Über Ulrike Schimming

Ulrike Schimming übersetzt Literatur – von Kinder- und Jugendbüchern bis zu Graphic Novels und Comics – aus dem Italienischen und Englischen und arbeitet als freie Lektorin. Dieses E-Magazin entstand aus ihrer Arbeit für die Jugendzeitschrift stern Yuno. Hier stellt sie Neuerscheinungen oder Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur vor, Graphic Novels oder Buch-Perlen, denen sie ein paar mehr Leser wünscht. Weitere Infos zu Ulrike Schimming finden Sie unter www.letterata.de

Ein besonderes Kind

downBaby…glück, diese beiden Worte werden oft in einem Atemzug genannt. Doch für Fabien wandelt sich die Freude auf die zweite Tochter zunächst in ein großes Unglück.

In seiner autobiografischen Graphic Novel Dich hätte ich mir anders vorgestellt …, aus dem Französischen feinfühlig übersetzt von Annika Wisniewski, schildert Fabien Toulmé die Schwangerschaft seiner Frau. Der junge Vater wird von der Angst gepeinigt, dass seine Tochter den Gendefekt Trisomie 21 haben könnte. Doch alle Untersuchungen sind unauffällig, keiner der Ärzte entdeckt etwas Ungewöhnliches. Umso größer ist der Schock für Fabien, als seine Tochter nach der Geburt so merkwürdig aussieht und die Ärzte einen schweren Herzfehler feststellen. Seine Befürchtungen werden wahr.

Mit klarem Strich und monochrom unterschiedlich eingefärbten Kapiteln schildert Toulmé seine wechselnden Gefühlslagen. Auch ohne selbst Mutter zu sein, dafür aber als leidenschaftliche Tante, kann ich seine Befürchtungen, seine anfängliche Ablehnung, seine Enttäuschung, seine Zukunftsangst sehr gut nachvollziehen. Unsere Gesellschaft geht nicht gerade liebe- und rücksichtsvoll mit Menschen um, die nicht den angeblichen Normen entsprechen. Anderssein belastet nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Angehörigen, die ihr Leben neu regeln müssen und sich Unverständnis, ungerechtfertigten Schuldzuweisungen und Ablehnung gegenüber sehen.
Toulmé zeigt die ganze Bandbreite dessen, was Eltern von Down-Kindern erleben: unfähige Ärzte, gleichgültiges Pflegepersonal, den Marathon an Untersuchungen, die Herz-OP, die paramedizinische Betreuung. Das ist durchaus nicht leicht, doch die kleine Julia erobert mehr und mehr das Herz von Fabien. Auch merkt er durch Gespräche mit anderen Eltern von Down-Kindern, dass das Leben nicht zu Ende ist, sondern ihm da ein ganz besonderes Kind anvertraut wurde. Seine Liebe zu Julia wird offensichtlich, als die schwierige Herz-OP ansteht und er zusammen mit seiner Frau um dieses Kind bangt.

Diese Graphic Novel, die so schonungslos die Ängste von Eltern wiedergibt und die Schwächen des Medizinbetriebs aufzeigt, macht dabei so viel Mut und Hoffnung, dass einem das Herz aufgeht. Das Leben ist eben nicht bis ins Letzte planbar, was wir in unserer durchorganisierten Zeit oftmals vergessen. Aber trotz aller Wendungen ist es oftmals wunderschön, selbst mit einem zusätzlichen Gen.

Fabien Toulmé: Dich hatte ich mir anders vorgestellt … Übersetzung: Annika Wisniewski, avant-verlag, 2015, 248 Seiten, 24,95 Euro

Der hellsichtige Meister

terzaniVor Jahren, als ich noch ziemlich neu im Übersetzer-Geschäft war, schlug mir meine italienische Freundin M. vor, doch die Bücher von Tiziano Terzani zu übersetzen. Ich hatte keine Ahnung, wer der Mann war, stellte aber ganz schnell fest, dass seine Bücher bereits alle übersetzt waren. Terzani verschwand wieder aus meinem Bewusstsein, hatte ich doch anderes zu tun – und diese Journalistengröße Terzani war damals eh eine Nummer zu groß für mich.
Aber wie es im Leben so ist, man begegnet sich irgendwie doch immer zweimal, und so bekam ich in diesem Sommer die Anfrage, ob ich die Tagebücher von Tiziano Terzani lektorieren könnte.

Trotz der sportlichen Vorgabe mehr als 700 Manuskriptseiten in zwei Monaten zu bearbeiten, habe ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen. Und einen so intensiven Sommer der gedanklichen Reise in Raum und Zeit erlebt, wie noch nie zuvor.

Terzanis Aufzeichnungen setzen 1981 ein, als er gerade für den SPIEGEL ein Büro in Peking eröffnet hat. Auf diesen Seiten offenbart er seine Betrachtungen, die nicht in seine bereits veröffentlichten Büchern eingeflossen sind. Kürzere und längere Einträge wechseln sich ab, nicht jeden Tag schreibt TT – wie er später die Briefe an seine Frau Angela signiert –, doch als Leser taucht man fast augenblicklich in seinen Kosmos und seine Zeit ein. Man erlebt seine Ausweisung aus China, sein Unbehagen in Japan, seine Kritik an Konsum und Anpassung, sein unermüdliches Streben im Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Mehr und mehr hadert Terzani jedoch mit der Welt, dem raschen Wandel, der Globalisierung, der Gleichgültigkeit. Er möchte sich zurückziehen, als Namenloser irgendwo unerkannt leben. Immer wieder jedoch schimmert der eitle Journalist durch, der sein Business genau kennt, nach Aufmerksamkeit heischt und gleichzeitig abgestoßen ist von der Oberflächlichkeit dieser Medienwelt.

Terzani ist ständig unterwegs. Hongkong, Bangkok, Ban Phe in Thailand, dazwischen immer wieder nach Hause, nach Florenz und Orsigna zur Familie, dann schnell wieder zurück nach Asien, nach Islamabad, Neu Dehli oder Dharamsala. Er schreibt, er hadert und zieht sich in den Himalaja zurück, meditiert, versucht, dem weltlichen Leben zu entsagen, nicht immer mit Erfolg. Die Ereignisse vom September 2001 holen ihn vom Berg zurück. Obwohl er da schon an Krebs erkrankt ist, wirft er sich noch mal mitten ins Weltgeschehen, beobachtet die Vorgänge in Pakistan. Unzählige Geschichten erzählt er, sehr persönlich, sehr offen. Jede Zeile zeugt von seiner unbändigen Lebenslust und Lebenssucht. Terzanis Aufzeichnungen enden im April 2003, im Juli 2004 erliegt er seinem Leiden. Für alle Kenner von Terzanis Werken sind diese Tagebücher quasi der Blick hinter die Kulissen, der Blick auf den Journalisten Terzani, den Ehemann, den Vater, den Reisenden, den Krebspatienten, den Weisen, den Namenlosen.

Ich hatte vor diesem Auftrag noch nie viel mit Tagebüchern zu tun gehabt oder viele gelesen. Doch hier hat sich mir die ganze Faszination dieses Genres erschlossen. Das ist mehreren Faktoren zu verdanken: der schillernden Persönlichkeit von Terzani, seinem extrem umtriebigem Leben, seiner klaren Sprache, seiner kurzweilige Erzählart, seiner Widersprüchlichkeit, aber auch seiner Hellsichtigkeit, mit der er gesellschaftliche Zustände vorausgesehen und beurteilt hat, mit denen wir heutzutage kämpfen. Seine Sicht auf unseren heutigen Irrsinn hätte mich brennend interessiert. Ein wenig ahnt man, was er davon gehalten hätte. Ich habe es während des Lektorierens bedauert, seine Reportagen nicht schon zu seinen Lebzeiten gelesen zu haben, und habe mir vorgenommen, die Lektüre seiner anderen Bücher, so schnell es geht, nachzuholen.

