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[Jugendrezension] Was für ein Mensch willst du sein?

safierWenn ich an David Safier denke, kommen mir zuerst Komödien wie Mieses Karma oder Jesus liebt mich in den Sinn. Doch sein neues Buch 28 Tage lang ist anders: eine Geschichte über junge Leute im Widerstand gegen die Nazis. Safier hat es geschrieben in Gedenken an seine Großeltern, die in Buchenwald und Lodz umgekommen sind.

Polen, 1943: Das Leben im Warschauer Ghetto ist geprägt von Armut, Hunger und Furcht. Um ihre kleine Schwester Hannah durchzubringen, schmuggelt die 16-jährige Mira unter Lebensgefahr Nahrungsmittel. Die Mutter ist am Selbstmord des Vaters zerbrochen, der Bruder Simon lässt sich nicht blicken. Kraft gibt Mira ihr Freund Daniel, der in einem Waisenhaus lebt und sich um kleine Kinder kümmert.
Dann trifft Mira Amos. Er gehört einer jüdischen Untergrundorganisation an, die Widerstand bis in den Tod gegen die Deutschen leisten will. Amos ist überzeugt davon, dass diese sie alle töten werden.
Die Ereignisse überschlagen sich. Die Bewohner des Ghettos sollen „umgesiedelt“ werden. Mira gelingt es, rechtzeitig unterzutauchen. Sie beschließt, sich Amos und den anderen anzuschließen.
Die jüdische Untergrundorganisation kann eine Weile Widerstand leisten: 28 Tage lang. 28 Tage hat Mira Zeit, ihr Leben zu leben, ihre Liebe zu finden und herauszubekommen, was für ein Mensch sie sein will.

Den Aufstand im Warschauer Ghetto hat es wirklich gegeben. Die Hauptperson des Romans, Mira Weiss, ist ausgedacht. Sie erlebt, was die Aufständischen damals erlebt haben. Junge Leute lehnen sich gegen eine Übermacht auf, obwohl sie keine Chance haben. Sie machen Schlimmes durch, müssen Kameraden zurücklassen, sehen Menschen sterben und töten selbst. Dadurch verändern sie sich. Inmitten dieses Wahnsinns erleben sie das Gefühl der Freiheit.

David Safier schreibt in einer modernen Sprache, was aber passt. Dadurch versetzt man sich gut in die Personen hinein und bekommt das Geschehen hautnah mit. Gebannt habe ich es in einem Rutsch verschlungen.

Beim Lesen stellt sich die universelle Frage: Was für ein Mensch willst du sein? Jemand, der sich wehrt? Jemand, der sein Leben für andere opfert oder der andere für sein Leben preisgibt? Wie würde man an Miras Stelle handeln?

Auch wenn das Buch vom Zweiten Weltkrieg handelt, sind seine Themen aktuell und deshalb wirklich lesenswert.

28 Tage lang ist ein Buch über Mut und Feigheit. Über Fürchten und Wünschen. Über Liebe und Hass. Über Leben und Tod. Die Geschichte ist oft traurig und schockierend. Ich las sie trotzdem gern. Sie ist spannend, und ich habe darin viel über Menschen gelernt. Es gibt in ihr großartige Stellen von Zusammenhalt und Barmherzigkeit. „Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung“, sagt ein italienisches Sprichwort.

Juliane (15)

David Safier: 28 Tage lang, Rowohlt, 2014, 416 Seiten, ab 13, 16,95 Euro

[Jugendrezension] Transpazifisches Rätsel

ruthNaoko, Nao genannt, (gesprochen „now“) ist ein 16-jähriges Mädchen, das mit ihren Eltern von Sunnyvale (in den USA) nach Tokio umziehen muss. Jedoch beherrscht sie kaum die japanische Sprache und fühlt sich dort auch nicht wohl. Von ihren Mitschülern wird sie brutal gequält und schließlich ignoriert, so als wäre sie nicht da.
Auch zu Hause gibt es bei ihr nur Probleme: Ihr Vater ist arbeitslos und geht nur noch nachts aus dem Haus. Er hat schon mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen,  hat es aber noch nicht geschafft. Naos Mutter arbeitet und hat deshalb keine Zeit für sie. Der einzige Mensch, der wirklich für sie da ist, ist ihre 104 Jahre alte Urgroßmutter, Jiko Yasutani, die Zen-Buddhistische Nonne ist. Sie fängt Nao auf und kümmert sich um sie.

Nao und ihre Geschichte sind nur ein Teil des Buches. In dem anderen Teil lernt man Ruth kennen. Ruth lebt mit ihrem Mann Oliver auf einer kanadischen Pazifikinsel und findet Naos Tagebuch mit mehreren Briefen und einer alten Uhr in einer Hello-Kitty-Lunchbox, die in einem Gefrierbeutel verpackt ist. Ruth fängt an, das Tagebuch von Nao zu lesen. Sie interessiert sich für das Mädchen, deshalb recherchiert sie, wo sie nur kann. Immer wieder denkt sie darüber nach, ob Nao noch lebt und wie diese Hello-Kitty-Lunchbox an den Strand gekommen ist.

Ruth Ozeki, die Autorin von Geschichte für einen Augenblick, schreibt über mehrere Themen, wie zum Beispiel über Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, Quantenphysik und Mobbing.

Geschichte für einen Augenblick hat 559 Seiten, und Ruth Ozeki schreibt abwechselnd von Nao und Ruth. Am Schluss befinden sich noch fünf Anhänge. Trotz der vielen Seiten sollte man sich nicht abschrecken lassen und dieses Buch auf jeden Fall lesen, denn es lohnt sich.

Besonders die letzten 200 Seiten haben mir sehr gut gefallen und insgesamt regt das Buch auch zum Nachdenken an. Wird Ruth Nao finden? Lebt Nao überhaupt noch? Wie fühlt sich Nao?

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, und ich kann es nur weiterempfehlen. 

Laura (14)

Ruth Ozeki: Geschichte für einen Augenblick, Übersetzung: Tobias Schnettler, S. FISCHER, 2014, 560 Seiten, 19,99 Euro

[Jugendrezension] Von Gut und Böse

mörderEin Haus am Ende der Welt. Nur umgeben von Felsen und Klippen. Keiner kommt zufällig zu diesem abgelegenen Ort am südlichen Rand von Chile. Dort leben der Bauer Poloverdo, seine Frau und ihr Sohn Paolo. Das Leben hier ist grausam. Paolo wächst eher wie eine zähe Pflanze auf, denn als ein Mensch. Gefühle wie Liebe sind ihm fremd.

