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Teebeutel ohne Bändchen

Zuhause ist da, wo die Teebeutel keine Bändchen haben. Wo das Brot weich und weiß ist. Heimat ist da, wo die Luft nach warmen Regen und salziger Luft vom rauen Atlantik riecht. Heimat ist da, wo man deine Sprache spricht.
Heimat ist definitiv nicht dort, wo man deinen Namen nicht aussprechen kann und dich mit fiesen Lauten als Affe verspottet. So ergeht es Emmas kleiner Schwester Aoife an ihrem ersten Schultag in der tiefsten Provinz Mecklenburg-Vorpommerns. Kurz zuvor hat Emmas Mutter mit ihren drei Kindern Dublin verlassen, um nach Deutschland umzuziehen. »Nach Velgow, in das Dorf unserer Mutter, in das sie seit zwanzig Jahren keinen Fuß und keins von ihren Kindern gesetzt hat.« Mit einer Auswanderung von West nach Ost, einer Reise ohne Rückfahrkarte, die für niemanden eine Heimkehr ist, beginnt Susan Krellers betörender und sprachgewandter Roman Elektrische Fische.

Innere Emigration im Schweigen

»Wir waren noch gar nicht fertig«, sagt die zwölfjährige Emma. »Dara hat mit der Hockeymannschaft alle Spiele und Mädchenherzen gewonnen. Auch Aoife und ich waren mittenrein und noch gar nicht fertig mit unserem Leben in Dublin.« Für Emma ist klar, sie will so schnell wie möglich zurück in ihr vertrautes Leben, zu den irischen Großeltern ziehen.
Aoife geht nach dem verstörenden ersten Schultag in die innere Emigration. Sie verstummt, sagt kein Wort mehr, nicht auf Englisch, nicht auf Irisch und erst recht nicht im von ihr verhassten Deutsch. Fortan kommuniziert die kleine Schwester nur noch über gelbe Klebezettel.

Leben zwischen zwei Sprachen

Zwar sind die drei Geschwister zweisprachig aufgewachsen und auf die deutschsprachige Schule in Dublin gegangen. Aber: »Die englische Sprache bin ich. Deutsch spreche ich nur. Deutsch ist immer noch ein paar Meere von mir entfernt«, stellt Emma sehr bald fest.
Sprache, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, und wie man zwischen zwei Sprachen lebt – das alles spielt eine zentrale Rolle in Susan Krellers Jugendbuch. Die 1977 in Ostdeutschland geborenen Autorin hat Germanistik und Anglistik studiert. Bei ihr ist das nicht nur ein biografisches Detail. Allein das angehängte Glossar macht Elektrische Fische schon lesenswert.

Sehr viele Arten der Trunkenheit

Durch Emma lernen wir zum Beispiel fundamentale Unterschiede in Umgangsformen kennen. Man bekommt beim Lesen selbst einen ganz trockenen Mund, nachdem sie das einmal aus Höflichkeit angebotene Getränk abgelehnt hat – und niemand erneut nachfragt oder insistiert, etwas zu trinken zu bringen.
Es gibt auch traurige Gemeinsamkeiten: »Es stimmt tatsächlich, in Irland kann man auf sehr viele Arten betrunken sein, man ist zum Beispiel pissed oder stocious oder on his ear oder langered oder einfach nur full as a bingo bus. Mein Vater beherrschte fast alles davon.« Der Vater ist Alkoholiker und hat Frau und Kinder verlassen. Deshalb sind sie nach Deutschland umgezogen, Emmas Mutter konnte allein das Haus nicht bezahlen, es drohte der Umzug ins berüchtigte Northern Dublin.

Ausgerechnet in diesen Teil der Welt

Als der 16-Jährige Dara eines Nachts sturztrunken nach Hause kommt, fürchtet die Mutter, auch ihren Sohn an den Alkohol zu verlieren und flippt total aus. Dabei findet sie im Plattdeutschen erstaunlich viele Begriffe: »Buddelbroder. Sprietkopp. Suupbüdel.«
Oder wie ihre Großmutter es auf den Punkt bringt: »Sie steht neben mir und sagt etwas zu mir, was sie wahrscheinlich schon die ganze Zeit mal zu irgendjemand sagen wollte: wie verrückt es ist, vor dem Alkohol wegzurennen und dann ausgerechnet in diesen Teil der Welt zu ziehen.«

