Über Ulrike Schimming

Ulrike Schimming übersetzt Literatur – von Kinder- und Jugendbüchern bis zu Graphic Novels und Comics – aus dem Italienischen und Englischen und arbeitet als freie Lektorin. Dieses E-Magazin entstand aus ihrer Arbeit für die Jugendzeitschrift stern Yuno. Hier stellt sie Neuerscheinungen oder Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur vor, Graphic Novels oder Buch-Perlen, denen sie ein paar mehr Leser wünscht. Weitere Infos zu Ulrike Schimming finden Sie unter www.letterata.de

Wichtiges ohne Worte erzählt

IMG_20160419_141151Kommt es nur mir so vor, oder leben wir in einer unglaublichen geschwätzigen Zeit. War das schon immer so? Gehört das zum Menschsein dazu? An manchen Tagen habe ich so meine Zweifel und möchten gewissen Menschen sagen: „Öfter mal die Klappe halten und einfach nur zuhören, könnte helfen.“
Man verpasst doch etliches, wenn man immer nur selbst quatscht. Dabei gibt es so viel zu entdecken, wie diese drei Bilderbücher beweisen, die ganz ohne Gequatsche, also ohne Text auskommen.

Den Anfang macht das comicartige Buch Überall Blumen des Kanadiers Jon A. Lawson. In schwarz-weißen Panels geht ein kleines Mädchen an der Hand des Vaters durch eine graue Stadt. Der Vater scheint sich nicht besonders für die Lütte zu interessieren, zerrt sie fast hinter sich her. Doch das hindert das rotgekleidete Mädchen nicht, mit offenen Augen durch die Welt zu laufen. Und dabei entdeckt sie an allen Ecken und Enden Schönes: das Vogeltattoo auf dem Arm eines Mannes, eine gelbe Hundeblume am Fuß eines Pfahls, ein rosanes Blümchen zwischen irgendwelchen Metallstreben, ein geblümtes Kleid einer Frau an der Haltestelle, noch mehr Blumen. Einen ganzen Strauß pflückt das Mädchen zusammen. Sie werden zu einem letzten Gruß an einen toten Sperling, der im Park auf dem Weg liegt. Das Mädchen verteilt die gepflückten Blumen, an einen schlafenden Mann auf der Parkbank, an den Hund der Nachbarn, an die Geschwister, die im heimischen Garten spielen.
Und auf einmal sieht der Betrachter überall Blumen. Immer mehr Farben dringen in die grauen Panels. Der Blick von Rotkäppchen überträgt sich auf den Betrachter, macht ihm ohne ein einziges Wort klar, das man mehr sieht, wenn man auch die Kleinigkeiten beachtet und nicht ständig mit dem Handy am Ohr oder vor der Nase durch die Welt läuft. Zudem zeigen ihre liebevolle Gesten gegenüber den anderen, sei es ein Mann auf der Bank, ein Hund oder ein toter Vogel, dass das Leben zu kurz ist für Unfreundlichkeit und Gehässigkeit.

Dass man sich bestens verstehen kann, selbst wenn man ganz unterschiedlichen Spezies angehört, zeigt hingegen die Französin Anne-Caroline Pandolfo in ihrem Büchlein Die Tinten Spinner. Die Geschichte könnte beginnen mit den Worten: „Treffen sich ein Tintenfisch und eine Spinne …“ Aber auch in diesem Buch gibt es keine Worte.
Dafür verbindet den roten Kopffüßler und das schwarze Insekt etwas Außergewöhnliches: ihre acht Beine bzw. Arme. Die beiden schauen sich mit großen Augen an, und schon geht der Wettbewerb los: Wer kann was am besten?
Der Tintenfisch protzt mit seinem Tintenvorrat, die Spinne webt ein wildes Chaos zusammen. Doch Konkurrenz macht erfinderisch und Wettkampf stachelt zu Höchstleistungen an, so wird aus dem Tintengeklekse ein entzückendes Seepferdchen, das Spinnennetz nimmt die Form eines Pferdes an. Und wenn diese Gesellen schon keine Selfies von sich machen, so schaffen sie schließlich doch jeweils das Portrait des anderen.
Und auf einmal sind aus zwei ganz verschiedenen Wesen Freunde geworden, die begriffen haben, dass der eine genauso gut ist wie der andere – und dass man gemeinsam einfach mehr Spaß hat.

Gemeinsam kann man sich zudem auch viel besser gegen die vermeintlich Stärkeren durchsetzen. Die katalanische Illustratorin Inma Pla, genannt Imapla, beweist dies mit wenigen einfachen schwarz-weißen Bildern in Der König der Meere: der kleine Fisch schwimmt durchs Wasser und hält sich für den König der Meere. Es kommt, wie es kommen muss: Groß frisst klein, größer frisst groß, und die Fische sammeln sich wie eine Matroschka im Bauch des Wals. Doch wenn der Größte meint, er sei tatsächlich der Größte, hat er die Rechnung ohne die Macht der Masse gemacht. Und so tun sich kleine blaue Fische zusammen und verweisen den Wal auf seinen Platz.
„Blubb“, „Zzzisch“ und „Happs“ sind die einzigen Worte auf den wenigen Seiten. Ich zähle sie nicht. Doch die Botschaft ist auch für die kleinen Betrachter dieses Pappbuches eindeutig: Die Gemeinschaft siegt, egal wie groß der Gegner auch sein mag, vorausgesetzt, sie tut solidarisiert sich.

Auch ohne Worte schaffen diese drei Bilderbücher es, ganz große Geschichten über das Leben zu erzählen. So unterschiedlich sie auch sind, sie zeigen, dass Gemeinschaft, Freundschaft und der offene Blick für seine Umwelt uns weiter bringen, als so manches leeres, angeberisches Geschwätz. Gleichzeitig kann man den jungen Betrachtern schon sehr früh klar machen, dass nicht immer die Worte zählen, sondern die Taten. Diese Erkenntnis hat so mancher Erwachsener, welch einflussreiche Position er auch bekleiden mag, leider immer noch nicht durchgeleitet. Man möchte ihnen diese Bücher ans Herz legen. Denn zum Lernen ist es ja bekanntlich nie zu spät.

PS: Die Geschichte von Imapla ist vielleicht nicht neu. Im Mai 2012 jedenfalls gab es in Berlin-Mitte folgenden Stencil, der genau das zeigt … Allerdings kann man diese Botschaft nicht oft genug zum Ausdruck bringen.

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Jon A. Lawson: Überall BlumenIllustration: Sydney Smith, Fischer Sauerländer, 2016, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Anne-Caroline Pandolfo: Die Tintenspinner, mixtvision, 2016, 32 Seiten, ab 3, 12 Euro

Imapla: Der König der Meere, Fischer Sauerländer, 2016,
20 Seiten, ab 3, 12,99 Euro

Lesend die Welt erforschen

köllerErstlesebücher finde ich ja ziemlich speziell und schwierig einzuschätzen. Das ändert sich vielleicht, wenn meine Nichte in zwei Jahren in die Schule kommt und ich dann mal aus der Nähe mitbekomme, wie heute das Lesen unterrichtet wird. Bis dahin muss ich mich auf mein eigenes Gespür verlassen. Es hat dieser Tage positiv reagiert, als mir die Reihe Leseforscher von Kathrin Köller in die Hände gefallen ist.

Köller hat diese Reihe  für die jüngsten Leser konzipiert und dabei Neugierde mit Lesetraining verbunden. Unterteilt in drei Lesestufen (A, B und C) richten sich die schmalen Sachbücher an Leseanfänger, geübtere und fortgeschrittenere Leser.

Frisch herausgekommen ist für die Anfänger gerade der Band Natur! Durch Flüsse, Wüsten, Regenwälder, in dem der Fuchs Filu – der sich als kleiner Forscher duch alle Bände zieht – Ausflüge zu eben jenen Regionen der Welt und ans Meer unternimmt. Die naturwissenschaftlichen Infos zu den einzelnen Themen sind in kurzen Kapiteln kindgerecht verpackt. Filu unterhält sich mit einem Wüstenfuchs, einem Höhlenbewohner und allen möglichen anderen Tieren, wobei die Dialoge in Sprechblasen verpackt sind und fast wie ein Comic daherkommen. Einfache Sätze, lockere Umgangssprache und große Schrift machen das Lesen für Anfänger – oder Kinder, die nicht sehr geschickt darin sind – einfach. Für fremde Namen werden Aussprachehilfen geliefert (Grän Känjen). Die vermittelten Themen halten zudem kuriose Infos bereit, die man selbst als Erwachsener nicht unbedingt weiß.
Spielerisch lenkt Köller hier zudem den Blick auf den Naturschutz und entwickelt bei den kleinen Lesern ein Gespür für Umweltbewusstsein und Artenschutz.

köllerDie geübteren Leser können sich im Band Vollgas! über die Geschichte der Fortbewegungsmittel der Menschen informieren. Hier werden die Sprechblasen weniger, die Kapitel, Texte und die Sätze länger. Auch der Umfang des Buches wächst.

