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Wasserschweingeschichten

In Bilder- und Kinderbüchern tummeln sich bekanntlich Tiere. Viele Tiere. Tiere aller Art. Ich habe mal versucht, eines zu finden, das noch nicht im Bilderbuch ein Abenteuer erlebt hat. Mir ist keines einfallen. Ich habe nicht ausgezählt, welche Tierart am häufigsten in Büchern auftaucht – Wölfe und Bären stehen ziemlich weit oben, Hasen oder Kaninchen ebenfalls, von Hunden und Katzen mal ganz zu schweigen, aber auch die Bewohner von Luft und Wasser sind in ordentlicher Zahl vertreten. In manchen Büchern geht es schon so weit, dass jetzt Fantasietiere wie Einschweine, Neinhörner oder Schmetterschweine herhalten müssen. Ich erinnerte mich dann an eines meiner liebsten Bilderbücher aus meiner Kindheit, in der ein Tier eine Hauptrolle spielte: das Capybara, vulgo Wasserschwein. Vielleicht liebe ich diesen Großnager so, weil ich als Kind mal ein Meerschweinchen hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich mich daraufhin auf die Suche nach Wasserschweingeschichten gemacht. Die Auswahl ist begrenzt, daher zeige ich hier einfach alle. Es sind sechs.

Ende der 1960er Jahre erschien Unser Freund Capy von Bill Peet, in der Übersetzung von G. A. Strasmann, im Carlsen Verlag, der damals noch als „Reinbeker Kinderbücher“ auf dem Cover firmierte. Peet erzählt die Geschichte seines Sohnes Bill, der Tiere liebte, Biologie studierte und eines Tages ein Capybara in der Zoohandlung bestellt. Ein Vorgehen, das heute undenkbar ist. Der Riesennager im amerikanischen Bungalow mit Pool stellt den Familienalltag auf den Kopf, erschreckt die Katzen, frisst deren Futter, ruiniert den Rasen, verdreckt das Poolwasser – und wird schließlich depressiv. Denn Wasserschweine sind Rudeltiere und allein macht es Capy in der Menschenfamilie keinen Spaß, außer es sind die Nachbarskinder zur Poolparty da. Als das depressive Tier irgendwann einen Jungen leicht verletzt, wird es ausgesperrt und schließlich in einen Zoo gebracht, wo es bei den Nilpferden ein neues Zuhause findet.

Andere Zeiten, andere Geschichten

Mit anderen Worten: Eine Geschichte, die heute eigentlich kein Mensch mehr so schreiben oder gar veröffentlichen würde. Es war für mich damals in den 1970ern wahrscheinlich die erste, in der deutlich wurde, dass Menschen wilde Tiere nicht einfach so einsperren und zu Haustieren machen dürfen. Capy fand ich süß – was an den hervorragenden Zeichnungen von Bill Peet lag – und gleichzeitig tat er mir unendlich leid.

Neues Kleid für Capy

Umso erstaunlicher ist es, dass noch 2012 der österreichische Kinderbuchautor Franz S. Sklenitzka seine Figuren Olaf und dessen Großvater ein Wasserschwein aus einem Tierheim holen lässt. In Mein Freund Pepe Wasserschwein braucht Olaf nämlich ein Haustier, weil der Junge immer allein ist und sich vor Einbrechern fürchtet, seit sein Papa weg ist. Eigentlich soll er ein Meerschweinchen bekommen, doch das kann keine Einbrecher verjagen. Im Tierheim entdeckt er Pepe, das Wasserschwein – und kann das Quieken des Tieres verstehen. Bei den beiden ist es Liebe auf den ersten Blick.

Ähnliche Geschichte

Zu Hause kürzt Pepe den Rasen, schwimmt im Gartenteich, frisst Radiergummis und Katzenfutter und wird die Attraktion für die Kinder der Gegend. Pepe wird größer und irgendwann langweilt er sich … Das Wasserschwein selbst erzählt dann Olaf, dass es Gesellschaft braucht. Und so wird Pepe schließlich in einen Tierpark zu seinen Artgenossen gebracht.
Die Ähnlichkeit dieses Erstleserbuches zu Bill Peet ist trotz diverser Unterschied nicht zu übersehen. Es scheint fast so, als hätte Sklenitzka die Geschichte von Capy gekannt…

Wasserschweine mit Botschaft

Wasserschweine können aber auch anders. Das zeigen zwei aktuelle Bilderbücher. In Die Wasserschweine im Hühnerhof des Uruguayaners Alfredo Soderguit taucht eines Tages eine Horde Wasserschweine im Hüherhof auf. Die Hühner, gestört in ihrem beschaulich-ruhigen Dasein, sind beunruhigt: »Niemand kennt die Wasserscheine, und niemand hat sie erwartet.« Für die vielen großen, nassen, haarigen Nager ist kein Platz im Hühnerhof. Nur können die Wasserschweine nicht mehr zurück in ihre Sumpflandschaft, denn dort wird Jagd auf sie gemacht.

So bekommen sie von den Hühnern Regeln diktiert, wie sie sich im Hof zu verhalten haben. Eigentlich dürfen sie nichts, vor allem nicht die Regeln hinterfragen. Doch die Neugierde der kleinen Hofbewohner lässt sich nicht aufhalten: Ein Küken und ein Mini-Capy freunden sich an. Und als die großen Wasserschweine das Küken vor einem der Jagdhunde beschützen, ändert sich alles. Einträchtig grasen Hühner und Wasserschweine im Gehege, schlafen zusammen im Stall. Und als die Jagdsaison zu Ende ist, kehren die Wasserschweine in ihren Lebensraum zurück. Allerdings nicht allein …

Mit schlichtem Strich und wenigen Farben (die Wasserschweine sind braun, die Kämme der Hühner rot, der Rest ist schwarz-weiß) erzählt Soderguit das komplexe Thema von Flucht und Vorurteilen – und bricht es überzeugend auf. Die menschlichen Jäger stehen am Ende mit leeren Händen da, während sich die Tiere zu einer starken, solidarischen Gemeinschaft zusammenfinden.