Verbunden durch das Meer

Emma erträgt die provinzielle Einöde, die unbekannten und schroffen deutschen Großeltern, ihre niedergeschlagene Mutter, das harte dunkle Brot und die Unfreundlichkeit der desillusionierten Dorfbewohner durch den Gedanken an ihre Heimreise. Und weil sie das Meer, in dem Fall die Ostsee für sich entdeckt. Sie schwimmt stundenlang, sie taucht unter und fühlt sich der irischen Heimat verbunden.
Ihr Mitschüler Levin hat einen Plan ausbaldowert, wie man als Minderjährige, ohne Flugzeug, nach Irland kommt. Levin in seinen übergroßen, ausgewaschenen Heavy-Metal-Band-T-Shirts, »dünn wie Dünengras«, ist selbst ein Außenseiter und Einzelgänger.

Entwurzelte Kinder

Zwar lassen die anderen den Jungen in Ruhe, doch wie Emma bald hautnah erfährt, hat auch Levin kein Zuhause. Seine Mutter ist psychisch krank, verweigert die Therapie, hält in ihrem Wahn ihre ganze Familie gefangen. Levin, sein Vater und sein älterer Bruder schweigen aus Scham und Hilflosigkeit. Durch seinen Plan für Emmas Flucht droht Levin den einzigen Menschen zu verlieren, dem er vertraut und sich verbunden fühlt.
Sprachdifferenzen, entwurzelte Kinder, die Kraft des Meeres und viele verschiedene Arten des Schweigens, kreative Schimpftiraden, zauberhafte, aber auch brutale Begriffe – das alles verbindet Susan Kreller zu einer herzzerreißend traurigen und schönen Geschichte.
Es heißt »home is where the heart is«. Das klingt kitschig, stimmt aber. Zum Schluss kommt Emmas Herz zu Hause an.

Susan Kreller: Elektrische Fische, Carlsen, 192 Seiten, 15 Euro, ab 12

Liebenswerte Sturköpfe

Geest

Während wir zurückfahren, drücke ich mich fest an Opa. Er legt den Arm um mich. Auch wenn wir sie nicht mehr sehen, dreht er sich immer wieder um. Dann stößt er einen tiefen Seufzer aus. »Vonkie … Ich kenne niemanden, der sich so an etwas klammert wie du … der so eigenwillig ist.« »Oh, ich schon.« Ich tippe ihm mit einem Finger in den Bauch. »Du zum Beispiel.«

Zauber des Miteinandersprechens

Vonk und ihr Großvater Leo sind sich viel ähnlicher als anfangs gedacht – zwei echte Sturköpfe. Beharrlich und unbeirrbar gelingt es der Zwölfjährigen, ihren störrischen Opa zum Reden zu bringen. Das Abrakadabra der Fische handelt vom Zauber des Miteinandersprechens und der dunklen Magie vielsagenden Schweigens.
Eigentlich ist Vonkie nur für eine Woche zum Großvater auf den Polder abgeschoben worden, weil ihre Eltern unter sich etwas klären müssen. Es begann mit einem großen Knall – als ihre Mutter, wütend auf Vonks Vater, explodiert und mit der Bratpfanne dessen heißgeliebtes Aquarium zertrümmert.

Lönneberga liegt in Polderland

Weil Vonk nichts an der Krise zu Hause ändern kann, kitzelt sie Geschichten aus dem Griesgram mit imposantem Schnurrbart heraus. Das sind zunächst verrückte Schnurren von derben Streichen, Blutsbrüderschaft, tollen Hechten und wilden Wettkämpfen mit Älteren. Aufgewachsen mit sechs Brüdern, klingen Großvaters Erzählungen wie die von Michel aus Lönneberga, verlegt ins ärmlich-ländliche Nachkriegsholland.
Eine ganz besondere Beziehung hatte Leo, genannt Eisen, wegen seiner damals schon legendären Sturheit, zu seinem nur zwei Jahre älteren Bruder, genannt Beule, was vor allem an dessen Hang zu tollkühnen Mutproben hing. Aber dann muss irgendwas furchtbar schief gelaufen sein zwischen den beiden.