Inhaltlich können sich kleine Trecker-, Bagger- oder Rennfahrer schlau machen, wie der erste dampfgetriebene Wagen der Welt – ein Fünf-Tonnen-Monster – aussah, warum die Wuppertaler Schwebebahn eigentlich eine Hängebahn ist oder wie schnell die Wikinger-Schiffe waren.

Zu allen Bänden der Leseforscher hat die Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ je ein Forscher-Experiment zum Nachmachen geliefert. So können in diesen beiden Ausgaben beispielsweise Tropfsteine oder ein Raketenantrieb nachgemacht werden.
Den Abschluss der Bücher bildet jeweils ein Quiz, in dem das Gelesene auf spielerische Art rekapituliert werden kann. Und am Ende des Leseabenteuers gibt es eine Urkunde für den echten Experten oder fleißigen Leseforscher.

Die Mischung aus den liebenswert-charmanten Illustrationen von Julia Dürr, Fotos und gut verständlichen Texten ist eine der Stärken dieser Reihe. Es gibt für die Leseanfänger viel zu schauen und zu entdecken – das Lesen passiert dann quasi von allein, wenn man verstehen will, wie beispielsweise eine Dampfmaschine funktioniert. Langeweile ist hier also nicht angesagt, Überforderung auch nicht, denn in diesen kleinen Büchern stecken Unmengen von Informationen, bei denen die Kinder nach der Lektüre bestimmt  öfter sagen: „Papa, weißt du …?“

Kathrin Köller: Natur! Durch Flüsse, Wüsten, Regenwälder, Leseforscher ABC, Illustration: Julia Dürr, Ueberreuter, 2016, 48 Seiten, ab 6, 8,95 Euro

Kathrin Köller: Vollgas! Mit Rädern, Rudern und Motoren, Leseforscher ABC, Illustration: Julia Dürr, Ueberreuter, 2016,  56 Seiten, ab  7, 8,95 Euro

Variationen eines Kunstwerks

kaefigIn dieser Woche fand die Kinderbuchmesse in Bologna statt, und ich war nach langen Jahren der Abwesenheit mal wieder vor Ort.
Es gab dort für mich nicht nur wunderbaren Input in Sachen neue Jugendbücher aus Italien, sondern ich hatte die zudem die Gelegenheit die beiden großartigen Macher von Der goldene Käfig persönlich kennenzulernen: die italienische Autorin Anna Castagnoli und den flämischen Illustrator Carll Cneut. Wir haben natürlich auf die Nominierung des Goldenen Käfigs für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch angestoßen und uns für den 21. Oktober in Frankfurt verabredet. Aber bis dahin ist noch viel Zeit.

Beim Nach-Messe-Bummel durch das historische Zentrum von Bologna habe ich mir dann in der Kinderbuchhandlung an der Piazza Maggiore die italienische Variante des Goldenen Käfigs zugelegt – La voliera d’oro. Und wenn man nun denkt: Bilderbuch ist Bilderbuch, egal in welcher Sprache es herausgebracht wird – dem möchte ich hier ein paar Seiten zeigen, die die Unterschiede der beiden Ausgaben illustriert.

Ganz offensichtlich ist zunächst, wie das erste Bild oben zeigt, das kleinere Format des italienischen Buches. In Zahlen: 26,5 x 34,5 cm für die deutsche Version, 24 x 31 cm für die italienische. Gründe dafür kann ich nicht nennen (Verlagsstandards? Kosten?).
Auffällig ist die Anordnung des Titels – der italienische Golddruck geht zwischen den Papageien leider etwas unter. Dafür ist der blaue Papagei rechts unten nicht so sehr beschnitten und besser zu erkennen.

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Bei der Titelei im Buch zeigt sich, wie wichtig die richtige Skalierung von Bildern sein kann. Vogel und Blätter sind zwar bei beiden Büchern gleich groß, nur sind bei der italienischen Version, oben, Vogel und Blatt angeschnitten und wirken gedrängt. Auch der Stil des oberen Blattes geht fast verloren.

Eine Besonderheit zeigt sich hier bereits bei der Handschriftstypo des Titels: Beide in Schreibschrift, die deutsche Variante ist jedoch von Carll Cneut geschrieben worden. Das setzt sich im deutschen Buch fort.

An einigen Stellen gibt es in der deutschen Variante Sätze, die im italienischen Text fehlen. Dies liegt daran, dass mir beim Übersetzen zusätzlich zum Text von Anna Castagnoli das PDF der niederländischen Ausgabe vorlag, die bereits 2014 erschienen ist und in der diese zusätzlichen Sätze eingefügt worden waren. Sie geben der Geschichte der Blutprinzessin einen zusätzlich märchenhaften und poetischen Hauch. Auf dem rechten Bild, unten, wird durch die handschriftlichen Passagen der Inhalt noch ein weiteres Mal herausgehoben und betont.

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Eine größere Änderung sowohl beim Text, als auch beim Bild zeigt sich hier:

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Für diese ganz besondere Seite, die die grausame Neigung der Blutprinzessin illustriert, hat Cneut das „HACK“ der rechten Seite für die deutsche Variante noch einmal ganz neu gemalt – denn ohne das C von „HACK“ würde das flämische „HAK“ wie ein Schreibfehler aussehen und die Leser enorm irritieren.
Im italienischen Text lautet „HACK“ allerdings „ZAC“ – und ich frage mich, ob italienische Leser sich über die Text-Bild-Schere in ihrem Exemplar wundern oder das einfach so hinnehmen.

Dies sind jetzt nur einige wenige Beispiele – schließlich müsst Ihr Euch dieses wunderbare Bilderbuch im Original ansehen, um seine ganze Pracht zu begreifen – aber sie zeigen eindrücklich, wie unterschiedlich in den Ländern mit Bildern und Texten umgegangen wird.
Ich würde jetzt am liebsten auf die Jagd nach allen internationalen Ausgaben gehen und diese Vergleichsliste fortsetzen … je nachdem, in welches Land dieses Märchen noch verkauft wird. Ich hoffe, in sehr viele.

Anna Castagnoli/Carll Cneut: Der goldene Käfig, Übersetzung: Ulrike Schimming, Bohem, 2015, 48 Seiten, 28,95 Euro

Anna Castagnoli/Carll Cneut: La voliera d’oro, Topipittori, 2015, 48 Seiten, 24 Euro

Konrad und der Bunker

konradGeschichte als Schulfach kann eine ziemlich dröge Angelegenheit sein, die die Schüler regelmäßig zur Verzweiflung treibt. So war es jedenfalls in meiner Erinnerung. Doch sobald man einen persönlichen Bezug zur Geschichte entdeckt, wird es interessant. So erlebt es der Protagonist in Marina Wildners Roman Finsterer Sommer.

Konrad ist 13, hat viel zu lange Arme und kommt sich so kurz vor der Pubertät wie ein unbeholfenes Monster vor. Zusammen mit seinen Eltern und seiner Cousine Lisbeth verbringt er die Sommerferien an der Atlantikküste Frankreichs. Die Mutter wollte aus unerfindlichen Gründen dorthin. Das Wetter ist nasskalt, Erholung Fehlanzeige, die oberschlaue Lisbeth nervt, und Konrad eckt irgendwie überall an. Sommerferien gehen eigentlich anders.

Am Strand vor der Bungalowanlage jedoch liegt ein Bunker halb versunken im Meer. Erstaunlich viele Menschen interessieren sich für den muschelüberzogenen Betonklotz. Eine Joggerin, ein fluchendes Pärchen, das Konrad für Agenten hält, ein seltsamer Mann mit Hund, der behauptet Schriftsteller zu sein. Lisbeth hält Konrad Vorträge über die Bunker an der französischen Westküste, die während des 2. Weltkriegs von der Organisation Todt errichtet worden waren.
Nach und nach kommen Konrad und Lisbeth dahinter, dass dieser Ort etwas mit ihrer Familie und einem Streit zwischen ihren Müttern zu tun hat. Sie sammeln Informationen, beobachten und ziehen ihre Schlüsse. Konrad nicht ganz so schnell wie Lisbeth, was ihn ziemlich wurmt. Schließlich finden sie heraus, was den Bunker (ein wunderbares Bild für die undurchdringliche, unauslöschbare Schuld einer Familie und einer Nation), einen alten einbeinigen Mann und ihren Urgroßvater verbindet – und noch bis heute in ihr Leben nachwirkt.