Zurück zur Natur

In seinem angestammten Urwald-Habitat, im brasilianischen Urwald, hingegen bewegt sich Capy, das kleinste Wasserschwein einer Capybara-Familie, in Die Papagei-Ei-Rettung von Sandra Grimm und Lisa Rammensee. Am Morgen fällt dem Wasserschwein-Mädchen ein Papageien-Ei quasi vor die Pfoten. Sofort steht für Capy fest, dass sie das Ei zu den Papageien-Eltern zurückbringen muss. Sie macht sich auf den Weg, das Ei unter den Bauch gebunden und durchquert den Urwald. Auf dem Weg begegnet sie netten Helfern, wie dem Kolibri Fedro, dem Brüllaffen Bört sowie dem Kaiman-Mädchen Kara, und gemeinsam bringen sie das Ei zu den blauen Aras zurück.
Die Freundschaftsgeschichte strahlt in grün-erdigen Urwaldfarben und diese Capy ist wieder so niedlich wie das Ur-Capy von Bill Peet.

Bedrohter Lebensraum

Im Anschluss an das Abenteuer gibt es acht Seiten mit Informationen über das Pantanal in Brasilien, das größte Binnenland-Feuchtgebiet der Erde, seine Artenvielfalt und die Besonderheiten der Wasserschweine (Schwimmhäute zwischen den Zehen). Kleine Tierliebhaber:innen lernen Jaguar, Gürteltier und Nandus kennen. Liebevoll werden hier schon die Kleinsten an schützenswerte Naturräume und exotische Tierarten herangeführt – was vielleicht dazu beiträgt, dass sie später einmal unserer Umwelt mit Respekt begegnen.

Das unübersetzte Capybara

Ein weiteres Wasserschwein-Bilderbuch fand ich dann noch in den Weiten des Netzes – allerdings ist es (noch) nicht auf Deutsch erschienen. Die Italienerin Michela Fabbri stellt in ihrem auf englisch erschienenen Buch I Am a Capybara die Tierart selbst vor. Dafür lässt sie ein namenloses Capybara von sich und seiner Art erzählen. Denn das größte Nagetier der Erde wird gern mit Mäusen, Bibern oder Murmeltieren verwechselt. So stellt es seine Besonderheiten im Vergleich zu einem Hund heraus: riesige Nase, immer halbgeschlossene Augen, winzige Öhrchen, versteckter Minischwanz, Schwimmhäute an den Pfoten, verborgene Nagezähne… Doch das wirklich Besondere ist aus Sicht dieses Capybaras ist seine Liebe zum einfachen Leben in Gesellschaft. Es spielt gern, erkundet die Gegend, schwimmt und streckt sich schließlich in yoga-ähnlichen Posen (das herabschauende Capybara).

Mehr Capybara sein

Das reale Wasserschwein entwickelt hier fast menschliche Züge: es trägt eine Fliege für den Besuch in der Oper, liebt eine gute Brühe und freundet sich mit einem kleinen Vogel an. Und natürlich kuschelt es gern mit seinen Artgenossen … Diese Mini-Capy-Autobiografie hat Michela Fabbri mit sparsamen Buntstiftzeichnungen illustriert und vermittelt den Betrachter:innen damit hauptsächlich, dass wir alle viel mehr wie ein genügsam-geselliges Capybara sein sollten. Ein eigentlich sehr erstrebenswertes Ziel.

Wasserschweine im Selbstverlag

Zum Schluss noch ein schmales Selfpublisher-Bilderbuch von Catalina Montoya Palacio mit Illustrationen von Vanessa forero Ramirez. Als das Umarmen verboten war erzählt vom Wasserschweinkind Dodo, das nicht vor die Tür darf, weil ein Virus kursiert und ansteckend ist. Die Wasserschweinmutter mit Perlenkette reicht Dodo das Smartphone und lässt ihn all seine Freunde, Hund, Katze, Vogel, Äffchen anrufen, damit sie einander nicht vergessen. Die Geschichte ist eher schlicht. Hier geht es nicht um das Wasserschwein an sich, sondern um die fehlende Nähe der Freunde in Coronazeiten. Ein netter Gedanke, leider eher unprofessionell umgesetzt (Layout, Schrifttype, fehlendes Impressum). Es soll hier aber der Vollständigkeit halber kurz erwähnt sein.

Bitte mehr Wasserschweingeschichten

Wasserschweine oder Capybaras sind meiner Ansicht nach also völlig unterrepräsentiert in der Bilderbuchfauna. Die sympathischen Nager mit ihrem geselligen Sozialverhalten haben Potential, in diverse Richtungen. Ich warte dann mal auf weitere Capy-Geschichten … und setze die Sammlung dann hier fort.

