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[Jugendrezension] Von Gut und Böse

mörderEin Haus am Ende der Welt. Nur umgeben von Felsen und Klippen. Keiner kommt zufällig zu diesem abgelegenen Ort am südlichen Rand von Chile. Dort leben der Bauer Poloverdo, seine Frau und ihr Sohn Paolo. Das Leben hier ist grausam. Paolo wächst eher wie eine zähe Pflanze auf, denn als ein Mensch. Gefühle wie Liebe sind ihm fremd.

Genauso geht es dem Mörder Angel Alegría. Wieder einmal ist er auf der Flucht. Dann findet er das perfekte Versteck: ein Haus am Ende der Welt, umgeben nur von Felsen und Klippen. Das Einzige, was ihn stört, sind seine Bewohner. Ohne mit der Wimper zu zucken, schneidet Angel dem Mann und der Frau die Kehle durch. Doch plötzlich steht ein Kind vor ihm, verdreckt, unschuldig und furchtlos: Paolo. Da der Junge keine Gefahr für ihn darstellt, lässt Angel ihn leben.

Die Zeit vergeht, und langsam entwickelt sich eine Art Zuneigung zwischen dem Mörder und dem Kind. Angel spürt zum ersten Mal so etwas wie Verantwortung. Und Liebe. Ein Leben ohne Paolo kann er sich nicht mehr vorstellen.

Als der gebildete Luis auftaucht, kämpfen plötzlich zwei Männer um Paolos Zuneigung, und der Junge erlebt eine Art von Glück. Doch dieses Glück währt nicht ewig. Auch in einem Haus am Ende der Welt ist man nicht sicher vor der Vergangenheit.

Die beiden Hauptpersonen in dem Roman Der Mörder weinte von Anne-Laure Bondoux haben ein hartes Leben und sind vom Schicksal gestraft. Man freut sich mit ihnen, wenn sie zum ersten Mal Glück empfinden, doch man vermutet gleich, dass es nicht so weitergehen wird. Am liebsten würden die beiden ihr Glück packen und festhalten, doch es zerrinnt ihnen unter den Fingern.

Ich fand es faszinierend, wie sich eine Beziehung zwischen Angel und Paolo entwickelte und die beiden sich stetig veränderten. Anne-Laure Bondoux beschreibt es sensibel und mit viel Fingerspitzengefühl. Wunderschön, wie unter der rauen Schale Angels ein weicher Kern zum Vorschein kommt. Ein weicher, verletzbarer Kern, auf den schon der Titel hindeutet.

Am Beispiel von Angel sieht man, wie Menschen in die Kriminalität hineinrutschen, zu Mördern werden. Man fragt sich, was aus einem selbst würde, wenn man unter solchen Umständen aufwachsen müsste.

Natürlich ist es seltsam, dass ausgerechnet Angel, der Mörder von Paolos leiblichem Vaters, so etwas wie ein Vater für Paolo wird. Was aber weit hergeholt klingen mag, macht hier absolut Sinn. Angel tötet Paolos Eltern, aber er zieht Paolo auf und beschützt ihn, wahrscheinlich besser, als seine Eltern es je vermocht hätten. Vielleicht wäre Paolo sonst auch zu einem Mörder geworden. Die beiden retten sich gegenseitig in ihren trostlosen Schicksalen.

Welche Strafe hat Angel verdient? Ist er nur ein brutaler Mörder? Gut und Böse liegen für mich in dieser Geschichte sehr nah beieinander.

Juliane (15)

Anne-Laure Bondoux: Der Mörder weinte, Übersetzung: Maja von Vogel, Carlsen Verlag, 2014, 192 Seiten, ab 12, 14,90 Euro

Blutzoll an eine Stadt

BerlinIn diesem Herbst habe ich Berlin nach vier Jahren verlassen. Aus guten Gründen. Dennoch blutet mein Herz. Als Kur gegen Heimweh habe ich mich dieses Mal auf die Graphic Novel Berlinoir von Reinhard Kleist und Tobias Meissner gestürzt. Und wurde in ein kongeniales Spektakel hineingezogen.

