Von Schuld und Unschuld

schuldGute Bücher über den Fall der Mauer und die Flucht aus der DDR gibt es zuhauf, zum Beispiel  Tonspur. Das Schicksal der Kinder von Stasi-Mitarbeitern wird eher selten literarisch verarbeitet. Die Lebensläufe von Kindern hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter hat Ruth Hoffmann vor zwei Jahren in ihrem Sachbuch Stasi-Kinder erzählt.

Nun liefert Grit Poppe einen Jugendbuch-Roman zu diesem Thema. Schuld spielt in den Jahren 1988/89 sowie 1992 und erzählt von den 15-jährigen Jugendlichen Jana und Jakob.
Jana kommt neu in eine Schule am Rande von Ostberlin. Vom ersten Moment an fühlt sie sich zu dem Außenseiter Jakob hingezogen. Dessen Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt. Jakob selbst schreibt und verteilt illegal Flugblätter, engagiert sich im Neuen Forum und kämpft für Meinungsfreiheit. Eines Tages gibt er Jana ein solches Flugblatt, das sie bei sich zu Hause versteckt.

Als diese Flugblätter auch in der Schule auftauchen, fliegt Jakob erst von der Schule, später finden Stasileute einen weiteren Entwurf mit einem Aufruf zur Demo bei ihm. Der Junge kommt in Untersuchungshaft, wird verurteilt und in das Jugendgefängnis Halle gesteckt.
Jana ist verzweifelt. Zum einen, weil sie nicht weiß, wann und ob sie Jakob wiedersehen wird, zum anderen, weil ihre Eltern, linientreue Sozialisten, beständig gegen sie und ihre Beziehung zu Jakob arbeiten. Sie verbieten ihr schließlich, Jakob zu schreiben.
Jana ist da jedoch schon lange in der Protestbewegung engagiert, in die Jakob sie eingeführt hat, und lässt sich von ihrem Weg nicht abbringen.

Grit Poppes Roman Schuld schildert die letzen Jahre der DDR konsequent aus den Perspektiven von Jana und Jakob. Vor allem bei Jana ist das sehr beeindruckend gelungen, den das Mädchen durchschaut erst nach und nach das Überwachungssystem der DDR. Die Rebellion gegen den Staat geht mit der Rebellion gegen die Eltern einher – das verzahnt Poppe so geschickt, dass man eigentlich nicht weiß, was zuerst war. Allerdings bleibt Jana die perfide Ausspionierung durch den eigenen Vater bis zu letzt verborgen. Nur im Leser, vor allem im erwachsenen, macht sich ein fieses Gefühl von Abscheu breit.
Mit Jakob hingegen erlebt man die grausamen Zustände, die in den DDR-Jugendknästen geherrscht haben. Nach ihren Romanen Weggesperrt und Abgehauen zeigt Poppe auch hier noch einmal, wie sehr Jugendliche in der DDR gelitten haben, wenn sie nicht dem Ideal der vorgegebenen Doktrin entsprachen.

25 Jahre nach dem Mauerfall macht Grit Poppe mit ihren Büchern die dunkle Geschichte der DDR für junge Leser anschaulich und lebendig. Was in den Schulen meist nur als Faktenansammlung vermittelt wird, reichert sie mit Gesichtern, persönlichen Schicksalen und jeder Menge Emotionen an. Schuld legt man daher nicht mehr aus der Hand, man leidet mit den beiden Helden bis zur letzten Seite mit, ist gleichzeitig erleichtert, wie frei wir heute leben, wundert sich dann aber auch, wie wenig momentan noch protestiert wird (Gründe gäbe es genug).

Grit Poppe: Schuld, Dressler Verlag, 2014, 365 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Botschaft der Freiheit

gritt poppe abgehauenNeulich gab es im Fernsehen mal wieder eine dieser Umfragen, mit der das vermeintliche Unwissen der Bevölkerung dokumentiert werden sollte. Dieses Mal: Was wissen die Jugendlichen vom Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und den Geschehnissen in der DDR vor 23 Jahren? Nicht viel, wie die zusammengeschnittenen Film-Schnippsel propagieren sollten. Darüber kann man sich natürlich sofort aufregen und die scheinbar mangelnde Qualität des Geschichtsunterrichts in den Schulen anprangern – oder aber die perfiden Mittel der TV-Macher, die mit Zuspitzung und Auslassung arbeiten. Bleibt die Frage, wie man geschichtliche Ereignisse und vergangenen Lebensverhältnisse so vermittelt, dass sie auch bei denen im Bewusstsein bleiben, die sie nicht selbst miterlebt haben.