Auch die Arbeit an diesem Text an sich war auf den unterschiedlichsten Ebenen ein Vergnügen. Zur inhaltlichen Bereicherung kam die vorzügliche Übersetzung von Barbara Kleiner, die mir das Lektorieren sehr erleichtert hat. Eine wertvolle Erfahrung war für mich darüber hinaus, dass ich auch den Auftrag hatte, den Anmerkungsapparat für die deutschen Leser anzupassen. Da ich dabei  quasi freie Hand hatte, konnte ich für die Anmerkungen etliche Punkte neu recherchieren und erweitern und so noch ein Quentchen mehr zu dem Buch beitragen.

Wenn mich TT jetzt also vom Buchcover mit diesem irgendwie verschmitzt-weisen und selbstbewussten Blick anschaut, freue ich mich noch einmal extra, dass ich diesen Sommer auf eine ganz eigene Weise mit dem Mann verbracht habe, den mir vor so vielen Jahren M. aus Florenz ans Herz gelegt hat.

Tiziano Terzani: Spiel mit dem Schicksal. Tagebücher eines außergewöhnlichen Lebens, Übersetzung: Barbara Kleiner, DVA, 2015, 576 Seiten, 22,99 Euro

Wortkreative Langeweile

bärDas Buch Die Große Wörterfabrik erschien, bevor ich diesen Blog auf die Beine gestellt habe – folglich ist das Werkvon Agnès de Lestrade mit den Illustrationen von Valeria Docampo an mir vorbeigegangen.
Doch nun haben die beiden einen würdigen Nachfolger herausgebracht: Der Bär und das Wörterglitzern, erneut feinfühlig übersetzt von Anna Taube.

Durch dieses quadratische Bilderbuch begleitet der Betrachter einen melancholischen blauen Bären, der nichts, aber auch gar nichts mit Käpt’n Blaubär gemein hat. Hingestreckt liegt er in seinem wackligen Bettgestell, hängt über zerbrechlichen Stühlen, verkriecht sich unter einem Buchzelt. Er erzählt keine zusammenhängende Geschichte, sondern liefert hellsichtige Gedanken über Langeweile, Stille, Tränen, Einsamkeit und den Rand des Winters.
Aus all seinen Überlegungen entstehen neue Wortkombinationen wie „traumschweben“ oder „eiszapfenglitzern“.
Dafür möchte man den blauen Bären knuddeln, ihn in den Arm nehmen, trösten und ihm danken. Denn er schenkt dem Leser die Einsichten, dass Langeweile, Stille und Kummer zum Leben dazu gehören und manchmal ganz wunderbare Dinge dabei herauskommen, wenn man sich diesen Zuständen stellt, sie aushält und nicht gleich wieder auf anderen Kanälen und Geräten wegdrückt. Wir sollten also auf jeden Fall mehr abhängen, mehr grübeln, mehr den Mund halten.

Denn nur dann sehen wir auf einmal den anderen ganz deutlich, spüren die Schmetterlinge im Bauch und wagen das Randspringen in eine unbekannte Welt mit warmen Farben und einer sanft schaukelnden Hängematte. Es kann nur gut sein. So wie dieses Buch.

Agnès de Lestrade: Der Bär und das Wörterglitzern, Übersetzung: Anna Taube, Illustration: Valeria Docampo, mixtvision, 2015, 40 S.  ab 3, 14,90 Euro

P.S.: Wenn ich dann genug abgehangen habe, greife ich doch auch mal zu meinem Tablet. Dort habe ich mittlerweile Die Große Wörterfabrik als App installiert. Seitdem sehe ich nun in jedem Wort ein kleines, wertvolles Juwel, das gehegt werden sollte. Und auch das ist ganz wundervoll.

Memento mori

nostalgiaManchmal erreichen mich Bücher, die eigentlich für meine Buch- und Medienseite in der Zeitschrift stern Gesund Leben gedacht sein sollen. Doch obwohl ich dort mittlerweile relative Freiheiten genieße, achte ich schon darauf, dass die Bücher auf der Seite immer etwas mit Gesundheit, Sport und Ernährung zu tun haben. Im weitesten Sinne. Bei dem opulenten Fotoband Nostalgia von Sven Fennema gelingt es mir leider nicht so gut, einen Bogen zum gesunden Leben zu schlagen.

Dennoch geht mir bei diesem Konvolut das Herz auf, so dass ich hier nach langer Zeit mal wieder eine thematische Exkursion unternehmen muss. Ich bitte um Verständnis …
Architekturfotograf Fennema, aus dessen „Dunkelkammer“ diese Lichtbilder stammen, hat einen Faible für verlassene, vergessene Ort. Für diesen Band hat er im Norden Italiens Ruinen abgelichtet. Allerdings nicht die klassischen Ruinen der Antike, sondern Villen, Palazzi, Klöster, Kirchen, Krankenhäuser, Psychiatrien, Industriegebäude, aus denen das Leben gewichen ist und die in einen Dornröschenschlaf gefallen sind.

Vor allem das Innenleben der düsteren Gebäude, in denen der Putz von den Wänden bröselt, die Dächer bereits eingestürzt sind, altes Mobiliar verstaubt, macht Fennema durch sehr lange Belichtungszeiten und raffinierte Montage von unterschiedlichen Aufnahmen in hyperrealistischen Bildern wieder sichtbar. Farben erstrahlen wie frisch aufgetragen, Fresken und Stuckaturen tauchen aus dem Dunkel auf. Treppen führen ins Nichts, Pflanzen erobern sich die leeren Räume zurück.

Man staunt über die Pracht, die dort dem Verfall anheim gegeben ist. Man ahnt das Leben, das einst in diesen Wänden pulsierte. Man möchte es wiedererwecken, möchte sofort Hand anlegen, Pinsel schwingen, restauratorisch tätig werden, die Villen wieder hübsch machen, den Kirchen ihren Glanz zurückzugeben. Man wird nostalgisch, sehnsüchtig. Mir tut es in der Seele weh, dass vieles davon nicht zu retten ist.
Bei Psychiatrie und Krankenhaus gruselt es einen, ob der Zustände in denen früher „geheilt“ wurde. Die Industrieanlagen zeigen mit voller Wucht die unmenschlichen Arbeitsbedingungen von einst. Dann ist es wieder gut zu sehen und zu ertragen, dass nichts für die Ewigkeit gemacht ist, und Vergänglichkeit zu unserem Leben dazu gehört.

So beeindruckend und fesselnd die Fotografien sind, so gibt es für mich einen Wermutstropfen: die Bildunterschriften. Fennema hat zwar ganz bewusst auf die genaue Lokalisierung der Örtlichkeiten verzichtet, um keinen „Ruinen“-Tourismus zu provozieren. Da seit ein paar Jahren auch in unseren Landen Fotosafaris zu verlassenen Orten sehr beliebt sind – ich denke da an die Beelitzer Heilstätten – kann ich diese Entscheidung sehr gut verstehen. Aber ein paar mehr Infos und nicht nur im Bild offensichtliche Angaben hätte ich mir schon gewünscht. Dafür sind die abgebildeten Gebäude einfach viel zu interessant, um auf Plattitüden wie „In dem faszinierenden Palast schreitet der Verfall voran“ reduziert zu werden.
Zwischen den verschiedenen Gebäudearten gibt es zwar Texte von der Autorin Petra Reski, die normalerweise sehr schätze, doch tragen auch die nicht besonders viel Erhellendes zu den abgebildeten Objekten bei. Mir sind die Texte teilweise zu assoziativ und zu wenig mit den Fotografien verbunden. Fennemas Motive verleiten mit Sicherheit zum Assoziieren, zum Sich-Geschichten-Ausdenken und Träumen, aber das kann jeder Betrachter selbst.

Ich werde jetzt einfach in den Bildern schwelgen, meiner Fantasie freien Lauf lassen und eventuell bei meiner nächsten Italien-Reise nach solchen Perlen Ausschau halten und den vergangenen Zeiten nachhängen.