Alfredo Soderguit: Die Wasserschweine im Hühnerhof, Übersetzung: Eva Roth, atlantis, 2012, 48 Seiten, ab 4, 18 Euro

Sandra Grimm: Die Papagei-Ei-Rettung, Illustration: Lisa Rammensee, mixtvision, 2022, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro

Michela Fabbri: I Am a Capybara, englische Ausgabe, Princeton Architectual Press, 2021, 40 Seiten, ab 4, 16,70 Euro

Tiere machen Sachen

Am Anfang des neuen Jahres räume ich immer etwas rum – und dieses Mal ist mir aufgefallen, dass ich da noch eine ganze Reihe von Bilderbüchern liegen habe, die ich hier noch gar nicht gewürdigt habe. Obwohl sie es allesamt verdient haben. Das muss jetzt auf der Stelle nachgeholt werden.

Thematisch haben diese Werke alle tierische Hauptfiguren – die uns unterhalten, verwundern, amüsieren und von denen wir und eine ganze Scheibe abschneiden können.

Da wäre dann gleich mal zum aufräumenden Anfang der Dachs, der es in Emily Gravetts Bilderbuch gern ordentlich hat. Er lebt im Wald, wo er alles Mögliche stutzt und schneidet, dem Fuchs den Schwanz striegelt, Laub saugt und alles mit Stumpf und Stiel wegschafft. Der Gute gerät in so einen Wahn, dass er vor nichts Halt macht – mit drastischen Folgen: Der Wald verschwindet und stattdessen erstreckt sich dort eine glatte saubere Betonfläche. Doch auch ein Dachs kann dazulernen und Fehler eingestehen.
Die wunderbaren Reime von Uwe-Michael Gutzschhahn mildern die krassen Konsequenzen, die so ein rigoroses Vorgehen gegen die Natur haben kann, zwar ein bisschen, aber der Denkanstoß, in Zeiten, wo die Insekten wegsterben, ist gesetzt: Mehr Respekt vor der Natur tut uns allen gut!

Auch im Wald leben Hase, Igel, Eule und Maulwurf, in Jadwiga Kowalskas Bilderbuch Ich bin ein Wolf, sagt Hase. Die vier sind beste Freund und spielen gern Verstecken. Nur leider muss Hase abends immer allein nach Hause und hat Angst vor dem Wolf.
Eines Tages kommt er auf die Idee, sich selbst als Wolf zu verkleiden, dann muss er keine Angst mehr vor gar nichts haben. Eigentlich gar nicht so dumm, doch leider erkennen ihn nun seine Freunde nicht mehr … Hases Erkenntnis zeigt ganz charmant, dass es nicht immer sinnig ist, den großen Macker zu spielen. Denn das kann ziemlich einsam machen. Und gemeinsam mit Freunden verschwinden manchmal auch die Ängste ganz von selbst.

Wenn man jedoch partout etwas anderes machen möchte als im Alltag, kann man sich an Elch Erasmus ein Beispiel nehmen. Inspiriert von einer wahren Geschichte erzählt Franziska Walther ohne Worte in Hoch hinaus, wie dieser Elch sich aufmacht.
Aus dem hohen Norden wandert er los, überquert schneebedeckte Berge, weite Felder, schwimmt durch Flüsse und landet in einer Stadt. Erasmus schaut sich um, lässt sich mit Äpfeln füttern und scheut nicht davor zurück, einem Kaufhaus einen Besuch abzustatten. Doch auf dem Dach gerät er in eine Falle und muss sich einen Weg überlegen, wie er von dort wieder fortkommt.
In herrlich kräftig knalligen Farben schickt Walther den Elch durch die Welt – und zeigt, dass man es mit Neugierde, Mut und Fantasie sehr weit bringen kann. Man muss nur den ersten Schritt machen.

Ebenfalls ohne Worte kommt das optisch ganz großartige Bilderbuch der Italienerinnen Giovanna Zoboli und Mariachiara di Giorgio aus.
Wir lernen ein Krokodil kennen, begleiten es durch den Tag: Morgens um sieben klingelt der Wecker, Krokodil trägt einen gestreiften Pyjama und Pantoffeln, es putzt sich Zähne und sucht sich sorgsam einen Schlips aus, der zum gelben Hemd mit den roten Punkten passt. Dann gibt es Frühstück, danach verlässt Krokodil den Altbau, in dem er wohnt. Zwischen hetzenden Menschen, die am Handy telefonieren und rücksichtslos Auto fahren, durchquert es die Stadt, nimmt die Metro, in der auch eine sonnenbrillentragende Giraffe und ein Affe mit Mütze und Schal fahren. Krokodil erledigt seine Einkäufe, Blumen und Fleisch, bis er schließlich bei seinem Arbeitsplatz ankommt.

In zarten Bildern aus Buntstift, Kohle und Aquarellfarben erschaffen Zoboli und di Giorgio ein sehr vertrautes Stadtbild, mit einer finalen Überraschung, die einem ein Lächeln entlockt – und bei dem man denkt: „Na, klar, das konnte ja gar nicht anders sein.“
Mich entzückt diese Buch zudem, weil Krokodil mich mal wieder an Bernard Wabers Bilderbuch Das Haus in der Lindenallee erinnert hat, in dem schon 1962 ein Krokodil Einzug in das normale Leben hält. Ja, denn auch Krokodile haben einen Alltag.

Und ist es dann nach all dem Bilderbuch-Gegucke die Zeit zum Schlafen gekommen, empfiehlt sich für kleine Energiebündel, die noch nicht ins Bett wollen, der Reim-Spaß von Andrea Schomburg.

