuppt kriegen und glücklich sein können.

Hier wird nicht verraten, was es mit den Fotos und dem versteckten Metallkoffer auf sich hat und ob sie den Schatz tatsächlich finden. Denn eigentlich finden Holly, Jonathan und Davy bei diesem Abenteuer, das das Leben an sich ist, etwas viel Besseres, Grandioses. Genau deshalb brauchen wir in aktuell ziemlich düsteren, verstörenden Zeiten Bücher wie dieses: herzergreifende kichen sink adventures.

Elke von Berkholz

Sally Nicholls: Eine Insel für uns allein, Übersetzung: Beate Schäfer, dtv Reihe Hanser 2017, 216 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

Kinder brauchen Tiere

schomburgKinder und Tiere gehen in den (sozialen) Medien ja bekanntlich immer. In Kombination sind sie eigentlich unschlagbar.

Drei wunderbare Kinder-Tier-Geschichten haben mich in den vergangenen Wochen bezaubert. Etwas länger harrt hier schon Chamäleon Ottilie. Es scheint fast, als habe sich das Bilderbuch von Andrea Schomburg so unsichtbar gemacht, wie deren Hauptdarstellerin … Nein, im Ernst: Andrea Schomburg erzählt von Paul und Anna Sausebier aus Bonn. Die beiden Geschwister wünschen sich sehnlichst ein Tier, aber es ist wie so oft, die Eltern sagen Nein: Tiere machen Dreck und alles kaputt, sind zu groß oder zu gefährlich. Kennt man ja, diese Bedenken.

Dabei hat sich bei Familie Sausebier schon seit einiger Zeit ganz unbemerkt das Chamäleon Ottilie eingenistet. Durch seine Mimikri-Funktion verschmilzt es mal mit dem Sofakissen, mal mit dem Teddybären, der Tapete oder dem Mantel der Tante. Bis es eines Tages zur Katastrophe kommt und das Karo-Muster von der Bettwäsche nicht mehr weggeht. Anna und Paul entdecken Ottilie sofort… Na, wenn das mal gutgeht!

Nicht nur die Wahl des Chamäleons als Haupt- und Haustier ist außergewöhnlich und eine Herausforderung für die kleinen Leser, denn sie müssen das Tierchen auf jeder Seite erst einmal ausfindig machen, auch die Reime von Andrea Schomburg sind ein weiteres Mal so famos und leicht fließend, dass es eine Freude ist, sie laut vorzulesen. Fast möchte man nach Ende der Lektüre ein Chamäleon als Haustier anschaffen!

Ein ganz anderes Haustier wird hingegen in Jan Bircks Buch Zarah & Zottel zur Rettung für die junge Heldin.
Zarah ist mit ihrer Mutter in eine neue Wohnung gezogen. Unten im Hof, wo die Kinder spielen, kennt sie noch niemanden – und niemand will mit ihr spielen.
Zarah wünscht sich dringend einen Freund, doch der ist hier erst mal nicht zu finden. Sie träumt von einem Pferd, denn sie steht auf Indianer, doch ein Pferd passt leider nicht in eine Etagenwohnung – aber vielleicht ein Pony, wenn es klein genug ist.

Am nächsten Tag macht sich Zarah zum „Laden für alles“ auf, und der patente Verkäufer weiß Rat bzw. hat ein zotteliges vierbeiniges Tier für sie. Zarah steigt auf und reitet auf Zottel nach Hause. Dass Zottel Pfoten statt Hufe hat, an der Ampel das Bein zum Pinkeln hebt und die Kinder im Hof über Zottel lachen, stört sie nicht. Zottel passt in den Aufzug und in die Wohnung. Nur leider hat Mama kein Geld, um Zottel zu bezahlen. Doch auch dieses Problem lässt sich lösen …

Mit dem Zottelponyhund zeigt Jan Birck jungen Lesenden, dass es in einer Freundschaft ganz und gar unwichtig ist, was man ist oder wo man herkommt. Zusammenhalt über die Grenzen von Anatomie oder Gattung ist wichtiger, als die genauen Definitionen von Herkunft und Abstammung. So kann ein Hund durchaus auch als Pony durchgehen, und was die Hautfarben von Menschen angeht, so sind die nicht der Rede wert, wie es Jan Birck hier ganz selbstverständlich macht. Dass ich das hier extra erwähnen muss, zeigt allerdings, dass es immer noch nicht normal und eben nicht selbstverständlich ist, dass eine Bilderbuchheldin eine dunklere Hautfarbe hat als ihre Mama und die Kinder im Hof. Von solchen Heldinnen sollte es viel mehr geben, so dass die Diversität unserer Gesellschaft in den Büchern tatsächlich ein Abbild findet.