Genauso geht es dem Mörder Angel Alegría. Wieder einmal ist er auf der Flucht. Dann findet er das perfekte Versteck: ein Haus am Ende der Welt, umgeben nur von Felsen und Klippen. Das Einzige, was ihn stört, sind seine Bewohner. Ohne mit der Wimper zu zucken, schneidet Angel dem Mann und der Frau die Kehle durch. Doch plötzlich steht ein Kind vor ihm, verdreckt, unschuldig und furchtlos: Paolo. Da der Junge keine Gefahr für ihn darstellt, lässt Angel ihn leben.

Die Zeit vergeht, und langsam entwickelt sich eine Art Zuneigung zwischen dem Mörder und dem Kind. Angel spürt zum ersten Mal so etwas wie Verantwortung. Und Liebe. Ein Leben ohne Paolo kann er sich nicht mehr vorstellen.

Als der gebildete Luis auftaucht, kämpfen plötzlich zwei Männer um Paolos Zuneigung, und der Junge erlebt eine Art von Glück. Doch dieses Glück währt nicht ewig. Auch in einem Haus am Ende der Welt ist man nicht sicher vor der Vergangenheit.

Die beiden Hauptpersonen in dem Roman Der Mörder weinte von Anne-Laure Bondoux haben ein hartes Leben und sind vom Schicksal gestraft. Man freut sich mit ihnen, wenn sie zum ersten Mal Glück empfinden, doch man vermutet gleich, dass es nicht so weitergehen wird. Am liebsten würden die beiden ihr Glück packen und festhalten, doch es zerrinnt ihnen unter den Fingern.

Ich fand es faszinierend, wie sich eine Beziehung zwischen Angel und Paolo entwickelte und die beiden sich stetig veränderten. Anne-Laure Bondoux beschreibt es sensibel und mit viel Fingerspitzengefühl. Wunderschön, wie unter der rauen Schale Angels ein weicher Kern zum Vorschein kommt. Ein weicher, verletzbarer Kern, auf den schon der Titel hindeutet.

Am Beispiel von Angel sieht man, wie Menschen in die Kriminalität hineinrutschen, zu Mördern werden. Man fragt sich, was aus einem selbst würde, wenn man unter solchen Umständen aufwachsen müsste.

Natürlich ist es seltsam, dass ausgerechnet Angel, der Mörder von Paolos leiblichem Vaters, so etwas wie ein Vater für Paolo wird. Was aber weit hergeholt klingen mag, macht hier absolut Sinn. Angel tötet Paolos Eltern, aber er zieht Paolo auf und beschützt ihn, wahrscheinlich besser, als seine Eltern es je vermocht hätten. Vielleicht wäre Paolo sonst auch zu einem Mörder geworden. Die beiden retten sich gegenseitig in ihren trostlosen Schicksalen.

Welche Strafe hat Angel verdient? Ist er nur ein brutaler Mörder? Gut und Böse liegen für mich in dieser Geschichte sehr nah beieinander.

Juliane (15)

Anne-Laure Bondoux: Der Mörder weinte, Übersetzung: Maja von Vogel, Carlsen Verlag, 2014, 192 Seiten, ab 12, 14,90 Euro

[Jugendrezension] Wertvolles Leben

deathSchluckt man die Pille, hat man nur noch eine Woche zu leben, doch dafür fühlt man sich in dieser kurzen Zeit so gut wie nie. Nach ziemlich genau einer Woche ist man allerdings wirklich tot. Davon handelt das Buch Death von Melvin Burgess.

Adam und seine Familie sind arm. Sein Vater ist arbeitsunfähig, und sein älterer Bruder Jess sorgt für die ganze Familie. Adams Zukunft kann man sich deshalb schon denken: Sie wird aus Arbeit bestehen.
Als er und seine Freundin Lizzie auf einem Konzert von Popstar Jimmy Earle sind, überschlagen sich die Ereignisse. Jimmy Earle stirbt vor den Augen der Zuschauer auf der Bühne, da er „Death“, die Todespille, geschluckt hat. „Death“ wird in den Straßen verteilt und viele Menschen schlucken es, da sie die beste Woche ihres Lebens haben wollen. Doch der Tribut ist der Tod, den trotzdem viele auf sich nehmen. Die Leute, die „Death“ geschluckt haben, werden „Deather“ genannt und schließen sich zu Gruppen zusammen, um die Regierung zu stürzen. Ihnen ist alles egal, da sie nichts zu verlieren haben.
Dann bekommen Adams Eltern die Nachricht, dass Jess tot ist; zudem glaubt Adam, dass seine Freundin Schluss gemacht hat. Er weiß nicht weiter und überlegt, ob er „Death“ schlucken soll …

Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt: Teil 1 „Death“, Teil 2 „Die Liste“ und Teil 3 „Revolution“. Schon das Cover wirkt mit der fast neongrünen Farbe bedrohlich. Mit der  „Death“-Kapsel darauf finde ich es total gelungen. Über den Seitenzahlen sieht man schwarze Totenschädel, und auch die Idee finde ich sehr gut.

Ich fand das Buch Death einfach nur fantastisch. Es war durchgehend spannend und ist für jeden, der Nervenkitzel mag, genau das Richtige. Außerdem mochte ich, dass das Buch auch etwas ausgesagt hat. Eine Stelle gefiel mir sehr gut: „Das Leben ist immer noch lebenswert. Es gibt so viel Wunderbares. Einen Job zu haben, der einem nicht gefällt – die meisten von uns müssen Dinge tun, die uns nicht gefallen, aber das Leben bleibt trotzdem ein Abenteuer.“
Ich denke, dass der Autor ausdrücken will, dass man seine Lebenszeit nicht vergeuden, sondern sinnvoll nutzen sollte. Man sollte sein Leben nicht einfach „wegschmeißen“, sondern er genießen.

Laura (15)

Melvin Burgess: Death, Übersetzung: Kai Kilian, Chicken House, Carlsen, 2014, 352 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

 

Von der Pest und vom Leben

pestWie erträgt man ein Buch, in dem fast auf jeder Seite gestorben wird? Diese Frage schoss mir während der Lektüre von Sally Nicholls‘ Keiner kommt davon durch den Kopf. Gleich vorne weg: Man erträgt es – und das bis auf ein paar herzzerreißende Szenen ganz gut. Denn Nicholls bietet mehr als den Horror einer Pest-Epidemie.