Sie schildert das Schicksal von Schaf Regine, das zur Schäfchen-Schlafenszeit mal wieder nicht einschlafen kann. Auch Schäfchen zählen funktioniert so gar nicht.
Aber Regine gibt nicht auf und macht sich auf die Suche nach Herrn Schlaf: beim Schäfer, im Pferde- und auch im Schweinestall ist er allerdings nicht zu finden.
Als Erwachsener leidet man ein bisschen mit dem knuffigen Schaf – ganz reizend hat Karsten Teich das Getier in Szene gesetzt – aber Regines Plan, dann eben die Nacht über wach zu bleiben, geht auch nur kurz auf … Bleibt nur zu hoffen, dass es bei der Gutenachtlektüre nicht zu abendlichen Aktivitäten animiert.

Emily Gravett: Aufgeräumt!, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Sauerländer, 2017, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Jadwiga Kowalska: Ich bin ein Wolf, sagt Hase, Atlantis, 2017, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

Franziska Walther: Hoch hinaus, Kunstanstifter, 2017, 40 Seiten, 22 Euro

Giovanna Zoboli/Mariachiara di Giorgio: Krokodrillo, Bohem, 2017, 32 Seiten, ab 3, 16,95 Euro

Andrea Schomburg: Wie das Schaf den Schlaf fand, Illustration: Karsten Teich, Sauerländer, 2017, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

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Rettung durch Schönheit

meurisseSo schwer es uns fällt, wir werden uns gewöhnen müssen. An den Terror, an unsinnige Anschläge. Nicht nur in anderen Ländern, weit weg von uns, sondern auch vor unserer Haustür, Ansbach und neulich Berlin haben es auf schreckliche Art gezeigt. In diesen Tagen jährt sich nun der Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo zum zweiten Mal. Die Zeichnerin arbeitet in ihrer Graphic Novel Die Leichtigkeit die schrecklichen Ereignisse auf.

Am 7. Januar 2015 stürmten zwei Brüder, die zu Al-Qaida gehörten, die Redaktionsräume von Charlie Hebdo und töteten zehn Menschen. Catherine Meurisse, die seit langem für das Blatt arbeitete, verschlief an diesem Tag, verpasste den Bus und entging durch diesen Zufall dem Massaker. Sie kam mit dem Leben davon, doch ihr Leben war nicht mehr ihres. Die geschätzten Kollegen waren tot. Trauer und Schock paarten sich mit der Unfähigkeit zu arbeiten. Meurisse bekam keinen Strich mehr hin, verlor das Gedächtnis und fand sich nicht mehr zurecht. Der Arzt diagnostizierte einen dissoziativen Schock, einen körperlichen Schutzmechanismus, der zwar das Überleben sichert, den Betroffenen jedoch völlig aus der Bahn wirft.
Catherine Meurisse sucht Hilfe in der Natur, bei Freunden und in der Therapie. Nichts scheint zu helfen. Überall sieht sie „Je suis Charlie“-Schilder. Alle sind Charlie, nur sie ist es nicht mehr.

Die Anschläge vom 13. November 2015 auf das Bataclan und andere Orte in Paris versetzen ihr dann einen erneuten Schlag, alles beginnt von vorn. Sie will fort aus der Stadt, will all das Schlimme nicht mehr sehen, sondern die Schönheit suchen und sich wie seinerzeit Stendhal von der Kunst bis zur Besinnungslosigkeit überfluten lassen.
Für einige Wochen kommt sie in der Villa Medici in Rom unter. Und dort taucht sie ein in die Schönheit antiker Ruinen, barocker Gemälde, marmorner Statuen. Im Atelier Ingres zeichnet sie schließlich wieder Comics.

In dieser Graphic Novel, übersetzt von Ulrich Pröfrock, verarbeitet Catherine Meurisse ihre Geschichte auf ganz persönliche Art. In einer Mischung aus Aquarellen und Federzeichnungen schildert sie, in was für ein tiefes, dunkles Loch sie als Überlebende bzw. Entgangene fällt. Sie gerät in ein Labyrinth aus Trauer, Wut, Zorn und Hilflosigkeit. Sie schildert, wie sehr ihre Sprache unter dem Anschlag leidet, wie sehr aber doch immer wieder in den scheinbar unmöglichsten Momenten der freche, oft auch selbstironische Charlie-Hebdo-Humor bei ihr durchschlägt. Ihre persönliche Suche nach Schönheit führt sie schließlich aus diesem Labyrinth heraus und gibt ihr die Leichtigkeit zurück.

Wir, die solche Anschläge zum größten, glücklicheren Teil nur über die Medien mitgekommen, können vielleicht zweierlei aus dieser extrem persönlichen Geschichte mitnehmen: Wir sind zwar schnell dabei zu sagen „Je suis Irgendwas“ und tun auf allen möglichen Kanälen unsere Betroffenheit kund – was zutiefst menschlich, nachvollziehbar und unbestreitbar wichtig ist – doch wir müssen uns auch klar sein, dass wir es nie wirklich nachvollziehen können, wie es sich für die direkt Betroffenen – und dazu gehört Catherine Meurisse, obwohl sie dem Anschlag auf Charlie Hebdo entgangen ist – anfühlt. Da kein ein zu rasch herausgehauenes „Je suis“ schon mal wie eine Anmaßung erscheinen. So vermittelt es jedenfalls Meurisse. Hier täte etwas Zurückhaltung unsererseits vielleicht gut.

Die zweite Ahnung mag sein, dass es für die Betroffenen vielleicht auch wieder einen Weg aus dem Trauer-und-Schock-Labyrinth gibt. Manche finden ihn schneller, andere brauchen länger. Manchen hilft die Natur, anderen, wie Meurisse, öffnet die Schönheit der Kunst wieder eine Tür zu einem leichteren Leben. Das ist tröstlich. Für alle.