Martina Wildner, die 2014 mit Königin des Sprungturms den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen hat, ist mit Finsterer Sommer eine überaus vielschichtige und spannende Geschichte mit Krimielementen gelungen, in der sie heutige Familienverhältnisse, Erbstreitereien, Tod und den Wunsch nach schönen Sommerferien mit dem Erbe der Vergangenheit verbindet. Sie lässt Konrad die Erlebnisse erzählen und zeigt so, wie sich die Taten des Urgroßvaters, dessen Namen der Junge nicht einmal kannte, immer noch nachwirken. Konrad formuliert es so: „Aber nun war diese ferne Zeit wieder da, mit einem Schlag, mit diesem Namen, und sie lebte in mir weiter. Ich war verwandt mit einem schlimmen Nazi. Ich fühlte mich hässlich und schmutzig und schämte mich plötzlich, dass so jemand wie ich in Frankreich, das damals von Deutschland einfach erobert worden war, Urlaub machen konnte.“

Eindrucksvoller habe ich das Empfinden von kollektiver Schuld und das Verantwortungsgefühl für die Vergangenheit für junge Leser, die auf der Schwelle zum Teenageralter stehen, bis jetzt noch nicht gelesen.
Wenn Kriegskinder und Kriegsenkel heute glauben, sie haben genügend aufgearbeitet und sich ihrer Vergangenheit gestellt, so zeigt Wildner, dass das nicht genug ist. Auch die Urenkelgeneration, die gerade heranwächst, muss erfahren, was in den eigenen Familien damals passiert ist, mag es für die Kinder auch gefühlt unendlich lange her sein.
Die allgemeine Behandlung der Schrecken der NS-Zeit und des 2. Weltkrieges ist dabei natürlich unabdingbar, doch den Blick auf die persönliche Ebene zu lenken, auf den kleinsten gesellschaftlichen Nukleus, die Familie, gehört ebenso dazu. Das macht Martina Wildner unmissverständlich klar.

Finsterer Sommer könnte ich mir als Schullektüre vorstellen. Sprachlich bleibt Wildner durch ihren Erzähler Konrad dicht an der Zielgruppe und schildert somit die geschichtlichen Hintergründe verständlich, ohne die Leser mit den allergrößten Horroszenarien zu schocken.
Lisbeth, die schlaue Cousine, macht deutlich, dass Wissen wichtig ist und es hilfreich sein kann, auch mal im Duden einen Begriff nachzuschlagen. Hier treiben nicht die nervigen Eltern zum Lernen an, sondern Lisbeth lebt es Konrad auf Augenhöhe vor – was am Ende wirkungsvoller ist alle möglichen elterlichen Ermahnungen.
Von diesem didaktischen Kniff mal abgesehen, wird meiner Ansicht nach jede/r junge Leser/in nach dieser Lektüre Nachforschungen anstellen wollen, was in der eigenen Familie vor über 70 Jahren geschehen ist. Die Aufarbeitung und Bewahrung von Historie sowie die Vorbeugung vor Wiederholung des Schreckens könnten somit nicht besser in der Urenkelgeneration verankert werden.

Martina Wildner ist die bewundernswerte Meisterleistung gelungen, eine spannende Geschichte für Jungen und Mädchen mit Tiefe, historischer Aufklärung und dem Bezug zu unserer Gegenwart zu schaffen, die auch nach dem Lesen weiterwirkt.

Martina Wildner: Finsterer Sommer, Beltz & Gelberg, 2016,  238 Seiten, ab 11, 12,95 Euro

AusLese 2016

cneutNach fünf Jahren Abwesenheit hat es mich dieses Jahr mal wieder auf die Leipziger Buchmesse getrieben. Pressekollegen und Auftraggeber treffen, Hallenluft schnuppern, Cosplayer bewundern, Bücher bestaunen und auf Inspirationssuche gehen. Zusätzlich stand die Nominierungsveranstaltung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 auf dem Programm. Die Verleihung habe ich in Frankfurt bereits mal erlebt, aber noch nie die Nominierung.

Das Schöne an der Sache war dann, dass diese Nominierungen für mich zu einer ganz persönlichen Freude wurde. Denn in der Kategorie Bilderbuch ist „Der goldene Käfig“ von Anna Castagnoli und Carll Cneut der Bohem Press ausgewählt worden – in meiner Übersetzung. Ein absolutes Glücksgefühl! Dieses opulente Bilderbuch habe ich hier auch schon mal vorgestellt.

Die Nominierungen waren jedoch nicht nur deshalb für mich interessant, denn ich nehme sie, seit ich diesen Blog betreibe, als Anlass noch einmal zurückzudenken und zu vergleichen, welche Bücher ich gelesen und hier rezensiert habe. Bei etwas 8000 Neuerscheinungen im Jahr im Bereich von Kinder- und Jugendbuch kann ich natürlich neben meinem normalen Job nicht alles lesen, und auch mit Hilfe von meinen Gastrezensentinnen kommen wir lange nicht auf alle preiswürdigen Titel. Doch im vergangenen Jahr haben wir ein ganz gutes Näschen gehabt, wie ich finde. Dazu trägt aber auch die Wahl der Jugendjury bei, die erstaunlich harte und politische Bücher ausgewählt hat – für die ich ein Faible habe. So waren da die Überschneidungen am höchsten.

Ein paar der noch nicht gelesenen Bücher werde ich in den nächsten Monaten bis zur Preisverleihung noch nachholen, und eventuell darüber berichten.

Hier kommen jetzt aber erst einmal alle Nominierten – samt der Links zu den Rezensionen auf letteraturen.

Bilderbuch

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Marcelo Pimentel (Illustration): Eine Geschichte ohne Ende. Ein Bilderbuch aus Brasilien, Baobab Books, 2015, 20 Seiten,  ab 2, 14,90 Euro

Marianne Dubuc (Text, Illustration): Bus fahren, Übersetzung: Julia Süßbrich, Beltz & Gelberg, 2015, 40 Seiten, ab 3, 13,95

Anja Mikolajetz (Text, Illustration): Das Herz des Affen, Aladin, 2015, 32 Seiten, 16,95 Euro

Emmanuelle Polack (Text)/Barroux (Illustration): Kako, der Schreckliche, Übersetzung: Babette Blume, mixtvision, 32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Edward van de Vendel (Text)/Anton van Hertbruggen (Illustration): Der Hund, den Nino nicht hatte, Übersetzung: Rolf Erdorf, Bohem Press, 2015, 40 Seiten, ab 5, 14,95 Euro

Anna Castagnoli (Text)/Carll Cneut (Illustration): Der goldene Käfig oder Die wahre Geschichte der Blutprinzessin, Übersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten, ab 6, 28, 95 Euro

 

Kinderbuch 

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Uwe-Michael Gutzschhahn (Herausgeber)/Sabine Wilharm (Illustration): Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her. Das dicke Buch vom Nonsens-Reim, cbj Verlag, 2015, ab 6, 19,99 Euro

Frida Nilsson (Text)/Anke Kuhl (Illustration): Frohe Weihnachten, Zwiebelchen!  Übersetzung: Friederike Buchinger, Gerstenberg Verlag, 2015, 128 Seiten, ab 6, 12,95 Euro

Hayfa Al Mansour: Das Mädchen Wadjda, Übersetzung: Catrin Frischer, cbt Verlag, 2015, 304 Seiten, ab 11, 12,99 Euro

Stefanie Höfler (Text)/Franziska Walther (Illustration): Mein Sommer mit Mucks, Beltz & Gelberg, 2015, 140 Seiten,  ab 11, 12,95 Euro

Ann M. Martin: Die wahre Geschichte von Regen und Sturm, Übersetzung: Gabriele Haefs, Königskinder, 2015, 240 Seiten, ab 11, 14,99 Euro

Ross Montgomery: Alex, Martha und die Reise ins Verbotene Land, Übersetzung: André Mumot, Carl Hanser Verlag, 2015, 336 Seiten,  ab 11, 14,90 Euro

 

Jugendbuch

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Erin Jade Lange: Halbe Helden, Übersetzung: Jessika Komina und Sandra Knuffinke, Magellan Verlag, 2015,  ab 12, 16,95 Euro

Makiia Lucier: Das Fieber, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Königskinder, 2015, 368 Seiten, ab 12, 17,99 Euro, besprochen hier.

Mariko Tamaki (Text)/Jillian Tamaki (Illustration): Ein Sommer am See, Übersetzung: Tina Hohl, Reprodukt, 2015, 320 Seiten, ab 12, 29,00 Euro

Kirsten Fuchs: Mädchenmeute, Rowohlt Rotfuchs, 2015, 464 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Rainbow Rowell: Eleanor & Park, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carl Hanser Verlag, 2015, 368 Seiten, ab 14, 16,90 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

 

Sachbuch

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Iwona Chmielewska (Text, Illustration): abc.de, Gimpel Verlag / Verlag Warstwy 2015, 96 Seiten, ab 6, 19,90 Euro

William Grill (Text, Illustration): Shackletons Reise, Übersetzung: Harald Stadler, NordSüd Verlag, 2015,  80 Seiten, ab 8, 19,99 Euro, besprochen hier.