Die 14-jährige Isabel lebt im Jahr 1348 in England auf dem Land. Zusammen mit dem Vater, seiner zweiten Frau Alice und den Geschwistern Ned, Maggie und Baby Edward genießt sie das Dorfleben. Die beiden größeren Brüder sind aus dem Haus. Richard hat eine eigene Familie, Geoffrey ist Mönch geworden. Allerdings sind Isabel und ihre Familie Leibeigene des Adligen Sir Edward, und manchmal ist es wirklich anstrengend neben dem eigenen Feld, auch noch die Felder des Herren zu bestellen. Zum Glück gibt es Abwechslung auf dem Johannisfest – und es gibt Robin, in den Isabel verliebt ist.
Doch in diesem Jahr breitet sich das Übel aus: die Pest ist aus Frankreich nach England gekommen und rückt unaufhaltsam vor. Im Dorf hört man von den ersten Toten in der Stadt, dann in der Nähe. Menschen fliehen aus den Städten, ziehen durch das Dorf. Und bringen neben der Pest auch die Angst mit. Mit wachsendem Entsetzen beobachtet Isabel, wie immer mehr Menschen in ihrer Umgebung sterben. Ständig bimmelt die Totenglocken. Noch glaubt sie, dass Thymian und Rosmarin und der Heilige Beda sie vor dem Schwarzen Tod bewahren könnte. Doch ihre Sicherheit schwindet von Tag zu Tag. Als auch Robins Mutter stirbt, nimmt Alice den Jungen kurzerhand bei sich auf. Das Sterben zieht sich bis zum letzten Kapitel durch das Buch – und das ist manchmal wahrlich keine leichte Kost. Zumal man als aufgeklärter Mensch der Gegenwart eine Ahnung von Ansteckung und Ausbreitung von Krankheit hat. Man leidet mit und nimmt beständig das Schlimmste an, weil die Menschen in der Geschichte einfach nicht wissen, wie sie sich schützen können.

Denn vor allem eins hat Sally Nicholls ganz hervorragend dargestellt: das Leben und Sterben im Mittelalter. Man hauste mit dem Vieh unter einem Dach, sanitäre Anlagen und hygienisches Verhalten gab es auf dem Land kaum. Ratten waren allgegenwärtig. Vor 700 Jahren waren die Erreger der Pest noch unbekannt, man wusste nichts von Bakterien, sondern vermutete den Ursprung des Übels im Miasma, im Pesthauch, im Blick der Kranken. Ansteckung, Tröpfcheninfektion, Übertragungswege waren unbekannt, von Medikamenten wie Antibiotika, die wir heute mit schon fast zu großer Selbstverständlichkeit einnehmen, ganz zu schweigen. Hatte man sich infiziert, war das zumeist das Todesurteil, außer man entwickelte Abwehrkräfte.
Rettung erhofften sich die Menschen im Mittelalter von der Kirche oder sie flüchteten sich in den Aberglauben.

All dies schildert Nicholls aus Isabels Perspektive auf eine sehr mitreißende Art, so dass man trotz des Dauersterbens das Buch nicht mehr weglegt. Für Leser, die einen Faible für das Mittelalter haben, ist diese Geschichte eine gelungene Bereicherung. Denn Nicholls zeichnet kein geschöntes, romantisches Bild des Mittelalters, so wie es auf all den Mittelalterfesten im Land anzutreffen ist, sondern nähert sich – soweit das von heute aus möglich ist – der historischen Wahrheit sehr genau an. Das auch durch die sehr treffende Übersetzung von Beate Schäfer. Ein Glossar erläutert zudem die wichtigsten Begriffe aus der vergangenen Zeit.

Keiner kommt davon ist nicht nur eine sehr anschauliche Pest-Darstellung, sondern verweist darüber hinaus in unsere Gegenwart zurück, indem Sally Nicholls den Lesern plastisch vor Augen führt, wie gut es uns heutzutage geht, da die Medizin für eine Vielzahl von Krankheiten Arzneimittel und Behandlungsmöglichkeiten gefunden hat. Daran sollte man sich vielleicht beim nächsten Mittelalterfest erinnern, wenn man sich zur puren Unterhaltung in dieses Zeitalter flüchtet.

Sally Nicholls: Keiner kommt davon – eine Geschichte vom Überleben,  Übersetzung: Beate Schäfer,  Hanser, 2014, 288 Seiten,  ab 12, 14,90 Euro

Erblast

generationAuschwitz im Comic – seit Art Spiegelmans Maus wissen wir, dass das möglich und auch eine angebrachte Art ist, über den Holocaust zu erzählen. Nun hat sich ein weiterer Comic-Künstler diesem Thema gewidmet, der Israeli Michel Kichka.

In Zweite Generation erzählt er autobiografisch davon, wie das Schicksal seines Vaters, das Leben in der Familie und seine eigene Entwicklung beeinflusst hat.
Kichkas Vater wurde mit 19 Jahren in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt, überstand den Todesmarsch und erlebte später in Buchenwald den Tod des eigenen Vaters. Jahre später fährt er als Zeitzeuge mit Schulklassen immer wieder nach Auschwitz, erzählt von seinen Leiden und beantwortet die Fragen der Jugendlichen. Nur die Fragen des eigenen Sohnes bleiben seltsam ungehört und unbeantwortet. Und so stellt Kichka die eigene kindliche Verwunderung über die vermeintlichen Schrullen des Vaters dar, sein ständiges Genörgel, die Abwertung des Leidens anderer. Der junge Kichka liest alles über die Nazi-Zeit und die Lager, sucht auf den Fotos in Büchern und Zeitschriften nach seinem Vater (den er aber nicht findet).
Alles im Leben von Kichka scheint wie eine Wiedergutmachung für das Leid des Vaters zu sein. Alles im Leben der Familie scheint im übermächtigen Schatten des Holocaust zu stehen. Und doch macht sich Kichka in gewisser Weise frei davon, gründet seine eigene Familie, wird Karikaturist. Sein Bruder Charly kommt mit diesem Erbe jedoch nicht zurecht und bringt sich eines Tages um.