Sven Fennema: NostalgiaOrte einer verlorenen Zeit, mit Texten von Petra Reski, Frederking & Thaler, 2015, 320 Seiten, 98 Euro

Leuchtende Traumwelten

träumeDie Novembernächte gehören bekanntlich zu den ungemütlichsten und düstersten, sind sie doch nach dem langen Sommer und dem strahlenden Herbst echt gewöhnungsbedürftig. Vielleicht wird auch deshalb erst einmal Halloween gefeiert, damit das Unbehagen vor diesen Nächten gar nicht erst aufkommen kann.

Die argentinische Autorin und Illustratorin Isol hat ihr ganz eigenes Rezept mit dunklen Nächten entspannt umzugehen: Man stelle ihr Umklappbuch Nachts leuchten alle Träume neben das Bett auf den Nachttisch, lasse vor dem Einschlafen, beim Lesen also, noch etwas Licht auf die Seiten fallen – und genieße dann später im Dunkel die fluoreszierende Magie, die sich entfaltet.

Zwölf Rezepte, also Bilder, hält Isol parat und entführt die Betrachter in Traumwelten. Da öffnen sich verbotene Türen, Meeresbewohner tauchen aus den Tiefen auf, Schmusekätzchen verwandeln sich, langweilige Bücher geben ihre Geheimnisse preis, verborgende Lebensräume werden sichtbar, aus dem Samenkorn erwächst etwas.
Und wer diese Leuchtgebilde auf sich wirken lässt, träumt womöglich etwas ganz Besonderes ins diesen Nächten.

Isols einfache Strichzeichnungen funktionieren auf zwei Ebenen. Tagsüber sieht man die klar umrissene Ausgangssituation und liest pro Seite einen Satz, der die Fantasie bzw. den Traum anregt. Nachts leuchtet dann – erstaunlich lange, wie ich feststellen konnte, als ich irgendwann mal zwischendrin wieder aufwachte – die fluoreszierende Beschichtung und offenbart ihre Geheimnisse. Und selbst, wenn der eine Satz auf der Seite etwas Gruseliges ankündigt, so sind die Auflösungen doch immer so liebenswert, dass kein Betrachter schlimme Alpträume befürchten muss.

Die Gefahr, dass man durch das Leuchten zu lange wach gehalten wird, kann ich nicht bestätigen. Es ist viel mehr ein sanftes Hinübergleiten in den wohltuenden Schlaf. Auf Kleine Schlafverweigerer könnten diese vergänglichen Bilder möglicherweise beruhigend wirken. Die kommenden Novembernächte werden für mich jedenfalls in diesem Jahr zu einem traumhaften Vergnügen.

Isol: Nachts leuchten alle Träume, Übersetzung: Karl Rühmann, Fischer Sauerländer, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 15,99 Euro

Der Chor der Mutmacher

levithanZwei Jungs, die sich küssen, regt das heute noch irgendjemanden auf? Man möchte meinen, nicht. Doch wenn die es in aller Öffentlichkeit tun und das über 32 Stunden, um einen neuen Rekord aufzustellen, dann ist das ein Ereignis, dass die Gemüter bewegt.

Von so einem real durchgeführten Ereignis, das ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen wurde, erzählt David Levithan in seinem Roman Two Boys Kissing, vorzüglich übersetzt von Martina Tichy.
Harry und Craig wollen ein Zeichen setzen, wollen andere schwule Jungs ermuntern, sich zu outen, zu ihrer sexuellen Neigung zu stehen, sich nicht zu verstecken. Dafür küssen sie sich vor der Highschool ihres Ortes, in aller Öffentlichkeit, knapp anderthalb Tage, ohne sich hinzusetzen, ohne zu essen, ohne auf Toilette zu gehen, ohne zu schlafen. So wie die Qualen der beiden – schmerzende Muskeln, Hitze, Kälte, eine volle Blase, Schwindel, Kopfweh – zunehmen, so wächst auch die Schar der Zuschauer an. Anfangs sind nur ein paar Freunde und Lehrer vor der Schule, die die Küssenden mit Getränken und Klamotten versorgen oder sich um die Live-Übertragung des Ereignisses ins Internet kümmern. Doch mit jeder Stunde verbreitet sich der Rekordversuch im Netz immer weiter, in alle Winkel der Welt. Die Medien werden aufmerksam, die konservativen Mitmenschen des Ortes aber auch, die gegen diese angeblich ungebührliche Aktion protestierten.

Neben den Küssenden schildert Levithan jedoch auch noch zwei weitere schwule Paare sowie einen unglücklichen Einzelgänger. Bei dem einen können die Eltern nichts mit den Neigungen des Sohns etwas anfangen, bei dem anderen handelt es sich um einen Transgender-Jungen, der einst im Körper eines Mädchens geboren wurde, aber alle Unterstützung von seinen Eltern bekommt. Der Einzelgänger sucht sein Glück im Internet, wird jedoch nur enttäuscht. Als seine Eltern ihn unfreiwillig beim Chatten erwischen und ihn somit zwangsouten, haut er von zu Hause ab.

Levithan, dessen Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal gerade von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, konzentriert sich hier ganz auf den Kosmos schwuler Jugendlicher, rund um ihr Coming-out und ihre erste Liebe. Anfangs ist die Fülle an männlichen Figuren etwas verwirrend, doch mehr und mehr nimmt die Erzählung an Fahrt auf und die Jungs wachsen einem ans Herz. Dies liegt auch an der sehr präsenten Erzählerstimme, die eine ungewöhnliche und erfrischende Alternative zu den vorherrschenden Ich-Erzählern bildet. Denn hier erzählt ein unbenanntes WIR, ein Chor, der den jungen Schwulen fast väterlich über die Schulter schaut, sie ermutigt, Tipps gibt, von eigenen Erfahrungen berichtet, von eigenen Ängsten, Sorgen und Freuden. Es ist ein Chor einer Generation von Schwulen, die Anfang der 90er Jahre die AIDS-Katastrophe am eigenen Leib erlebt hat, deren Partner, Freunde, Bekannte an der Krankheit gestorben sind, die die Diskriminierung noch schärfer erlebt haben, als die junge Generation heute. Sie waren die Wegbereiter dafür, dass seit diesem Sommer in den USA gleichgeschlechtliche Ehen legal sind. Sie erheben die Stimme, ermutigen, warnen aber auch und machen klar, dass es ein langer Weg war bis zu diesem Punkt, aber auch, dass noch ein langer Weg vor allen LGBT*-Leuten liegt, bis diese rechtlich völlig gleichgestellt sind.

Dieses Buch macht Mut. Keine Frage. Jedem Jungen, der mit seinen sexuellen Vorlieben hadert, sei diese Lektüre empfohlen. Levithan zeigt zwar, dass es nicht einfach ist – weder sich 32 Stunden lang zu küssen, noch mit seinen Eltern zu reden, noch die richtigen Freunde zu finden – doch er zeigt auch, dass es sich lohnt, zu sich selbst zu stehen und sich auf das Abenteuer Leben einzulassen.

Demnächst würde ich gern auf diesem Kanal die weibliche Variante dieses Themas vorstellen können … die aber wohl noch nicht geschrieben ist. Liebe Verlage, bitte kümmert euch darum!

David Levithan: Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt, Übersetzung: Martina Tichy, Fischer KJB, 2015, 288 Seiten,  ab 14, 14,99 Euro

Die Verführung des Bösen

naziEs steht nicht gut um Europa in diesen Tagen. Grenzen werden dicht gemacht, Abkommen außer Kraft gesetzt, die Länder schotten sich gegenüber den Flüchtlingen ab, die unsere Hilfe dringend nötig haben. Zwischen all dem marschieren vermehrt Neonazis auf, zünden Unterkünfte an, schüren Hass und Angst. Noch scheint es wie ein Wunder, dass niemand zu Tode gekommen ist.

F.E.A.R. – Angst – so hat Elisabeth Zöller ihren neuesten Roman genannt. Und es kann einem angst und bange werden, wenn man von dieser fiktiven Geschichte mit ihren exzellent recherchierten realen Hintergründen auf unsere Gegenwart schaut.

