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Eine Frage der Identität

Dieser Tage kann man Angie Thomas quasi im Doppelpack erleben. Im Kino läuft seit vergangener Woche die sehr gelungene Verfilmung ihres Debüt-Romans The Hate U Give, im Buchhandel ist ab heute ihr neues Werk mit dem Titel On The Come Up zu haben.
Auch Thomas‘ neuer Roman spielt im selben Viertel wie THUG, in Garden Heights, einer nicht genannten amerikanischen Großstadt. Ging es im Vorgängerroman um Polizeigewalt gegen die schwarze Bevölkerung und begann spektakulär mit den Tod eines Jungen, so ist die Gewalt in On The Come Up anders gelagert. Hier stirbt niemand, doch nett oder gar beschaulich geht es auch jetzt nicht zu. Thomas erzählt von der jungen Rapperin Bri, deren Familie kurz davor steht, obdachlos zu werden, da die Mutter ihren Job verliert und die laufenden Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können. Bris Bruder findet trotz guter Ausbildung nur eine mies bezahlte Anstellung in einem Pizza-Laden. Der Vater, der im Viertel ein angesehener Gangsta-Rapper war, ist schon vor Jahren, als Bri noch klein war, bei einer Schießerei (die hier eben nicht erzählt wird) umgekommen.

Zwischen Leidenschaft und Rollenspiel

Bri möchte ihrer Familie helfen, indem sie als Rapperin groß durchstartet. Und sie kann Talent vorweisen. In einem Battle schlägt sie den Sohn eines Rap-Managers und wird quasi über Nacht zu einer Berühmtheit. Allerdings mit einem Song, in dem sie sich selbst als bewaffnet und zur Gewalt bereit darstellt. Damit reagiert sie auf einen Vorfall in ihrer Schule, bei dem zwei Sicherheitsbeamte sie bei der Taschenkontrolle aus rassistischen Gründen überwältigt und zu Boden geworfen haben. Rasch wird sie als Drogendealerin verunglimpft, obwohl sie nur Süßigkeiten verkauft hat – doch als Tochter einer ehemaligen Drogenabhängigen ist so ein Urteil schnell gefällt.

Mit einem Mal muss Bri feststellen, dass sie zwar Rap-Talent und eine Botschaft hat, doch dass diese Botschaft nicht so verstanden wird, wie sie es sich gedacht hatte. Der Rap-Manager würde sie allerdings gern unter Vertrag nehmen und ködert Bri mit schicken Timberlands und einem Radio-Interview. Bri sieht sich dem Erfolg schon ganz nah – bis sie hinter die Kulissen schaut und eine Entscheidung trifft.

Die Stimme erheben

Angie Thomas ist hier erneut eine sehr komplexe und faszinierende Geschichte gelungen, in der sie zahlreiche Themen anspricht und zu einem wahren Pageturner verflechtet. Sie führt den Leser_innen vor Augen, wie schwierig es ist, sich aus alt eingesessenen Strukturen zu befreien – sei es von einer Drogenabhängigkeit, sei es von dem Vergleich mit dem Vater, sei es aus einem Problemviertel herauszukommen und die Armut zu überwinden. Überall stoßen Bri und ihre Familie auf Widerstände, Vorurteile, Missgunst oder Gier.
Bri als impulsive 16-Jährige, die durch die Vorfälle, die in THUG geschildert werden – auf den Vorläuferroman spielt Thomas immer wieder sehr geschickt an –, verstanden hat, dass sie ihre Stimme erheben muss, hält folglich nicht den Mund. Sie redet den anderen nicht nach dem Maul, sondern sagt unumwunden ihre Meinung. Und macht sich damit angreifbar.

Wer bin ich?

Über allem steht für mich fast nicht so sehr die Frage, wie man in der Gesellschaft aufsteigt (eng. the come up), sondern wer man/frau selbst sein will. Was prägt die eigene Identität? Die Herkunftsfamilie? Der eigene Kiez? Die Leidenschaft, für die man alles tun würde? Bri stellt sich diese Fragen zwar nie konkret, doch sie schwingen immer mit, bei ihr, bei ihrem schwulen Freund, bei Mutter und Tante. Für Bri ist die Verlockung groß, für ihre Leidenschaft – das Rappen – alles zu geben und, wie von ihrem gierigen Fast-Manager empfohlen, eine Rolle zu spielen. Angie Thomas beschreibt dies so unmittelbar aus Bris Perspektive, dass man ihr den Erfolg und den (finanziellen) Durchbruch eine Zeit lang durchaus wünscht. Doch schnell wird auch klar, dass darin nicht das Glück liegt.
Denn das Offensichtliche ist nicht immer das, was einen Menschen glücklich macht. Das entdeckt Bri neben all den Karriere-Aufregungen dann fast noch wie nebenbei, als sie merkt, dass ihr alter liebenswerter Kumpel Malik nicht so ein Herzklopfen und Britzeln bei ihr auslöst, wie der coole Curtis.

Das Rapper-Vokabular

Sprachlich zeichnet sich On The Come Up, wie schon THUG, durch sehr viel Slang, Ghettosprache sowie amerikanische Jugend- bzw. Hiphop-Sprache aus. Hier muss man der Übersetzerin Henriette Zeltner erneut höchsten Respekt zollen, da sie dieses spezielle Vokabular so im Text belässt, dass es sich authentisch anhört, man aber durch ihre sprachlichen Hinleitungen immer genau weiß, was die einzelnen Ausdrücke und die Rap-Texte, die komplett auf englisch belassen wurden, bedeuten. Ich glaube jedoch, dass für die Jugend, die eh schon viel intensiver mit der englischen Sprache groß wird, als meine Generation, mit all diesen Texten und Worten keine Schwierigkeiten haben wird.
Für gewisse Zweifelsfälle kann man hinten im Glossar nachschlagen und sich schlau machen.