Das, was die Psychologie seit einigen Jahren immer weiter erforscht, illustriert Kichka hier sehr eindrucksvoll: Die Erlebnisse und Traumata der Eltern hinterlassen ihre Spuren auch in der nächsten Generation. Die Trauer über das erlittene Leid findet sich auch in den Kindern. Ist die Loslösung von den Eltern schon im Normalfall nicht immer ganz einfach, so ist es bei den Kindern von Holocaust-Opfern noch einmal schwieriger, können sie sich doch durchaus schuldig fühlen, nicht so gelitten zu haben wie Vater oder Mutter. Genau diesen Zwiespalt zeigt Kichka ins klaren Schwarzweiß-Panels.
Sein Strich ist typisch für Karikaturen – und so fehlt selbst hier ein gewisser Witz nicht, sei es in Form von Selbstironie oder Galgenhumor. Manchmal lacht man laut auf, hält inne und fragt sich sofort, ob man das in diesem Fall, bei diesem Thema darf. Doch dass man das in gewissen Fällen tatsächlich darf, hat der italienische Filmemacher Roberto Benigni mit Das Leben ist schön vor einigen Jahren bewiesen.

Kichka löst sich vom Schicksal seines Vaters auf die nachhaltigste aller Arten, indem er die Beziehung zu seinem Vater in diesem eindrücklichen und rührenden Comic verarbeitet und den Leser an all seinem Unbehagen, seinen Zweifeln, seiner Wut und Ablehnung und auch an seiner Trauer teilhaben lässt. So würdigt er nicht nur die Opfer von Auschwitz, sondern gibt auch der nachfolgenden Generation und deren Leid eine Stimme.

Michel Kichka: Zweite Generation. Was ich meinem Vater nie gesagt habe. Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Egmont Graphic Novel, 2014, 108 Seiten, 19,99 Euro

[Jugendrezension] Verschwimmende Grenzen

tomomiTomomi Ishikawa hat sich das Leben genommen. Ihrem besten Freund Ben Constable hinterlässt sie rätselhafte Botschaften, welche ihn auf eine Reise durch ihre Vergangenheit schicken. Ben begibt sich mit seiner imaginären Katze Cat auf eine Suche, die ihn durch Paris und New York führt. Dabei findet er unglaubliche Sachen über Tomomi heraus. War Tomomi eine Mörderin? Sind ihre Geschichten nur einer blühenden Fantasie entsprungen? Ist sie wirklich tot? Ben weiß nicht mehr, was er glauben soll.

Autor Benjamin Constable und die Hauptperson tragen denselben Namen. Das ist merkwürdig, passt aber gut zum Roman, denn hier verschwimmen die Grenzen von Realität und Fiktion. Auch nach dem Lesen bin ich mir nicht sicher, was in der Geschichte alles nicht stimmte. Nur eins kann ich mit Sicherheit sagen: Die drei Leben der Tomomi Ishikawa zählt zu den Büchern, die eine Weile im Kopf bleiben.
Benjamin Constable schreibt in einer Sprache, die leicht und schwermütig zugleich ist. Es geht viel um traurige Themen wie Tod, Verlust und Sterbehilfe, welche beim Lesen nachdenklich machen. Dies ist kein Buch, das man nebenbei liest.
Der Autor glänzt durch tolle Ortsbeschreibungen. Er schafft es, jeden Moment so einzufangen, dass man ihn bildlich vor sich sieht.

Empfehlen würde ich das Buch für Jugendliche ab 14 und für Erwachsene. Das Buch ist oft traurig und nachdenklich, aber an vielen Stellen muss man auch lachen oder schmunzeln. Die drei Leben der Tomomi Ishikawa ist anders als die meisten Bücher – genau deshalb sollte man es lesen!

Juliane (15)

Benjamin Constable: Die drei Leben der Tomomi IshikawaÜbersetzung: Sandra Knuffinke/Jessika Komina, script5, 384 Seiten, 18,95 Euro

Existenziell

camusDer Indiebookday 2014 ist mal wieder eine gute Gelegenheit, einen kleinen Buchladen aufzusuchen und ein Buch aus einem unabhängigen Verlag zu erstehen.

Also bin ich los und habe am Hamburger Rathausmarkt meine Leidenschaft für Graphic Novels befriedigt. Gleichzeitig kann ich damit auch noch eine Kulturlücke schließen, zumindest grob. Denn meine Wahl fiel auf Der Fremde, die grafische Umsetzung von Albert Camus‘ gleichnamigen Roman von Jacques Ferrandez. Erschienen ist das gute Stück bei Jacoby & Stuart in Berlin, wo immer wieder ganz schmucke Bücher erscheinen.

Sicherlich ersetzt diese Graphic Novel nicht die Lektüre von Camus‘ Meisterwerk, aber für eine erste Annäherung ist die Bildvariante ganz wunderbar. In leichten, überwiegend hellgelb gehaltenen Panells erfährt man die Geschichte von Meursault, den der Tod seiner Mutter nicht aus seiner Gleichgültigkeit reißen kann. Nichts schien ihn zu erschüttern, so dass der nächste Schritt zu einem merkwürdig unmotivierten Mord nicht weit ist. Erst nach einem quälenden Prozess und der Verhängung der Todesstrafe dämmert Meursault langsam, dass es im menschlichen Miteinander auch etwas Tröstliches geben kann.

indie2014Ferrandez‘ grafische Besonderheit sind große Aquarelle, die er hinter die kräftigeren Erzähl-Panels legt. Sie zeigen die Stadt und den algerischen Strand. Die Zartheit der Farben lässt die Hitze und das Flirren der Luft fast real werden. Man meint die Qual, die das Leben Meursault bereitet, am eigenen Leib zu spüren. Der Stil dieser Aquarelle erinnert mich an Grafiken aus den 50er Jahren. Die Leichtigkeit dieser Hintergrundbilder kontrastiert mit den drückend existentiellen Inhalten von Liebe, Tod und Gewalt.

Für mich, die ich das Original noch nicht gelesen habe, ist Ferrandez‘ Graphic Novel eine großartige Annäherung an Camus, der jetzt auch noch auf meinen Stapel der zu lesenden Bücher kommt …

Jacques Ferrandez: Der Fremde, Die Graphic Novel, nach dem Roman von Albert Camus, Übersetzung: Uli Aumüller, Jacoby & Stuart, 2014, 128 Seiten, 24 Euro

[Jugendrezension] Flucht in ein anderes Leben

zoe willZwei Jugendliche, die erste große Liebe, Freiheit, der Highway – was sich kitschig anhört, entpuppt sich als das Gegenteil. Die Geschichte von Zoe und Will von Kirsten Halbrook ist ein wirklich berührender Liebesroman mit Tiefe und Nachwirkung.