Britta Teckentrup (Text, Illustration): Alle Wetter, Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2015, 168 Seiten, ab 9, 24,95 Euro

Jean Paul Mongin (Text)/Julia Wauters (Illustration): Leibniz oder die beste der möglichen Welten, Übersetzung: Heinz Jatho, Diaphanes Verlag, 2015, 64 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Kristina Gehrmann (Text, Illustration): Im Eisland, Hinstorff Verlag, 2015, 224 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Reinhard Kleist (Text, Illustration): Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar, Carlsen Verlag, 2015, 152 Seiten, ab 14, 17,90 Euro, besprochen hier.

 

Preis der Jugendjury

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tagebuch
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Nicola Yoon: Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt, Übersetzung: Simone Wiemken, Dressler Verlag, 2015, 336 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Dirk Reinhardt: Train Kids,  Gerstenberg Verlag, 2015, 320 Seiten, ab 13, 14,95 Euro, besprochen hier.

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln, Oetinger Verlag, 2015, 528 Seiten, ab 14, 19,99 Euro, besprochen hier.

Matthew Quick: Goodbye Bellmont, Übersetzung: Knut Krüger, dtv, 2015, 256 Seiten, ab 14, 16,95 Euro

Erna Sassen: Das hier ist kein Tagebuch, Übersetzung: Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, 2015, 183 Seiten, ab 14, 17,90 Euro

Patricia McCormick: Der Tiger in meinem Herzen, Übersetzung: Maren Illinger, Fischer KJB, 2015, Seiten, ab 16, 14,99 Euro, besprochen hier.

Herzlichen Glückwunsch allen Nominierten!

Die Gewinner werden am 21. Oktober 2016 auf der Frankfurter Buchmesse bekannt gegeben. Ich bin sehr gespannt – in doppeltem Sinne …

 

Fukushimas absurd-unerträgliches Erbe

fukushimaVor fünf Jahren erlebte unsere ach so fortschrittlich technisierte Welt eine Kombination von katastrophalen Umständen, die sich so bis dato nicht einmal Hollywood hatte ausdenken können – unsägliche B- und C-Movies ziehe ich hier jetzt mal nicht in Betracht.

Der Tsunami infolge eines Seebebens war für sich schon verheerend, doch die Explosion mehrerer Atomreaktoren im japanischen Fukushima toppte dann das Undenkbare. Die genauen Abläufe von Kernschmelzen und Notabschaltungen, Austritt von radioaktiver Strahlung kann man dieser Tage an anderen Stellen ausführlich nachlesen. Die Schäden an Mensch und Umwelt sind immer noch immens, die Zahl der Toten und Geschädigten immer noch unklar. Die Kernkraft ist seitdem als Energielieferant erst recht nicht mehr tragbar. Das ist alles bekannt. Was uns hier so gut wie unbekannt ist, sind die momentanen Zustände in Fukushima und die Strapazen der Aufräumtrupps vor Ort.

Hier setzt der Manga Reaktor 1F von Kazuto Tatsuta an. Der Zeichner hat sich unter diesem Pseudonym vor ein paar Jahren als Arbeiter in Fukushima verpflichtet, um die Lage vor Ort mit eigenen Augen zu überprüfen und sich nicht mehr auf die Falschinformationen von Regierung und Betreiberfirmen verlassen zu müssen. In klaren, nüchternen Panels entwirft Tatsuta ein Panorama unglaublicher Tristess. Immer noch sind die Reste der Reaktoren verstrahlt und die Männer, die dort aufräumen, müssen sich einem Marathon von Schutzmaßnahmen unterziehen, bevor sie auch nur einen Handschlag tun können.
Detailliert beschreibt Tatsuta die An- und Umkleideprozeduren, vom Mundschutz über die Socken, die doppelten Schutzanzüge und die Überschuhe, Baumwollhandschuhe unter Gummihandschuhen, Atemmasken, die mit Klebeband befestigt werden müssen. In jeder Pause muss das verstrahlte Zeug entsorgt werden, neues wird angezogen. In der versiegelten Montur muss jede Nahrungsaufnahme, jede Zigarette, jeder Gang zur Toilette aufgeschoben werden, der Schweiß läuft in Strömen im Winter, im Sommer ertrinken die Männer fast im eigenen Schweiß. Die Nase juckt, kratzen unmöglich.
Um die zulässige tägliche Strahlendosis nicht zu überschreiten, trägt jeder Arbeiter ein Dosimeter am Leib. Dieses Gerät fiept, wenn gewisse Dosen erreicht werden. Nach dem vierten Fiepen ist Schichtende, damit die Männer keine gesundheitlichen Schäden davontragen. Manches Mal kann dies bereits nach einer Stunde der Fall sein. Weit kommt man so mit den Aufräumarbeiten nicht – und so wundert es einen auch nicht mehr, wenn von 30 bis 40 Jahren die Rede ist, bis alle verstrahlten Anlagen, Wassertanks und Gebäude zurückgebaut sein werden.

Tatsutas Geschichte ist im Grunde ziemlich unspektakulär, in manchen Teile etwas redundant, was jedoch die Unerträglichkeit der Zustände beim Lesen noch erhöht. Dumpinglöhne und geschäftsgeile Subunternehmer, die in anderen Zusammenhängen die kompletten Aufreger und eine Geschichte für sich wären, ranken sich zusätzlich um dieses Post-Katastrophen-Szenario.
Das Brisante beziehungsweise Unfassbare an dieser Geschichte ist der tatsächliche Aufwand, mit dem die Folgen dieser Katastrophe immer noch beseitigt werden müssen. Ich weiß nicht, was eigentlich schlimmer ist in diesem ganzen Horrorszenario, die vielen Toten, deren genaue Zahl man heute immer noch nicht weiß, die verstrahlten und zerstörten Häuser und Landschaften, oder der absurde, aber lebensnotwendige Aufwand, mit dem die Arbeiter ihren Job verrichten müssen. Allein die Einweg-Ausrüstungen der Arbeiter, die nach einem kurzen Einsatz kontaminiert sind, erzeugen immense Sondermüllberge – zusätzlich zu den gecrashten Reaktoren.

Eigentlich fasst man sich auf jeder Seite dieses Mangas an den Kopf.  Akute Katastrophen sind das eine, sie sind immer schrecklich. Das andere sind Folgen, die im Grunde vermeidbar gewesen wären, wenn. Über all diese Wenns fängt man bei der Lektüre von Reaktor 1F unweigerlich an zu grübeln. Und wünscht sich, dass die Technikgläubigkeit der Menschen weniger blind wäre. Hier offenbart sich eines der menschlichen Dilemmata: Ingenieure und Wissenschaftler machen uns mit ihren Erfindungen und Entwicklungen das Leben in der westlichen Welt oft sehr angenehm und bequem, doch die Folgen, mit denen wir umgehen müssen, wenn die Naturkräfte wirken, können wir dennoch nicht absehen.

Tatsutas Manga ist somit nicht nur eine großartige Dokumentation, sondern ein sehr gelungener Denkanstoß, dass wir solche Szenarien in Zukunft – wie auch immer – vermeiden sollten.

Kazuto Tatsuta: Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima Bd.1, Carlsen Manga! 2016, 208 Seiten, ab 14, 12,99 Euro

Nicht nur für Nerds

jobsWer sich auf meinem Blog öfter mal herumtreibt, weiß, dass ich hier auch auch die Werke vorstellen, die zum Teil an meinem Schreibtisch entstanden sind. Heute ist mein jüngstes Übersetzungswerk auf den Markt gekommen: die Comic-Biographie Steve Jobs – Das wahnsinnig geniale Leben des iPhone-Erfinders, konzipiert, gezeichnet und verdichtet von der Amerikanerin Jessie Hartland.

In 13 Kapiteln fasst Hartland das viel zu kurze Leben von Jobs in klaren, kritzeligen schwarz-weiß Panels zusammen. Von seinen Anfängen in der Garage, über die Gründung von Apple und Jobs Rausschmiss aus der eigenen Firma bis hin zu seinen Erfindungen, die so gut wie jeder von uns heute in die Hand nimmt – egal ob da ein Apfel drauf ist oder ein anderer Schriftzug. Ob wir die Person Steve Jobs nun kennen oder nicht, in unseren Haushalten ist er auf die eine oder andere Art vertreten. Und sei es in der Form einer DVD eines Pixar-Films …
Jessie Hartlands Graphic Novel klärt auf sehr unterhaltsame und leicht ironische Art über den Menschen Jobs auf.