So schön das Zusammenleben mit Tieren auch sein kann, irgendwann kommt unweigerlich der Tag, an dem die Hausgenossen sterben. Dann wird aus Freude plötzlich Trauer und man stolpert in die Trauerpfützen.

So erklärt es der Kinderarzt der kleinen Leni, deren Hund Frieda neulich gestorben ist, im Bilderbuch von Hannah-Marie Heine. Zuhause erinnert Leni vieles an Frieda, und schwupps laufen ihr schon wieder die Tränen aus den Augen und der Bauch zieht sich zusammen. Aber ganz schnell hopst Leni auch wieder aus der Trauerpfütze heraus, genießt ein Stück Zuckerkuchen von Oma und schaut in die Sterne. Von dort oben kuckt Frieda ihr vielleicht zu …

Einfühlsam zeigt Hannah-Marie Heine kleinen Tierfreundinnen, dass es ganz normal ist, dass man seinem vierbeinigen oder geflügelten Freund nachtrauert. Gefühlsschwankungen gehören zum Abschied dazu, aber nach der Trauer kommt auch die Freude wieder. Wenn man dann noch die Erinnerungen an das geliebte Tier in einen würdigen Rahmen kleidet, kann man sicher sein, dass es auch weiterhin bei einem ist.

Dass Verlust und Tod Teil unseres Lebens sind, erfahren Kinder hier durch ganz alltägliche Szenen – wunderbar lässig von Katharina Vöhringer gezeichnet –, und genau die können helfen, so schwierige Momente zu bewältigen, wenn die geliebten Tiere plötzlich nicht mehr da sind.

 

Andrea Schomburg: Neu in der Familie: Chamäleon Ottilie, Illustration: Barbara Scholz, Sauerländer, 2016, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Jan Birck: Zarah & Zottel – Ein Pony auf vier Pfoten, Sauerländer, 2017, 64 Seiten, ab 5, 9,99 Euro

Hannah-Marie Heine: Leni und die Trauerpfützen, Illustration: Katharina Vöhringer, Kids in Balance, 2017, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

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Wider die Bequemlichkeit

brüder„Wenn du vor mir stirbst, schreibe ich ein Buch über dich“, sagt der 18-jährige Quentin Bell zu seinem knapp drei Jahre älteren Bruder Julian. Das Buch Brüder für immer sollte es also nicht geben. Dann hätte Quentin seinen älteren Bruder und besten Freund noch. Ihren Eltern und Angehörigen wäre die Trauer über den frühen Tod des Sohns, Neffen und Freundes erspart geblieben. Vor allem der Mutter der beiden, der Malerin und Innenarchitektin Vanessa Bell, ältere Schwester der Schriftstellerin Virginia Woolf.

Aber es ist gut, dass es diesen Roman gibt, angelehnt an realen, historischen Personen, erdacht und geschrieben vom vielfach ausgezeichneten niederländischen Autor Rindert Kromhout.

Denn was von einigen Kritikern nur als die etwas naiv erzählte Geschichte zweier Brüder, aufgewachsen in einem unkonventionellen Milieu, aufgefasst wurde, ist tatsächlich ein hinreißendes Porträt der aus Schriftstellern, Journalisten, Verlegern, Künstlern und Wissenschaftlern bestehenden Bloomsbury Group.

Und es ist ein Manifest des freien Denkens, geradezu ein Imperativ sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, ohne Vorurteile, ohne geistige Scheuklappen, und nach seinen Idealen zu leben und zu lieben. Das ist heute, in Zeiten von Fremdenhass und nationalistischer Ideologie, religiösem Fanatismus und Vorurteilen gegen alles Nonkonforme, dem Erstarken rechtsradikaler Politiker und Parteien wichtiger denn je.
Die Hauptfiguren in Kromhouts Roman haben wirklich gelebt: Die Malerin Vanessa Bell, geborene Stephen, ihr Ehemann, der Kunstkritiker und Journalist Clive Bell, Vanessa Bells homosexueller Freund, künstlerischer Partner und Liebhaber Duncan Grant und dessen Freund David. Zudem Vanessa und Clive Bells Söhne Julian und Quentin sowie deren jüngere Halbschwester Angelica. Sie alle lebten in Charleston, einem von Vanessa und Duncan zum lebendigen Kunstwerk gestalteten Haus auf dem Land in Sussex.

Am bekanntesten ist die Schriftstellerin Virginia Woolf, Vanessas jüngere Schwester, und deren Ehemann Leonard, Verleger und Publizist. Beide wohnten und arbeiteten im Monk’s House, das in Fahrradfahrtdistanz zu Charleston lag.
Außerdem kommen die Malerin Dora Carrington und ihr Lebenspartner, der Biograf und Kritiker Lytton Strachey, und die Kunstmäzenin Ottoline Morrell vor.