Die 15-jährige Zoe und der 18-jährige Will haben ein Leben voller Leiden hinter sich: Zoes Mutter starb, als sie ein Kleinkind war. Sie wird immer wieder von ihrem betrunkenen Vater verprügelt.  Will wuchs in Kinderheimen und Pflegefamilien auf. Zoe ist die Erste, die an Will glaubt, und er würde alles für sie tun. Um ein anderes Leben zu beginnen, brechen sie eines Nachts mit Wills altem Camaro (ein alter Sportwagen) auf. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist alles perfekt – doch Zoe und Will ahnen, dass ihr Glück nicht ewig währen wird …

Mit Die Geschichte von Zoe und Will hat Kristin Halbrook einen tollen Debütroman geschrieben. Eine Besonderheit ist, dass der Roman abwechselnd aus Zoes und Wills Perspektive erzählt, sodass man sich gut in die beiden hineinversetzen kann.

In dem Roman geht es um große Gefühle, die Kristin Halbrook beeindruckend gut schildert.  Zoes und Wills Geschichte ist traurig. Es ist die Geschichte zweier Jugendlicher, denen das Leben übel mitspielt, die sich aber gegenseitig Kraft und Mut geben. Man wünscht den beiden so sehr, dass sie endlich ihr Glück finden. Doch das Leben ist nicht gerecht. Am Ende wird die Handlung immer dramatischer, und man kann das Buch kaum aus der Hand legen.

Zoe und Will sind mir noch lange im Kopf geblieben. Es sind für mich nicht einfach gewöhnliche Romanfiguren. Es gibt viele Zoes und Wills auf dieser Welt. Kristin Halbrook hat ihnen durch diesen Roman eine Stimme gegeben.

Juliane (14)

Kristin Halbroh: Die Geschichte von Zoe und Will, Übersetzung: Beate Brammertz,   Heyne fliegt, 2013,  320 Seiten ab 14, 14,99 Euro

 

[Jugendrezension] Kann man Glück stehlen?

bücherdiebinAls ich Die Bücherdiebin von Markus Zusak in einer Buchhandlung entdeckte, las ich zunächst nur den Klappentext und legte das Buch wieder zurück. Doch Liesels Geschichte und das Buch gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, und ein paar Tage später ging ich in die Stadt und kaufte es mir. Eine sehr gute Entscheidung, wie ich rückblickend sagen muss! Die Bücherdiebin ist eins von den Büchern, die man gelesen haben sollte.

In dem Roman geht es um Liesel Meminger. Zu Beginn der Geschichte ist sie neun Jahre alt und lebt im Jahr 1939. Da ihr verstorbener Vater Kommunist war, gibt Liesels Mutter sie und ihren kleinen Bruder Werner zu Pflegeeltern, um sie zu schützen. Aber ihr Bruder kommt niemals dort an und verstirbt auf dem Weg. Auf seiner Beerdigung findet Liesel ihr erstes Buch im Schnee. Obwohl sie nicht lesen kann, steckt sie es ein. Ihr Pflegevater bringt ihr das Lesen bei, und Wörter werden zum Einzigen, das Liesel in diesen Tagen Mut und Hoffnung schenkt. Fortan stiehlt sie Bücher und teilt ihre Schätze mit anderen. Im Schutzbunker liest sie den Nachbarn vor. Irgendwann beschließt sie auch, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben. Doch das Buch ist nicht aus Liesels Sicht erzählt. Der Erzähler ist der Tod. Seine Wege haben die des jungen Mädchens so oft gekreuzt, dass er sie ins Herz schließt und ihre Geschichte weitererzählt.

Die Idee, die Geschichte aus der Sicht des Todes zu schildern, fand ich sehr originell. Das Buch ist an vielen Stellen lustig, aber auch oft nachdenklich und traurig. Liesel wird älter. Ihr Leben geht durch Höhen und Tiefen, und der Leser leidet mit ihr. Ihre Geschichte hilft, die Handlungen, Ängste und Probleme der Menschen im Dritten Reich besser zu verstehen. Außerdem wird bewusst, welche Macht Worte besitzen. Ich weiß nicht, ob Liesel ohne ihre Bücher – die ihr immer wieder Hoffnung schenkten – überlebt hätte. Liesel übersteht Bombennächte und sieht, wie Juden nach Dachau verschleppt werden. Doch das Buch ist nicht traurig. „Markus Zusak hält mühelos die Waage zwischen Ernst, Angst, Hass und Humor“, so die Jury, die für Die Bücherdiebin den Deutschen Jugendliteraturpreis 2009 verlieh. Dem kann ich mich nur anschließen!

Juliane (14)

Markus Zusak: Die Bücherdiebin, Buch zum Film, ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2009, Kategorie Preis der Jugendjury und dem Jugendbuchpreis Buxtehuder Bulle 2008. Übersetzung: Alexandra Ernst, Blanvalet, 7. Auflage  2009, 608 Seiten, ab 12, 9,95 Euro

bücherdiebinAb Februar 2014 wird es bei cbj das Buch zum Film geben, der im selben Monat ins Kino kommt.

Markus Zusak: Die Bücherdiebin, Buch zum Film, cbj, 2014, 592 Seiten, ab 12, 9,99 Euro

Reise zu den Wurzeln

ascheEin Mal im Jahr scheine ich ein Buch über Grabschändung und den perfekten Ort für eine Bestattung rezensieren zu können. War es im vergangenen Jahr der Roman von Boris Koch, so ist es nun Anke Webers Regenbogenasche. Vielleicht wird ja eine Tradition daraus…

Auch in Regenbogenasche geht es darum, einem Toten seinen letzten Willen zu erfüllen: Rhinas Vater ist bei einem Unfall gestorben. Seine große Sehnsucht war Namibia, und die fast 15-jährige Rhina setzt sich in den Kopf, seine Asche dorthin zu bringen und an dem schönsten Ort zu verstreuen. Zusammen mit ihrem Schulkameraden Unkas, schmiedet Rhina zunächst den Plan, die Urne unbemerkt auszubuddeln.
Später schließen sich die beiden Jugendlichen einer namibischen Kulturorganisation an, die Reisen in das afrikanische Land organisieren. Mit umgefüllter und eingefärbter Asche machen sich Rhina und Unkas auf nach Namibia.