Im Fall der Wendezeit und dem zum Teil schwierigen Leben der Jugendlichen in der DDR bieten die Romane Weggesperrt und Abgehauen von Grit Poppe eine alternative Möglichkeit der Geschichtsvermittlung. Hatte die Autorin, die in der DDR geboren und aufgewachsen ist, bereits 2009 in Weggesperrt die Geschichte von Anja erzählt, die im Jugendwerkhof Torgau zu einer sozialistisch angepassten Genossin geformt werden sollte, so hat sie nun die Fortsetzung dazu geliefert.

In Abgehauen schildert sie das Schicksal der 16-jährigen Gonzo, der besten Freundin von Anja. Das Mädchen ist ebenfalls in Torgau inhaftiert. Sie wird von den Aufsehern schikaniert, psychisch und physisch gequält, in der Dunkelzelle tagelang mit Isolierhaft bestraft. Erst als Gonzo sich selbst so stark verletzt, dass sie ins Krankenhaus gebracht wird, gelingt ihr die Flucht. Orientierungslos irrt sie durch das Land – auch der Leser erfährt nie, wo sie sich genau aufhält – und trifft in einem Kleingarten schließlich René. Der Junge, der zu seinem Vater in der Bundesrepublik will, hat einen Plan und nutzt den Stimmungswandel im Land. Zusammen schlagen sich die Jugendlichen nach Prag durch, um in der westdeutschen Botschaft Zuflucht zu suchen.

Zunächst müssen sich die beiden in der tschechischen Hauptstadt durchfragen, bevor sie  schließlich auf der Kleinseite zum Palais Lobkowitz gelangen. Zusammen mit anderen Flüchtlingen klettern sie über den Zaun auf der Rückseite des Gebäudes und befinden sich nun offiziell auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Doch Gonzo, deren Seele durch die unfassbaren Erlebnisse im Jugendwerkhof Torgau Schaden genommen hat, traut dem Ganzen nicht. Immer wieder piesackt ihr innerer Punk sie mit Selbstzweifeln und der Skepsis gegenüber ihrer Umwelt. So traut sie weder den anderen Flüchtlingen noch René und auch den möglichen Veränderungen nicht.

Die Zustände in der Botschaft werden immer unerträglicher. Immer mehr Menschen flüchten auf das Gelände, die Schlafplätze werden knapp, der Botschafter selbst gräbt Zierbüsche aus, um Platz für die Flüchtenden zu schaffen, für Toilettengänge und Essensausgabe müssen die Menschen stundenlang anstehen. Gonzo bewegt sich in dieser Masse wie eine Außerirdische, vom ständigen Zweifel und dem Punk in ihrem Kopf gepeinigt. Als endlich am 30. September 1989 Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Botschaft tritt und den berühmtesten Halbsatz der Geschichte spricht, keimt die erste richtige Hoffnung bei Gonzo auf …

Über die Zustände in der deutschen Botschaft in Prag habe ich so bis jetzt noch nirgendwo gelesen (vielleicht ist mir da was entgangen, dann bitte ich um Aufklärung). Die Fernsehbilder von Herrn Genscher auf dem Balkon kenne ich natürlich und irgendwie treiben sie mir jedes Mal wieder Tränen in die Augen – und genau diesen Effekt hatte nun auch die entsprechende Szene im Buch auf mich. Man ist ganz nah dran am Geschehen, wird scheinbar Teil der deutschen Geschichte, leidet und freut sich mit der Heldin. Genau das ist die Art von Geschichtsdarstellung, die sich unvergesslich ins Hirn der Leser einbrennt, denn die Kombination von Fakten und Gefühlen macht es einem leicht, Geschehnisse nachzuempfinden und somit auch zu behalten. Das ist Grit Poppe hier ausgesprochen gut gelungen. Nach der Lektüre von Abgehauen wird wahrscheinlich kein Jugendlicher mehr sagen, dass er nichts über den Mauerfall und die Deutsche Einheit weiß.

Grit Poppe: Abgehauen, Dressler Verlag, 2012, 334 Seiten, ab 14, 9,95 Euro

Grit Poppe: Weggesperrt, Oetinger Taschenbuch Verlag, 2012,  Ausgezeichnet mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2010, 330 Seiten, ab 14, 6,95 Euro