Ein zerrissener Brief und eine verfluchte Mühle

Während bei Vonk Zuhause alles immer komplizierter zu werden scheint und sie sich ihrer Hilflosigkeit bewusst wird, findet sie immer mehr über Eisen und Beule raus. Ein Brief wird ungelesen zerrissen und weggeworfen. In einer Truhe auf dem Dachboden liegt ein unheimlicher Puppenkörper. Und niemand wagt sich zur alten, verfluchten Mühle.
Vonkie kommt, auch mit Hilfe ihres unter seiner linkisch-angeberischen Schale doch sehr netten Cousins, einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur. Und beschließt, wenn sie schon ihre eigene Familie nicht reparieren kann, zumindest zwei seit 50 Jahren zerstrittene Brüder wieder einander anzunähern. »Was bilde ich mir ein? Dass ich, ein zwölfjähriges Mädchen, mal eben diesen Streit lösen kann? Mit einer rostigen Keksdose?«

Falscher Stolz und fatale Vorurteile

Tochterweh und rechteckige Miniaturmumien, alte Kühe im Graben und superdumme Schafe auf der falschen Deichseite – der junge Niederländer Simon van Geest erzählt sein komplexes Familiendrama mit funkelndem Wortwitz und pointierten Bildern. Fatale Sprachlosigkeit, falscher Stolz und gefährliche Vorurteile kommen dort ebenso zum Tragen wie Liebe, Tod und Eifersucht.
Ist es eine Lüge, wenn man etwas verschweigt? Können Worte Leben zerstören?
Weshalb darf man vom Erwachsenengetue nichts wissen, wenn man als Kind doch sowieso mitten drin steckt? Und warum sprechen die Großen nicht miteinander?

Vermächtnis der fabelhaften Mirjam Pressler

Große Fragen und die spannende Suche nach Antworten, eingebettet in die einzigartige Polderlandschaft mit ihren stoischen Bewohnern, all das macht Das Abrakadabra der Fische zu einem exzellenten Kinderroman. Leider ist es auch eines der letzten Bücher, das Mirjam Pressler übersetzt hat. Die fabelhafte Autorin und fast noch brillantere Übersetzerin aus dem Niederländischen und Hebräischen ist Anfang 2019 gestorben. In diesem Buch bleibt ihre stets mitreißende und facettenreiche Stimme lebendig.

Simon van der Geest: Das Abrakadabra der Fische, Übersetzung: Mirjam Pressler, Thienemann, 2019, 320 Seiten, ab 10, 15 Euro

Höllisches Paradies

martinIn diesen Tagen berichteten die Medien ja ein paar Mal über die Geflüchteten, die auf den griechischen Inseln festsitzen und jämmerlich frieren. Doch scheinbar interessiert sich kaum noch jemand für das Leid der Menschen vor Ort. Auf einmal ist Griechenland doch wieder ganz weit weg. Doch obwohl sich bei uns die mediale Aufregung um die neuen Mitbürger langsam gelegt hat, so sollten wir dennoch nicht vergessen, dass immer noch nicht alle in einer menschenwürdigen Unterkunft angekommen sind und dass immer noch Menschen über das Mittelmeer nach Europa flüchten. Viele von ihnen schaffen es nicht ans rettende Ufer. Im Vergangenen Jahr sind laut UNHCR über 4000 Menschen ertrunken, im Schnitt elf Männer, Frauen und Kinder pro Tag.
Da kommt der neue Roman von Peer Martin, der im vergangenen Oktober mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis für Sommer unter schwarzen Flügeln ausgezeichnet wurde, und von Antonia Michaelis (Die Attentäter) als eindrückliche Erinnerung gerade recht.

In Grenzlandtage erzählen die beiden Autoren die Geschichte der 17-jährigen Jule, die zwei Wochen Ferien auf einer griechischen Insel macht. Da ihre Freundin krank im Bett liegt, ist Jule allein unterwegs und will sich eigentlich in Ruhe auf die Abiturprüfungen vorbereiten. Noch ist die Insel, deren Namen nicht genannt wird, fast leer. Es ist Frühjahr, nur wenige Touristen sind da. Noch ist es zu kalt zum Baden. Jule wird freundlich aufgenommen, die Griechen sind bemüht, touristische Normalität zu bieten.
Doch schnell merkt Jule, dass auf der Insel nicht nur Griechen leben. Sie begegnet einem Jungen mit einer verbundenen Hand, den sie zunächst für einen Wildcamper hält. Ist er natürlich nicht, sondern einer von 32 Geflüchteten, die sich auf die Insel retten konnten, nachdem ihr seeuntüchtiges Boot abgesoffen ist. Von den Inselbewohnern bekamen sie keine Hilfe, im Gegenteil, sie wurden gezwungen, teueren Diesel zu kaufen, um damit nach Italien weiterzutuckern. Am Ende war ihr Geld futsch, und das Boot versank in den kalten Fluten. Von ursprünglich 104 Menschen an Bord retteten sich 32 auf die Insel.