Zöller erzählt dieses Mal die Geschichte der 16-jährigen Clara, die sich in den etwas älteren Finnen Joonas verliebt. Der redegewandte, gutaussehende Typ wickelt das Mädchen quasi um den Finger – und Clara lässt sich verführen, zu trist ist ihr Alltag gerade. Ihre Eltern trennen sich, die Mutter fängt etwas mit Claras linkem Geschichtslehrer an. Da kommt Joonas mit seinen zarten Küssen und seiner nationalen Gesinnung gerade recht. Wäre da nicht die andere, dunkle Seite von Joonas. Er wohnt bei einem dumpfen Nazi, trifft sich mit undurchsichtigen Politiker-Hanseln und erzählt Clara ab und an von seinem Traum eine neue Finnische Armee aufzubauen, nach dem Vorbild von LoLa, dem Lokstedter Lager, in dem im ersten Weltkrieg finnische Männer zu Soldaten ausgebildet wurden. Clara durchschaut das alles nicht so richtig und fängt an im Netz zu recherchieren. Dadurch setzt sie ungewollt einen Journalisten auf Joonas Spur. Joonas muss weg aus Deutschland und nimmt Clara mit nach Finnland. Dort kommt es zur Katastrophe, als Joonas mit zwei Kumpeln das Haus einer linken Gastronomin in Brand setzt.

Diese Geschichte zieht Elisabeth Zöller erzählerisch von hinten auf und lässt Clara in einem Polizeibericht selbst die Entwicklung schildern. So ist man als Leser immer dicht an ihrer Sichtweise und ihren Empfindungen, man kann ihre Angst nachvollziehen, als ihre Eltern sich trennen und das Zuhause auseinander fällt, man versteht nur zu gut, wie faszinierend da aufmerksame Jungs sind. Clara sucht nach dem Halt, den die Eltern ihr nicht mehr geben können. Durch diese enge Perspektive von Clara schafft Elisabeth Zöller es meisterlich, dass Joonas‘ Beweggründe immer etwas im Dunklen bleiben, während Claras Wandel von blinder Verliebtheit zu begreifender Erkenntnis all des Schrecklichen um so mitreißender ist.
Die verführerischen Argumentationen der Rechten, die mit ihrer Hetze gegen die Neuankömmlinge Angst schüren vor Zuwanderung, Überfremdung, Islamisierung und sonstigen angeblich so fürchterlichen Zuständen, durchschaut Clara erst im Laufe ihres Berichtes. Für den Leser wird die Wucht dieser Fremdenfeindlichkeit durch den Handlungsstrang in Finnland, in dem die Polizei den Anschlag ermittelt, etwas abgemildert. Doch in Claras Bericht hängt immer die Frage zwischen den Zeilen, wie man selbst in dem Alter, unter ähnlichen Umständen auf solche Sätze und Diskussionen reagiert hätte.
Die Zuspitzung der Ereignisse am Ende von F.E.A.R. lassen keinen Zweifel daran, dass Joonas Position grundlegend falsch ist und dass in heutigen Tagen viel Mut, Engagement und die Suche nach neuen Lösungen dazu gehören, um gegen rechte Strömungen und neue Parteien anzugehen, und eben nicht die Grenzen dicht zu machen. Die Lektüre von Elisabeth Zöllers Roman dürfte Jugendlichen jede Menge zu denken geben und sie hoffentlich stark machen, um all den dunklen Verführungen unserer Zeit zu widerstehen.

Elisabeth Zöller: F.E.A.R., Hanser, 2015, 208 Seiten, ab 14, 16,90 Euro

Mehr als Wiedervereinigung

geschichteDie Sonne strahlte heute über Deutschland, das ein Vierteljahrhundert Wiedervereinigung feierte. Ein merkwürdiges Datum, von dem ich nicht mehr weiß, warum es genau auf diesen Tag gelegt wurde. Das verrät auch Peter Zolling in seinem seinem Werk Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart nicht. Zwar erfahre ich, dass am 3. Oktober 1990 „das Grundgesetz in ganz Deutschland in Kraft trat und die Einheit verwirklicht war“, aber wieso gerade dieser Tag dafür ausgewählt worden war, bleibt im Dunkeln. Wahrscheinlich hat man damals gewürfelt, oder einfach nach einem passenden Termin für einen weiteren Feiertag zwischen Ostern, Pfingsten, Sommerferien und Weihnachten gesucht. Mir soll es recht sein. Vor 25 Jahren jedenfalls stand ich in Florenz auf dem Ponte Vecchio und wurde gefragt, ob die Deutschen denn nun glücklich seien, so wiedervereint. Ich hatte damals keine Antwort darauf, zu sehr ging mir die großdeutsche Euphorie auf den Senkel. Die Beurteilung der aktuellen Ereignissen hat mich in jener Zeit ziemlich überfordert. Heute ist es manchmal auch nicht viel einfacher. Zu komplex scheint die Welt zu sein, zu undurchsichtig die Machenschaften der Politik und der Wirtschaft.

Für die Einordnung von Vergangenem und Tagesgeschäft durch Historiker bin ich daher immer dankbar. Zollings Werk, das jetzt in aktualisiert Form vorliegt, liefert einen grundlegenden Überblick über fast 170 Jahre deutsche Geschichte. Dabei reiht er nicht nur die Fakten aneinander, sondern bringt dem Leser auch die Akteure aus Politik und Gesellschaft mit ihren menschlichen Abgründen näher. Neben den klassischen Stationen – Reichsgründung, Kaiserreich, Weltkriege und Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, Teilung, RAF-Terror, Bonner Republik und Wiedervereinigung – reicht Zollings Abriss nun bis zum Sommer diesen Jahres heran.
Die deutsche Politik der ersten anderthalb Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts ist dabei in verstärktem Maße von den globalen Einflüssen und Katastrophen geprägt. Dies wird gerade in der komprimierten Darstellung offensichtlich und eindrucksvoll. Es wird deutlich, wie wenig wir uns hier nur um unseren Kram kümmern können, sondern immer weiter über den Tellerrand hinausblicken müssen, sei es in Sachen Umwelt- oder aktuell in der Flüchtlingspolitik.

Zollings Buch kann eine gute Ergänzung zu den Geschichtsbüchern der Schule sein, jugendliche Leser müssen sich jedoch auf eine journalistisch geprägte Sprache einstellen, die manchmal nicht ganz einfach zu verstehen ist.

Peter Zolling: Deutsche Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Macht in der Mitte Europas, Hanser, 2015, 448 Seiten,  ab 12, 21,90 Euro

Die Blutprinzessin und die Vogelpracht

cneutHerbst gleich Erntezeit. Irgendwie ist es auch in der Buchbranche so. Jedenfalls bei mir … ist doch grad ganz frisch eine meiner Übersetzungen eingetroffen, die ich in diesem Frühjahr angefertigt habe: Das Märchen Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, prächtig illustriert vom Flamen Carll Cneut.

Erzählt wird die Geschichte der verwöhnten und widerspenstigen Prinzessin Valentina und ihrem Tick, Vögel zu sammeln. Wie in Märchen üblich geht es nicht zimperlich zur Sache, denn sobald das gute Kind nicht das bekommt, was es möchte, rollen Köpfe. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Interpretation dieser Vorgänge überlasse ich anderen Lesern, meine Vermutung, dass die Autorin sich unter anderem auch von Lewis Carrolls Alice im Wunderland hat inspirieren lassen, habe ich hier schon mal geäußert.

