Erinnere.

leysonGestern wurde auf allen Kanälen erinnert, an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren durch die Rote Armee.
Ich habe den ganzen Tag gegrübelt, wie ich mich diesem Chor anschließen könnte – und war schließlich etwas überfordert. Die vielen Bilder von damals lassen mich nicht so richtig los. Es ist schwierig und doch so wichtig, immer wieder zu erinnern. Gerade in diesen Tagen, an denen in dieser Welt schon wieder – oder immer noch – unglaublich viel Hass auf Menschen mit anderem Glauben geschürt wird.

Dann stellte sich mir im Laufe des Tages auch noch die Frage, wie man Jugendlichen das Grauen des Holocaust begreifbar machen kann, wenn es selbst die Erwachsenen schon überfordert. Auch das ist alles andere als leicht. Eine Möglichkeit, junge Leser mit dem Thema in Kontakt zu bringen, ist der Zeitzeugenbericht von Leon Leyson.

Leyson, polnischer Jude, Jahrgang 1929, war nicht in Auschwitz, hat aber die Judenverfolgung in allen fürchterlichen Details miterlebt und ebenso gelitten. Denn seine Familie wurde in Krakau zuerst aus der Wohnung vertrieben, ins Ghetto umgesiedelt, dann ins Lager Plaszów gebracht und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Immer mehr Juden verschwanden, der sadistische Lagerkommandant Amon Göth tötete willkürlich, Leysons Bruder Tsalig wurde verschleppt und vermutlich erschossen. Leyson selbst durfte da schon lange nicht mehr zur Schule gehen, sondern musste ebenfalls arbeiten.
Glück hatte Leyson, weil seinem Vater gelang, in der Emaillefabrik von Oskar Schindler Arbeit zu finden. Er konnte die Familie in das fabrikeigene Lager nachholen. Leyson musste als Zwölfjähriger Nachtschichten in der Fabrik schieben – und dabei auf einer Holzkiste stehen, um die Maschinen zu bedienen, weil er so klein war. Ausreichend Nahrung gab es nicht. Hunger, Entbehrung, Angst beherrschten das Leben.
Dennoch spürte Leyson, dass Schindler anders war als die „normalen“ Nazis. Die berühmte Liste, die Schindler zusammenstellen ließ, rettete Leyson und seiner restlichen Familie zusammen mit 1200 anderen das Leben.

Leyson, der nach Ende des Krieges nach Los Angeles zu Verwandten zog, hat wie viele Überlebende spät angefangen, von seinen Erlebnissen zu erzählen. So hat er dieses Buch erst vor wenigen Jahren geschrieben, die Veröffentlichung dann jedoch nicht mehr miterlebt.
Sein Bericht ist so lebendig und mitreißend erzählt, dass man von dem Buch nicht mehr lassen kann. Als Erwachsener zieht man rasch Vergleiche mit dem Film von Steven Spielberg, merkt jedoch genauso schnell, dass das nichts bringt. Denn hier erzählt eines der Opfer aus seiner ganz persönlichen Sicht. Leyson tut dies bei all dem Schrecklichen jedoch ohne Groll, dafür mit Respekt vor Oskar Schindler, ohne diese widersprüchliche Person komplett zu verherrlichen.

Gaskammern und Leichenberge kommen in Leysons Bericht nicht vor, doch sind seine Erlebnisse schon grauenhaft genug, um für die Verbrechen der Nazis zu sensibilisieren. Junge Leser sollten die Eltern dennoch noch nicht mit dieser Lektüre allein lassen, sondern mit ihnen gemeinsam das Gelesene einordnen und so eine Erinnerungskultur aufbauen. Denn diese Schrecken zu vergessen steht uns nicht zu und dürfen wir uns, vor allem im Angesicht von herrschendem Hass und grassierender Dummheit, nicht erlauben.

Leon Leyson: Der Junge auf der Holzkiste. Wie Schindlers Liste mein Leben rettete, Übersetzung: Mirjam Pressler, Fischer, 2015, 224 Seiten, ab 12, 8,99 Euro

Erblast

generationAuschwitz im Comic – seit Art Spiegelmans Maus wissen wir, dass das möglich und auch eine angebrachte Art ist, über den Holocaust zu erzählen. Nun hat sich ein weiterer Comic-Künstler diesem Thema gewidmet, der Israeli Michel Kichka.