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Carlsen, 2016, 144 Seiten, 19,99 Euro

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Werther im Konsumstress

wertherGoethes Werther habe ich gefühlt vor einem halben Jahrhundert auf dem Gymnasium gelesen. Wie es mir damals gefallen hat, kann ich heute schon nicht mehr sagen. Zu viel ist seit dem passiert. Nun gab es die Gelegenheit zu einem Klassiker-Revival – in einer wunderbar frischen Form.

Illustratorin Franziska Walther hat sich über den alten Briefroman hergemacht und ihn in unsere Zeit geholt. Bei ihr ist Werther ein schmaler blauhaariger Jüngling mit Art-Director-Job in New York und einer Helikopter-Mutter, die ständig die Kontrolle über den Herrn Sohn haben muss – in Form von Handy-Dauer-Überwachung. Werther jedoch kümmert sich kaum um die mütterlichen Anrufe. Er streift durch die Stadt, arbeitet, shoppt, feiert, füttert den Wellensittich, hat (unverbindlichen) Sex und eine Zwangsneurose, die ihn ständig zählen lässt. Doch das Leben in der Konsumhauptstadt mit ihren Oberflächlichkeiten stresst ihn zusehends. Neudeutsch: Er hat ein Burn-out. Also zieht er sich aufs Land zurück, geht offline und kommt wieder zu sich.
Bis er Lotte trifft und sich so richtig verliebt. Der Rest dürfte bekannt sein. Allerdings bietet Franziska Walther ein anderes, offeneres Ende, entsprechend unserer Gesellschaft – und mit einem Fünkchen Hoffnung.

Walthers Zeichnungen sind poppig-knallig, obwohl das melancholische Lila durchaus überwiegt. Die Hektik der Großstadt überwältigt den Betrachter in immer kleineren, immer mehr werdenden Panels auf einer Seite. Die Natur-Stillleben lassen einen träumen und gemahnen zum sofortigen Aufbruch in die heilende Natur.
In die Panels sind Auszüge aus Goethes Text eingebaut, der das Augenmerk auf ebendiese Natursehnsucht und die große Liebe richtet. In dieser Gegenüberstellung von klassischem Text mit frischen Illustrationen liegt ein erhellendes Moment. Der Text wirkt genauso frisch wie die Bilder. Die Bilder genauso tiefgründig wie der Text. In beiden entdeckt man mit jedem Lesen neue Facetten, neue Hinweise, neue Momente, sich zu identifizieren.

An den Graphic-Novel-Teil sind Erläuterungen angeschlossen, die gewisse Bildelemente von Walther erklären und psychologisches Hintergrundwissen vermittelt. Das ist aufschlussreich – hätte jedoch nicht nötig getan. Walthers Bildsprache vermittelt diese psychologischen Hintergründe (die ich hier nicht aufzählen werde) dem Leser auch ohne lange Erklärungen sehr genau und bietet einen Anreiz, ganz genau hinzuschauen.

Auf jeden Fall ist diese Werther-Version eine Anregung, sich dem Original mal wieder zu widmen. Was man dann wunderbarerweise gleich im Anschluss machen kann, denn im hinteren Teil des Buches ist auf rosafarbenen Seiten Die Leiden des jungen Werther von Goethe vollständig abgedruckt. Eine komplett runde Sache!

Franziska Walther: Werther reloaded, Kunstanstifter, 2016, 224 Seiten, 24,50 Euro

Meer erleben

meerMein Vater hat früher immer gesagt, dass das Meer viel toller sei als die Berge – denn die könnten darin versenkt werden, einschließlich des Mount Everest. Das ist zwar mehr ein Witz zum Schenkelklopfen, doch irgendwie muss ich immer daran denken, wenn ich am Strand stehe und über die Weite des Wassers schaue. Meine Liebe zum Meer hat dieser Spruch keinen Abbruch getan.

Wie vielschichtig und wichtig das Meer und die Ozeane für uns alle ist, zeigen die Autorinnen Anke Leitzgen und Anna Bockelmann in dem liebevoll gemachten Sachbuch Erforsche das Meer. Sie haben ihr Werk in drei große Bereiche unterteilt: Im ersten – Was ist los im Meer? – erfahren Wasserliebhaber die wichtigsten Fakten über das Meer, seine Entstehung, seine Bewohner und seine Veränderungen. Dieser Teil ist ganz wunderbar illustriert von Signe Kjaer.

Im zweiten Teil – Wie erforsche ich das Meer? – gibt es über ein Dutzend Experimente zum Nachmachen. Aus Salzwasser wird Trinkwasser gewonnen, das Salatblatt mit Salzwasser gegossen und Algen zum Wachsen gebracht. Diese einfachen, ohne großen Aufwand nachzumachenden Experimente liefern nicht nur Spaß, sondern schärfen das Bewusstsein für umweltschützende Zusammenhänge. Denn, dass das Meer nicht mehr ganz gesund und sauber ist, darauf weisen die Autorinnen durchgängig hin: Die Fischarten verringern sich, es gibt mehr Quallen im Wasser, der Plastikmüll landet durch die Fische auch bei uns auf dem Teller – was nur der letzte Schritt an unappetitlichen Folgen der Umweltverschmutzung ist..

Im dritten Teil schließlich – Was kann ich an den Küsten entdecken? – präsentieren Leitzgen und Bockelmann die verschiedenen Küstenarten Europas, vom Watt bis zur Steilküste, vom Mittelmeer bis zur Buchtenküste an der Ostsee. Sie befragen Experten und Meeresanwohner und liefern jede Menge Anregungen, was man in den Sommerferien am Meer – ganz egal, ob Nordsee oder norwegische Steilküste – am Wasser unternehmen kann. Segeln und angeln sind davon sicher die bekanntesten, aber vielleicht nicht die spannendsten. Die Gezeitentümpel und die Spuren im Schlick kommen mir da viel interessanter vor. Aber am Meer hat alles seine Berechtigung.