Was ich jetzt aber viel besser einschätzen kann, sind die Illustrationen, besser gesagt, die Gemälde von Carll Cneut. Für die Übersetzung hatte ich vor Monaten nur ein kümmerliches PDF auf dem Bildschirm und war mit dem Kopf eh viel mehr bei den einzelnen Worten und Begriffen als bei den Bildern. Doch nun, im fertigen Zustand, überwältigt mich die Vogelpracht, die Cneut hier geschaffen hat. Jeder Vogel ist eine Persönlichkeit. Jede Seite bietet Schauriges und Schönes. Mal meint man in einem japanischen Holzschnitt gelandet zu sein, dann wieder in der Sesamstraße. Groben Pinselstrich kombiniert er mit feinst ausgearbeiteten Federn, die die Tiere plastisch hervortreten lassen. Valentinas Hutschmuck ist so vielfältig wie ihre Vögel. Den Dienern ist die Überforderung und der Schrecken im Gesicht abzulesen. Die zarten Gewächse des Gartens verwandeln alles in einen Urwald, man hört das Gekreische der Papageien.
Und wenn man dann die Bilder immer wieder betrachtet, so wandelt sich das Gefühl, das man gegenüber der verzogenen, grausamen Blutprinzessin am Anfang hegt, in Mitleid. Denn das arme reiche Kind ist ziemlich einsam …

Ich kann mir zwar kaum vorstellen, dass Vierjährige mit dieser Geschichte viel anfangen können. Aber dafür ist nach oben hin keine Grenze für die Altersempfehlung gesetzt, denn über Valentinas Verhalten und das Ende der Geschichte kann man lange nachdenken und vorzüglich diskutieren.

Für mich ist es heute erneut ein hinreißendes Erlebnis, dass sich die Sätze aus meinem schlichten Word-Dokument nun in einem so wunderschönen Kleid wiederfinden.

Anna Castagnoli/Carll Cneut: Der goldene KäfigÜbersetzung: Ulrike Schimming, Bohem Press, 2015, 48 Seiten,  ab 4, 28,95 Euro

Kinderarmut existiert … nicht?

ajumVergangene Woche war ich als Referentin auf die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (AJuM) eingeladen. Hinter dem etwas sperrigen Namen stehen 500 Lehrer_innen und Pädagog_innen, die als Ehrenamtliche die Kinder- und Jugendbuchliteratur des Landes lesen und rezensieren. Dies macht die AJuM bereits seit über 100 Jahren, doch seit 2003 gibt es die Rezensionen auch im Internet auf der Seite ajum.de zu lesen. Hier prüfen die Rezensent_innen die Publikationen vor allem auf den pädagogischen Nutzen und die Einsatzmöglichkeiten im Unterricht. Im Archiv der AJuM kann man auf mehr als sagenhafte 50.000 Rezensionen zugreifen, mit ganz differenzierten Meinungen.

Ich war gebeten worden, in der evangelischen Akademie in Loccum über meine Arbeit als Buchbloggerin zu erzählen. So traf ich mit zwei Dutzend überaus interessierten Pädagog_innen, aktiven und bereits pensionierten, zusammen und diskutierte zwei Tage lang mit ihnen über Bücher, missratene Klappentexte, Kinderarmut als literarisches Thema, die Verlagswelt im Allgmeinen und wie gute Rezensionen auszusehen haben.
Da ich das Rezensieren auch nur durch learning-by-doing und journalistisches Ausprobieren gelernt habe, war ich dankbar, einmal über die Kategorien eines solchen Textes nachdenken zu können. Hier auf dem Blog unterliege ich zwar nicht den Vorgaben und Zwängen, an die sich die AJuM-Rezensenten halten müssen, doch gibt es Punkte, die auch für mich gelten: Eine Rezension ist mehr als eine Inhaltsangabe, sollte gut lesbar und nicht zu lang sein, das Ende der rezensierten Geschichte darf natürlich nicht gespoilert werden, Erzählperspektive, Sprache, Stil sollten erläutert, die Besonderheiten daran aufgezeigt und eventuell mit einem aussagekräftigen Zitat belegt werden, Worthülsen sollte man vermeiden und sie stattdessen mit Inhalt füllen (beispielsweise sagt das Wort „emotional“ nicht besonders viel, fragt sich der Leser einer Rezension dann vermutlich, ob man denn nun weint oder lacht …). Die Buchausstattung, die Illustrationen oder die Recherche-Arbeit der/s Autor_in sollten ebenfalls gewürdigt werden.
Das hört sich für Viel-Rezensenten möglicherweise völlig selbstverständlich ist, doch alle in der Runde waren dankbar für solche Handreichungen, da das tägliche Schreiben oftmals so automatisiert – oder unter Stress – abläuft, dass wichtige Aspekte manchmal einfach untergehen. Das passiert jedem.

ajumPraktische Anwendung fand dieser Kriterien-Katalog dann an zwei Büchern, die im Vorfeld als Lektüre aufgegeben worden waren. Thema dieser Tagung war die Kinderarmut in Deutschland, flankiert wurde dies durch einem umfang- und aufschlussreichen Vortrag von Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Uni Stendal, und einer Lesung von Dirk Reinhardt aus seinem aktuellen Roman Train Kids.
Bei den beiden Büchern für den Rezensions-Workshop handelte es sich um Dave Cousins 15 kopflose Tage, in der Übersetzung von Anne Brauner, und Donna Gepharts Tod durch Klopapier, ins Deutsche gebracht von Sabine Hübner. Letzteres stammt aus den USA, ersteres aus Großbritannien. Die Wahl fiel auf diese beiden Titel auch aus dem Grund, dass es keine deutschen Produktionen zum Thema Kinderarmut gibt. So wie – laut Professor Klundt – für die Politik momentan Kinderarmut in Deutschland nicht existiert, so ist für die Verlage dieses Thema eben nicht lukrativ genug. An diesen zwei Tagen in Loccum haben wir ziemlich häufig die Köpfe geschüttelt.

In Bezug auf die beiden vorzustellenden Bücher war ich anfangs etwas unentschlossen, wie ich sie finden sollte, denn das gesellschaftliche amerikanische und britische Umfeld sticht in beiden Geschichten nämlich ziemlich hervor. Doch im Gespräch in der Runde taten sich dann die Vorzüge dieser Lektüren auf.

Sowohl Cousins als auch Gephart verstehen es vorzüglich, schwierige Familiensituationen, bedrückende Ereignisse und bedrohliche Zukunftsaussichten durch eine liebevolle Darstellung und eine humorvolle Einbettung erträglich zu machen.
In 15 kopflose Tage ist es der 15-jährige Ich-Erzähler Laurence, der mit seinem 6-jährigen Bruder Jay und der alkoholkranken, depressiven Mutter, in einem Brennpunktviertel in einer nicht genannten britischen Großstadt lebt. Eines Tages verschwindet die Mutter und die Jungs sind auf sich allein gestellt. Aus Angst vor dem Jugendamt spielt Laurence gegenüber den Nachbarn vor, dass die Mutter immer gerade bei einem von ihren zwei Jobs ist. Trotz all der Probleme – das Geld geht ihnen aus, Jay wird krank – lieben die Brüder ihre Mutter über alles. Laurence versucht, ihr einen dringend nötigen Urlaub zu verschaffen, den er bei einem Radio-Quiz gewinnen will. Dafür gibt er sich als sein eigenen Vater aus, der die Familie vor Jahren verlassen hat.

Auf der anderen Seite des Atlantiks ist es der 10-jährige Ben, der ebenfalls als Ich-Erzähler in Tod durch Klopapier, seiner Mutter helfen will, nicht aus der Wohnung zu fliegen. Bens Vater ist an Krebs gestorben, die Mutter kann die Miete nicht mehr bezahlen, der Vermieter kündigt ihnen die Wohnung. Ben macht daher bei allen möglichen Gewinnspielen mit, in der Hoffnung, eines Tages den Jackpot zu knacken. Nebenher zieht er an der Schule einen illegalen Handel mit Schokoriegeln auf. Als der demente Großvater bei Ben und seiner Mutter einzieht spitzt sich die Situation zu.