Das alles erfährt Jule jedoch erst nach und nach. Sie freundet sich langsam mit Asman, so der Name des Jungen, an. Er versucht, Jule von ihrem Camp und der Höhle, in der sich die Geflüchteten verstecken, fernzuhalten. Aber Jule hat ihren eigenen Kopf, ist neugierig, einfühlsam und will es genau wissen. Als sie das ganze Ausmaß des Elends begreift, will sie um jeden Preis helfen. Doch das ist so gut wie unmöglich.
Als dann auch noch ein griechischer Inselbewohner tot aufgefunden wird, spitzt sich die Lage immer mehr zu.

Dem Autorenduo Martin und Michaelis ist eine sehr komplexe und mitreißende Geschichte gelungen. Sie verpacken die Flüchtlingsdramatik und ihre fürchterlichen Hintergründe, die exakt recherchiert sind, in eine ans Herz gehende Dramaturgie, indem sie sie sowohl mit einer Lovestory (Jule und Asman), als auch mit einem Krimi (der Tote) verknüpfen. Zwischendrin habe ich mich gefragt, ob das nicht ein bisschen dicke ist und ob die Flüchtlingsgeschichte nicht für sich hätte stehen können. Aber nein, es ist genau richtig so. Denn mit Jule ist man als Europäerin direkt dort vor Ort, wo die schicksalsgeplagten Menschen als erstes ankommen. Jule als offene, hilfsbereite Figur bietet ein hohes Identifikationspotential. Man ist bei ihr, verliebt sich mit ihr in den charmanten Asman, zermartert sich mit ihr Herz und Hirn, wie man nur helfen könnte. Und kann schließlich sogar ihren Entschluss verstehen, der sie in echte Gefahr bringt.
Der Krimi um den toten Griechen liefert zusätzliche Spannungsmomente, in denen man als Leserin schließlich mit den eigenen Überlegungen und Vorurteilen konfrontiert wird.

So komplex wie die gesamte Flüchtlingsproblematik ist auch dieses Buch. Es ist fordernd und durchaus keine leichte Kost. Dem Thema eben angemessen. Es bietet sehr viel Diskussionsstoff, beispielsweise darüber, wie man Hilfe besser organisieren könnte, damit die Geflüchteten aus Krisengebiet nicht mehr auf lecke Seelenverkäufer steigen und ihr gesamtes Geld habgierigen Schleppern opfern müssen, aber auch die Bewohner der griechischen Inseln nicht mit dem Ansturm allein gelassen werden und ihre Existenzgrundlage verlieren.

Darum lest dieses Buch, lest es im Unterricht, diskutiert und schaut euch solche Aktionen wie die Flüchtlingspaten Syrien e.V. an.

Peer Martin & Antonia Michaelis: Grenzlandtage, Oetinger, 2016, 460 Seiten, ab 15, 13,99 Euro.

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Einladung zum Gespräch

mohrZwei Menschen begegnen sich. Im Zug. Die eine mit gültiger Fahrkarte, der andere offensichtlich nicht. Die eine nimmt ihn auf ihrem Ticket mit, der Fahrkartenkontrolleur gibt Ruhe. Und dann? Trennen sich ihre Wege? Nein, für die beiden beginnen 48 funkelnde, anstrengende, lebensentscheidende Stunden. Und wir fuchsen uns lesend rein in dieses Abenteuer, bis wir mitfiebern und die Daumen drücken.

Wer sind die beiden?

Da ist Aino, 18, schweigsam. Sie berührt sofort, etwas Geheimnisvolles umgibt sie, an sie heranzukommen, ist Arbeit.
Da ist Nik, 16, ein Draufgänger, der stets in Schwierigkeiten steckt, vor allem mit seinem älteren Bruder, und die nächsten Tage erst mal ungern daheim gesehen wird.

Nik ist sofort fasziniert, überrumpelt Aino geradezu durch seine Unmittelbarkeit, Neugier, Naivität, seine Jungenhaftigkeit; manchmal redet er wie ein Wasserfall. Als ihm Aino erklärt, sie gehe in ein Schweigekloster und werde Nonne, schlägt er ihr einen Deal vor: Wenn er ihr innerhalb von zwei Tagen und zwei Nächten beweist, was sie auf dieser Welt verpasst, wird sie ihm erzählen, warum sie für immer schweigen will. Aino willigt ein.