Übersetzungstechnisch war es für mich in mancher Hinsicht eine wahnsinnige und auch geniale Arbeit. Diverse Apfel-Produkte benutze ich selbst, habe mir aber nie groß Gedanken über ihre Herkunft gemacht. Hartland baut in ihre Biographie jedoch sehr geschickt Doppelseiten über die jeweilige Technik der vergangenen Jahrzehnte ein – und da wurde ich dann wieder an meine eigene Jugend erinnert und an die ersten Tippversuche auf einem C64 und seltsame Nintendo-Daddel-Spiele. Manches, was heute vergessen ist wie Kompaktkassette und Walkman kamen mir wieder in den Sinn. Irgendwann hatte ich sogar mal eine Basic-Programmier-Kurs, von dem ich aber nichts behalten habe. All das, und vieles weitere, fließt heute in den ganzen Smartprodukten auf die eine oder andere Weise zusammen. Und so wurde mir während des Übersetzens klar, wie tief die Wurzeln eines so kleinen Smartphones reichen, mit dem wir ständig unzählige Dinge tun und vieles nicht mehr lassen können.

Wahnsinnig an der Arbeit war die Kleinteiligkeit der Panels. Namen, Worte, Begriffe, Gesprochenes, Geschriebenes. Ständig musste ich aufpassen, dass ich nichts übersehe. Zum Glück hat meine Lektorin sehr aufmerksam mitgelesen und so haben wir wohl wirklich alles gefunden, was zu übersetzen war oder was Englisch gelassen werden musste.
Und auch wenn der Text hier nicht immer in engen Sprechblasen steht, die der Übersetzerin so gar keinen Raum lassen, sondern manche Texte richtig Platz zu haben scheinen, musste ich mich doch mit der Länge der Texte beschränken. Das hieß: zählen. Die Buchstaben von Jessie Hartlands handgeletterten Texten zählen. Ich habe also gezählt und dann meine Texte eingekürzt, damit alles passt.
Dankenswerterweise hat Jessie Hartland dem Fischer-Verlag einen Font mit ihrer Schrift zur Verfügungen gestellt, so dass die deutsche Ausgabe nun annähernd den Eindruck eines handgeletterten Comics hat. Die Herstellung im Verlag hat da perfekte Arbeit geleistet, all die Varianten von Groß- und Kleinschrift, von senkrechten Worten und Fettungen wie im Original einzubauen. Die Leichtigkeit, die im Vorfeld von einigen schon als hässliches Kinder-Gekrickel kritisiert wurde, die aber Jessie Hartland Stil ausmachen, sind für mich so in die deutsche Version herübertransportiert worden. Und all jene, die denken mögen, so ein Gekrickel sei ja total einfach hinzumalen, der nehme bitte einen Stift in die Hand und versuche es selbst …

Ich jedenfalls liebe diesen leichten und frechen Strich von Jessie Hartland, weiß durch ihre Geschichte gewisse Apple-Produkte nun besser zu würdigen und bin froh, dass ich keine 500-Seiten-Biografie lesen musste. Während des Übersetzens kam für mich somit alles zusammen, was Glück ausmacht: Spaß, neues Wissen über Technik und einen Menschen, nostalgische Erinnerungen und professionelle Herausforderungen. Besser konnte es für mich kaum sein.

Schön ist aber auch, dass heute bereits eine erste Besprechung von Irve online gegangen ist, nämlich hier. Danke dafür!
Ich hoffe, dass Ihr beim Lesen genauso viel Spaß mit dieser Graphic Novel habt, wie ich es beim Übersetzen hatte.

Jessie Hartland: Steve Jobs – Das wahnsinnig geniale Leben des iPhone-Erfinders. Eine Comic-Biographie. Übersetzung: Ulrike Schimming, Fischer, 2016, 240 Seiten, 16,99 Euro

Ein Hoch auf das Herz!

herzenEigentlich ist mir der Valentinstag ja so was von wumpe. Mögen Floristen und Schokoladenhersteller ein gutes Geschäft machen. Bitte sehr.
Doch in den heutigen Zeit, in denen scheinbar alles aus dem Gleichgewicht geraten ist, Hass und Gewalt schon fast wieder salonfähig sind, es den Terror fast braucht, um uns wieder an unsere Menschlichkeit und unser Mitgefühl zu erinnern (was ich so ganz klar nicht möchte!), da ist mir doch ein Tag, an dem  die Liebe gefeiert wird, sehr willkommen.

Dass es in unseren Herzen jedoch mehr gibt als die romantische Liebe, zeigt die französische Journalistin Jo Witek in ihrem Bilderbuch In meinem kleinen Herzen, ganz fein übersetzt von Stephanie Menge. Das menschliche Herz ist ein erstaunliches Organ, hält es doch unseren Körper lebendig, pumpt unablässig Blut durch unsere Adern und kann, wenn es aus dem Takt gerät, unser Leben aus dem Tritt bringen.

Symbolisch ist unser Herz zudem das Zentrum unserer Gefühlswelt, die Witek in wenigen poetischen Worten auf den Punkt bringt. Freude und Glück treffen in diesem Herzen auf Wut, Angst, Trauer. Ein kleines, namenloses Mädchen, entzückend gezeichnet von Christine Roussey, führt den Leser durch diese Hochs und Tiefs der Emotionen. Da wird das zerbrechliche Herz mit einem Verband umwickelt, oder es ist schwer wie ein Elefant und leicht wie ein Luftballon. Monster machen Angst, Überraschungen fröhlich. Dann wieder ist das Herz ganz klein und schüchtern.

Der Clou an diesem feinen Buch sind die bunten, ausgestanzten Herzen auf jeder Doppelseite. Damit reiht sich Witeks Buch in die Tradition von Die kleine Raupe Nimmersatt, Das Loch und  Unsere Erde, in denen Löcher in den Seiten eine wichtige erzählerische Funktion übernehmen. Vom Cover beginnend bilden sie einen herzförmigen Krater, der im Garten der Gefühle endet und die Zufriedenheit als quasi höchstes Gut feiert.
Genau daran erinnern wir uns heute immer viel zu wenig – ich ebenso –, denn natürlich gibt es immer etwas zu meckern, anzumahnen, zu verbessern. Gewisse Zustände sollte und darf man selbstverständlich auf keinen Fall akzeptieren, doch genauso wenig sollte man vergessen, dass die Gefühle in unserem Herzen uns den Weg zum Glück und zur Zufriedenheit ebnen können, wenn man nur mal genau hinhört und -fühlt.

Also feiert die Liebe, genießt den Valentinstag, möge jeder Tag ein Valentinstag sein, dann hätte niemand mehr Zeit für Hass und Krieg. (Jetzt dürft ihr mich naiv nennen.)

Jo Witek: In meinem kleinen HerzenÜbersetzung: Stephanie Menge, Illustrationen: Christine Roussey, Fischer Sauerländer, 2016,  32 Seiten, ab 4-99, 16,99 Euro

Die Spirale des Lebens

bondouxEs war ein mal ein Buch … das gibt mir Rätsel auf. Und fasziniert mich doch ganz ungemein. So jüngst geschehen nach der Lektüre von Anne-Laure Bondouxs neuem Roman Von Schatten und Licht, in der sehr gelungenen Übersetzung von Maja von Vogel.

Bondoux erzählt die Geschichte von dem Mädchen Hama und dem Jungen Bo. Beide arbeiten in einer riesigen Fabrik in einem nichtgenannten Land in einer unbestimmten, aber fast gegenwärtigen Zeit. Hama und Bo sehen sich immer beim Schichtwechsel und verlieben sich. Sie verbringen die wenige Zeit, die sie gleichzeitig frei haben, zusammen. Doch etwas Düsteres liegt über der Fabrik, ein alter weiser Mann macht dunkle Vorhersagen, bis eines Tages die Fabrik in die Luft fliegt. Hama wird schwer verletzt, Bo entkommt der Katastrophe durch einen Zufall.

Doch nun schlägt Bo der Hass der Bevölkerung entgegen, glauben doch plötzlich alle, dass er für das Unglück verantwortlich ist. Hama und Bo verlassen die Stadt, ziehen in die Einöde. Dort gebiert Hama eine Tochter, Tsell, die die Gabe besitzt, ihre Schatten in die Silhouetten von allen möglichen Tieren zu verwandeln.

So wie Tsells Schatten sich beständig verändert, so verändert sich auch die Geschichte von Seite zu Seite, Kapitel zu Kapitel. Bondoux wechselt in den Kapiteln die Perspektive, anfangs lässt sie ein unbekanntes „Wir“ erzählen, später wird Tsell zur Erzählerin. Das mag ein wenig verwirren, entwickelt aber gleichzeitig einen Sog, der einen das Buch nicht mehr weglegen lässt. Denn in allem verhandelt Bondoux nichts weniger als die menschliche Existenz in ihren Facetten und Widersprüchlichkeiten. Liebe und Hass prallen aufeinander, die Freude weicht der Angst, die Sicherheit der Unsicherheit. Aus dem Aufbruch wird ein Rückzug, die Helden erleben eine Zeit des Friedens, bis der Krieg auch sie auf ihrer paradiesischen Landzunge einholt und das Glück der Familie zerbricht. Und wieder ein Aufbruch erfolgt, der zu einer Rückkehr wird.