Eins ist nach dem Studium dieses Buches auf jeden Fall klar: Wer hier richtig gelesen hat, wird nie wieder ein Stück Plastik, sei es auch noch so klein, einfach achtlos am Strand liegen lassen. Auch nach der Rückkehr aus dem Urlaub wird vielleicht manch ein Kind achtsamer mit unserer Umwelt umgehen. Denn in sauberem Meerwasser geht man natürlich viel lieber baden als in einer dreckigen Brühe. Dieses Buch sei also allen Strandurlaubern dringend ans Herz gelegt.

Anke Leitzgen/Anna Bockelmann: Erforsche das Meer, Illustration: Signe Kjaer, Beltz & Gelberg, 2016, 156 Seiten, ab 8, 16,95 Euro

Lesend die Welt erforschen

köllerErstlesebücher finde ich ja ziemlich speziell und schwierig einzuschätzen. Das ändert sich vielleicht, wenn meine Nichte in zwei Jahren in die Schule kommt und ich dann mal aus der Nähe mitbekomme, wie heute das Lesen unterrichtet wird. Bis dahin muss ich mich auf mein eigenes Gespür verlassen. Es hat dieser Tage positiv reagiert, als mir die Reihe Leseforscher von Kathrin Köller in die Hände gefallen ist.

Köller hat diese Reihe  für die jüngsten Leser konzipiert und dabei Neugierde mit Lesetraining verbunden. Unterteilt in drei Lesestufen (A, B und C) richten sich die schmalen Sachbücher an Leseanfänger, geübtere und fortgeschrittenere Leser.

Frisch herausgekommen ist für die Anfänger gerade der Band Natur! Durch Flüsse, Wüsten, Regenwälder, in dem der Fuchs Filu – der sich als kleiner Forscher duch alle Bände zieht – Ausflüge zu eben jenen Regionen der Welt und ans Meer unternimmt. Die naturwissenschaftlichen Infos zu den einzelnen Themen sind in kurzen Kapiteln kindgerecht verpackt. Filu unterhält sich mit einem Wüstenfuchs, einem Höhlenbewohner und allen möglichen anderen Tieren, wobei die Dialoge in Sprechblasen verpackt sind und fast wie ein Comic daherkommen. Einfache Sätze, lockere Umgangssprache und große Schrift machen das Lesen für Anfänger – oder Kinder, die nicht sehr geschickt darin sind – einfach. Für fremde Namen werden Aussprachehilfen geliefert (Grän Känjen). Die vermittelten Themen halten zudem kuriose Infos bereit, die man selbst als Erwachsener nicht unbedingt weiß.
Spielerisch lenkt Köller hier zudem den Blick auf den Naturschutz und entwickelt bei den kleinen Lesern ein Gespür für Umweltbewusstsein und Artenschutz.

köllerDie geübteren Leser können sich im Band Vollgas! über die Geschichte der Fortbewegungsmittel der Menschen informieren. Hier werden die Sprechblasen weniger, die Kapitel, Texte und die Sätze länger. Auch der Umfang des Buches wächst.

Inhaltlich können sich kleine Trecker-, Bagger- oder Rennfahrer schlau machen, wie der erste dampfgetriebene Wagen der Welt – ein Fünf-Tonnen-Monster – aussah, warum die Wuppertaler Schwebebahn eigentlich eine Hängebahn ist oder wie schnell die Wikinger-Schiffe waren.

Zu allen Bänden der Leseforscher hat die Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ je ein Forscher-Experiment zum Nachmachen geliefert. So können in diesen beiden Ausgaben beispielsweise Tropfsteine oder ein Raketenantrieb nachgemacht werden.
Den Abschluss der Bücher bildet jeweils ein Quiz, in dem das Gelesene auf spielerische Art rekapituliert werden kann. Und am Ende des Leseabenteuers gibt es eine Urkunde für den echten Experten oder fleißigen Leseforscher.

Die Mischung aus den liebenswert-charmanten Illustrationen von Julia Dürr, Fotos und gut verständlichen Texten ist eine der Stärken dieser Reihe. Es gibt für die Leseanfänger viel zu schauen und zu entdecken – das Lesen passiert dann quasi von allein, wenn man verstehen will, wie beispielsweise eine Dampfmaschine funktioniert. Langeweile ist hier also nicht angesagt, Überforderung auch nicht, denn in diesen kleinen Büchern stecken Unmengen von Informationen, bei denen die Kinder nach der Lektüre bestimmt  öfter sagen: „Papa, weißt du …?“

Kathrin Köller: Natur! Durch Flüsse, Wüsten, Regenwälder, Leseforscher ABC, Illustration: Julia Dürr, Ueberreuter, 2016, 48 Seiten, ab 6, 8,95 Euro

Kathrin Köller: Vollgas! Mit Rädern, Rudern und Motoren, Leseforscher ABC, Illustration: Julia Dürr, Ueberreuter, 2016,  56 Seiten, ab  7, 8,95 Euro

Fukushimas absurd-unerträgliches Erbe

fukushimaVor fünf Jahren erlebte unsere ach so fortschrittlich technisierte Welt eine Kombination von katastrophalen Umständen, die sich so bis dato nicht einmal Hollywood hatte ausdenken können – unsägliche B- und C-Movies ziehe ich hier jetzt mal nicht in Betracht.