Sie haben kein Geld, keinen fahrbaren Untersatz, kein Dach über dem Kopf. Beste Voraussetzungen für ungewöhnliche Entscheidungen, die Nik leichter fallen als Aino. Trotzdem ist sie dabei, um sich auf nicht ganz legalen Wegen das Portemonnaie und den Magen zu füllen. Sie landen in einem Sexshop, treffen eine Wahrsagerin, fahren Riesenrad, übernachten in einer Hütte im Wald und unter klarem Himmel, hören Musik und singen gemeinsam. Sie tun Dinge, die sich für beide fremd anfühlen — und doch so richtig. Vertrauen baut sich auf, Nähe. Berührung überwindet das Schweigen und die Trauer. Denn Aino trauert um ihren kleinen Bruder, während Nik auf der Suche nach den Wurzeln seiner Familie, nach Heimat und Geborgenheit ist.

Angela Mohr erzählt in alternierenden Kapiteln, jeweils aus der Ich-Perspektive ihrer Protagonisten, davon, was sie bewegt. Was sie denken, fühlen, wovon sie träumen, was sie bedrückt, woher sie kommen — und warum sie beide auf der Flucht sind.
Da Aino zunächst beharrlich schweigt, ist die Kommunikation ein Balanceakt, verlangsamt das Tempo, denn sie schreibt ihre Fragen und Antworten in Kurzform auf kleine Zettel. Nik, der die Geschwindigkeit liebt, muss geduldig sein, kann manchmal nur intuitiv erfassen, was nicht formuliert ist, ist darauf angewiesen, aufmerksam zu sein und zu beobachten. Schließlich traut sich Aino doch zu sprechen. Noch ein Kraftakt, denn sie stottert, je aufgeregter sie ist, umso mehr.

»Aino sagt Worte.
Jede Menge Worte. Schöne Worte und hässliche Worte und seltsame Worte.
Sie hetzt ihnen nach. Sie reitet auf ihnen. Sie fliegt mit ihnen davon.
Ihre Stimme ist wie eine Landschaft, sie hat Täler und Höhen, Felsen und Geröllhalden, schneebedeckte Gipfel, leere Wüsten. Sie hat Dunkelheit und Sonne, Bäche und Flüsse und Gämsen, die von Fels zu Fels springen.
Ihre Stimme ist die ganze Welt.« (S. 301)

Dieser Roman schwingt, hat einen eigenen Ton und Rhythmus. Es gibt zahlreiche Textstellen, die man sich notieren möchte, weil die Autorin es schafft, dass wir mitfühlen, mitdenken, mithoffen. Uns mit Aino und Nik identifizieren. Ein authentisches Buch, vielschichtig, voller Humor — und eine Einladung zum Gespräch!

Angela Mohr: Zwei Tage, zwei Nächte und die Wahrheit über Seifenblasen, Arena Verlag, 2016, 310 Seiten, ab 14, 12,99 Euro

Der Mangel an Mut

irminaGab es „normale Deutsche“ während der Nazizeit? Aus der zeitlichen Entfernung möchte man sagen, nein, entweder gab es stramme Nazis, feige Mitläufer oder Verfolgte. Das ist die Außensicht. Eine Sicht von innen versucht Barbara Yelin in ihrer Graphic Novel Irmina darzustellen.

Darin erzählt sie die Geschichte der anfangs 17-jährigen Irmina, die 1934 nach London geht und dort eine Ausbildung als Fremdsprachensekretärin macht. Das Mädchen träumt von der Freiheit, will reisen, arbeiten und unabhängig sein. Auf einer Party lernt sie den Oxford-Studenten Howard kennen. Howard kommt aus Barbados und wird wegen seiner dunklen Hautfarbe angefeindet. Beide sind auf ihre Art Außenseiter, denn Irmina wird zwar als zuverlässige, fleißige Deutsche geschätzt, gleichzeitig ist sie jedoch keine Emigrantin und muss immer wieder Fragen zur Politik in Deutschland beantworten. Doch Irmina hat keine Antworten, sie changiert zwischen Trotz und Naivität, kann die Verhältnisse aus der Ferne nicht genau einschätzen.
Halt gibt ihr die Freundschaft zu Howard, die sich langsam in Liebe verwandelt.
Dann jedoch muss  Irmina nach Deutschland zurück, da die Eltern kein Geld mehr ins Ausland schicken dürfen, ihr Zimmer für eine Emigrantin gebraucht wird und sie nicht den Mut hat, sich einen Job zu suchen. Irmina verspricht Howard, so schnell wie möglich zurückzukommen.
In Deutschland findet sie zwar Arbeit im Kriegsministerium, doch das Gehalt ist schmal und ihr Antrag, nach London versetzt zu werden, wird abgelehnt. Gerade als sie sich mit geliehenem Geld ein Schiffsticket nach London gekauft hat, kommt einer ihrer Briefe an Howard zurück mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“. Daraufhin gibt sie den Avancen des Architekten Gregor nach, heiratet ihn, bekommt einen Sohn, wird zur Hausfrau und  Mitläuferin und Profiteurin des Regimes. Ihr mangelnder Mut wandelt sich in die Schuld, sich arrangiert, weggesehen und den Mund gehalten zu haben.