Für Rhina ist diese Reise jedoch mehr, als nur den toten Vater an seinen Lieblingsort zu bringen. Sie war sieben als ihr Vater starb, seitdem vermisst sie ihn und kann irgendwie kein eigenes Leben beginnen. Unkas, der ihr bei diesem Abenteuer treu zur Seite steht, wird zu ihrem Vertrauten und besten Freund. Und je mehr Rhina über ihren Vater, seine Herkunft und seinen Tod herausfindet, um so mehr wandelt sie sich zu einem freien Mädchen, das ihren eigenen Lebensweg geht und die Liebe kennenlernt.

Anke Weber schafft es auf faszinierende, fesselnde Art und Weise, die Gegensätze von Leben und Tod in einem spannend Road-Roman zu vereinen. Sie macht jugendlichen Lesern deutlich, dass das eigene Leben von dem der Eltern mehr beeinflusst wird, als man so manches Mal meint oder es sich wünscht. Die Schatten der elterlichen Vergangenheit legen sich immer auch auf das Leben der Kinder. Weber erzählt das jedoch mit einer Leichtigkeit und dem exotischen Touch der namibischen Wüste, das man ganz gebannt Rhinas gesetzwidrige Grabschändung akzeptiert, mit ihr liebt, leidet und sich schließlich freut, als sie in Namibia nicht nur ihr Ziel erreicht, sondern auch eine große Überraschung erlebt.

Regenbogenasche variiert das Thema Grabschändung auf eine fast unbeschwerte Art und zeigt, wie wichtig es für Jugendliche ist, über die Herkunft und die Traumata der Eltern aufgeklärt zu werden. Jeder Mensch hat zwar durchaus ein Recht auf Geheimnisse, doch sobald diese sich auf die Nachkommen auswirken, haben diese wiederum ein Recht, sie zu erfahren. Erst dann können Jugendliche sich bewusst entscheiden, wie sie ihren eigenen Lebensweg einschlagen. So wie Rhina, die ihr Glück und ihren inneren Frieden erst findet, als sie das Geheimnis ihres Vaters gelüftet hat und den toten Vater am richtigen Ort weiß. Damit macht sie jugendlichen Lesern Mut, sich den eigenen Familiengeheimnissen zu stellen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der düstere Tod wandelt sich in diesem Buch zu einer kunterbunten Liebeserklärung an das Leben.

Anke Weber: Regenbogenasche, Ueberreuter, 2013, 256 Seiten,  ab 12, 12,95 Euro

Die Poesie der sexuellen Identitätsfindung

liebeDas Leben ist verwirrend. Umso mehr, wenn man nicht den angeblichen Standards der Gesellschaft entspricht. Das erfährt die 17-jährige Anna im Roman Über ein Mädchen. Geschrieben hat die zarte Coming-of-age-Geschichte die Australierin Joanne Horniman.

Anna arbeitet in einer Buchhandlung und verliebt sich bei einem Popkonzert in die Musikerin Flynn. Der Zufall will, dass sich die beiden Mädchen in einem Cafè wiedersehen. Vorsichtig nimmt Anna Kontakt auf – denn sie weiß schon seit ihrem sechsten Lebensjahr, dass sie Mädchen mag. Und Flynn ist genau der Typ Frau, der Anna fasziniert: Sie ist geheimnisvoll, frech, unberechenbar. Die Mädchen kreisen umeinander, Flynn kommt und geht, wie es ihr gefällt. Anna ist verunsichert, denn sie kann sich bei Flynn nicht sicher sein, ob sie wirklich bei ihr bleiben wird, während sie selbst immer mehr für die andere brennt und ohne sie nicht mehr sein kann.

Nach und nach erzählt Anna ihre Familiengeschichte – die Eltern sind geschieden, die kleine Schwester Molly ist lernbehindert, der Vater hat eine neue Freundin, in die sich Anna anfangs auf den ersten Blick verliebt hatte. Über allem hadert die Ich-Erzählerin mit ihrer „Andersartigkeit“. Sie wagt es nicht, sich der Mutter anzuvertrauen.
Stattdessen bekommt sie Depressionen, liest Finnigans Wake, trägt schwarz, überwirft sich mit ihrem besten Freund und fühlt sich völlig verloren. Sie schmeißt das Studium und zieht in eine andere Stadt – wo sie schließlich Flynn trifft und neue Zuversicht schöpft. Doch Flynn ist nicht nur das leidenschaftliche Mädchen mit der Gitarre, sondern auch sie hat ihre dunklen Seiten.

Auf den ersten Seiten von Über ein Mädchen dachte ich zunächst noch, das würde eine ganz normale Teenie-Liebesgeschichte, wenn auch mit gleichgeschlechtlichen Vorzeichen. Doch dann entwickelte der Roman so einen feinen Sog, dass ich das Buch nicht mehr weglegen konnte. Annas Verunsicherung und Einsamkeit gehen einem ans Herz, ihre Sehnsucht nach Nähe und der schönen, selbstbewussten Flynn nimmt man ihr sofort ab. Und man begreift, was für eine Gefühlsverwirrung diese Liebe auslöst, die nicht dem Mainstream entspricht. Doch genau das macht das allen Leserinnen, die noch auf der Suche nach ihrer sexuellen Veranlagung sind, Hoffnung und Mut.

Über ein Mädchen ist ein leiser, poetischer Roman, sehr feinfühlig von Brigitte Jakobeit übersetzt. Dabei handelt der Roman weniger von einem Coming-out als viel mehr von einem Coming-of-age, bei dem sich die jugendliche Verwirrung der Protagonistin sich auch am Ende nicht legt, denn ihr Weg in die Zukunft eröffnet sich gerade erst. Anna lernt die Liebe kennen, erfährt aber auch, dass Abschied und Tod genauso zum Leben dazu gehören wie Leidenschaft. Dass sich Anna in ein Mädchen verliebt bzw. lesbisch ist, ist hier zunächst einmal eine ganz persönliche Lebensvariante, die in der Gesellschaft durchaus akzeptiert wird. Joanne Horniman moralisiert in keiner Zeile, sondern zeigt die homosexuelle Liebe als gleichberechtige, selbstverständliche Art von Zuneigung und Miteinander. So wird dieses Buch zu einem gelungenen Beispiel, wie man zu sich selbst und seiner sexuellen Identität findet.

Joanne Horniman: Über ein Mädchen, Übersetzung: Brigitte Jakobeit, Carlsen Verlag, 2013, 224 Seiten, ab 14, 15,90 Euro

Zu den Sternen

margherita hackHierzulande war Margherita Hack wohl nur Eingeweihten aus der Astrophysik-Szene bekannt, nun ist die italienische Sternenforscherin im Alter von 91-Jahren in Triest gestorben.