In Zweite Generation erzählt er autobiografisch davon, wie das Schicksal seines Vaters, das Leben in der Familie und seine eigene Entwicklung beeinflusst hat.
Kichkas Vater wurde mit 19 Jahren in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt, überstand den Todesmarsch und erlebte später in Buchenwald den Tod des eigenen Vaters. Jahre später fährt er als Zeitzeuge mit Schulklassen immer wieder nach Auschwitz, erzählt von seinen Leiden und beantwortet die Fragen der Jugendlichen. Nur die Fragen des eigenen Sohnes bleiben seltsam ungehört und unbeantwortet. Und so stellt Kichka die eigene kindliche Verwunderung über die vermeintlichen Schrullen des Vaters dar, sein ständiges Genörgel, die Abwertung des Leidens anderer. Der junge Kichka liest alles über die Nazi-Zeit und die Lager, sucht auf den Fotos in Büchern und Zeitschriften nach seinem Vater (den er aber nicht findet).
Alles im Leben von Kichka scheint wie eine Wiedergutmachung für das Leid des Vaters zu sein. Alles im Leben der Familie scheint im übermächtigen Schatten des Holocaust zu stehen. Und doch macht sich Kichka in gewisser Weise frei davon, gründet seine eigene Familie, wird Karikaturist. Sein Bruder Charly kommt mit diesem Erbe jedoch nicht zurecht und bringt sich eines Tages um.

Das, was die Psychologie seit einigen Jahren immer weiter erforscht, illustriert Kichka hier sehr eindrucksvoll: Die Erlebnisse und Traumata der Eltern hinterlassen ihre Spuren auch in der nächsten Generation. Die Trauer über das erlittene Leid findet sich auch in den Kindern. Ist die Loslösung von den Eltern schon im Normalfall nicht immer ganz einfach, so ist es bei den Kindern von Holocaust-Opfern noch einmal schwieriger, können sie sich doch durchaus schuldig fühlen, nicht so gelitten zu haben wie Vater oder Mutter. Genau diesen Zwiespalt zeigt Kichka ins klaren Schwarzweiß-Panels.
Sein Strich ist typisch für Karikaturen – und so fehlt selbst hier ein gewisser Witz nicht, sei es in Form von Selbstironie oder Galgenhumor. Manchmal lacht man laut auf, hält inne und fragt sich sofort, ob man das in diesem Fall, bei diesem Thema darf. Doch dass man das in gewissen Fällen tatsächlich darf, hat der italienische Filmemacher Roberto Benigni mit Das Leben ist schön vor einigen Jahren bewiesen.

Kichka löst sich vom Schicksal seines Vaters auf die nachhaltigste aller Arten, indem er die Beziehung zu seinem Vater in diesem eindrücklichen und rührenden Comic verarbeitet und den Leser an all seinem Unbehagen, seinen Zweifeln, seiner Wut und Ablehnung und auch an seiner Trauer teilhaben lässt. So würdigt er nicht nur die Opfer von Auschwitz, sondern gibt auch der nachfolgenden Generation und deren Leid eine Stimme.

Michel Kichka: Zweite Generation. Was ich meinem Vater nie gesagt habe. Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Egmont Graphic Novel, 2014, 108 Seiten, 19,99 Euro

Art Spiegelman packt aus…

metamaus art spiegelmanLange ist es her, dass ich den Comic Maus  von Art Spiegelman in den Händen hatte. Doch jetzt musste ich die beiden Bände (ich habe noch die „Originalausgaben“ aus den 90er Jahren) aus dem Regal ziehen und mich erneut in diese schreckliche Geschichte versenken. Wieder war ich gebannt und erschüttert, genau wie vor 20 Jahren, als ich zum ersten Mal von den Erlebnissen von Spiegelmans Eltern in Auschwitz  gelesen habe. Auslöser für die Neulektüre ist das Buch MetaMaus, ebenfalls von Spiegelman, das jüngst auf Deutsch (in der Übersetzung von Andreas Heckmann) erschienen ist.

Hierin gibt Spiegelman Einblicke in die Entstehung von Maus und seine Arbeitsweise, denn mittlerweile hat er es wohl satt, die immergleichen Fragen zu seinem Opus Magnum zu beantworten. Daher hat er Hillary Chute, Professorin an der Universität von Chicago, in langen Gesprächen die die drei wichtigsten Fragen beantwortet: Warum der Holocaust? Warum Mäuse? Warum Comics?