Yelin lenkt mit ihren gedämpft grau-braunen Panels den Blick auf das alltägliche Schicksal einer jungen Frau, deren Träume zerplatzen, die ganz auf sich gestellt ist. Die Not, der Kampf ums Überleben scheinen sie zu ihren Entscheidungen zu zwingen. Der Leser hingegen sieht die Alternativen, hadert mit ihr Angst, meint es besser zu wissen, wünscht ihr mehr Mut, empört sich über ihre Feigheit und ihr Schweigen – und hat doch auch keine Lösungen parat. Denn die Frage: „Was hätte ich damals getan?“ kann niemand wirklich beantworten, der nicht dabei gewesen war. Aber genau über dieser Frage denkt man nach der Lektüre dieser Graphic Novel verstärkt nach. Und leidet dann mit Irmina umso mehr mit, als sie nach Jahren, als alte Frau, Howard noch einmal wiedersieht und ihr die verpasste Chance so überdeutlich vor Augen geführt wird.

Irminas Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht, macht nachdenklich und zwar sehr. Yelin zeigt, wie es Menschen damals gegangen sein könnte, ohne es platt zu verurteilen. Das besorgt der Leser selbst, obwohl es kaum einfache Lösungen und Antworten gibt. Wie so oft im Leben. Aber Irmina mahnt und macht Mut, öfter mal mutig zu sein.

Barbara Yelin: Irmina, Reprodukt, 2014, 300 Seiten, 39 Euro

Gegen das Schweigen

gensichenDie Zahlen sind erschreckend: Jedes Jahr werden in Deutschland 20.000 Fälle von Kindesmissbrauch angezeigt. Die Dunkelziffer liegt schätzungsweise bei dem zehn- bis zwanzigfachen. Viel zu oft schweigen die betroffenen Kinder und Jugendlichen, aus Scham, aus Angst, aus Abhängigkeit, aus Liebe.

Der Hamburger Psychotherapeut Simon Gensichen will mit seinem Buch Anpfiff Kindern und Eltern helfen und zwar auf doppelte Weise. Zum einen liegt es ihm am Herzen, sexuelle Gewalt zu verhindern, zum anderen zeigt er auf, wo Betroffene Hilfe finden und wie sie das quälende Schweigen überwinden können.
Gensichen nutzt dafür eine ungewöhnliche Mischung aus fiktiver Erzählung und Ratgeber.

Im ersten Teil des Buches erzählt Gensichen die Geschichte des 10-jährigen Olek und des etwa 15-jährigen Jan. Beide spielen im selben Verein Fußball.
Jan ist in Bente verliebt, kann jedoch mit seinen Emotionen nicht gut umgehen. Schnell rastet er aus, Nähe erträgt er nur schwer. Warum das so ist, weiß Jan nicht.
Olek ist neu in der Stadt, seine Mutter kommt aus der Ukraine. Freunde hat Olek noch nicht, daher ist er dankbar, dass Fußballtrainer Prott so nett zu ihm ist. Prott kümmert sich um Olek, als dieser beim Training verletzt wird, nimmt ihn mit auf die Kartbahn, lässt ihn bei sich zu Hause Computerspiele spielen, erlaubt ihm, Bier zu trinken. Dabei sucht Prott immer mehr die körperliche Nähe von Olek: Er streichelt ihn, küsst ihn auf die Wange, nötigt ihn, das nasse T-Shirt auszuziehen. Von Olek verlangt er, dass er niemandem von ihren „Geheimnissen“ erzählt. Olek hält sich daran – und gerät in Gefahr.
Gerade noch rechtzeitig können Jan und Bente ihn aus Protts Fängen retten.