Erstaunlich ist, dass es bei beiden Geschichten gewisse Parallelen gibt: Die Protagonisten können auf gute Freunde zählen, die ihnen ungeachtet ihrer Probleme, für die sie sich schämen, helfen und ihnen den Rücken stärken. Radio-Quiz und Preisausschreiben sind quasi die Ticks der Jungs, die, wenn man die Bücher hintereinander liest, fast wie ein nerviger Erzähl-Trick wirken, aber dennoch eigenständige Funktionen haben. Sie zeigen die Kreativität, Hilfsbereitschaft und Verzweiflung der jungen Helden.
In beiden Fällen handelte es sich vor den dramatischen Entwicklungen bei den Figuren um ganz normale Familien, die durch Schicksalsschläge wie Tod oder Scheidung zu Außenseitern der Gesellschaft werden. Für Kinder und Jugendliche, die in ähnlichen Situationen stecken, mag das vielleicht keine verlockende Lektüre sein, sie könnten dort jedoch das Gefühl finden, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind und Hilfe – trotz aller Scham – möglich ist.
Für alle anderen, die nicht von Armut bedroht sind, bieten die Bücher die Möglichkeit, eine Sensibilität für Freunde, Mitschüler und  Nachbarn mit diesen Problemen zu entwickeln.

Die schwierigen Lebenssituationen der Jungs wird von humoristischen Szenen in den Plots erträglich gemacht: Bens Freund Zahnstocher ist ein Meister in Sachen Horror-Maskenbild, was sich später als überaus hilfreich erweist; Jay hält sich für Scooby-Doo, beißt gern mal zu und bringt den großen Bruder in peinliche Situationen. Zudem ist jedes Buch mit Details ausgestattet, die ein weiteres Aufatmen erlauben: 15 kopflose Tage eröffnet jedes Kapitel mit einer Comic-Seite, die Autor Cousins selbst gezeichnet hat. Tod durch Klopapier liefert an jedem Kapitelanfang hintersinnig-witzige Informationen rund um die Geschichte des Klopapiers.

Die Diskussionsrunde in Loccum war sich bei der Beurteilung dieser Bücher jedoch auch einig, dass die Kinder und Jugendlichen bei dieser Lektüre begleitet werden sollten. Denn im humoristischen Kleid stecken bittere Schicksale, die man nicht so locker wegsteckt.

Zu wünschen bliebe, dass es auch deutsche Geschichten ähnlicher Couleur zu diesem Thema gäbe. Die Politik mag uns ja so Einiges vormachen und Kinderarmut geflissentlich übergehen, doch Bücher sollten die Realität in unserem Land spiegeln, egal wie trist sie ist oder wie wenig lukrativ. Sie könnten als Helfer und Mutmacher eine wichtige Rolle spielen.

Donna Gephart: Tod durch KlopapierÜbersetzung: Sabine Hübner, cbt, 2015, 288 Seiten, ab 10-99, 12,99 Euro

Dave Cousins: 15 kopflose TageÜbersetzung: Anne Brauner, Freies Geistesleben, 2015, 288 Seiten, ab 13, 17,90 Euro

Leise Laute laut lesen lernen

lesenIm vergangenen Jahr habe ich ein paar Stunden Sprechunterricht bei einer Schauspielerin genommen. Ich wollte präpariert sein, um aus einer meiner Übersetzungen vor Publikum zu lesen. Bis dato hatte ich nicht viel vorgelesen, hielt mich auch nicht gerade für talentiert, weil ich mich ständig verhaspelte und Fehler machte und irgendwann keine Luft mehr bekam. Nicht schön, weder für mich, noch für mögliche Zuhörer. Aber wie so vieles ist auch das Vorlesen eine Kunst, die man lernen und trainieren kann. Das haben mir die Stunden gezeigt und mir die Angst vor dem Vortragen genommen. Es macht mir mittlerweile richtig Spaß und so manches Mal lese ich mir selbst laut vor.

Während des Sprechunterrichtes bekam ich irgendwann Texte, mit denen Schauspieler die einzelnen Laute verstärkt üben. Der Inhalt der Texte war eher absurd widersinnig und für mich nicht so anregend. Ganz anders nun die Sammlung von 50 kurzen Vorlesegeschichten von Daniel Napp, die er für das Buch Löwen mögen schöne Zöpfe geschrieben und illustriert hat. Für jeden Laut gibt es eine eigene Geschichte, dazu kommen Texte, in denen lange und kurze Vokale betont und im Wechsel geübt werden können. In „Kampf gegen die Kilos“ wechseln sich beispielsweise G und K ab, in „Hundedelikatesse“ werden P und B sowie T und D variiert. Man erliest den Unterschied von stimmhaftem und stimmlosen S, erkundet das vordere und das hintere CH und dringt so in die schier unendlichen Weiten des eigenen Rachen- und Klangraumes vor.

Sind bei den Sprechübungstexten für Erwachsene, wie in Der kleine Hey, die Inhalte meist ziemlich gaga, so schafft es Napp immer, eine kleine, runde, wenn auch oftmals bizarre Geschichte zu erzählen. Dabei hält er sich nicht sklavisch daran, immer nur den einen entsprechenden Laut zu benutzen – à la Ottos Mops von Ernst Jandl –, sondern erlaubt sich durchaus Abweichungen. Die aber sind von entzückender Manier, wie Beispielsweise beim kurzen U: „Kurz vor Fulda verguckte sich Muldenkipper Ulf in den Bus Uschi.“
Man verguckt sich in laut lesender Weise Seite um Seite in dieses Buch, ins Vorlesen, in die Laute, die Buchstaben und die Bilder noch dazu.

So verbinden sich hier aufs Schönste unterhaltsame Kurzgeschichten mit nützlichem Wissen um den akkuraten Gebrauch von Lippen, Zunge und Luftstrom beim Sprechen. Nach meinen wenigen Stunden Sprechunterricht bin ich natürlich keine professionelle Sprecherin geworden, doch die Freude an der korrekten Aussprache und dem Lesen hat dazu geführt, dass dieses Buch nicht so schnell im Regal verstauben wird, sondern mich immer wieder dazu verführt, einen neuen Laut anhand einer anderen Geschichte zu üben und zu vertiefen. In diesem Sinne ist Napps Buch nicht nur etwas für die Lütten, sondern für alle, die an ihrer Aussprache feilen möchten.

Daniel Napp: Löwen mögen schöne Zöpfe. Das LAUT Lesebuch, Carlsen, 2015, 176 Seiten, ab 4-99, 18,99 Euro

Kopfüber

aliceBis zum heutigen Tag hatte ich nie Gelegenheit – und es hat mich auch nie jemand dazu gedrängt – den Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland von Lewis Carroll zu lesen. Die Filme, selbst wenn ein Johnny Depp darin mitspielte, haben mich irgendwie nicht gereizt. Nun hat es allerdings die raffinierte Neuauflage aus dem Gerstenberg Verlag geschafft, die zum 150-jährigen Jubiläum des Werks erschienen ist, das Versäumte nachzuholen.

Zum Nonsens-Inhalt von Alice möchte ich hier gar nicht viel ausführen. Figuren wie das weiße Kaninchen, die Grinsekatze, die blaue Raupe, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin sind hinlänglich bekannt. Wissenschaftliche Werke über Carrolls Werk gibt es zu Hauf, ich würde ein eigenes Studium benötigen, um mich dort auf den aktuellen Stand zu bringen. Das kann jedoch in diesem Moment nicht meine Aufgabe sein.

Hier möchte ich viel lieber auf zwei Dinge aufmerksam machen, die mich erfreut haben. Da ist zunächst die Ausstattung dieser Neuausgabe: Illustriert von der Niederländerin Floor Rieder, die für Gerstenberg bereits das Buch Evolution von Jan Paul Schutten bebildert hat und zudem für die Zeitschrift flow arbeitet, kommt Alice in einem liebevoll aufgemachten Design und Outfit daher, dass man ihr die 150 Jahre nicht mehr anmerkt. Rieders Drucke (ich bin mir nicht sicher, ob Holz- oder Linoldrucke) kommen mit fünf kräftigen Farben aus, die dennoch ein ganzes Universum erschaffen. Alice mit rundem Hut, Brille, kurzem Kleid und Sneakern erscheint mir wie eines der pfiffigen Schulmädchen, die vor wenigen Tagen eingeschult wurden und nun eine neue Welt entdecken. Die Unsinnigkeiten und Unerklärlichkeiten des Leben bekommen so ein frisches Gesicht, was zwar nicht hilft, die Rätsel zu lösen oder die Strategien eines Schachspiels zu durchschauen. Aber sie machen Laune. Man liest sich von einem Bild zum nächsten.

