Es gibt Leute, die gehen nicht gern einkaufen. Vor allem nicht in großen Supermärkten. Anderen macht es sogar Spaß, Zeit zwischen den gefüllten Regalen zu verbringen, dreißig verschiedene Sorten Senf zu entdecken oder sich an entzückenden Kuchendekorationen zu erfreuen, wie silbernen und goldenen Kugeln, Neonfarben aus der Tube, bunte Sternchen und lustige Augen aus Zuckerguss. Während der Corona-Pandemie hat man jede Gelegenheit genutzt, aus dem Haus zu kommen und auf keinen Fall einen Einkaufszettel geschrieben. Wenn man wieder was vergessen hatte, konnte man noch mal raus. In Frankreich sind Passanten gelegentlich kontrolliert worden, ob sie wirklich frische Lebensmittel des täglichen Bedarfs in der Tasche hatten, etwa Baguette und Milch. Aber wann braucht man zuckersüße, winzige Einhörner in rosa und hellblau mehr als während einer globalen Seuche?
Schikanöse Supermarktleiterin
Man kann auch hervorragende Sozialstudien im Laden betreiben. Wie Susie im Supermarkt im famosen, gleichnamigen Bilderbuch. »Samstags ist frei. Für mich. Nicht für Mama. Sie muss heute arbeiten. Ich begleite sie. Wie jeden Samstag.« Susies Mutter arbeitet als Kassiererin an der Supermarktkasse, am Samstag, wenn andere ihre Wochenendeinkäufe machen.
Die plietsche Grundschülerin und ihre Mutter sind ein gut eingespieltes Team. Und der Supermarktleiterin ein Dorn im Auge: »Ihre Chefin mag es nicht, wenn ich hier bin. ›Wo soll sie sonst sein?‹, fragt Mama. ›Wir sind kein Hort‹, sagt die Chefin. ›Hier kann sie nicht sein.‹« Geschickt umgeht Daniel Fehr in seiner wunderbar in Susies Worten erzählten Geschichte hier schon das erste Klischee. Kein Mann, sondern eine Frau hat kein Verständnis für die Probleme der alleinerziehenden Mutter. Vielleicht hat sie keine eigenen Kinder. Oder einen fürsorglichen Partner zu Hause. Oder rührende Großeltern, die den Nachwuchs hüten, während sie als Chefin Leute in weniger privilegierter Situation schikaniert.
Nur ein Brot und etwas dazu
»Also bin ich nicht hier. Wie jeden Samstag.« Also ist Susie nicht beim Gemüse, wo sie jeden Samstag Frau Riebel beobachtet, wie sie jede Tomate von allen Seiten genau ansieht, bevor sie sie in ihren Korb legt. Susie ist nicht bei den Fischen, wo Herr Wrobel bedient und die Fische stumm herum liegen. Auch nicht beim Brot. »Beim Brot ist Herr Herrlich. Er kauft immer nur sehr wenig. Ein Brot und etwas dazu. Mama sagt, Herr Herrlich habe nur eine kleine Rente, er könne sich nur wenig leisten.« Treffender und eindringlicher kann man Altersarmut nicht beschreiben.
Platz für ganz unterschiedliche Menschen
Die kluge Beobachterin ist auch weder bei den Saucen, wo Robert emsig die Regale immer wieder auffüllt. Noch beim Toilettenpapier, wo Frau Gruber immer rosa Toilettenpapier kauft. Mit Veilchenduft. Und sie ist auch nicht bei den Nudeln. »Bei den Nudeln ist Frau Görlich. Sie schaut nach, ob alles an seinem Platz ist. Es ist immer alles an seinem Platz. Dafür sorgt Robert. Mama sagt, Frau Görlich kommt jeden Tag in den Laden, weil sie nicht weiß, wo ihr eigener Platz ist. Ich glaube, Frau Görlich hat ihren Platz gefunden.«
In klaren Worten beschreibt das empathische Mädchen einen Raum, wo für viele ganz diverse Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und individuellen Marotten Platz ist: Paare und Familien, einsame Menschen, alte und junge, Leute, die nur das Nötigste kaufen oder sich für eine Party mit Getränken und Knabberkram eindecken. Wo auch erstaunlich viele Kinder rumwuseln, in Büchern blättern oder Käse aus dem sogenannten Kindersortiment probieren, »milder Gouda, Mozzarella Sticks«.
Buntes Spektrum und Sortiment
Claudia Burmeister illustriert dieses Gesellschaftspanorama in unmittelbar ansprechenden, ebenso lebendigen wie vielfarbigen Buntstiftzeichnungen. Mit großer Liebe zum Detail zeigt sie das riesige Sortiment eines großen Supermarkts mit Unmengen an Produkten. Kleine Kinder können beim Betrachten der Bilder viele erkennen und benennen. Sie begegnen den vorgestellten Leuten auf verschiedenen Seiten wieder. Und verstecken sich mit Susie geschickt vor der alle Bereiche kontrollierenden Chefin, zwischen Konservendosen, in einer Schlange, unten im Einkaufswagen. Nebenbei sammelt Susie noch Zutaten fürs Abendessen zusammen. »Heute Abend ist frei. Für Mama. Nicht für mich. Ich mache Abendessen für uns. Weißt du was?« Allein diese Frage ist ein guter Anlass, dieses sehr schöne Buch gleich noch einmal zu lesen.
Man möchte dieses repräsentative soziale Spektrum allen Politikern ans Herz legen. Vor allem die fraktionsstärksten Parteien scheinen sich erschreckend wenig für Alleinerziehende, oder für solche, mit weniger als dem laut Friedrich Merz durchschnittlichen Jahreseinkommen von hundert- bis zweihundertfünfzigtausend Euro, für einsame oder von Altersarmut betroffene Menschen zu interessieren. Ein Hoch auf Susie im Supermarkt und alle, die die Läden trotz aller Widrigkeiten am Laufen halten.
Daniel Fehr: Susie im Supermarkt, Illus: Claudia Burmeister, Bohem, 32 Seiten, 18,50 Euro, ab 4