Schluss mit der Selbstverleugnung

spinsterDie Pubertät kann die Hölle sein. Alles am eigenen Körper verändert sich, Hormone verzerren den Blick auf die Welt, plötzlich werden Jungs/Mädchen auf sexuelle Art interessant. Das eigentlich reicht schon, um eine Leidensgeschichte erzählen zu können, doch Holly Bourne setzt im ersten Teil ihrer Spinster Girls-Reihe noch einen drauf.

Ihre 16-jährige Heldin Evie leidet nämlich zudem an einer Angst- und Zwangsstörung. Sie fürchtet sich vor Schmutz, Bakterien, Ausscheidungen, Essen, eigentlich vor allem, was sie ihrer Meinung nach krank machen und letztendlich umbringen kann. Sie ist deshalb in Behandlung und nun auf dem Weg der Besserung. Peu à peu darf sie ihre Medikamentendosis verringern. Evie ist erleichtert, fürchtet sich aber auch vor einem Rückfall. Doch vor allem möchte sie eigentlich nur eins: normal sein. Und dazu gehört in ihrem Alter bekanntlich auch ein Freund.

Allerdings gestaltet sich dieses Unterfangen etwas schwierig. Typ Nummer 1 kommt völlig betrunken zu ihrem ersten Date, Typ Nummer 2 bringt seine Eltern mit ins Kino, Typ Nummer 3 ist Kiffer und nicht an einer ernsthaften Beziehung interessiert. Zudem hat ihre beste Freundin, die einzige, die von ihrer Krankheit weiß, sie für einen Typen hängen lassen. Ein Elend, was Evie so durcheinanderbringt, dass sich ihre Angstsymptome wieder verstärken, sie zwanghafte Handlungen vornimmt und sich die Hände beim Waschen wund schrubbt.

Glücklicherweise begegnet Evie Amber und Lottie, die mit ähnlichen „Männerproblemen“ zu kämpfen haben, aber auch eine glasklare feministische Haltung propagieren. Die drei gründen den Club der „Spinster Girls“, um zum einen den Begriff „Spinster“ (alte Jungfrau) neu zu besetzen und zum anderen um sich gegenseitig zu stärken, sich Mut zu machen und gemeinsam dafür zu kämpfen, dass es völlig okay ist, wie sie als Mädchen sind, ohne sich für irgendeinen Jungen zum Affen zu machen.

Holly Bourne holt mit ihren Spinster Girls die Leserinnen genau in ihrem Gefühlschaos ab, das die Pubertät so mit sich bringt. Schon das allein ist zu begrüßen. Doch sie schafft es darüber hinaus eine grundsätzlich feministische Haltung einzuflechten, die heute vielleicht mehr denn je jedem Mädchen in Fleisch und Blut übergehen müsste. So klären Amber und Lottie die Heldin über benevolenten Sexismus, den Bechdel-Test und Maniac Pixie Dream Girls auf und diskutieren über das Tabuthema Menstruation – Themen, die man eher im Missy Magazin vermutet als in einem Jugendroman.

Doch genau in den Jugendroman gehören sie. Und Bourne verhandelt nicht weniger als das Selbstverständnis von jungen Frauen, die zwischen all den Ansprüchen der Gesellschaft – sei schön, sei schlank, sei schlau, sei charmant, sei nicht aufmüpfig, sei still, sei dankbar, sei lieb – nicht mehr wissen, wer sie eigentlich sind und wer sie sein wollen. Zu omnipräsent sind immer noch werbe- und modegeprägte Bilder von Frauen, die durchaus erfolgreich sind, aber dafür einen hohen Preis zahlen. Noch bestimmen viel zu viele Männer, wo der Platz der Frauen angeblich sein soll. Und das ist ein Unding.

Doch damit das nicht weiter passiert und die Mädchen es nicht mit sich machen lassen, brauchen sie früh – sehr früh – Vorbilder, die aus den gesellschaftlichen Korsetts ausbrechen und sich nicht von Jungs und Männern korrumpieren lassen. Dazu jedoch benötigt man Offenheit und Mut, mit anderen – in diesem Fall sind es die besten Freundinnen – über die eigenen Befindlichkeiten zu reden. Evie ist in diesem Buch nur bedingt ein Vorbild, da es in Bezug auf mentale Erkrankungen in unserer Gesellschaft immer noch unzählige Tabus gibt, weshalb Evie ihre Angstzustände und Zwänge verschweigt. Der Wunsch nach Normalität, die jedoch immer eine Illusion ist – denn: Was ist schon normal? –, treibt sie dazu ein Bild von sich in der Öffentlichkeit zu produzieren, das ihrem Wesen jedoch so gar nicht entspricht.