„Wer ständig glücklich sein will, muss sich oft verändern“, hat angeblich Konfuzius gesagt. So ähnlich vollzieht es sich in dieser Geschichte, in der nichts dauerhaft ist, und schließlich die nächste Generation, in diesem Fall Tsell und ihr Freund Vigg, den Weg wieder zurückgehen und sich auf die Suche nach den familiären Wurzeln machen. Die Geschichte mäandert und kreist, bis sich Anfang und Ende fast wieder berühren. Über allem liegt die unbeantwortete Frage: „Glaubst du, man muss immer einen Teil von sich verlieren, damit das Leben weitergeht?“

In unserer unruhigen Zeit ist dieser rätselhafte, märchengleiche Roman eine wahre Herausforderung. Und das meine ich im positiven Sinne. Denn es erschließt sich nicht sofort, was Bondoux eigentlich sagen will. Viele Szenen sind mysteriös – so treffen Bo und Hama auf eine zwergenhafte Familie, die in einem Berglabyrinth lebt –, aber genau dies bietet jedem Leser eine riesige Spielfläche für Assoziationen und eigene Interpretationen. Jeder kann in diesem Roman ein Stück des eigenen Lebens finden. Pubertierende werden sich mit den wechselnden Schatten von Tsell, die einfach noch nicht weiß, was sie eigentlich sein will, möglicherweise identifizieren können.
Man findet die Kritik an der Gesellschaft, die möglichst schnell Sündenböcke für irgendetwas braucht. Man erlebt die Sehnsucht nach dem Paradies, das jedoch schon längst verloren ist, wenn man sich doch nur mal ein paar Schritte davon entfernt und seinen Horizont erweitert. Man erfährt, wie wichtig es ist, die eigenen Wurzeln zu kennen.

Je mehr ich über Bondoux Werk nachdenke, je mehr könnte ich solcher Erkenntnisse hier niederschreiben. Doch das ist nicht der Sinn der Sache hier. Denn jeder Leser muss seine eigenen Schlüsse aus dieser merkwürdig schönen und gleichzeitig dramatisch und zutiefst menschlichen Universalgeschichte ziehen. Man wird viel und lange über Bondouxs Roman diskutieren können und sich doch, so wie es bei Märchen nun mal üblich ist, dennoch getröstet und verstanden fühlen. Eine große Geschichte mit langem Nachhall.

Anne-Laure Bondoux: Von Schatten und Licht, Übersetzung: Maja von Vogel, Carlsen Verlag, 2016, 252 Seiten, ab 14, 17,99 Euro

Unantastbar

einsMenschen, die körperlich nicht den vermeintlichen Normen entsprechen, lösen oftmals ein voyeuristisches Bedürfnis bei uns allen aus. Man möchte schauen, vergleichen, sich abgrenzen, sich möglicherweise besser oder überlegen fühlen. Eine Geschichte, die solche Bedürfnisse auslösen könnte, hat jetzt die Britin Sarah Crossan vorgelegt. In Eins erzählt sie von den siamesischen Zwillingen Grace und Tippi.

In der Erwachsenen-Belletristik gibt es einige Romane zu diesem Thema, doch für Jugendliche ist es meines Erachtens das erste Buch, das sich mit der Lebenswelt von siamesischen Zwillingen befasst (korrigiert mich, wenn ich falsch liege). Crossan schildert die beiden 16-jährigen Mädchen als ziemlich normale Persönlichkeiten, obwohl sie an der Hüfte zusammengewachsen sind. Jede der beiden hat ihren eigenen Kopf, ihre eigenen Vorstellungen. Und sie haben eine Familie, die wie viele andere auch mit Problemen wie Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Magersucht zu kämpfen hat. Jedes dieser Probleme ist an sich schon harter Tobak.

Wie schon in Crossans Werk Die Sprache des Wassers erzählt die Autorin die Geschichte in freien, also ungereimten Versen, erneut von Cordula Setsmann in geschmeidiges Deutsch gebracht. Jedes Wort bekommt durch die typografische Setzung, die die Worte manchmal kaskadenartig verschiebt, ein zusätzliches Gewicht. Und bleibt trotz der Schwere der Thematik ganz leicht.

Tippi und Grace, benannt nach Alfred Hitchcocks Lieblingsschauspielerinnen, müssen ab August eine öffentliche Schule besuchen, denn die Spendengelder bleiben aus, so dass die Schwestern nicht mehr zu Hause privat unterrichtet werden können. Natürlich werden die Mädchen in der neuen Schule angestarrt, mit unschönen Sätzen bedacht, aber sie finden auch zwei richtig gute Freunde, die den beiden einen Hauch von Normalität vermitteln.
Als dann jedoch auch die Mutter ihren Job verliert und die Familie fast schon das Haus verkaufen und fortziehen muss, treffen Tippi und Grace ein schwierige, aber lukrative Entscheidung.

Crossan gestaltet die Mädchen so liebevoll, dass sie dem Leser unweigerlich ans Herz wachsen, ihn aber auch ständig damit konfrontieren, wie es wäre, wenn man IMMER jemanden so dicht an seiner Seite hätte. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich kann es mir aber auch im normalen Leben kaum vorstellen, ständig mit einem einzigen Menschen zusammen zu sein. Doch im Laufe der Lektüre entwickelt man ein Gefühl und eine gehörige Portion Verständnis für die Heldinnen. Da Grace als Ich-Erzählerin agiert, schaut man quasi hinter die Fassade, lernt die beiden von innen heraus kennen. Grace bewirkt, dass die Zwillinge nicht als Freaks angesehen werden, sondern als gleichberechtigte Menschen, deren Entscheidung, nicht getrennt werden zu wollen, man mit Respekt begegnen muss.
In diesem Moment stehen Tippi und Grace dann für alle Menschen in dieser Welt, die nicht irgendwelchen blöden Normen entsprechen, und sei es, weil sie eine zu große oder zu kleine Nase haben.

So selbstverständlich es sein sollte, dass man sein Gegenüber nicht nach einer Nanosekunde aufgrund seines Äußeren beurteilen sollte, so wichtig ist es, genau dies in Zeiten von medialem Schönheitswahn, aber auch medialer Vorverurteilung aufgrund von Herkunft, Haut-, Haar- und Augenfarbe sowie Glauben, immer und immer wieder zu betonen, durchzuspielen und in neuen Varianten wie in diesem besonderen Buch zu diskutieren. Denn wir alle vergessen viel zu oft und viel zu schnell, dass es letztendlich immer und ausschließlich um das Eine geht:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Sarah Crossan: Eins, Übersetzung: Cordula Setsmann, mixtvision, 2016, 424 Seiten, ab 12, 16,90 Euro

Alle für einen

alleEinschlafen ist eine schwierige Sache. Die fünf Brüder Martin, Pelle, Luigi, Bertil und Otto können ein Lied davon singen. In Stephanie Schneiders Bilderbuch Ich brauch euch alle! schlafen die Jungs in einem großen Bett. Zusammen mit Ottos riesiger Kuscheltiersammlung. So weit, so in Ordnung.

Doch als Otto auf dem Jahrmarkt das riesige Plüschschwein Elke gewinnt, wird es eng im Bett. Die Brüder wollen ausweichen, in den Schuppen, auf die Fernsehcouch, zum Kumpel. Otto ist entsetzt. Denn er braucht sie alle, um gut schlummern zu können. Eine Lösung entwickelt der erfindungsreiche Bertil …

Diese entzückende Einschlafgeschichte lebt von den Illustrationen von Astrid Henn. Sie hat aus den fünf Brüdern eine liebenswert internationale Combo gemacht: Bertil hat rote Locken, Pelle schwarze, Luigi ist strohblond, Martin und Otto haben glatte brauen Haare. Brüderlicher können diese Patchworkgeschwister also gar nicht sein. Jeder kleine Leser wird natürlich noch jede Menge andere Unterschiede entdecken – und es vermutlich völlig normal finden.

Diese fünf Helden zeichnen sich neben den körperlichen Merkmalen aber auch durch ihre unterschiedlichen Talente und Fähigkeiten aus: Der eine kann Knoten in Spaghetti machen, der andere regelt den Verkehr im Kinderzimmer, der dritte kann coole Zaubertrick. Gemeinsam gelingt es ihnen, Ottos großes Schlafproblem aus dem Weg zu räumen.