Der Tsunami infolge eines Seebebens war für sich schon verheerend, doch die Explosion mehrerer Atomreaktoren im japanischen Fukushima toppte dann das Undenkbare. Die genauen Abläufe von Kernschmelzen und Notabschaltungen, Austritt von radioaktiver Strahlung kann man dieser Tage an anderen Stellen ausführlich nachlesen. Die Schäden an Mensch und Umwelt sind immer noch immens, die Zahl der Toten und Geschädigten immer noch unklar. Die Kernkraft ist seitdem als Energielieferant erst recht nicht mehr tragbar. Das ist alles bekannt. Was uns hier so gut wie unbekannt ist, sind die momentanen Zustände in Fukushima und die Strapazen der Aufräumtrupps vor Ort.

Hier setzt der Manga Reaktor 1F von Kazuto Tatsuta an. Der Zeichner hat sich unter diesem Pseudonym vor ein paar Jahren als Arbeiter in Fukushima verpflichtet, um die Lage vor Ort mit eigenen Augen zu überprüfen und sich nicht mehr auf die Falschinformationen von Regierung und Betreiberfirmen verlassen zu müssen. In klaren, nüchternen Panels entwirft Tatsuta ein Panorama unglaublicher Tristess. Immer noch sind die Reste der Reaktoren verstrahlt und die Männer, die dort aufräumen, müssen sich einem Marathon von Schutzmaßnahmen unterziehen, bevor sie auch nur einen Handschlag tun können.
Detailliert beschreibt Tatsuta die An- und Umkleideprozeduren, vom Mundschutz über die Socken, die doppelten Schutzanzüge und die Überschuhe, Baumwollhandschuhe unter Gummihandschuhen, Atemmasken, die mit Klebeband befestigt werden müssen. In jeder Pause muss das verstrahlte Zeug entsorgt werden, neues wird angezogen. In der versiegelten Montur muss jede Nahrungsaufnahme, jede Zigarette, jeder Gang zur Toilette aufgeschoben werden, der Schweiß läuft in Strömen im Winter, im Sommer ertrinken die Männer fast im eigenen Schweiß. Die Nase juckt, kratzen unmöglich.
Um die zulässige tägliche Strahlendosis nicht zu überschreiten, trägt jeder Arbeiter ein Dosimeter am Leib. Dieses Gerät fiept, wenn gewisse Dosen erreicht werden. Nach dem vierten Fiepen ist Schichtende, damit die Männer keine gesundheitlichen Schäden davontragen. Manches Mal kann dies bereits nach einer Stunde der Fall sein. Weit kommt man so mit den Aufräumarbeiten nicht – und so wundert es einen auch nicht mehr, wenn von 30 bis 40 Jahren die Rede ist, bis alle verstrahlten Anlagen, Wassertanks und Gebäude zurückgebaut sein werden.

Tatsutas Geschichte ist im Grunde ziemlich unspektakulär, in manchen Teile etwas redundant, was jedoch die Unerträglichkeit der Zustände beim Lesen noch erhöht. Dumpinglöhne und geschäftsgeile Subunternehmer, die in anderen Zusammenhängen die kompletten Aufreger und eine Geschichte für sich wären, ranken sich zusätzlich um dieses Post-Katastrophen-Szenario.
Das Brisante beziehungsweise Unfassbare an dieser Geschichte ist der tatsächliche Aufwand, mit dem die Folgen dieser Katastrophe immer noch beseitigt werden müssen. Ich weiß nicht, was eigentlich schlimmer ist in diesem ganzen Horrorszenario, die vielen Toten, deren genaue Zahl man heute immer noch nicht weiß, die verstrahlten und zerstörten Häuser und Landschaften, oder der absurde, aber lebensnotwendige Aufwand, mit dem die Arbeiter ihren Job verrichten müssen. Allein die Einweg-Ausrüstungen der Arbeiter, die nach einem kurzen Einsatz kontaminiert sind, erzeugen immense Sondermüllberge – zusätzlich zu den gecrashten Reaktoren.

Eigentlich fasst man sich auf jeder Seite dieses Mangas an den Kopf.  Akute Katastrophen sind das eine, sie sind immer schrecklich. Das andere sind Folgen, die im Grunde vermeidbar gewesen wären, wenn. Über all diese Wenns fängt man bei der Lektüre von Reaktor 1F unweigerlich an zu grübeln. Und wünscht sich, dass die Technikgläubigkeit der Menschen weniger blind wäre. Hier offenbart sich eines der menschlichen Dilemmata: Ingenieure und Wissenschaftler machen uns mit ihren Erfindungen und Entwicklungen das Leben in der westlichen Welt oft sehr angenehm und bequem, doch die Folgen, mit denen wir umgehen müssen, wenn die Naturkräfte wirken, können wir dennoch nicht absehen.

Tatsutas Manga ist somit nicht nur eine großartige Dokumentation, sondern ein sehr gelungener Denkanstoß, dass wir solche Szenarien in Zukunft – wie auch immer – vermeiden sollten.

Kazuto Tatsuta: Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima Bd.1, Carlsen Manga! 2016, 208 Seiten, ab 14, 12,99 Euro

Der Maulwurf in uns

MaulwurfBehaglich haben es die Maulwürfe, unter der grünen Wiese: Plüschsessel, Streifenbettwäsche, Pünktchentapete, Bollerofen. In schwindelerregende Tiefe graben sie ihr Reich und nutzen immer ausgefeiltere Maschinen, um ihre Gänge auszubauen. Selbst legen sie keine Hand mehr an das Erdreich. Immer mehr Maulwurfshügel zieren die grüne Wiese.