Diese Tragik, die Bourne in einem schmerzhaften Rückfall in die Krankheit fesselnd entwickelt, unterstreicht so doppelt und dreifach ihr Anliegen: Mädels, lasst euch nicht verbiegen. Von niemandem, selbst wenn der Typ den süßesten Blick der Welt drauf hat. Denn erst, wenn man sich selbst liebt, seine guten wie seine schlechten Seiten, wenn man aus eigenem Antrieb um seiner selbst willen etwas angehen oder verändern will, erst dann klappt’s vielleicht auch mit …  [hier bitte all das ergänzen, was frau gern erreichen würde].

Bücher wie die Spinster Girls sind jedoch nur eine Seite der Medaille, denn sie sprechen die Jungs (die in diesem Roman ziemlich stereotyp und mies wegkommen) nicht frei, einfach so weiterzumachen, wie sie es von Hause (?) aus gewöhnt sind. Ich kenne vermutlich viel zu wenige Jugendromane, denn ich kann mich grade nicht erinnern, dass es schon mal einen Roman mit Jungen als Protagonisten gab, die sich um feministische Belange gekümmert haben. Nennt mich naiv, aber wäre das nicht mal ein Romanstoff, der heranwachsende Jungs und Mädchen gleichermaßen neugierig machen sollte? Falls es so eine Geschichte bereits gibt, schreibt mir das bitte in den Kommentar – falls nicht … vielleicht findet sich ja eine_r, die das Thema mal klischeefrei umsetzt.

Auf jeden Fall aber ist Holly Bournes Serien-Auftakt Spinster Girls – Was ist schon normal? vielversprechend und macht Hoffnung, dass die jungen Leserinnen ihre feministische Botschaft so verinnerlichen, dass in Zukunft keine von ihnen je den Hashtag #metoo benutzen muss.

Holly Bourne: Spinster Girls – Was ist schon normal?, Übersetzung: Nina Frey, dtv, 2018, 416 Seiten, ab 14, 10,95 Euro

[Jugendrezension] Auf der Suche

boyneDas Buch des irischen Autors John Boyne So fern wie nah handelt von dem zu Beginn kleinen Jungen Alfie, an dessen fünftem Geburtstag der erste Weltkrieg ausbricht. Sein Vater Georgie verspricht, nicht in den Krieg zu ziehen – und bricht dieses Versprechen gleich am nächsten Tag.

Vier Jahre später liest Alfie jeden Tag die Zeitung durch, auf der Such nach einer Meldung über seinen Vater, weil dieser seit längerer Zeit keine Briefe mehr geschrieben hat. Aber Alfie findet nichts: zum Glück, denn in der Zeitung stehen nur die Namen der Gefallenen und Verletzten.
Inzwischen arbeitet seine Mutter als Krankenpflegerin. Da sie aber nicht genug Geld verdient, arbeitet Alfie heimlich als Schuhputzer am Londoner Bahnhof King´s Cross. Einen Teil des Geldes gibt er seiner Mutter, den anderen Teil muss er für neue Schuhputzmittel ausgeben, denn der Vorrat in seiner Schuhputzkiste reicht nicht lange. Weil er jeden Tag junge Männer sieht, die in den Krieg ziehen – es ist inzwischen Pflicht, mit 18 Jahren Kriegsdienst zu leisten –, wird er oft an seinen Vater erinnert. Eine ganze Weile putzt er die Schuhe der Leute, bis der Name seines Vaters in der Zeitung unter den Verletzten steht. Am nächsten Tag hört Alfie zufällig am Bahnhof ein Gespräch zwischen seiner Mutter und einem Mann, in dem er erfährt, in welchem Krankenhaus sein Vater liegt: Er hat einen so genannten Granatenschock erlitten. Alfie fährt in dieses Krankenhaus, und ihm passiert nun Einiges, was ihn denken lässt, das Krankenhaus sei schlecht. Er findet seinen Vater schließlich bei den psychisch Geschädigten, wird aber nach so langer Zeit von diesem nicht erkannt. Als Alfie wieder zu Hause ist, beschließt er, seinen Vater dort herauszuholen …

Das Buch ist sehr ernst, daher ist es überhaupt nicht für Menschen geeignet, die gerne Witziges mögen. Es ist spannend und bewegend erzählt, sodass man über all die Jahre mit Alfie, der vom Kind zum Jungen wird, mitfiebert.

Ich empfehle das Buch von 10 Jahren an. Für Jüngere ist es sowohl wegen des Themas Krieg als auch wegen der Zusammenhänge, die sich beim Lesen manchmal erst hinterher ergeben, ziemlich schwer begreifbar.

Lector03 (11)

John Boyne: So fern wie nah, Übersetzung: Brigitte Jakobeit/Martina Tichy, Fischer KJB, 2014, 256 Seiten, ab 12, 12,99 Euro