Und auf der Mitte des dicken Buches, wenn das Wunderland durchschritten ist, wird man als Leser gezwungen, das Werk zu drehen, quasi von hinten neu anzufangen. Das spiegelverkehrte Cover von Alice hinter den Spiegeln irritiert zunächst. Alice klettert nun mit Hoody und Schachbrettrock durch die wundersame Welt. Ein Stück erwachsener nun schon, doch immer noch neugierig auf die Gesellen, die ihr weiterhin begegnen.
Dass sich Alice hinter den Spiegeln befindet, also quasi alles verkehrt herum ist, merkt man als Leser jedes Mal, wenn man das Lesebändchen von unten nach oben in den Text legt. Mich hat das bis zum Schluss verwirrt, erstaunt und mir immer wieder ein Lächeln entlockt.

Die andere Sache, die mich erfreut hat, war, dass mir die Lektüre von Alice endlich einen Schlüssel zu einem Märchen geliefert hat, das im Oktober in meiner Übersetzung bei Bohem erscheint. In Der goldene Käfig von Anna Castagnoli, üppig illustriert von Carll Cneut, lässt eine Prinzessin ihre Diener enthaupten, wenn diese ihr nicht die paradiesischen Vögel bringen, die sie sich so dringend wünscht. Es war mir ein Rätsel, wie man auf so eine doch ziemlich grausame Geschichte kommen kann. Doch nun ahne ich, dass hier die Kopf-ab-Manie der Herzkönigin aus Alice im Wunderland Pate gestanden haben könnte. Vielleicht werden mir andere diese Ahnung bestätigen, vielleicht werden sie mich auf wieder andere Quellen hinweisen.
Schön für mich war jedoch, dass bei der völlig zweckfreien, aber so unterhaltsamen Lektüre von Alice auch noch diese Verbindung zu Tage trat, und mir wieder einmal bewusst wurde, dass Literatur nicht im leeren Raum entsteht, sondern die Klassiker immer wieder und auf vielfältige Art und Weise wichtig sind. Und daher in ihren neuen schönen Gewändern es allemal wert sind, gelesen zu werden.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland & Alice hinter den SpiegelnÜbersetzung: Christian Enzensberger, Illustration: Floor Rieder, Gerstenberg Verlag, 2015, 384 Seiten, 25 Euro

Nachtrag am 15.09.2015:

In Bezug auf die Illustrationstechnik hat mir der Gerstenberg Verlag gerade folgende Info zur Verfügung gestellt:

„[…] durch ihre Illustrationstechnik verbindet Rieder bewusst Tradition und Moderne: Sie bestreicht Glasplatten mit schwarzer Farbe, kratzt die Motive mit der Feder ein, scannt die Bilder und koloriert diese am Rechner. Die Motivwahl fand Rieder nicht schwierig:
„Die Geschichte gibt die Zeichnungen zum Teil vor. Danach ging ich auf Suche nach einer tieferen Ebene. Ich entdeckte, dass Lewis Carroll Mathematik mochte. Deswegen habe ich viel Symmetrie verwendet.“
Die Ausstattung war für Rieder ebenfalls wichtig: „Dass die zwei Bücher die Form einer altenglischen Bibel haben mussten (klein und ganz dick), war schnell entschieden.““
Copyright © Floor Rieder

 

 

Es lebe die sexuelle Vielfalt!

gayDas Leben auf dieser Erde ist alles andere als einfach, und der Mensch und seine vermeintlichen Regeln tragen nicht gerade dazu bei, dass es leichter wird. Vor allem, wenn es um Sexualität geht und wie die angeblich zu sein hat. Für Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Identität noch nicht ganz klar sind, macht die Hetero-Normierung unserer Gesellschaft es auch nicht besser.

Gegen diese Normierung und eine angeblich normale Sexualität stellt der britische Autor James Dawson sein Handbuch How to be gay. Er richtet sich an die Jugendlichen, die vor allem eins sind: neugierig. Auf sich, auf das Leben, auf andere Arten der Sexualität, die ihnen nicht in der Schule erklärt und in den Medien oftmals als Stereotypen präsentiert werden. Dawson hingegen lädt die jungen Leser mit klaren, oft witzigen und ironischen Worten – von Volker Oldenburg in charmant-coole deutsche Varianten übersetzt, die eine unterhaltsame Lektüre garantieren – in den Club der LGBT*-Leute ein, d.h. in die Welt der LesbischGayBiTrans*-Menschen (wobei das * für die Gesamtheit aller sexuellen Orientierungen, sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten steht). Das mag sich, so referiert, vielleicht etwas sperrig lesen, doch geht es Dawson darum, sich unbefangen seinen sexuellen Phantasien zu stellen und herauszufinden, was Mädchen/Junge eigentlich mag. Der Respekt vor sich selbst und den anderen steht dabei im Mittelpunkt – ist der gegeben, ist es egal, wen und wie man liebt und mit wem oder wie man Sex hat.

Ist sie oder er sich seiner sexuellen Vorlieben erst einmal klar geworden, hilft How to be gay als Gebrauchsanleitung für das tägliche Leben weiter.  Dawson liefert wichtige Gedanken, wie ein Coming-out am besten gestaltet werden kann, verrät, was bei schwulem und lesbischen Sex abgeht, bietet Argumentationshilfen, wenn man als LGBT* zu einer religiösen Diskussion genötigt wird, zeigt, was bei Sex-Apps  zu beachten ist, oder wie man als homosexuelles Paar eine Familie gründet. Gleichzeitig warnt er auch vor lästigen und unnötigen Geschlechtskrankheiten und wie man sich durch respektloses Verhalten oder die gedankenlose Benutzung von Begriffen zum Vollhorst machen kann. Er nennt die Dinge dabei ungeschminkt beim Namen, und genau das tut gut, damit die Jugendlichen nicht ewig im Nebel von Unausgesprochenem, Angedeuteten, Klischees, Vorurteilen, Diskriminierung und angeblicher Unnormalität herumstochern müssen.

Angereichert hat Dawson seine Tipps mit O-Tönen von LGBT*-Menschen, die von ihren Erfahrungen und Geschichten berichten. Sie zeigen die Facetten von Leben, in denen die Menschen sich nicht nach der angeblichen Norm richten, sondern zu ihren Vorlieben und damit zu sich selbst stehen. Das sind durchweg großartige Vorbilder.

Einziger Wermutstropfen bei diesem Buch ist die fehlende Lokalisierung für die deutsche Szene. Dawson schildert vornehmlich britische Gegebenheit, also die Geschichte, Gesetzeslage und Rechte in Großbritannien. Und auch das „kleine Lexikon der großen Schwulen- und Lesbenikonen“ ist von angloamerikanischen Star beherrscht. Bei all dem hätte von Verlagsseite durchaus eine Anpassung und/oder Erweiterung für Deutschland vorgenommen werden können: Die Fragen zu Homo-Ehe und Kinder von Homosexuellen in Deutschland müssen sich die jungen Leser nun selbst recherchieren. Die Doppelseite mit nützlichen Websites am  Ende ist da nur ein schmaler Anfang. Und allein für das Ikonen-Lexikon fallen mir spontan bereits ein Dutzend deutscher LGBT*-Leute ein, die man hätte integrieren können.

Trotz dieses Mankos kann man Jugendlichen How to be gay als wegweisenden und hilfreichen Ratgeber an die Hand geben, den Eltern sei die Lektüre nicht minder empfohlen – denn man lernt auch als cisgender Hetero noch so Einiges dazu, sowohl über einen selbst, als auch über die Feinheiten, die für einen sensiblen und respektvollen Umgang in unserer Gesellschaft einfach nötig sind.