Ich muss zugeben, dass auch ich bis vor etwa einem Jahr nichts von Margherita Hack wusste. Schließlich habe ich Literatur und nicht Astronomie studiert. Doch durch die Übersetzung des Kindersachbuches Warum? Darum! – Astronomie schloss sich meine Wissenslücke. In diesem kleinen Bändchen hat sie dem Journalisten Federico Taddia jede Menge freche Fragen über Sterne, Astronomie und Himmelsphänomene beantwortet. Dabei hat sie sich für mich als eine sehr bodenständige und humorvolle Frau vorgestellt.

1922 in Florenz geboren war sie von 1964 bis 1997 Professorin für Astrophysik an der Universität in Triest. Gleichzeitig leitete sie bis 1987 das Observatorium in Triest und hat sowohl mit der ESA als auch mit der NASA zusammengearbeitet. Im Universum rast der nach ihr benannte Asteroid 8558 durch den Raum.

Über vieles aus ihrer Arbeit berichtet sie in dem Warum?-Darum!-Buch und holt dort neugierigen Kindern die Sterne vom Himmel. Sie erklärt Zwergplaneten, Schwarze Löcher, erzählt von Galileo Galileo und von Tieren auf dem Mond. Und macht damit die Astrophysik zu einer sehr anschaulichen und spannenden Wissenschaft, der man sich sofort intensiver widmen möchte.

margherita-hackIn Italien war Margherita Hack daneben auch als politische Aktivistin bekannt. Sie kandidierte für die Kommunistische Partei und setzte sich für die juristische Gleichstellung homosexueller Paare ein. Als Atheistin hat sie sich für einen laizistischen Staat stark gemacht.

Eine herausragende Wissenschaftlerin, eine durch und durch emanzipierte und aufgeklärte Frau und ein leuchtendes Vorbild zivilen Engagements ist gegangen – vermutlich zu den Sternen. Das macht traurig.

Taddia, Federico: Warum? Darum! AstronomieÜbersetzung: Ulrike Schimming, Oetinger Verlag, 2013, 96 Seiten, ab 8, 7,95 Euro

Bilderbücher zum Verlieben

BilderbücherErinnert sich noch jemand an das Bilderbuch Das Haus in der Lindenallee von Bernard Waber? Wahrscheinlich nur noch wenige. Jetzt scheint mir das Krokodil aus der Badewanne wieder auferstanden. Jedenfalls hatte ich ein wunderschönes Deja-vu, als ich Rebecca Cobbs Aufessen?! angeschaut habe.

Darin hat die kleine knuddel-süße Heldin keine Lust aufs Mittagessen. Sie sitzt am Tisch und isst nicht, sie will viel lieber weiter Bilder malen. Plötzlich liegt ihr kunterbuntes Tusche-Krokodil unter dem Tisch und fragt: „Isst du das nicht?“ Dann gesellt sich der Krickelbär dazu und möchte etwas von Suppe und Sandwich ab haben. Und der Wolf ist ganz wild auf den Apfel. Nachdem die drei Bestien erklären, dass sie keine Kinder essen, diese im Gegenteil ganz „ekelhaft“, „abscheulich“ und „widerlich“ finden, dürfen sie sich satt essen. Der Teller ist schön leer, Mama ist zufrieden, die Heldin darf weitermalen. Alle sind glücklich. Nur der Magen der  kleinen Heldin meldet sich am Nachmittag lautstark. Wie gut, dass es bald wieder Abendessen gibt.

Ich weiß nicht, ob man Kinder mit diesem Buch dazu bringt, immer alles aufzuessen. Aber es ist eine Wonne, diese leichten Bilder anzuschauen. Erfrischend ist zudem, dass Rebecca Cobb ohne moralischen Zeigefinger auskommt. Die Mutter schimpft nicht, die Bestien loben das leckere Mittagessen, setzen die kleine Heldin dabei aber nicht unter Druck. Die darf stattdessen erleben, was ein knurrender Magen bedeutet – und sich dann umso freudiger auf das Abendessen stürzen. Ein wunderschöner Weg, um Wertschätzung zu lernen.

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Wertschätzung der anderen Art bringt die blonde Ich-Erzählerin des Bilderbuches Arme Mama von Vanesa Pérez-Sauquillo ihrer Mutter entgegen: Sie schneidet ein Herz aus Mamas rotem Sommerkleid und schenkt es ihr; malt Mamas Bücher an; schmückt das Wohnzimmer mit Spielzeug; setzt das Badezimmer unter Wasser, damit Mama endlich Schlittschuhlaufen lernt … Auch hier wird nicht einmal geschimpft. Es ist total okay, Chaos zu veranstalten, denn wie die Protagonistin durchaus erkennt, hätte es die Mutter ohne sie vielleicht viel leichter – doch es wäre auf jeden Fall sehr viel langweiliger.

Die doppelseitigen Bilder strahlen in leuchtenden Farben und verströmen auf jedem Zentimeter pure Lebensfreude. Sie sind eine Hymne an die kindliche Kreativität und befeuern die Fantasie der Betrachter mit unzähligen zarten Details. Ob das Ganze eher eine Liebeserklärung an die Mutter oder an das entzückende Kind ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.

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Eine Liebeserklärung an einen Freund hingegen ist das zart aquarellierte Büchlein Das platte Kaninchen von Bardur Oskarsson. Ein Kaninchen liegt platt auf der Straße. Hund und Ratte sind erschüttert, als sie es entdecken. Sie wollen Kaninchen irgendwo anders hin bringen, doch wohin nur? Die beiden Freunde gehen in den Park und überlegen. Sie überlegen lange. Dann hat Hund eine Idee. Vorsichtig schälen sie Kaninchen vom Straßenbelag, bringen es in die Hundehütte und basteln einen Drachen. Daran befestigen sie Kaninchen und lassen es am nächsten Morgen über den Dächern der Stadt fliegen.

Hier wird mit keinem Wort über den Tod gesprochen, auch nicht darüber, was das Kaninchen getötet hat. Aber es wird auch kein Tabu aufgebaut. Es ist einfach so. Der Tod gehört zum Leben. Und es gehört auch dazu, dass die Freunde sich um Kaninchen kümmern und es an einen Ort bringen, an dem es ihm gefallen hätte. Einen schöneren und rührenderen Freundschaftsdienst kann man sich kaum vorstellen.