In diesem Erzählteil zeigt Gensichen anschaulich, wie perfide die Täter oftmals vorgehen. Hilfsbereit und kumpelhaft auf der einen Seite, erpresserisch auf der anderen. Olek, der sich Freunde wünscht, durchschaut dieses gefährliche Spiel nicht.
Wie sich sexueller Missbrauch von kleinen Kindern auswirkt, macht die Figur Jan deutlich. Er wurde von seinem Vater missbraucht, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Vor Jahren hat die Mutter den Vater rausgeschmissen, ohne Jan die Gründe zu erklären, für die er damals einfach zu klein war. Aber Jans Emotionen, seine unzügelbare Wut, die Angst vor Nähe, deuten an, dass etwas nicht stimmt. Allein kann Jan das jedoch nicht lösen. Erst als die Mutter mit ihm über die Vorfälle in Jans Kindheit spricht, kann sich der Junge seinem Schicksal stellen.

Im zweiten Teil seines Buches, dem eigentlichen Ratgeber, erklärt Gensichen zunächst Jugendlichen, was alles zu sexueller Gewalt zählt, seien es vermeintlich harmlose Doktorspiele oder das gemeinsame Bad von Elternteil und Kind. Sobald ein Kind damit nicht einverstanden ist, aber gezwungen wird, wird die Grenze zur Gewalt überschritten. Gensichen macht den Kindern Mut, Nein zu sagen – und zwar „ohne Begründung“ –, wenn sie etwas nicht wollen oder ein Alarmgefühl sich in ihnen bemerkbar macht.
Erwachsene Leser finden anschließend Hinweise, wie sie die oftmals nonverbalen Hilferufe von Kindern und Jugendlichen erkennen und wo sie medizinisch, psychologische und rechtliche Hilfe bekommen können. Die entsprechenden Internetadressen und Telefonnummer sind im Anhang aufgelistet.

Der Mix aus fiktiver Erzählung und Ratgeber ist außergewöhnlich. Aber er funktioniert hervorragend, denn Gensichen erläutert im Sachbuchteil die psychologischen Hintergründe der fiktiven Alltagsszenen in Schule und auf dem Sportplatz. Jugendlichen Lesern bieten sich hier Identifikationsmöglichkeiten, sie können überprüfen, ob in ihrem Umfeld etwas nicht stimmt. Sie lernen, erste Gefahren zu erkennen und Schlimmeres im besten Fall abzuwenden.
Vor allem aber lernen sie, dass reden ganz wichtig ist. Nur wer einer Vertrauensperson sein Herz ausschütten und seinen Kummer erzählen kann, ohne dafür abgestraft zu werden, kann sich von seinen Peinigern befreien und anfangen, das schreckliche Geschehen zu verarbeiten.
Gensichens Buch ist ein erster, wichtiger Schritt, das schädliche Schweigen zu durchbrechen.

Simon Gensichen: Anpfiff. Gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Ein Aufklärungsbuch für Jugendliche und Erwachsene, Ellert & Richter, 2014, 192 Seiten, 12,95 Euro

Familiengeheimnisse

familieDie Sache mit der Familie ist schon ein Kreuz. Die Familie zieht einen groß, bringt einen ins Leben – und nervt oftmals so sehr, dass man nur noch davonlaufen möchte. Dabei sind es nicht immer nur die Eltern, die eine prägen und verletzen können, sondern auch die Geschwister. Wie tief die Familienbande das eigene Leben bestimmen, beschreibt Mirjam Pressler in ihrem neuesten Roman Wer morgens lacht.

Die 22-jährige Studentin Anne ist von ihrer Schwester Marie wie besessen, seit diese vor sieben Jahren mit fast 18 von Zuhause weggelaufen ist. Anne versucht, sich von der Schwester zu lösen, indem sie ihre Geschichte aufschreibt und später ihrer Mitbewohnerin Ricki erzählt. Heraus kommt dabei das Portrait einer deutschen Familie in einem Münchner Vorort, die von der Vertreibung der Großmutter aus dem Sudetenland geprägt ist. Die Enkelin Anne liebt ihre Omi, die in einer seltsamen Sprache redet und von der alten Heimat wie von einem Märchenland erzählt. Doch die Oma hat die jegliche Lebensfreude verloren und definiert das Leben von Frauen nur über Schmerzen. So kann sie den beiden Enkelinnen nur alte, düstere Moralsprüche wie „Wer morgens lacht und mittags singt, abends in die Hölle springt“ mit auf den Weg geben.
Anne ist fasziniert und abgestoßen zugleich. Doch lässt sie auf ihre Oma nichts kommen. Stattdessen sieht sie sich in ständiger Konkurrenz zur großen Schwester Marie, der die Eltern immer alle Wünsche erfüllen. Marie darf alles, bekommt alles, ist der Liebling des Vaters, während Anne die alten Kleider auftragen muss und nicht beachtet wird. Anne ist das Musterkind, das gute Noten bringt und keinen Ärger macht. Innerlich jedoch brodelt es in ihr.
Dann verschwindet Marie eines Tages, und die Familie schweigt. Der arbeitslose Vater sucht zwar seine Tochter in der Stadt, doch kommt es zu keiner Diskussion am heimischen Tisch, warum Marie diesen Schritt gegangen ist. Scheinbar wird nicht einmal getrauert. Anne flüchtet drei Jahre später nach Frankfurt, in ein Studium der Biologie, mit Schwerpunkt Pilze.