Spiegelman holt dafür ausführlichst aus – man wird dabei ständig auf die Parallele zu den Gesprächen mit seinem Vater Wladek gestoßen, die er für Maus geführt hat. Zugleich hat er sein Archiv mit Familienfotos, ersten Maus-Skizzen, Entwürfen, Bildern, Büchern und Zeichnungen geöffnet, die ihn selbst bei seiner Arbeit inspirierten. So hat man mit MetaMaus nun beides vor sich: ein Bilderbuch, zum Blättern und Schauen, mit z.T. in Deutschland unveröffentlichten Comic-Strips von Spiegelman, und eine Dokumentation, wie Maus in 13 Jahren Arbeit aus einer kleinen dreiseitigen Urfassung zu einem der wichtigsten Bücher über die Judenverfolgung und den Holocaust geworden ist.

maus art spiegelmanDer Comiczeichner, der weiterhin von Maus als Comic spricht und sich nicht der Umetikettierung auf Graphic Novel anschließt, ja diese Begrifflichkeit eher verabscheut, berichtet von seinem Hadern, nicht nur mit dem Vater, sondern viel mehr auch mit den zeitgeschichtlichen Widrigkeiten der 70er- und 80er-Jahre, als die Aufarbeitung des Holocaust noch keine Selbstverständlichkeit war. Er fürchtete sich vor der Banalisierung des eigentlich Unaussprechlichen und vor der Verkitschung des Genozids. Dass er diesen Fallstricken gekonnt ausgewichen ist, erkennt man nun beim dem wissenden Neu-Lesen noch deutlicher.

Aber MetaMaus ist mehr als ein Werkstattbericht. Es ist eine Hommage an die amerikanische Comic-Geschichte, in der Spiegelman Krazy Kat, Little Nemo und Disneys Kreaturen seine Aufwartung macht. Zudem zeigt sich im Laufe von Spiegelmans Berichten und Erklärungen, dass sich ein Werk irgendwann von seinem Schöpfer emanzipiert und Deutung anderer Leser und Kritiker zulässt und sogar bestätigt. Hat Scott McCloud 1993 mit Comics richtig lesen die formale Entstehung eines Comics genauesten erklärt und analysiert, so entwickelt Art Spiegelman hier quasi ein Lehrbuch, wie man einen Comic inhaltlich erarbeitet und daraus formale Entscheidungen fällt.

MetaMaus liegt eine DVD, die neben der digitalisierten Form von Maus mit weiterem umfangreichen Material ausgestattet ist. Beeindruckend sind die englischen Tonbandaufnahmen von Spiegelmans Gesprächen mit seinem Vater (im Buch sind die übersetzten Transkripte abgedruckt). Wladeks Stimme bringt dem Hörer sein Schicksal und die Schrecken des Holocaust ganz nah. Man ist geschockt und berührt: Geschockt von dem Horror, den Spiegelmans Eltern überlebt haben; berührt von Art Spiegelmans Leistung, sich über lange Jahre mit seinem Vater so intensiv auseinandergesetzt zu haben. Man fragt sich, was heldenhafter war – seinen Vater auszufragen, zum Reden zu bringen, sich seine Geschichte in aller Ausführlichkeit anzuhören – oder die anschließende Auseinander- und Umsetzung in zutiefst bewegende Bilder. Eins ist ohne das andere nicht denkbar, so wie ab jetzt Maus ohne MetaMaus nicht mehr lesbar ist.

Mit MetaMaus hat Art Spiegelman ein Grundlagenwerk geschaffen – und das nicht nur für die Comic-Forschung, sondern auch für den Umgang mit dem Holocaust und seine Aufarbeitung. Ein Muss also nicht nur für Maus-Fans …

Art Spiegelman: MetaMaus. Einblicke in Maus, ein moderner Klassiker. Übersetzung: Andreas Heckmann, Fischer Verlag, 2012, 298 Seiten mit DVD, 34,00 Euro

Art Spiegelman: Die vollständige Maus. Die Geschichte eines Überlebenden. Mein Vater kotzt Geschichte aus; Und hier begann mein Unglück. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 1992, Fischer Verlag, 2010, 293 Seiten, 14,95 Euro