Und in Moletown müssen die Maulwürfe Schlange stehen, wenn sie die Tram nehmen wollen.
Riesige Vortriebsbohrer legen neue Wege für Moletown an, immer mehr Aktenordner füllen sich mit Papieren über die Maulwurfstadt.
Die Behaglichkeit und der Luxus der Maulwürfe nimmt zu: Lautsprecher, Telefonanlagen, TV, künstliche Sonnen, Wasserklosett und Grammophon. Gemütlich haben es die Maulwürfe.
Doch die Straßen von Moletown sind voll: mit Autos, Straßenbahnen, Hüte tragenden Maulwürfen. Und um die Maulwurfshügel, oben auf der Wiese, ist keine Wiese mehr, sondern nur noch Abgasgrau und Fördertürme. Nur ein kleines Fleckchen Gras ist noch da, abgesperrt mit einem rot-weißen Flatterband  … Trist haben es die Maulwürfe.

Natürlich braucht man keine zwei Sekunden um im Maulwurf uns Menschen wiederzukennen. Aber wie Torben Kuhlmann das macht, in diesem schmalen Bilderbuch, ist ganz fein. Auf wenigen Seiten durchlaufen die Maulwürfe einen Jahrhunderte lange Entwicklung. Dabei sollte man aber ganz genau hinsehen, um all die Details und Seitenhiebe auf unsere dekadent-entartete-naturferne Gesellschaft zu entdecken.
Mit Maulwurfstadt hat Torben Kuhlmann nach Lindbergh sein zweites Bilderbuch vorgelegt. Er kommt dabei mit zwei Sätzen Text aus, den Rest erzählen seine Bilder. Die gedeckten Braun- und Sepiatöne geben der Geschichte ein wunderbar antiquiertes Aussehen, von dem man sich aber nicht täuschen lassen darf. Spätesten mit den Schwarzweißbildern auf den Umschlaginnenseiten wird klar, an wen sich diese Maulwurfiade richtet.

Mag sein, dass es für uns und die Natur um uns herum schon zu spät ist. Doch nach diesem Buch nimmt man sich vor, ganz schnell etwas zu ändern, am eigenen Leben, an der Umweltverschmutzung, am täglichen, blinden Gehetze durch die Stadt. Und den kleinen Lesern wird so schon sehr früh klar, auf wessen Kosten unsere Behaglichkeit und Bequemlichkeit geht. Vielleicht wissen die, die nach uns kommen, die Natur höher zu schätzen. Denn niemand möchte so enden wie die Maulwürfe.

Torben Kuhlmann: MaulwurfstadtNordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten,  ab 5, 14,99 Euro

Alles eine Frage der Geschwindigkeit

schnellerEs ist, glaube ich, unbestreitbar, dass wir in einer Zeit leben, in der in unserer Gesellschaft alles immer schneller gehen muss. Kommunikation per Mail, Chat, SMS in Sekundenschnelle über tausende Kilometer hinweg, schneller Shoppen im Internet, schneller Abi machen in nur acht statt neun Jahren, schneller studieren … die Liste lässt sich sicher noch um so Einiges fortsetzen.

Wie sehr die Geschwindigkeit unser gesamtes Universum prägt, verbildlicht das französische Graphikstudio Cruschiform auf ganz ungewöhnliche und eindrucksvolle Weise. In dem Bilderbuch Schneller?! ordnen sie in orange-gelb-blauen Illustrationen Tiere, Menschen und technische Errungenschaften der jeweiligen Geschwindigkeit zu. Angefangen beim langsamen Seepferdchen, das gerade einmal 300 Meter pro Stunde zurücklegt, über den Mauersegler mit 200 km/h bis hin zur Sternschnuppe, die mit mehr als 100.000 km/h am Himmel verglüht.

Obwohl es nur im „Nachspann“ kurze, erklärende Texte über die dargestellten Objekte gibt, sind die Doppelseiten mit der km/h-Angabe und der Legende links und den Illustrationen rechts überaus informativ – vor allem die, auf denen Technisches  Natürlichem gegenübergestellt wird. Da kommt zum bloßen Lernen, dass ein Schnellzug mit 350 km/h genauso schnell wie ein Formel-1-Rennwagen sein kann, das große Staunen, dass nämlich auch Wanderfalke und Fregattvogel diese  erreichen können.

Je genauer man hinschaut und je mehr man sich die dargestellten Dinge bewusst macht, umso mehr bekommen manche technische Errungenschaften einen ganz anderen Stellenwert – das Atom-U-Boot „USS Nautilus“ schafft gerade einmal 35 km/h und auch der Luxusdampfer „Queen Mary 2“ ist mit 50 km/h nicht sehr viel schneller. Gleichzeitig ist man jedoch auch beeindruckt, dass der Mensch Dinge wie die Raumfähre „Apollo 11“ bauen konnte, die mit 40.000 km/h ins All flog.

Den größten Respekt jedoch entwickelt der Betrachter unweigerlich für die Großartigkeit der Natur, die in Sachen Schnelligkeit –  und nicht nur darin – vermutlich für immer unschlagbar bleiben wird. Zum Ansehen dieses Buches sei daher Kindern und Erwachsenen jede Menge Muße empfohlen, um all die großartigen Details zu entdecken und zu begreifen.

Cruschiform: Schneller?!, Übersetzung: Barbara Heller, Illustration: Cruschiform, Fischer Sauerländer, 64 Seiten, ab 5, 15,99 Euro