Die Lösung könnte in vielen Kinderzimmern zur Anwendung kommen, vor allem, wenn man nach dieser Lektüre all die knuffigen Kuscheltiere anschaffen muss, denn die sind neben den Brüdern die heimlichen Hauptdarsteller.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es blöd ist, dass hier keine Mädchen vorkommen und ob das nicht ausgrenzend ist. Doch es gibt Zeiten im Leben und in der Kindheit, in denen man lieber mit seinen Geschlechtsgenossen zusammen ist. Das sollte man respektieren. Und trotzdem können auch Mädchen hier ihren Spaß mit den Kuscheltierhelden haben und sich für ihre eigenen Schlafprobleme inspirieren lassen. Dazu brauchen kleine Leserinnen nur ein bisschen Phantasie, die hier auf jeden Fall neues Futter bekommt.

Stephanie Schneider: Ich brauch euch alle! Illustration: Astrid Henn, Sauerländer, 2015, 32 Seiten, 14,99 Euro

The Art of Being Normal

transgenderSchwule und lesbische Geschichten bespreche ich hier  ja in einer gewissen Regelmäßigkeit, doch sexuelle Identität geht bekanntlich weit über Homo- und Heterosexualität hinaus. Transgender ist seit Caitlyn Jenners öffentlichen Auftritten im vergangenen Jahr mal wieder das aktuelle „Skandalthema“, über das die im Schubladendenken geschulte Welt nur schwer hinwegzukommen scheint.

Lisa Williamsons Roman Zusammen werden wir leuchten, in der Übersetzung von Angelika Eisold Viebig, kommt da genau richtig, um die Vielfältigkeit und Buntheit des Lebens zu feiern.
Sie erzählt vom 14-jährigen David, der, seit er acht ist, sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Mädchen zu sein. Noch hat er es nicht gewagt, seinen Eltern davon zu erzählen. Seine Wünsche und Ängste schreibt er in ein Notizbuch. Dort vermerkt er auch seine körperlichen Veränderungen, die ihn mehr und mehr zum Jungen machen. Ihm läuft ein bisschen die Zeit davon, wenn er den Hormonschub der Pubertät aufhalten will. Zwar wissen seine beiden besten Freunde Essie und Felix, die Bescheid, die können ihm aber nicht helfen.
Als David eines Tages in der Schule übel gemobbt wird, schreitet der neue Schüler Leo schlagkräftig ein und kommt David zu Hilfe. Leo, der aus einer sozial schwachen Familie stammt, hat die Schule gewechselt. Über die Gründe zerreißen sich die Schüler unentwegt das Maul. Doch an Leo scheint alles abzuprallen. Nach und nach kommen sich David und Leo näher und brechen schließlich zu einem Wochenende auf, das für beide die entscheidende Wendung in ihren Leben bringen wird.

Williamson erzählt die Geschichte der Jungs jeweils aus den Perspektiven von David und Leo, so dass man als Leser immer ganz dicht bei den Gefühlen, der Sicht auf sich selbst und dem jeweiligen Wissensstand ist. So baut sich nicht nur Spannung auf, sondern auch ein hohes Maß an Mitgefühl, anfangs vor allem für David, später auch für Leo. Man kann Davids Wunsch, ein Mädchen zu sein, so gut nachvollziehen, ohne dass Williamson über genetische oder soziale Gründe für diesen Wunsch referieren muss. Diese Gründe und auch die später notwendigen medizinisch-chirurgischen Maßnahmen klammert sie völlig aus. Denn sie sind unerheblich.
Hier geht es zunächst nur darum, wie sich der Held/die Heldin selbst sieht, empfindet und wie sie/er leben möchte. Das gilt es zu respektieren. Die spätere physische Umsetzung kann heute von kompetenter Seite begleitet werden, nur die Vorurteile der Gesellschaft, die Sensationslust der Menschen, ihre Häme und ihre Gewalt gegenüber Transgendermenschen kann leider noch nicht so kompetent beseitigt werden. Dieses Buch jedoch kann ein Schritt zu mehr Verständnis sein.

Der Blick auf den englischen Titel legt dabei, viel schöner als der deutsche, die Message ganz klar fest: The Art of Being Normal lautet er. Ich frage mich, warum er nicht ansatzweise übernommen wurde. Denn genau darum geht es doch, eine wie auch immer geartete Normalität für Transgendermenschen zu schaffen, ihnen den Leidensdruck zu nehmen, Vorurteile abzubauen und die vermeintliche Normalität der anderen auf ihren Platz zu verweisen.

Lisa Williamson: Zusammen werden wir leuchten, Übersetzung: Angelika Eisold Viebig, Fischer TB,  2015, 384 Seiten,  ab 14, 12,99 Euro

Let’s do it in style

Graphic NovelZugegeben: Wie sich die aktuellen Jugendkulturen gerade genau definieren, musste ich erstmal nachlesen: Cosplayer, Gamer und Skater sind heute angesagt und mir in gewisser Weise auch ein Begriff. Aber irgendwie sind sie im Stadtbild nicht so präsent wie Popper, Punker und Rocker zu „meiner“ Zeit in den 80ern, die mir ziemlich lebhaft im Gedächtnis haften. Immer noch. Das liegt wahrscheinlich in der Natur der Erinnerungen an die eigene Jugend. Aber vielleicht treibe ich mich momentan auch einfach nicht auf den entsprechenden Conventions und in Halfpipes herum und bin einfach zu alt …

Einen fast nostalgischen Rückblick in „meine“ Zeit hat mir jetzt die Graphic Novel Fahrradmod von Tobi Dahmen gewährt. Darin schildert er seine Jugend in den 70er und 80er-Jahren in einer westdeutschen Kleinstadt. Die Landschaft drum herum war weit und karg, nur die Hochspannungsmasten boten Orientierungspunkte … und die Musik, die aus England kam und Mode und Abwechslung mitbrachte. Tobi wird folgerichtig Mod. Auch wenn seine Klamotten immer einen Tick daneben liegen, und es für die coole Vespa nicht reicht. Aber es gibt Parties, Zusammengehörigkeitsgefühl und vermeintliches Ansehen.

In nuancierten Grautönen portraitiert Dahmen die Jugend der jetzt Mitt-Vierziger und die Zeit, als durchtanzte Nächte noch das höchste aller Gefühle darstellten, man wegen der falschen Schuhe schon mal Ärger bekam und die Pubertätshormone einem noch ganz schön die Sicht auf das Wesentliche verstellen. Eine geile Zeit. Eine Zeit, in der die eigene Befindlichkeit das Zentrum des Universums war, das politische Geschehen ein unklares Hintergrundrauschen war und die Musik alles. Vielleicht kann man hier die Gründe für so manche Gleichgültigkeit in unserer heutigen Gesellschaft finden, hatte diese Generation, die im Westen groß geworden ist, doch keine wirkliche Revolution zu verantworten. Manche Panels von Dahmen bekommen so einen faden Beigeschmack und lösen fast ein Gefühl von Trauer über diese merkwürdige Jugend aus.

Doch neben den manchmal jämmerlichen Partyexzessen seiner Helden zeichnet Dahmen sehr geschickt die Entstehung und Entwicklung der Musikströmungen nach, die heute allesamt als Oldies abgefeiert werden. Der Jazz und die Modernists, Rhythm & Blues, Ska und Motown, Garage Rock und Garage Punk, Disco und Heavy Metal, Psychobilly und The Smith. Er zitiert die Songs, zeigt, dass die Skins ursprünglich keine rechte Schlägertruppe waren, wie alles im Fluss und alles miteinander verbunden war und ist – und wo es dann doch gefährlich und rassistisch wurde.

Obwohl ich nur einen Bruchteil der Musik kenne und längst nicht alle Feinheiten der Geschichte aufdecke, da meine Jugend noch viel unspektakulärer verlaufen ist als die von Tobi hier, ist Fahrradmod in meinen Augen und Ohren ein gelungenes Portrait (m)einer Generation (vor allem von deren männlichem Teil), das mich amüsiert, gut unterhalten und musikwissenstechnisch sehr bereichert hat.
Vermutlich wäre es clever, diese Graphic Novel gleich mit dem entsprechenden Soundtrack im Hintergrund zu lesen. Eine Liste mit den Songs findet sich am Ende des Buches oder im Netz direkt hier.

Tobi Dahmen: Fahrradmod, Carlsen, 2015, 480 Seiten, 24,99 Euro

Gemeinsam stark

lesbeVor einiger Zeit habe ich hier das neueste Buch von David Levithan besprochen und mir gewünscht, des möge doch auch mal Geschichten über lesbische Liebe geben. Das Thema lag wohl in der Luft, denn nun ist Maike Steins Roman Wir sind unsichtbar im Handel.