Berlinoir wird von Vampiren beherrscht. Die Menschen liefern ihnen das Blut – freiwillig oder gezwungenermaßen. Es regt sich Widerstand, immer wieder werden wirtschaftliche und politische Stützen der Vampir-Gesellschaft von Menschen umgebracht. Die Menschen setzen ihre Hoffnung in den Vampirjäger Niall, der als kommender Anführer die Stadt von der Unterdrückung durch die Untoten befreien könnte. Doch Niall sieht sich nicht als Messias, viel mehr ist er von den Vampiren angewidert, gleichzeitig aber auch angezogen. Er verliebt sich in eine Vampirfrau.
Wenig später treibt dann auch noch ein Mörder sein Unwesen in der Megacity, der eigentlich auch nur ein Vampir sein kann. Um die Vampire zu besiegen bleibt Niall schließlich nur ein Weg – er muss selbst zum Vampir werden …

Die Geschichte von Berlinoir ist durchaus komplexer, als ich sie hier kurz anreiße. Doch den verzwickten Plot muss jeder Leser selbst erkunden. Das, was mich vielmehr fasziniert und letztendlich amüsiert hat, sind die nonchalanten Seitenhiebe auf Berlin-Hype und Gewurschtele in der Stadt. Da wird im Blutroten Rathaus in der Kabinetts-Versammlung über die drei Opern und zwei Tierparks der Stadt geschimpft, die Mahnmalkultur aufs Korn genommen und mit „ruhiger Hand“ regiert. Eingebettet wird diese Politik, die nicht einfach auf irgendeine real-existierende Partei zu übertragen ist, in ein überschäumendes Berlinoir, das die wilden, expressionistischen 20er-Jahre wieder aufleben lässt.
Die Stadtarchitektur gleicht einer Mischung aus Metropolis und Gotham City. Fernsehturm, Dom, Potsdamer Platz verschwinden zwischen Hochhäusern, die man eher in New York erwartet. Auf jeder Seite entdeckt man Berliner Sehenswürdigkeiten, meist gut versteckt, oftmals dem Verfall anheim gegeben. Das Leben findet hauptsächlich nachts statt, da das Sonnenlicht bekanntermaßen eine Bedrohung für Vampire darstellt. Fledermäusen sind so zahlreich wie Ratten. Verschiedene Glaubensgruppen agieren in der Stadt. Und selbst unter den Vampiren gibt es Grabenkämpfe, die zu einer Teilung der Stadt in einen Nord- und einen Südsektor führen.
Die Anspielungen an die Stadtgeschichte von Real-Berlin sind offensichtlich, machen in ihrer überraschenden Art aber immer wieder Laune, da man beständig nach einer Einordnung oder einem Wiedererkennungseffekt sucht. Wahrscheinlich lässt sich das nicht eindeutig machen – jedenfalls ist es mir bei dieser ersten Lektürerunde nicht gleich gelungen und ich habe mit Sicherheit noch eine ganze Menge übersehen. Das macht aber erstmal gar nichts, denn so bleibt für die nächsten Male ein riesiges Potential an Neuentdeckungen und -interpretationen.

Kleists Panels wechseln von kalt-blau-dunkeln Farben zu warm-rot-orange, spiegeln so die tote Welt der Vampire und die noch blutgefüllte der Menschen. Die Figuren, die Kleist in ihnen agieren lässt, gleich denen von George Grosz, erinnern an Nosferatu von Murnau – und sind streckenweise nichts für schwache Nerven. Verbranntes Fleisch auf Schädelknochen, spritzendes Blut, rollende Köpfe und Tod reihen sich in einem fiebrigen Tanz um die Macht aneinander. Eine Stadt sucht einen Mörder. Ein Schreckensregime löst das nächst ab. Die Interpretationsebenen in dieser Graphic Novel sind so zahlreich, dass man das schon eher im wissenschaftlichen Rahmen genauer untersuchen müsste. Für den Normalleser ist auf jeden Fall eine Wonne. Das können einem die fiesen Blutsauger von Berlinoir auf gar keinen Fall vermiesen.

Der Narbenstadt Berlin, die „moderat tribalistischen Provinznachwuchs“ mit „den Ausschweifungen der Großstadtnächte“ anzieht, haben Kleist und Meissner ein düsteres, aber überaus hintersinniges Denkmal gesetzt.

Reinhard Kleist/Tobias O. Meissner: Berlinoir, Carlsen, 2013, 150 Seiten, 24,90 Euro