Auch ohne den Vorgänger THUG zu kennen kann man On The Come Up sehr gut lesen. Die Anspielungen an THUG, die Thomas in die neue Geschichte einwebt, bringen den Kennern ihres Debüts die Erinnerungen daran zurück, die Thomas-Neulinge werden auf jeden Fall neugierig gemacht, diese Lektüre nachzuholen.
Und wer es schneller haben möchte, kann dieser Tage The Hate U Give im Kino anschauen – und wird von Amandla Sternberg als Starr Carter hoffentlich genauso begeistert sein wie ich.

Angie Thomas: On The Come Up, Übersetzung: Henriette Zeltner, cbj, 2019, 512 Seiten, ab 14, 18 Euro

Mafia

Jenseits von Dolce Vita

Mafia

Gekriegt haben sie mich mit Padre Pio, der kommt noch zwei Panels vor der Giraffe, die andere Rezensenten an dieser Graphic Novel so fasziniert.
Padre Pio als Stencil-Graffiti an einer Hauswand, halb verborgen hinter Müllcontainer und Unrat. Eindeutiges Zeichen, dass die Geschichte von Stadt der drei Heiligen von Stefano Nardella und Vincenzo Bizzarri in Apulien spielt, in einer namenlosen Kleinstadt, in der Nähe von Foggia. Padre-Pio-Land. Land, in dem Heilige wichtige Rollen spielen. Neben der Mafia.

Alles andere als heilig

Diese Stadt steht unter dem Schutz von gleich drei Heiligen – San Michele, San Marciano und San Nicandro. Einst schützten sie die Stadt vor der Eroberung durch die Türken. Doch daran erinnert sich kaum noch einer. Heute sind es die drei namensgleichen Hauptfiguren, die sich gegen ganz andere Feinde, Feinde aus dem Inneren der Stadt, wehren müssen. Miché, Ex-Boxer und Mafia-Gehilfe, ist durch seine Drogensucht abhängig von der Gunst des örtlichen Bosses Pino. Marciano, Ex-Mafioso und Aussteiger, hat keine Lust, Schutzgelder für seinen Imbisswagen, der kaum Geld abwirft, zu zahlen. Nicà, 17-jähriger Schulabbrecher und Kleindealer, will eigentlich nur mit Titti zusammen sein. Doch deren Brüder Rodolfo und Tonio meinen, die Schwester vor dem schlechten Umgang schützen zu müssen. Dabei haben ausgerechnet sie die besagte Giraffe aus dem kleinen Wanderzirkus entführt, um Lösegeld zu erpressen. Ein wahrlich absurdes, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Wie eigentlich so alles hier zum Scheitern verurteilt ist.

Kleinstadttristesse

In der grauen Tristesse italienischer Vororte aus Betonhochhäusern, halbfertigen Wohngebäuden, slumartigen Wellblechhütten, kreuzen sich die drei Schicksale und zeichnen ein Sittengemälde der süditalienischen Gesellschaft. Die Macker, allesamt mit fiesen Visagen ausgestattet, können in der Stadt, die nichts zu bieten hat, ihren Testosteronüberschuss nur in illegalen Hundekämpfen oder legalen Boxkämpfen loswerden. Oder, indem sie sich gegenseitig bedrohen, beklauen, fertigmachen. Sie sind wie Vampire, die sich gegenseitig aussaugen, um an der Macht zu bleiben.
Das dies auf Dauer zu nichts führt, zeigen die drei Protagonisten den Betrachter_innen sehr eindrücklich. Auch wenn es hier nicht um die großen Mafia-Geschäfte geht – die Drogenmengen sind klein, selbst wenn die Mafiosi fette Autos fahren, ein Imbiss ist kein börsennotiertes Wirtschaftsunternehmen, der Wettbetrug beim Boxkampf ist nicht mit den Manipulationen in der 1. Fußballliga vergleichbar – so beeinflussen die Mafia und die gesellschaftlichen Konventionen die Helden doch so sehr, dass es am Ende nicht gut ausgeht.

Die Rollen der Frauen

Nardella und Bizzarri erzählen von dem toxischen Einfluss, den die Mafia in den süditalienischen Kleinstädten auf das Leben jedes Einzelnen hat. Zwar sind es hier vor allem die Männer, die sich Schaden zufügen, doch auch die Frauen bleiben davon natürlich nicht unberührt. Titti leidet unter ihren Brüdern und möchte mit Nicà nach Mailand abhauen, weil sie das Leben im Ort nicht mehr aushält und keine Zukunft für sich sieht. Kurz klingt ein Romeo-und-Julia-Motiv an. Doch aus ihrer Flucht wird nichts, da Nicà die Sache »regelt«.
Die anderen Frauen, Micheles demente Mutter, Nicàs alte Oma oder Marcianos Ehefrau sieht man nur in den Wohnungen oder im Pflegeheim. Dort sind sie die Herrscherinnen, vor ihnen werden die Männer weich. Doch obwohl die Frauen wissen, was auf den Straßen abgeht, können – oder wollen? – sie kaum etwas tun, um die Verhältnisse zu ändern. Die Polizei zu rufen ist in keinem der Fälle eine Option.

Was viel eher hilft, ist der Gang zum Pfarrer. So vertraut Marcianos Ehefrau sich Don Vincé an, der kurzerhand die eine Prozession zu Ehren des Heiligen umleitet und so für einen Moment eine Schießerei verhindert. Doch eben auch nur kurz. Denn als die Festtage mit einem riesigen Feuerwerk enden, sind in der Stadt wieder Menschen gewaltsam gestorben und die Täter werden nicht lange auf freiem Fuß bleiben.

Jenseits jeglicher Idylle

Hier gibt es kein Happyend. Mag sich der Pfarrer auch noch so sehr bekreuzigen. Es herrscht ein Teufelskreis, aus dem es seit Jahrhunderten kein Entrinnen zu geben scheint. Außer man verlässt die Stadt oder steht zu seinen Überzeugungen und geht dann dafür in den Knast. Von Idylle kann man hier in keinster Weise reden – außer man möchte mafiöse Verhältnisse romantisieren, um dann wieder beim naiven deutschen Blick auf Italien zu landen, dieser Mischung aus La Dolce Vita und Der Pate. Hier scheint keine goldene Sonne über der Stadt. Es ist ein kranker blassgelber Himmel, der über den zumeist grüngrauen Figuren mit ihren zerschlagenen Gesichtern herrscht. Hier fehlt das Azzurro, das Blu dipinto nel blu. Zurück bleibt eine Ratlosigkeit, wie man eine solche Gesellschaft heilen, reformieren, verändern könnte. Antworten liefern Nardella und Bizzarri natürlich nicht. Wie auch, wenn ganz Italien seit Ewigkeiten darauf keine Antworten hat.

Sprachliche Besonderheiten & Soundwords

Wer sich auf diese Lektüre einlässt, wird in den Texten, die Hannah Lisa Linsmaier gelungen ins Deutsche übersetzt hat, auf so einige sprachliche Besonderheiten stoßen: die vielen klingenden Namen der Kleinkriminellen und Mafiosi sind im Original stehen geblieben. Das verleiht Authentizität, verwirrt eventuell aber auch ein bisschen. Sprechende Namen, vor allem dialektal verkürzte, wie in diesem Fall (Nicà Cor‘ e‘ can – Nicà Hundeherz), lassen sich meist nicht passend übersetzen. Daher ist es gut, dass das hier nicht geschehen ist. Man hätte vielleicht in der Personenliste am Anfang eine Erklärung einfügen können.
Für andere italienische Worte und Sätze sind Fußnoten unter die Panels gesetzt worden. Auch das ist sinnvoll – nur hätte es konsequenter passieren können, dann wären noch ein paar Facetten mehr transportiert worden, beispielsweise der Spruch neben dem Padre-Pio-Stencil, der gleich zweimal auftaucht: »Neid ist die Mutter aller Niedertracht« (S. 13 und S. 91). Oder der Zettel in Nicàs Haus, auf dem die »werten Hausbewohner« gebeten werden, »nicht in den Fahrstuhl zu urinieren« (S. 95). Und Nicàs Ausruf: »U Sceè!!!« – »Der Idiot!!!« (oder ähnliches, S. 29) hätte die Figur des in süditalienischen Dörfern quasi allgegenwärtigen »Dorftrottel« etwas besser eingeordnet. Er ist in all dem Drama vielleicht der wirklich einzig glückliche Mensch, da er mit den gesammelten Machenschaften so gar nichts zu tun hat. Mit diesem Wissen wäre auch die letzte Giraffen-Szene in all ihrer Dimension noch besser verständlich gewesen.
Auch bei den Soundwords vermisse ich ein bisschen die Konsequenz in der Übersetzung. Wird anfangs das Glockengeläut mit »DING DONG DANG« verdeutlicht, zieht sich das ja fast allgegenwärtige Gebimmel im Laufe der Geschichte nur noch als »DIN DON« durch die Panels.
Auch Marcianos Husten ist eine seltsame Mischung aus »COF« und »COUGH« (S. 101). Ein Erikativ à la »HUST« wäre natürlich nicht gegangen. Wie gesagt – Konsequenz in diesen Dingen hätte für mich die Geschichte richtig rund gemacht.

Stadt der vier Heiligen

Eigentlich ist die namenlose Stadt, eine Stadt der vier Heiligen, denn neben dem Stencil taucht Padre Pio noch einmal auf – als Statue auf einer Piazza. Doch ist Padre Pio kein Heiliger des Kampfes wie die drei Stadtheiligen, eher ein Heiliger der Selbstverletzung (dies ist keine offizielle Bezeichnung – wie ich darauf komme, könnt ihr hier nachlesen) – und vielleicht ist es genau das, was die Figuren dieser Geschichte am ehesten tun. Sie verletzen hauptsächlich sich selbst. Und zeigen damit eindrücklich, wie widersinnig Mafia und männliches Gehabe sind.

Stefano Nardella/Vincenzo Bizzarri: Stadt der drei Heiligen, Übersetzung: Hannah Lisa Linsmaier, Verlag Schreiber & Leser, 2018, 192 Seiten, 29,80 Euro

[Jugendrezension] Im Drogensumpf

cecelia„Manchmal fängt man damit an, ein Leben zu leben, das man niemals erwartet hätte zu leben.“

Cecelia Price ist 17 Jahre alt und geht auf ein ganz normales College. Sie hat eigentlich keine Probleme, bis sie merkt, dass ihr älterer Bruder Cyrus, der immer ihr Vorbild war, drogenabhängig geworden ist. Da er immer mehr Drogen nimmt, will Cecelia ihm unbemerkt helfen, davon loszukommen. Sie rutscht dabei aber selbst immer weiter ab und dealt letztendlich auch mit Drogen, um ihrem Vater zu helfen, denn dieser hat massive Geldprobleme. Dann wird ein Notruf von Cecelia abgesetzt, indem sie sagt, dass ihr Bruder tot sei und sie schuld daran wäre. Kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse …

In dem Buch „Der tiefe Fall der Cecelia Price“ schreibt die Autorin Kelly Fiore abwechselnd zwischen Rückblenden und der Gegenwart.
Die Sprache ist sehr einfach gehalten, und ich dachte, ich würde mich ziemlich schnell einlesen. Daraus ist leider nichts geworden und zwar das ganze Buch über nicht. Bis zum Ende konnte ich mich nicht in die Personen hineinversetzen und konnte dem Geschehen nur schwer folgen. Deshalb hat mich dieses Buch leider nicht gefesselt, und ich habe es oft weggelegt, weil ich manche Stellen zu langatmig fand und sie sich sehr gezogen haben.
Für mich war es nicht das richtige Buch.

Laura (16)

Kelly Fiore: Der tiefe Fall der Cecelia Price, Übersetzung: Sonja Häußler, Coppenrath, 2015, 320 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

[Gastrezension] Wachgerüttelt

hellwach„Hellwach“ assoziiert man nicht als erstes im Zusammenhang mit einem jungen Mädchen, das in seinen besten Freund verliebt ist und regelmäßig fette Joints durchzieht. Aber die knapp 17-jährige Kiri hat ein drastisches Erweckungserlebnis, und von da an laufen ihre Gedanken Amok und an Schlaf ist nicht zu denken. „Wild Awake“ heißt Hilary T. Smiths Romandebüt im Original, ein sehr treffendes Wortspiel.

Eigentlich will Kiri in den Ferien, die sie allein zu Hause verbringen darf, weil ihre Eltern zu einer Kreuzfahrt rund um die Welt aufgebrochen sind und der ältere Bruder die Semesterferien im Labor verbringen wird, erst mit Lukas einen Bandwettbewerb gewinnen und anschließend sein Herz. Außerdem möchte sie für einen nationalen Klavierwettbewerb üben.
Doch ein unbekannter Anrufer reißt die talentierte Pianistin und Keyboarderin aus ihren Träumereien: Er habe Kiris große Schwester Sukey gekannt, die vor fünf Jahren ums Leben gekommen ist und über die seitdem nicht mehr gesprochen werden darf.

Kiri, deren Eltern von ihr nicht mehr wollen, als „keine Flecken auf dem Teppich und eine nette Telefonstimmen“, also dass das Kind höflich, unkompliziert und zurückhaltend ist, geht dem Anruf nach und findet heraus, dass Sukey, eine leidenschaftliche Malerin, nicht bei einem Autounfall gestorben ist, wie alle immer behaupten. Sie beginnt Fragen zu stellen, hinterfragt sich und ihre Familie. Und wird dabei immer wütender auf ihre Eltern, weil sie die widerspenstige, freigeistige Sukey nicht akzeptiert und unterstützt haben: „Wenn ihnen ihre Scheißteppiche nicht so wahnsinnig wichtig gewesen wären, wäre Sukey jetzt nicht tot.“

Die Autorin beschreibt die Veränderung der Ich-Erzählerin in prägnanten Sätzen und findet starke Bilder. „Ich stehe da und hasse“, sagt Kiri voller lähmender Wut nach einem frustrierenden Streit mit ihrem Bruder. Später klingt sie versöhnlich: „Vielleicht sollte man Menschen nicht danach beurteilen, was aus ihnen geworden ist, sondern danach, was sie trotz allem geblieben sind.“ Und fasst schließlich die Sprachlosigkeit der Familie nach dem Tod der Schwester und Tochter in der Erkenntnis zusammen: „Wir stehen unsicher an der Kreuzung von Liebe und Vermeidungsverhalten, wie ein paar Touristen, die sich verlaufen haben und nicht wissen, welche Straße nach Hause führt.“

Bunte Farbspritzer auf dem alten Teppich halten Kiris Erinnerung an Sukey lebendig, ein schönes, fast poetisches Leitmotiv, das sich wie ein vielfarbiger Faden durch die Geschichte zieht. Das Buchcover spiegelt diese Idee allerdings nur halbherzig als pseudopsychedelische Kleckserei wider, die am Anfang jedes Kapitels als graugetönter Abklatsch zitiert wird, eigentlich nett gedacht, jedoch schlecht gemacht.

Smith, die zuvor anonym über ihre Erfahrungen als Dauerpraktikantin in der Buch- und Medienbranche gebloggt hat, macht in ihrer furiosen, warmherzigen Geschichte vom Erwachsenwerden, von Liebe und Tod, Kreativität und psychischen Krisen sehr vieles sehr gut: Zum Beispiel lesen sich glückliche Knutschszenen überhaupt nicht albern, verunglückte Annäherungsversuche aber fühlen sich exakt so peinlich an, wie sie für ihre Heldin sind. Dies ist auch der feinfühligen und nie überdrehten Übersetzung von Jenny Merling zu verdanken.

Situationen, die in anderen Romanen gern zu dramatischen Höhe- und Wendepunkten hochstilisiert werden, fügt Smith realistisch und schlüssig in die Geschichte ein: Kiri wird nicht gleich vergewaltigt, als sie trotzig und zugedröhnt zu einem älteren Mann ins Auto steigt. Und nach einem nächtlichen Zusammenstoß mit einem PKW kommt der Teenager mit lädiertem Rad, zerrissenen Leggins, etlichen blauen Flecken und blutigen Schrammen davon, und erleidet nicht gleich eine Querschnittslähmung oder ein schweres Schädelhirntrauma. So ist das Leben nämlich in Wirklichkeit: Man kriegt vom Schicksal immer wieder eine gewischt, aber dass „danach nichts mehr ist wie zuvor“ kommt eher selten vor, kleine Wachrüttler sind dagegen häufiger. Und dann liegt es an einem selbst, was man daraus macht.

Apropos Fahrrad: Man merkt gleich zu Anfang, dass dieses Buch nicht in den USA spielt, wo das Fahren von Spritfressern scheinbar zu den Grundrechten gehört und jeder Jugendliche ab 16 einen Führerschein hat. Kiri fährt viel Fahrrad im kanadischen Vancouver (sogar ohne Helm) und ihr flottes Zweirad wirkt einige Male entscheidend und wegweisend.

Insgesamt gleicht Kiris Sommer und Hilary T. Smiths Roman einer nächtlichen Fahrradspritztour durch die Stadt, im eigenen Rhythmus, ohne dass Ampeln und Autoverkehr das Tempo bestimmen. Man fährt durch vermeintlich bekannte Gegenden und entdeckt nachts ganz neue Facetten. Mal gleitet man genießerisch dahin, mal legt man einen erfrischenden Sprint ein, mal droht man ins Schleudern zu geraten. Man spürt alles viel deutlicher, unmittelbarer: den Wind in den Haaren, die vom Asphalt abgestrahlte Wärme, die plötzliche Kälte nach einem Schauer, die nächtliche Stille. Ein Trip, bei dem man leicht neben sich zu stehen scheint und doch hellwach ist, „sowas von da“, wie einst Tino Hanekamp treffend sein in einer Silvesternacht spielendes Debüt betitelt hatte. Ein Trip, bei dem man immer weiter mitfahren will.

Elke von Berkholz

Hilary T. Smith: Hellwach, Übersetzung  Jenny Merling, FJB Fischer Verlag, 2015, 367 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

 

Kreuz & quer durch Prag

pragGeschichten, in denen die Orte eine der Hauptrollen spielen, faszinieren mich irgendwie. Ganz besonders, wenn ich die Städte kenne. Ansatzweise kenne ich Prag – und war daher gespannt, was es mit der City-Crime-Reihe von Andreas Schlüter auf sich hat.

Dieses Mal hat Joanna, Finns Schwester, Karten für ein Popkonzert ihrer Lieblingsband in Prag gewonnen. Die Familie reist für ein Wochenende nach Tschechien und finden sich schon bald in dem Touristentrubel der Karlsbrücke wieder. Hochzeitspaare, Puppenspieler, Menschenmassen, kein Durchkommen. Während Joanna von einem gutaussehenden Marionettenspieler fasziniert ist, bemerkt Finn ein Ehepaar, das nach einem Portmonee sucht. Dabei vergessen sie eine Tüte mit einer Marionette auf der Brücke. Nun kommt eins zum anderen: Die Mutter verknackst sich den Fuß und muss zum Arzt, Joanna will Zeit mit dem Puppenspieler verbringen und Finn will die Marionette zurückgeben. Noch eher sie bis drei zählen können, stecken die Geschwister in einer verwickelten Drogen-Entführungs-Erpressungsgeschichte.

Schlüter gelingt hier das Kunststück, Krimi und Reiseführer in eins zu gießen. Die Helden erkunden nämlich die Stadt und kommen auf der Jagd nach den Bösewichten an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei. Die Infos über Prag werden dabei wie selbstverständlich in den Plot eingearbeitet – für junge Prag-Reisende ist das eine sehr unterhaltsame und aufschlussreiche Art, sich über die Stadt zu informieren.
Auch die tschechische Sprache kommt nicht zu kurz. Originalsätze der Einheimischen geben einen klanglichen Eindruck, die Übersetzung des Tschechischen findet sich am Ende des Buches in einem kleinen Wortschatz, der das wichtigste Vokabular für den Kurztripp liefert.

Wer also mit seinen Kindern eine Städtereise nach Prag plant, sollte den Kids diese spannende Reiselektüre mit auf den Weg geben. Sie werden die Stadt mit ganz anderen Augen sehen.

Andreas Schlüter: City Crime – Puppentanz in Prag, Illustration: Daniel Napp, Tulipan, 2015, 192 Seiten, ab 10, 11,95 Euro

Poesie gegen Prostitution

angelLange hatte ich My Book of Life by Angel von Martine Leavitt gar nicht beachtet. Zu blass und süßlich kam mir das Cover vor. Den Klappentext und U4 hatte ich nicht gelesen. Das passiert. Bei mir stapelt sich so einiges an Lektüre, da brauche ich manchmal „aggressivere“ Reize. Oder ich brauche Nachhilfe durch andere Rezensionen oder Gespräche mit Menschen aus dem Verlag. Wie in diesem Fall.

Was sich hinter diesem Cover versteckt, hat mich dann ziemlich erstaunt: In einem inneren Monolog berichtet die 16-jährige Angel von ihrem Leben – in freier Gedichtform. Angel hat einen Faible für Schuhe und klaut in den Geschäften allerdings immer nur den einen, der im Regal steht. Eines Tages erwischt Call sie dabei und nutzt dieses Wissen aus. Er gibt Angel „Zückerchen“, eine nicht genauer benannte Droge, und schickt sie auf den Strich. Anfangs schafft es Angel nicht, sich von ihm zu lösen, Call ist der perfekte Loverboy und verspricht ihr ein bürgerliches Leben – später.
Dann verschwindet Angels Freundin Serena, die ebenfalls anschaffen muss. Unter den Sexarbeiterin geht das Gerücht um, dass ein Serienmörder es auf sie abgesehen hat. Die Polizei kümmert sich nicht.
Angel erwacht aus ihrer Lethargie erst, als Call die 10-jährige Melli mitbringt, die in Zukunft auch für ihn arbeiten soll. Trotz Calls Drohungen, Angels Bruder etwas anzutun, stellt sich Angel vor das kleinere Mädchen.

Das, was das Buch zu etwas Besonderem und gleichzeitig Bitterem macht, ist die Diskrepanz zwischen Inhalt und Form. In relativ kurzen Gedichten, ohne Reimform, verpackt Martine Leavitt entsetzlichen Inhalt. Der Missbrauch von Mädchen, das Geschäft der Zuhälter mit den Frauen, die Verachtung der Freier, die Gleichgültigkeit der Polizei, die Angst der Frauen, ihr Ekel und ihre Stärke offenbart sich zwischen diesen Zeilen, die so leicht und fluffig erscheinen. Die Gedichtform ist Angels Art, den Horror zu verarbeiten. Als Leser muss man manchmal ziemlich schlucken. Leichte Kost ist das auf jeden Fall nicht. Doch sie beeindruckt und bleibt im Gedächtnis und macht nachdenklich.

Leavitt, die hier ein lange nicht aufgeklärte Mordserie an Prostituierten aus Vancouver einarbeitet und so an die getöteten Frauen erinnert, gibt den ausgebeuteten und missbrauchten Frauen und Mädchen hier eine ganz feine, wichtige Stimme, die hoffentlich auch gehört wird.

Martine Leavitt: My Book of Life by AngelÜbersetzung: Clara Drechsler/Harald Hellmann, Thienemann Verlag, 2014, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

  

[Jugendrezension] Wertvolles Leben

deathSchluckt man die Pille, hat man nur noch eine Woche zu leben, doch dafür fühlt man sich in dieser kurzen Zeit so gut wie nie. Nach ziemlich genau einer Woche ist man allerdings wirklich tot. Davon handelt das Buch Death von Melvin Burgess.

Adam und seine Familie sind arm. Sein Vater ist arbeitsunfähig, und sein älterer Bruder Jess sorgt für die ganze Familie. Adams Zukunft kann man sich deshalb schon denken: Sie wird aus Arbeit bestehen.
Als er und seine Freundin Lizzie auf einem Konzert von Popstar Jimmy Earle sind, überschlagen sich die Ereignisse. Jimmy Earle stirbt vor den Augen der Zuschauer auf der Bühne, da er „Death“, die Todespille, geschluckt hat. „Death“ wird in den Straßen verteilt und viele Menschen schlucken es, da sie die beste Woche ihres Lebens haben wollen. Doch der Tribut ist der Tod, den trotzdem viele auf sich nehmen. Die Leute, die „Death“ geschluckt haben, werden „Deather“ genannt und schließen sich zu Gruppen zusammen, um die Regierung zu stürzen. Ihnen ist alles egal, da sie nichts zu verlieren haben.
Dann bekommen Adams Eltern die Nachricht, dass Jess tot ist; zudem glaubt Adam, dass seine Freundin Schluss gemacht hat. Er weiß nicht weiter und überlegt, ob er „Death“ schlucken soll …

Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt: Teil 1 „Death“, Teil 2 „Die Liste“ und Teil 3 „Revolution“. Schon das Cover wirkt mit der fast neongrünen Farbe bedrohlich. Mit der  „Death“-Kapsel darauf finde ich es total gelungen. Über den Seitenzahlen sieht man schwarze Totenschädel, und auch die Idee finde ich sehr gut.

Ich fand das Buch Death einfach nur fantastisch. Es war durchgehend spannend und ist für jeden, der Nervenkitzel mag, genau das Richtige. Außerdem mochte ich, dass das Buch auch etwas ausgesagt hat. Eine Stelle gefiel mir sehr gut: „Das Leben ist immer noch lebenswert. Es gibt so viel Wunderbares. Einen Job zu haben, der einem nicht gefällt – die meisten von uns müssen Dinge tun, die uns nicht gefallen, aber das Leben bleibt trotzdem ein Abenteuer.“
Ich denke, dass der Autor ausdrücken will, dass man seine Lebenszeit nicht vergeuden, sondern sinnvoll nutzen sollte. Man sollte sein Leben nicht einfach „wegschmeißen“, sondern er genießen.

Laura (15)

Melvin Burgess: Death, Übersetzung: Kai Kilian, Chicken House, Carlsen, 2014, 352 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

 

Durch Neapel mit Patrizia Rinaldi

rinaldiDieses hier ist keine Rezension im üblichen Sinne, denn das könnte ich bei Die blinde Kommissarin von Patrizia Rinaldi gar nicht leisten. Dies hier ist viel mehr ein Werkstattbericht und ein Dank an die Autorin – denn sie hat mir bei der Übersetzung dieser Geschichte auf eine ganz entzückende Art geholfen.

Der Fall, den Patrizia Rinaldi erzählt, spielt in Neapel. Der Schlagersänger Jerry Vialdi ist ermordet worden. Drei Ermittler – ein Kommissar, ein Inspektor und die erblindete Blanca – treffen auf eine ganze Reihe von Frauen, die alle dem Charme des Sängers erlegen waren und die alle durchaus ein Motiv haben. Blanca, die zwar seit einem Feuer in ihrer Kindheit nicht mehr sehen kann, zeichnet sich durch ihr feinfühliges Gespür für Stimmungen und Tonlagen aus. Doch hinter dem Tod Vialdis steckt mehr als pure Eifersucht …

rinaldi2Eine weitere Hauptrolle in Rinaldis Geschichte übernimmt die Stadt Neapel. Die Autorin ist dort geboren, lebt dort mit ihrer Familie und liebt diese Stadt über alles. Diese Liebe ist in all den Beschreibungen der Örtlichkeiten, an denen sich ihre Figuren bewegen, ganz deutlich zu spüren. Und diese Liebe machte mich neugierig auf eine Stadt, die ich noch nicht kannte. So bin ich im Zuge der Übersetzung nach Neapel gereist, um mir so viele der Lokalitäten wie möglich persönlich anzuschauen, die in dem Krimi wichtig sind. Da ich zudem einige Fragen an die Autorin zu ihrem Text hatte, der im Italienischen sehr schön klingt und funktioniert, im Deutschen jedoch manchmal unklar blieb, habe ich Patrizia Rinaldi kontaktiert. Und sie schließlich im vergangenen September getroffen.

rinaldi3Begegnungen mit Autoren sind ja grundsätzlich schon interessant, aber die zwei Tage, die ich mit Patrizia Rinaldi verbracht habe, waren extrem schön und aufschlussreich.
Mit dem Auto holte sie mich aus der Innenstadt ab und zeigte mir dann ihre Ecken Neapels, die man als Tourist nicht sofort aufsuchen würde: das Gelände der alten Stahlfabrik ILVA, die Ruine des Palazzo Donn’Anna, den Parco di Villa Avelino in Pozzuoli, Nisida aus der Ferne, den Coroglio. Wir spazierten über den Ponte Nord und genossen den Blick auf Meer und Inseln, wir erkundeten den noch blubbernden Vulkan La Solfatara – zusammen mit einem etwa 90-jährigen Führer, der zwar kaum noch stehen konnte, fast nichts mehr hörte, aber für „seinen“ Vulkan brannte und uns eindrucksvoll mit einer glimmenden Zeitung die Rauchentwicklung im Gestein vorführte. Es folgten ein Besuch beim Sibyllinischen Orakel und in der alten römischen Therme von Baiae mit dem unglaublichen Merkur-Tempel. Bei all dem erzählte Patrizia Rinaldi eine Geschichte, eine Anekdote nach der anderen – ich gebe zu, mir schwirrte der Kopf nach diesen Treffen –  die ich gar nicht alle auf einmal behalten konnten. Daneben haben wir dann beim Essen und manchmal direkt vor Ort meine Fragen zu ihrem Text geklärt, so dass ich jetzt hoffe, dass Die blinde Kommissarin genau die Liebe zu Neapel transportiert, die auch im Original vorhanden ist und mit der mich die Autorin so angesteckt hat, dass ich sicherlich in die Stadt am Golf zurückkehren werde.

Vorauf ich bei der Produktion der deutschen Ausgabe keinen Einfluss hatte, waren der Titel und das Cover des Buches. Mit beidem bin ich ein wenig unglücklich, denn manchmal kommt meine Pingeligkeit durch und dann muss ich einfach sagen, dass Blanca zwar blind, aber keine Kommissarin ist. So wird sie im ganzen Text nicht einmal genannt. Im Original ist sie „sovrintendente“, also Polizeihauptmeisterin, was unschreibbar für den italienischen Kontext ist. Also ist es bei Sovrintendente geblieben. Ein kurzes Glossar am Ende des Buches erklärt einige italienische Begriffe.
Das Bild auf dem Cover hat leider so absolut gar nichts mit Neapel zu tun. Mag der Titel den Verkauf vielleicht fördern, weil er knackig ist und mit Blancas Handikap „spielt“, kann ich die Motivwahl nicht recht verstehen. Dieser Krimi spielt in einer sehr faszinierenden Großstadt, von der es ebensolch faszinierenden Fotos gibt. Das Cover jedoch, das zwar ein eindrucksvolles Foto und sehr italienisch ist, hat damit jedoch so viel zu tun wie Brandenburg mit Hamburg. Nun ja, ich bin gespannt, ob sich das irgendwie niederschlagen wird.

In jedem Fall war für mich die Arbeit an diesem Buch etwas Besonderes und Unvergessliches, und dafür sage ich: Grazie mille, Patrizia!

Nachtrag am 10.5.14: Wie mir heute morgen über Facebook zugetragen wurde, gibt es für die italienische Originalausgabe des Buches – „Tre, numero imperfetto“ – auch einen Buchtrailer von Ciro Orlandini:

 

Patrizia Rinaldi: Die blinde Kommissarin, Übersetzung: Ulrike Schimming, Ullstein TB, 2014, 224 Seiten, 8,99 Euro

Das Ende einer Freundschaft

verdachtManche Bücher sind krass. Die möchte ich eigentlich gleich wieder weglegen. Und kann dann  doch nicht von ihnen lassen. Wie von Michael Northrops Roman Schieflage. Der ist krass, sowohl in Bezug auf die Story als auch krass in Bezug auf die Sprache.

Der 15-jährige Ich-Erzähler Micheal ist nicht gerade ein Glückskind. Das fängt schon mit dem falschgeschriebenen Namen an, den sein Vater kurz nach seiner Geburt verbockt hat. Später hat dieser Vater Mike so geschlagen, dass er ein schiefes Gesicht zurückbehalten hat. Und eine Leuchte in der Schule ist er auch nicht. In der Highschool steckt er in der 10F, einem Sammelbecken für die Loser seines Jahrgangs. Am liebsten hängt er mit seinen Kumpels Tommy, Mixer und Bones ab. Auch die drei stehen nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Als Tommy eines Tages von einem Lehrer wegen eines Sprachproblems gequält wird, rastet er aus und verschwindet.
Wenig später fängt der Englischlehrer Haberman im Unterricht mit den anderen Schülern das Buch Verbrechen und Strafe von Dostojewski an. Dazu bringt er eine Tonne mit, in dem irgendetwas steckt, was die Schüler erraten sollen. Er weckt den Verdacht von Mike, Mixer und Bones, als diese nach dem Unterricht die schwere Tonne zum Auto tragen sollen. Da Tommy nicht wieder auftaucht, nicht ans Handy geht und schließlich die Polizei nach ihm sucht, steigern sich die Jungs in die Vermutung hinein, der Lehrer hätte ihren Freund umgebracht und in die Tonne gestopft. Da sie mit niemanden über ihren Verdacht sprechen, kommt es schließlich zur Katastrophe.

Northrop zeichnet die Geschichte von einer Jungen-Clique, die nicht viel vom Leben zu erwarten hat. Mike hat keine Chance bei den Mädchen, Bones neigt zu Gewaltausbrüchen, Mixer klaut. Die Jungs trinken Alkohol, probieren Drogen aus, allerdings auch das ohne „Erfolg“. Und sie verweigern die Mitarbeit im Unterricht. Durch die Ich-Perspektive von Mike ist man direkt in seiner Denke und seiner Gefühlslage. Man leidet mit Mike mit, wenn er vergeblich versucht, Mädchen kennenzulernen, wenn er Bones beim Vögeln beobachtet, wenn er sich Sorgen um Tommy macht. Die Lektüre von Dostojewski stellt zusammen mit dem Unterrichtsexperiment von Haberman für ihn quasi einen Tritt in den Allerwertesten dar, der ihn aus seiner Lethargie holen soll. Zur Läuterung kommt es allerdings erst nach einem gewalttätigen Komplett-Absturz, aus dem Mike die Schlussfolgerung zieht, dass auch Freundschaften ein Verfallsdatum haben und nicht für immer halten.

Seine durchaus krassen Erlebnisse und Gedanken schildert Mike in einer ebenso krassen Jugendsprache. Die hat Übersetzer Ulrich Thiele mit viele Gespür für Umgangssprache mitreißend umgesetzt. Der „Vollpfosten“ gehört dabei eher noch zu den harmlosen Ausdrücken. Mike flucht, beleidigt, ist politisch nicht im geringsten korrekt – alles, was er doof findet, ist „schwul“. Das mag in einem Jugendbuch extrem klingen, passt aber perfekt zu Mike und seinem Leben am Rande der Gesellschaft. Es macht den Jungen authentisch und glaubwürdig, egal, ob man so einen Sprachgebrauch im Buch verwerflich findet. Hinter dieser Sprache jedoch entdeckt man einen Jungen, der natürlich genauso lern- und entwicklungsfähig ist wie alle anderen, die sich vermeintlich gewählter ausdrücken, und der sich im Laufe des Romans vom verunsicherten Teenager zu einem zwar verurteilten, aber sensibilisierten jungen Erwachsenen wandelt.

Schieflage ist ein Buch über Jungs für Jungs. Es bietet jede Menge Diskussionsstoff, wie man mit Verdächtigungen, Scheinbarem, Vermutungen und Vorurteilen umgehen sollte – und was für Konsequenz drohen, wenn die Lage eskaliert. So lösen sich Mikes Vorurteile Homosexuellen gegenüber schließlich auf, und man weiß, dass er das Wort „schwul“ nie wieder als Beleidigung benutzen wird. So zeigt Michael Northrop feinfühlig, dass ein Wandel möglich ist – wenn auch unter Schmerzen. Und das macht Hoffnung für alle Jugendlichen, die ähnlich wie Mike, Mixer und Bones meinen, nicht viel vom Leben erwarten zu dürfen.

PS: Ein schöner Nebeneffekt von Schieflage ist, dass man Lust auf Dostojewskis Verbrechen und Strafe bekommt…

Michael Northrop: Schieflage, Übersetzung: Ulrich Thiele, Loewe Verlag, 2013, 240 Seiten,  ab 13, 6,95 Euro