Stein erzählt die Geschichte von Valeska und Inken. Die 15-jährige Leska färbt sich gern die Haare bunt, betreibt einen Blog und weiß, dass sie Mädchen liebt. Ihrer Familie hat sie das bereits gesagt, nur hat sie noch nie ein Mädchen geküsst. Nichts würde sie gerade lieber tun.
Auf einer Party darf sie schließlich beim Flaschendrehen Inken küssen – was eigentlich so gar nicht nach Leskas Geschmack ist, hält sie Inken doch für „traumalos“, also langweilig und uninteressant. Der Kuss ist zwar nicht besonders weltbewegend und doch merkt Leska, dass hinter Inkens makelloser Fassade etwas steckt. Die beiden Mädchen nähern sich an und verlieben sich, was jedoch – laut Inken – niemand erfahren darf. Mehr und mehr entdeckt Leska, was Inken verbirgt und was ihr Angst macht. Da Leska ein Mädchen der Tat ist und Ungerechtigkeiten nicht ausstehen kann, greift sie schließlich zu Farbe und Pinsel, um Inken zu rächen …

Maike Stein schafft es mitreißend, die zarte und zerbrechliche Gefühlswelt zweier Jugendlichen in Worte zu fassen. Leskas Blogeinträge wechseln mit der Ich-Erzählung von Leska und kurzen Flashbacks auf Inkens Erfahrungen. In den kurzweiligen Kapiteln trifft so der Mut der einen auf die Angst der anderen, doch gemeinsam entsteht schließlich eine große Liebe. Gleichzeitig macht Stein klar, dass es in unserer ach-so-vermeintlich liberalen und aufgeklärten Welt alles andere als liberal zugeht. Die Vorurteile gegenüber gleichgeschlechtlich Liebenden sind immer noch tief in unzähligen Köpfen unserer Gesellschaft verankert. Es ist nicht selbstverständlich, schon gar nicht als Teenager-Mädchen sich offen zu seiner sexuellen Identität zu bekennen, solange sie eben nicht hetero ist. Den jungen Leserinnen dieses Buches jedoch macht Maike Stein durch ihre Heldinnen mit allen Mitteln Mut, zu sich und ihrer Liebe zu stehen. Sie macht Mut, sich zu zeigen, sichtbar zu werden, nicht nur in den entsprechenden Communitys oder am CSD, sondern tagtäglich. Das ist nicht einfach, erfordert Überwindung und viel Kraft. Doch Leska zeigt Inken, dass es immer wieder auch Menschen gibt, die zu einem stehen und helfen.

Und so sollte es im wahren Leben viel öfter sein.

Maike Stein: Wir sind unsichtbarMitarbeit: Kathrin Schüler, Oetinger Taschenbuch, 2015, 192 Seiten, ab 12, 8,99 Euro

Das Leben in Bildern

babySo unterschiedlich Bilderbücher auch sind, manchmal kann man sie in einen Zusammenhang stellen. Bei diesen vier tut sich beispielsweise die ganze Bandbreite unseres Lebens auf.

Auftakt liefert das Buch von Anna Herzog, Ein Baby in Mamas Bauch, das klassisch-knuffig von Joelle Tourlonias illustriert ist. Die Zwillinge Mia und Oskar bekommen ein Geschwister. Diese umwerfende Neuigkeit nutzen die beiden Kindergartenkinder, um jede Menge Fragen zu stellen, wie das mit Babys und ihrer Herstellung eigentlich so ist. Auch so „eklige“(O-Ton Mia) Sachen wie knutschen und „sexen“ kommen ganz offen zur Sprache, dazu die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, was es mit den Hormonen auf sich hat, ob eine Gebärmutter platzen kann und wie das Baby schließlich auf die Welt kommt.
Die fiktive Geschichte wird durch Kästen mit Sach-Information bereichert, in denen anatomische Details, Entwicklung des Babys oder die Entstehung von Zwillingen erklärt werden. Die Erläuterungen sind so dicht an der Lebenswelt von Kindern, dass diese wie selbstverständlich an so geheimnisvolle Vorgänge wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt herangeführt werden. Mit so einem liebevollen und schön anzusehenden Aufklärungsbuch wird die Ankunft des neues Familienmitglieds für alle ein Fest.

bus

Dass das Leben dann später nicht immer rund läuft, davon berichten Stefanie Harjes und Marjaleena Lembcke in Der Bus mit den eckigen Rädern.

Ein Konstruktionsfehler in der Fabrik führt dazu, dass der neue Bus eckige Räder hat. Damit kann er natürlich nicht im Linienverkehr eingesetzt werden. Traurig macht sich der Bus auf den Weg – und sammelt mit der Zeit doch Menschen ein, die sich auf seinen bequemen Sitzen niederlassen: eine alte Dame, die wehmütig auf ihr Leben zurückblickt, ein alter Mann, der überprüfen möchte, ob das Rote Meer wirklich rot ist, ein Junge, der in Alaska Lachse angeln will, ein Mädchen auf dem Weg zum Tanz, ein streitendes Ehepaar, ein Priester, der keine Gemeinde mehr hat. Im Bus werden sie für eine kurze Zeit zu Schicksalsgenossen, die ihrem Ziel immer näher kommen.

Stefanie Harjes illustriert die Lebensreise im holprigen Bus mit Collagen, in denen Bleistiftzeichnungen auf Fotos, Kartenmaterial, Wortschnipsel, Stempelabdrücke und bunte Farben zusammentreffen. Ziegen haben Kinderköpfe, Schnecken schlafen auf Baumstümpfen, die Tasche der alten Frau ist größer als sie selbst. Vieles ist rätselhaft, wie das Leben eben so ist, und dadurch sehr faszinierend. Jeder Betrachter wird eigene Assoziationen und Verbindungen haben, in die Bilder eigene Geschichten hineindenken.

unfall

Einen traurigen Teil im Leben schildert das psychologische Bilderbuch Papas Unfall vom Atelier artig. Zunächst lernt man eine ganz normale vierköpfige Familie kennen, die immer etwas Neues unternimmt, schwimmen geht, Rad oder Schlitten fährt. Alles ändert sich, als Papa eines Tages mit dem Motorrad verunglückt und danach nicht mehr laufen kann. Er liegt lange im Krankenhaus, ist traurig und kann nicht richtig sprechen. Mama organisiert das Leben neu, sucht sich einen neuen Job, kümmert sich um Papa, schafft ein Krankenbett ins Wohnzimmer. Die Schwestern sind jetzt zwar mehr mit Oma zusammen, doch sie merken genau, wie traurig alles ist.

Wut und Trauer herrschen in dieser Geschichte zwar vor, aber die Kinder begreifen, dass es Gründe dafür gibt. Für Familien, die Ähnliches erlebt haben, bietet dieses Bilderbuch Identifikation und Hoffnung, denn mit der Zeit gewöhnen sich alle an dieses neue Leben, das zwar anders ist, aber dennoch Alternativen und schließlich auch schöne Momente bieten kann.

bär

Von solchen Momenten, schönen wie schlimmen, könnte man dann Geschichten erzählen. So wie der Bär. Doch der hat sich leider den falschen Zeitpunkt zum Erzählen ausgesucht, denn so kurz vor dem Winter haben Maus, Ente, Frosch und Maulwurf Wichtigeres zu tun, als Bär zuzuhören. Und so fallen die ersten Schneeflocken und Bär legt sich schlafen.
Im Frühling versammeln sich dann die Freunde alle wieder um Bär und haben endlich Zeit, die Geschichte zu hören …

Erin Stead hat die Geschichte Als Bär erzählen wollte von Philip Stead mit duftigen Aquarellen und zarten Bleistiftstrichen illustriert und dabei ganz viel Weißraum gelassen, so dass eine poetische Leichtigkeit die Szenerie bestimmt. Der Zusammenhalt der Freunde und ihre Aufmunterung von Bär am Ende zeigen, dass Freundschaft auch dann hält, wenn man einmal keine Zeit für den anderen hat oder sich lange nicht sieht. Die entzückende Abschlusspointe kann ich hier natürlich nicht verraten …

Ein abschließende Bitte hätte ich an die Illustratoren da draußen: Hier kommen in drei von vier Büchern alte Damen und Großmütter vor. Die Darstellung mit Kopftuch, Dutt und Puschen mag ja ganz heimelig und liebenswert sein, aber ich kenne heute keine Großmütter mehr, die so antiquiert herumlaufen. Es ist an der Zeit mal ein neues Großmutterbild zu entwickeln, würde ich sagen …

Anna Herzog: Ein Baby im Mamas Bauch, Illustration: Joelle Tourlonias, Sauerländer, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Marjaleena Lembcke: Der Bus mit den eckigen Rädern, Illustration: Stefanie Harjes,
Ravensburger, 2015, 32 S.  ab 6, 15,99 Euro

Achim Kirsch: Papas Unfall, Balance Buch + medien, 2015, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

Philip Stead: Als Bär erzählen wollte, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn,   Illustration: Erin A. Stead, Sauerländer, 2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro