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Vorbildhaft

Ich stelle hier ja in unregelmäßigen Abständen – also eigentlich immer, wenn mir eine entsprechende Publikation unterkommt –  Bücher über den Widerstand während der Nazi-Diktatur vor. Sei es über die Weiße Rose, die Edelweißpiraten oder die Meuten in Leipzig. Das kann anscheinend auch gar nicht oft genug geschehen, betrachtet man die virtuelle Aufregung, die dieser Tage um den Hashtag #nazisraus und die Morddrohungen an eine Journalistin durchs Netz lief. Die Selbstverständlichkeit von #nazisraus ist heute also keine Selbstverständlichkeit mehr – und das muss zu denken geben. Umso wichtiger ist es, die Fakten und Geschehnisse der Nazi-Diktatur zu kennen und auch die Formen des damaligen Widerstandes zu würdigen. Ein neues Puzzelteil in diesem immensen Geschichtsbild kommt nun also mit einem neuen Werk über eine noch ziemlich unbekannte Widerstandsgruppe hinzu, eine Gruppe Erfurter Jugendlicher. In der Graphic Novel Nieder mit Hitler oder Warum Karl kein Radfahrer sein wollte erzählen Jochen Voit und Hamed Eshrat die Geschichte von Karl Metzner und dessen Freunden.

Widerstand in Erfurt

Ausgelöst durch eine Kontrolle am Grenzübergang Friedrichstraße in Berlin, erinnert sich der erwachsene Karl an seine Jugend während der Nazizeit in Erfurt. War er anfangs noch ein begeisterter Pimpf und Fan von Radlegende Erich Metze, kommen dem Jungen jedoch bald schon Zweifel am System. Dachten er und seine Freunde zunächst noch, sie könnten die Welt verändern, bringt der Krieg die ersten schlechten Nachrichten: Der Bruder von Jochen wird vermisst, später kommt die Todesnachricht.
Langsam und stetig untergraben die wachsenden Zweifel die Loyalität der Jungen zum Staat. Sie reißen Witze über Hitler, zeichnen hochverräterische Bilder an die Schultafel und tuen sich im Sommer 1943 endgültig als Gruppe zusammen, die gegen den Krieg und den Führer kämpfen will. Die Jungs hören Radio Moskau, tippen Flugblätter einzeln ab, werfen sie aus der Straßenbahn. Jede Aktion für sich ist gefährlich und kann übelst bestraft werden. Doch alles geht gut, bis Joachim sich verplappert …

Niemand ist zu jung für den Widerstand

Auch wenn die fünf Erfurter Jungs nicht so spektakulär verurteilt wurden wie die Mitglieder der Weißen Rose, so ist es doch wichtig, an sie und ihre Aktionen zu erinnern. Denn sie machen deutlich, dass man nie zu jung ist, um sich zu wehren – die Jungs waren 17 als sie die Flugblätter verteilten. Und vor allem aber zeigt diese Geschichte, dass jeder seinen Beitrag zum Widerstand, und sei er noch so klein und örtlich beschränkt, leisten kann, damit das Unrecht nicht weiter regiert.

Karl Metzner hat später den Widerstand als evangelischer Pfarrer in der DDR weitergeführt, hat sich nicht einschüchtern lassen und sich geweigert, bei der Stasi mitzuarbeiten. Eine bewundernswerte Haltung, für die man Mut und Kraft braucht. Und an der wir alle uns ein Beispiel nehmen können.

Jugendliche Leser_innen finden hier ein diskussionsförderndes Beispiel eines deutschen Lebens ins zwei Diktaturen. Auch wenn die DDR-Zeit nur in den Rahmenhandlungspanels angedeutet wird, so sind diese Passagen überaus aussagekräftig. Das liegt auch an der Farbgebung der gesamten Graphic Novel. Comiczeichner Eshrat färbt nämlich die Panels, die in der Nazi-Zeit spielen in gedeckten bräunlichen Schlammfarben (die Symbolhaftigkeit ist offensichtlich). Die Passagen, die während der DDR-Zeit in einem Verhörraum spielen sind hingegen in ein trockenes Mausgrau getaucht, was die Bedrückung der zweiten Diktatur in Deutschland ohne Worte auf den Punkt bringt.
Mit diesem Werk ließe sich der Geschichtsunterricht in den Schulen sicherlich anschaulich und Augen öffnend gestalten.

Eine wahre Geschichte

Autor Jochen Voit hat der Graphic Novel dankenswerterweise einen Anhang mit dem historischen Hintergrund dieser wahren Geschichte beigefügt. So finden die Leser_innen hier Fotos, Texte und Dokumente von und über die fünf Jungen, die so nach langer Zeit wieder ins Bewusstsein rücken. Diesem Buch liegt ein dreijähriges Forschungsprojekt der Universität Erfurt zugrunde, in dessen Rahmen auch ein 25-minütiger Film und eine wissenschaftliche Publikation entstanden sind. Infos dazu finden sich auf der Website www.nieder-mit-hitler.de.

Und wenn heute #nazisraus keine Selbstverständlichkeit mehr ist, sondern bereits zu einem Zeichen des Widerstandes wird, dann möge es bitte mehr davon geben – aber nicht nur virtuell im Netz.

Jochen Voit/Hamed Eshrat: Nieder mit Hitler! Oder Warum Karl kein Radfahrer sein wollte, avant-verlag, 2018, 152 Seiten, ab 14, 20 Euro

Gegen das Schweigen

gensichenDie Zahlen sind erschreckend: Jedes Jahr werden in Deutschland 20.000 Fälle von Kindesmissbrauch angezeigt. Die Dunkelziffer liegt schätzungsweise bei dem zehn- bis zwanzigfachen. Viel zu oft schweigen die betroffenen Kinder und Jugendlichen, aus Scham, aus Angst, aus Abhängigkeit, aus Liebe.

Der Hamburger Psychotherapeut Simon Gensichen will mit seinem Buch Anpfiff Kindern und Eltern helfen und zwar auf doppelte Weise. Zum einen liegt es ihm am Herzen, sexuelle Gewalt zu verhindern, zum anderen zeigt er auf, wo Betroffene Hilfe finden und wie sie das quälende Schweigen überwinden können.
Gensichen nutzt dafür eine ungewöhnliche Mischung aus fiktiver Erzählung und Ratgeber.

Im ersten Teil des Buches erzählt Gensichen die Geschichte des 10-jährigen Olek und des etwa 15-jährigen Jan. Beide spielen im selben Verein Fußball.
Jan ist in Bente verliebt, kann jedoch mit seinen Emotionen nicht gut umgehen. Schnell rastet er aus, Nähe erträgt er nur schwer. Warum das so ist, weiß Jan nicht.
Olek ist neu in der Stadt, seine Mutter kommt aus der Ukraine. Freunde hat Olek noch nicht, daher ist er dankbar, dass Fußballtrainer Prott so nett zu ihm ist. Prott kümmert sich um Olek, als dieser beim Training verletzt wird, nimmt ihn mit auf die Kartbahn, lässt ihn bei sich zu Hause Computerspiele spielen, erlaubt ihm, Bier zu trinken. Dabei sucht Prott immer mehr die körperliche Nähe von Olek: Er streichelt ihn, küsst ihn auf die Wange, nötigt ihn, das nasse T-Shirt auszuziehen. Von Olek verlangt er, dass er niemandem von ihren „Geheimnissen“ erzählt. Olek hält sich daran – und gerät in Gefahr.
Gerade noch rechtzeitig können Jan und Bente ihn aus Protts Fängen retten.

In diesem Erzählteil zeigt Gensichen anschaulich, wie perfide die Täter oftmals vorgehen. Hilfsbereit und kumpelhaft auf der einen Seite, erpresserisch auf der anderen. Olek, der sich Freunde wünscht, durchschaut dieses gefährliche Spiel nicht.
Wie sich sexueller Missbrauch von kleinen Kindern auswirkt, macht die Figur Jan deutlich. Er wurde von seinem Vater missbraucht, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Vor Jahren hat die Mutter den Vater rausgeschmissen, ohne Jan die Gründe zu erklären, für die er damals einfach zu klein war. Aber Jans Emotionen, seine unzügelbare Wut, die Angst vor Nähe, deuten an, dass etwas nicht stimmt. Allein kann Jan das jedoch nicht lösen. Erst als die Mutter mit ihm über die Vorfälle in Jans Kindheit spricht, kann sich der Junge seinem Schicksal stellen.

Im zweiten Teil seines Buches, dem eigentlichen Ratgeber, erklärt Gensichen zunächst Jugendlichen, was alles zu sexueller Gewalt zählt, seien es vermeintlich harmlose Doktorspiele oder das gemeinsame Bad von Elternteil und Kind. Sobald ein Kind damit nicht einverstanden ist, aber gezwungen wird, wird die Grenze zur Gewalt überschritten. Gensichen macht den Kindern Mut, Nein zu sagen – und zwar „ohne Begründung“ –, wenn sie etwas nicht wollen oder ein Alarmgefühl sich in ihnen bemerkbar macht.
Erwachsene Leser finden anschließend Hinweise, wie sie die oftmals nonverbalen Hilferufe von Kindern und Jugendlichen erkennen und wo sie medizinisch, psychologische und rechtliche Hilfe bekommen können. Die entsprechenden Internetadressen und Telefonnummer sind im Anhang aufgelistet.

Der Mix aus fiktiver Erzählung und Ratgeber ist außergewöhnlich. Aber er funktioniert hervorragend, denn Gensichen erläutert im Sachbuchteil die psychologischen Hintergründe der fiktiven Alltagsszenen in Schule und auf dem Sportplatz. Jugendlichen Lesern bieten sich hier Identifikationsmöglichkeiten, sie können überprüfen, ob in ihrem Umfeld etwas nicht stimmt. Sie lernen, erste Gefahren zu erkennen und Schlimmeres im besten Fall abzuwenden.
Vor allem aber lernen sie, dass reden ganz wichtig ist. Nur wer einer Vertrauensperson sein Herz ausschütten und seinen Kummer erzählen kann, ohne dafür abgestraft zu werden, kann sich von seinen Peinigern befreien und anfangen, das schreckliche Geschehen zu verarbeiten.
Gensichens Buch ist ein erster, wichtiger Schritt, das schädliche Schweigen zu durchbrechen.

Simon Gensichen: Anpfiff. Gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Ein Aufklärungsbuch für Jugendliche und Erwachsene, Ellert & Richter, 2014, 192 Seiten, 12,95 Euro