Dazu hat Kromhout diverse Nebenfiguren erdacht, die exzellent zu der ebenso ungewöhnlichen wie liebenswerten Gemeinschaft passen: die patente, großherzige Köchin Grace, ein aufgeschlossener Pfarrer sowie eine anfangs gegenüber den zugezogenen Künstlern sehr skeptische Dorfgemeinschaft.

Kromhout bedient sich eines Kunstgriffs, um seiner Geschichte die gewünschte Perspektive zu geben. Er erzählt vom Erwachsen- und Bewusstwerden unter dem Eindruck des fortschreitenden Faschismus in Europa. Dazu macht er die realen Brüder Bell fast zehn Jahre jünger. 1925 zieht die bunte Familie in das Charleston Haus, da sind Quentin und Julian sechs und acht Jahre alt. Während Julian sich schon früh für Politik interessiert und sich als Jugendlicher den Kommunisten anschließt, ist der Erzähler Quentin ein aufmerksamer Beobachter. Unterstützt von seiner Tante Virginia Woolf beginnt er seine literarischen Ambitionen mit einer Hauszeitung, für die er kluge und witzige Geschichten und Szenen aus dem Alltag in Charleston notiert.

Es ist ebenso faszinierend wie erstaunlich, wie selbstverständlich die Bewohner absolut unkonventionell zusammenleben. Hier halten wahre Zuneigung, Liebe, gemeinsame Interessen, die Kunst und gegenseitiger Respekt die Menschen zusammen, nicht gesellschaftliche und sexuelle Konventionen. Diese Leute sind wirklich glücklich in ihrer selbst gewählten Wunschgemeinschaft, da können die meisten modernen Patchworkfamilien nur von träumen, wo doch immer einer den Kürzeren zieht oder verletzt wird.

Die Kinder verbringen eine Kindheit in ungeheurer Freiheit, mit Baumhaus, Kostümfesten, durch die Felder streifen und Staudämme bauen. Man traut ihnen Vieles zu, spricht mit ihnen offen und auf Augenhöhe, und sie danken dieses Vertrauen, indem sie zu freigeistigen, klugen, toleranten und offenherzigen Menschen heranwachsen.

Kromhout lässt Quentin von diesen zwölf Jahren, von der Ankunft in Charleston House bis zu Julians Tod im Spanischen Bürgerkrieg, in einer einfachen, klaren und unaufgeregten Sprache erzählen. Birgit Erdmann hat das erfrischend und flott zu lesen übersetzt.

Nebenbei gibt Quentins Tante Virginia Woolf Einblick in das Schreiben und was es bedeutet, Schriftsteller zu sein. Sie ist auch selbst eine kluge Beobachterin des Weltgeschehens und warnt vor gefährlichen Simplifizierungen: So war Benito Mussolini, Führer der italienischen Faschisten, kein „dummer Diktator“, wie Quentin ihn in einer Geschichte darstellen möchte: Mussolini idealisierte Bücher, etablierte einen jährlichen Feiertag des Buchs, schrieb sogar selbst, „ein Kollege“, wie Virginia erklärt. Natürlich wusste er genau, was er die Leute lesen ließ, aber anstatt Bücher zu verbrennen und zu verbieten, instrumentalisierte und unterminierte er geschickt ein Medium, das eigentlich für geistige Freiheit steht.

Brüder für immer ist ein differenzierter und klarer Blick auf Entstehung und Mechanismus von Faschismus und Diktatur, die ja nur die Oberhand und schließlich die Macht gewinnen, weil so viele Menschen bereitwillig mitmachen oder es zumindest zulassen. „Die meisten Menschen finden es großartig, wenn es jemanden gibt, der für sie nachdenkt. Dann brauchen sie sich um nichts zu kümmern. Sie brauchen nicht darüber nachzudenken, ob etwas sein muss. Nie müssen sie zweifeln oder unsicher sein“, erklärt Clive Bell seinen Söhnen, „das ist pure Bequemlichkeit. Werdet nicht bequem. Denkt immer darüber nach, was ihr selbst wollt und meint. Notfalls müsst ihr dafür kämpfen.“

In diesem Sinne: Bleibt unbequem! Lest unbequeme Bücher, besonders, wenn es so schöne, bewegende und gut erzählte wie „Brüder für immer“ sind.

Elke von Berkholz

Rindert Kromhout: Brüder für immer, Übersetzung: Birgit Erdmann, Mixtvison, 2016, 300 Seiten, ab 12, 14, 90 Euro,  Jahren