Rebecca Cobb: Aufessen?! Übersetzung: Stephanie Menge, Sauerländer, 2013, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro

Miriam Cordes/Vanessa Pérez-Sauquillo: Arme Mama, Minedition, 2013, 32 Seiten, ab 3, 13,95 Euro

Bardur Oskarsson: Das platte Kaninchen, Jacoby & Stuart, 2013, 40 Seiten, ab 5, 11,95 Euro

Die Leere in uns

lukas jüligerIch habe ein neues Lieblingswort: Mitnehmbrote. Es steht im ersten Satz der Graphic Novel Vakuum von Lukas Jüliger. Damit hatte er mich. Anfangs dachte ich allerdings, ich würde mir den Abend mit einer netten Teenager-Liebesromanze versüßen. Ich hätte mich nicht mehr täuschen können und hätte nicht mehr überrascht und beeindruckt werden können als von dieser Story.

In melancholisch-gedämpten Pastelltönen und zarten Schraffuren erzählt Lukas Jüliger die Geschichte von drei Jugendlichen auf der Schwelle zum Erwachsenenwerden. Der Protagonist, ein namenloser Ich-Erzähler mit Paul-Weller-Gedächtnisfrisur, hält sich für den langweiligsten Menschen der Welt. Er hängt die meisten Zeit mit seinem Freund Sho herum. Der jedoch ist nach dem Rauchen einer Psycho-Pflanze in tiefste Depressionen verfallen. Er spricht kaum noch, liegt nur in der Gegend herum oder zerstört und verbrennt seine Sachen. Der Protagonist schaffte es nicht, ihn aus seiner Erstarrung zu holen.
Eines Tages spricht Sie, eine namenlose Mitschülerin, den Jungen an, und im Laufe einer Woche, in der der Sommer zu Höchstform aufläuft, verliebt er sich rettungslos in ihren Duft, erlebt die Liebe und schöpft Hoffnung, das langweilige Leben in der Kleinstadt hinter sich lassen zu können.
Doch dann passieren schreckliche Dinge: Das angesagteste Hip-Mädchen der Stadt wird von einem Mitschüler vergewaltigt. Der begeht hinterher in einem Getreidefeld Selbstmord. Der Protagonist und Sie gehen zusammen mit anderen Jugendlichen heimlich ins Leichenschauhaus, machen Handy-Fotos von dem obduzierten Jungen, besichtigen den Tatort und treffen dort auf den geschockten und ideologisierten Bruder des Selbstmörders, der den beiden den Weltuntergang prophezeit.
Während all dieser an sich schon deprimierenden Geschehnisse, stellt Sie den Protagonisten immer wieder auf eine harte Probe. Nach gemeinsam verbrachten Stunden am Abend verschwindet Sie immer wieder. Zunächst sagt Sie ihm nicht, wohin Sie geht. Irgendwann folgt er ihr. Sie zeigt ihm ihr Geheimnis, das sich unter einem alten Wohnwagen in einer Erdhöhle befindet: eine mysteriöse, surreale Körperöffnung von einem nicht näher erkennbaren Wesen. Dort legt Sie sich zwei Mal am Tag hin und verspürt tiefstes Glück. Ein Glück, das abhängig macht. Er probiert es aus und verfällt ihm ebenfalls.
Der Protagonist schöpft Hoffnung, dass dieses beglückende Etwas Sho aus seiner Depression holen kann. Doch statt der Heilung, überkommt Sho eine brutale Aggressivität, und er meuchelt das Wesen. Danach fällt er im Haus des Protagonisten wieder in katatonische Starre. Eine Erlösung gibt es für ihn nicht. Und auch nicht für die beiden Verliebten, die sich in dieser merkwürdigen Nacht leidenschaftlichem Sex hingeben. Denn am nächsten Morgen taucht der Bruder des toten Mitschülers mit einer Pistole in der Schule auf.

Das ist, zugegebenermaßen, alles sehr harter Stoff und sicher nicht für jeden geeignet. So eine düstere und hoffnungslose Darstellung der aktuellen Gefühlswelt der Jugend habe ich eigentlich noch nie gelesen. Die Lage der drei Hauptfiguren ist aussichtslos, selbst die Liebe spendet keinen Trost mehr. Als Leser gerät man in einen Sog aus Mitgefühl für die Jugendlichen, die in spießigen Normalo-Familien groß werden, Hoffnung, sie mögen gemeinsam einen Ausweg aus der Leere finden, und Faszination für dieses mysteriöse Etwas im Erdloch.
Dieses Etwas, das einem Anus gleicht, wirft jede Menge Fragen auf, die nicht zu lösen sind. Ketzerisch könnte man vermuten, dass hier eine bildliche Umsetzung des Ausdrucks von „voll am A**** sein“ auf eine skurrile Spitze getrieben werden sollte. Denn diese Etwas ist der Ort, wo sich der Protagonist und Sie am glücklichsten fühlen. Die Welt draußen kann da nicht mithalten. Und das ist eine verdammt bittere Absage an die Realität.

In Vakuum erzählt Jüliger von der Leere in uns und in der Gesellschaft. Die dick schwarz umrandeten Panels tragen Trauer und übertragen das Gefühl der Leere direkt auf den Leser. Man fragt sich unweigerlich: Was ist das Leben? Eine Antwort darauf erhält man hier nicht, die muss sich eh jeder selbst suchen. Aber man bekommt quasi einen Tritt in den Allerwertesten, den nachfolgenden Generationen mehr „Mitnehmbrote“ zu machen, die für Aufmerksamkeit, Zugewandheit, Fürsorge und ein erfülltes Leben stehen.

Was neben der heftigen Story richtig Freude macht, ist die grafische Umsetzung: Jüliger versteht es vorzüglich, die Gesten und den Habitus der Jugendlichen darzustellen. Köstlich, wie die Girlies Handys und Handtaschen umkrallen. Die zarte Annäherung der beiden Liebenden ist wunderschön anzusehen und geht richtig ans Herz. Die Schraffuren entwickeln einen Sog und eine schräge Dynamik, die in manchen Panels an Edvard Munch erinnern. Dann möchte man schreien – gegen all diese Leere.

Die surreale Verwirrung in dieser Geschichte ist grandios, aber genau darin liegt die Grandezza dieses fantastischen Comic-Debüts von Lukas Jüliger. Bleibt nur, sich mehr von solchen im Besten Sinne anstößigen und aufrüttelnden Geschichten zu wünschen.

Lukas Jüliger: Vakuum, Reprodukt, 2013, 112 Seiten, ab 18, 20,00 Euro