Mirjam Presslers Roman ist keine leichte Kost. Psychologisch fundiert und hintergründig lässt sie Anne aus der Ich-Perspektive die Familiengeschichte erzählen. Die intelligente Studentin thematisiert dabei immer wieder auch die Wahrnehmungsfilter, mit der sie als Betroffene den Verlust der Schwester Marie erlebt und erinnert. Die Erinnerung an reale Fakten verschmilzt dabei zum Teil mit den Geschichten, die sich die junge Anne ausgedacht hat, als die Schwester verschwunden war. Das Schweigen der Eltern bot ihrer Phantasie einen Nährboden, auf dem Horror- und Schundgeschichten gleichermaßen gedeihen konnten. Was Wahrheit, was Lüge, was Wunschdenken oder gar Schuld ist, verschwimmt für Anne immer mehr. Die Familie und ihre Geschichte ist wie ein Pilzgeflecht, das unterirdisch miteinander verbunden ist, selbst wenn an der Oberfläche nur Einzelpersonen wahrzunehmen sind.
Schließlich bringen das Gespräch mit ihrer Mitbewohnerin Ricki und ein Besuch bei den Eltern nach fast drei Jahren neue Erkenntnisse und die Einsicht, dass auch sie nicht alles von ihrer Schwester, ihren Eltern und ihrer Oma gewusst hat.

In Wer morgens lacht illustriert Mirjam Pressler geschickt die psychologischen Mechanismen von Familie, die sich über die Generationengrenzen hinaus auswirken.  In der Wissenschaft befasst sich die Epigenetik mit diesen Phänomen, also dass das Kriegsleid der Großeltern noch Auswirkungen auf das Leben der Enkel hat. Mirjam Pressler vermittelt genau das, ohne mit gentechnischem Fachwissen oder psychologischem Spezialvokabular zu verschrecken. Sie zeichnet ein Bild einer Familie in Deutschland, wie es viele gibt. Und sie zeigt ihnen, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, dass offene Gespräche – auch Jahre später – reinigende Wirkung für alle Beteiligten haben können.

Das Einzige, was mich an diesem Text gestört hat, ist eine typographische Eigenart, die bei E-Literaten sehr beliebt ist. Die wörtliche Rede der Dialoge ist nicht durch Anführungszeichen markiert. Das mag jetzt pingelig erscheinen, doch stellt diese Art der Textgestaltung für mich ein Lesehindernis dar. Die inhaltlich schon schwierige und bedrückende Geschichte wird durch diese fehlenden Signale zu einem sperrigen Texterlebnis. Entsprechend lange habe ich für die Lektüre gebraucht.
Es mag ja sein, dass bei so einem gewichtigen Inhalt auch der Zugang gewichtig und schwierig sein sollte. Doch das hätte es meiner Ansicht nach gar nicht gebraucht. Warum ein zusätzliches Hindernis einbauen für ein so wichtiges Anliegen, das an sich doch vielen Menschen näher gebracht werden sollte? Das ist mir ein bisschen unverständlich. Und nur weil man das heute mal so macht, weil es – möglicherweise – intellektueller oder psychologischer rüberkommt, ist das für mich noch lange kein Grund, den Zugang zu einer Geschichte künstlich zu erschweren. Ich hoffe nur, dass das nicht allzu viele Leser verschreckt, denn sie würden eine ergreifende und nachdenklich machende Geschichte verpassen, die viel über den Menschen an sich, seine Ängste und seine Eigenarten erzählt.

Mirjam Pressler: Wer morgens lacht, Beltz, 2013, 264 Seiten, ab 14, 17,95 Euro