James Dawson: How to be gay. Alles über Coming-out, Sex, Gender und Liebe, Übersetzung: Volker Oldenburg, Fischer TB, 2015, 304 Seiten, ab 14, 9,99 Euro

Gezeichnete Geschichtsstunde

rocaManchmal bereue ich es fast, dass ich nicht Geschichte studiert habe. Es gibt so viele interessante Facetten der Vergangenheit, von denen ich viel zu wenig Ahnung habe. Leider war der Geschichtsunterricht zu meiner Schulzeit eine verdammt dröge Angelegenheit, so dass ich mich für Literatur entschieden habe. Umso mehr freue ich mich heute, wenn ich Bücher in die Finger bekomme, die beides vereinen. Neueste Errungenschaft: Die Heimatlosen des Spaniers Paco Roca. Dass es sich dabei auch noch um eine Graphic Novel handelt ist dabei fast das Sahnehäubchen obendrauf.

Roca erzählt die Geschichte des alten Spaniers Miguel, der zurückgezogen in einem französischen Örtchen wohnt. Er bekommt Besuch von einem jungen Spanier, der für ein Buch über die Widerstandskämpfer im 2. Weltkrieg recherchiert. Miguel jedoch hat keine besondere Lust über die Vergangenheit zu sprechen, zu wenig haben die Menschen um ihn herum und die Historiker seine Leistungen in der Vergangenheit gewürdigt. Doch dem jungen Spanier, das Alter Ego von Roca, gelingt es, Miguels Abwehr zu überwinden und ihn zum Reden zu bringen.
Und was Miguel zu erzählen hat, ist erschütternd, aufschlussreich und ein weiteres Puzzleteil in dem Bild, das ich vom 2. Weltkrieg habe. Ausgangspunkt ist das Ende des Spanischen Bürgerkriegs 1939, Miguel will mit seiner Familie von Alicante aus über das Meer aus dem faschistischen Spanien fliehen. Doch seine Frau und seine Kinder schaffen es nicht rechtzeitig zum Hafen. So rettet sich Miguel allein auf das einzige Schiff, das anlegt. Völlig überladen bringt es 3000 Flüchtlinge nach Oran, in die französische Kolonie Algerien. Dort beginnt für die Miguel eine dreijährige Leidenszeit in Gefangenen- und Arbeitslagern in der Sahara. Erst als die Alliierten Nordafrika erreichen, werden die Lager befreit, und Miguel und seine Kameraden können wieder zu den Waffen greifen. Ihr eigentliches Ziel ist immer noch die Befreiung Spaniens vom Franco-Regime. Doch bis sie Spanien wiedersehen werden, kämpfen sie an der Seite der Franzosen gegen die deutschen Nazis, und werden so für weitere Jahre zu Heimatlosen.

Manches in diesen historischen Verwicklungen ist beim ersten Lesen nicht gleich verständlich. Was jedoch mehr an meinem Unwissen der historischen Fakten über Spanien und Frankreich liegt, denn an Rocas Erzählstil. Dennoch habe ich durch die akkurat recherchierten Fakten, die Roca in Miguels fiktive Biographie eingewebt hat, einen differenzierten Blick auf die Vorgänge und Verwirrungen in Nordafrika und bei den Alliierten Truppen bekommen. Eine gezeichnete Geschichtsstunde, die noch lange nachhallt und die quasi eine Vertiefung dieses Themas einfordert.

Graphisch auffällig und eindrucksvoll ist Rocas Wechsel zwischen Gegenwart und erzählter Vergangenheit. Die Gespräche zwischen dem jungen Spanier und Miguel sind in zarten warmen Grautönen gehalten, die Panels sind nicht umrahmt. Die Erzählungen von Miguel, die historischen Fakten, hingegen sind schwarz gerahmt und in kräftigen, erdigen, fast monochromatischen Farben dargestellt. Die Historie rückt somit in den Vordergrund. Roca macht damit deutlich, wie wichtig das Erinnern ist, wie wichtig es ist, die letzten Zeitzeugen trotz möglicher Widerstände mit Verständnis, Mitgefühl und Nachdruck zu befragen.

Paco Roca: Die Heimatlosen, Übersetzung: André Höchemer, Reprodukt, 2015, 328 Seiten, 39 Euro

Hommage auf eine Stadt und einen Regisseur

BerlinEr war irgendwie immer da, in meiner persönlichen Film-Historie: Wim Wenders. Heute wird der Meister 70.  Und pünktlich zu diesem Anlass ist die Graphic-Novel-Adaption seines Films Der Himmel über Berlin erschienen.
Ich habe tatsächlich drei bis vier Anläufe gebraucht, bis ich Wenders Film  aus dem Jahr 1987 vollständig gesehen und einigermaßen verstanden habe. Warum das so war, kann ich gar nicht genau sagen. Vielleicht muss man eine gewisse Lebenserfahrung mitbringen, um alle Ebenen dieses Meisterwerkes ganz zu verstehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit habe ich immer noch nicht alle Facetten erfasst und begriffen. Dabei kann mir nun auch diese Graphic-Novel helfen, mit der ich in meinem langsamen Tempo die Geschichte und die philosophischen Texte („Als das Kind  Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war …“) nachlesen, nach-denken und genießen kann.

Das Autoren-Duo Sebastiano und Lorenzo Toma haben für die Comic-Adaption auf Basis des Drehbuches von Wim Wenders, Peter Handke und Richard Reitinger die Geschichte der Engel Damiel und Cassiel vor der Kulisse des heutigen Berlins neu inszeniert. Sie haben die Szenen mit Schauspielern nachgestellt, fotografiert und in Federzeichnungen verwandelt. Vor schwarzem Hintergrund, in zarten Strichen, die sich in manchen Panels Van-Gogh-mäßig am Himmel kringeln und drehen, lauschen die Engel den Gedanken der Menschen. Sie hören ihre Sorgen und Nöte, ohne selbst gesehen zu werden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Damiel sich in eine Akrobatin verliebt, sein ewiges Dasein aufgibt und sich ins Leben und die Liebe stürzt. Denn erst die Vergänglichkeit macht aus jedem Augenblick des Lebens etwas ganz Besonders.

Mögen die Darsteller anders aussehen als im Film, so hält sich diese Adaption relativ dicht an das Drehbuch. Wer Zeit und Muße hat, kann eine komparatistische Abhandlung über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten verfassen (ja, der Film-Dreh mit Peter Falk fehlt …). Es wird sicher ein Spaß.
Doch auch ohne den genauen Vergleich ist diese Graphic Novel eine Freude, denn das wirklich Besondere ist, dass die Engel im Berlin von heute umherstreifen. Sie stehen auf dem Brandenburger Tor, belauschen die Menschen nicht in der Bibliothek, sondern am Holocaust-Mahnmal. Die Curvy-Brache – die jetzt schon wieder ganz anders aussieht – und der Molecule Man in Kreuzberg dienen als Kulisse, genauso wie die Lohmühlenbrücke. War die in Wenders Film noch durch die Mauer versperrt, so ist jetzt der Weg frei, hinüber in den Osten. Berührend ist, dass auch der Potsdamer Platz selbst heute noch nicht aufzufinden ist, trotz alter Ampel und protzigen Neubauten.
Neben den Locations sind auch manche Gedankengänge und Dialoge den gegenwärtigen Realien angepasst – da sehnt man sich nach einer SMS oder diskutiert über Cent und Euro.

Vater und Sohn Toma haben mit ihrer Version von Der Himmel über Berlin eine doppelte Hommage geschaffen: auf die große Stadt und auf den großen Regisseur. So ist diese Graphic Novel sowohl ein Muss für Hauptstadt-Liebhaber, als auch für Verehrer von Wim Wenders. Zudem beweisen sie nonchalant, wie zeitlos und allgemeingültig Wenders Geschichte weiterhin ist.

Wim Wenders sei hiermit herzlich zum Geburtstag gratuliert und gedankt für unzählige wunderbare, rätselhafte und groovende Filme. Mögen noch viele folgen. Der Himmel über Berlin werde ich mir heute Abend noch ein weiteres Mal, mit anderen Augen, anschauen.

Sebastiano & Lorenzo Toma: Der Himmel über BerlinJacoby & Stuart, 2015,  200 Seiten, 24 Euro