Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

huppertz„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen“, hat Johann Wolfgang von Goethe einst gesagt. Wurzeln, solange sie klein sind, und Flügel, wenn sie größer werden.
Doch was, wenn der leibliche Vater nicht zur Familie gehört? Fehlt dann im Wurzelwerk nicht etwas?

Lisse, 12, vermisst zu Beginn des neuen Romans von Nikola Huppertz erst einmal nichts. Sie lebt mit ihrer Mutter und dem Comiczeichner Jamal glücklich in Hannover. Jamal ist seit elfeinhalb Jahren ihr Vater.
Doch dann erreicht ein Anruf ihre Mutter: Lisses leiblicher Vater Markus ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und obwohl Lisse ihm niemals begegnet ist, überkommt sie doch die Trauer, die sie selbst an ihrem geliebten Schlagzeug nicht so richtig loswird.
Auch ihre Mutter muss die Nachricht erst einmal verdauen, und da gerade Sommerferien sind, machen sich Mutter und Tochter für ein paar Tage auf und reisen zu den Orten, wo sich Lisses Eltern begegnet sind. Über Berlin und die Müritz geht es nach Rostock und schließlich zum Friedwald, wo Markus‘ Asche unter einem Baum beerdigt wurde.

Im Laufe der Reise erzählt die Mutter von ihrer ersten Begegnung mit Markus, von ihrer Verliebtheit, von Markus‘ Leidenschaft für Musik, von ihrer damaligen Tour an die Ostsee. Lisse erfährt so Einiges über ihren leiblichen Vater und lernt in diesen wenigen Tagen ganz andere Seiten ihrer Mutter kennen. Auf dem Baum-Friedhof schließlich begegnen die beiden dann einem alten Ehepaar und Lisses Leben bekommt eine neue Wendung.

Feinfühlig und emotional packend entwickelt Nikola Huppertz Lisses Geschichte. Der Tod ist kein Tabu, sondern wird hier viel mehr zu einem Auslöser, sich der Vergangenheit und der Komplexität des Lebens zu stellen. Lisse lernt auf vielen Ebenen, was es bedeutet zu lieben, einander, das Kind, die Eltern, den Stiefvater. Und sie kommt mit sich selbst ins Reine, kann die Sommersprossen und die Stupsnase, die sie vermeintlich zu niedlichsten Drummerin der Welt machen, akzeptieren, weil sie begreift, dass sie das genetische Erbe ihres Vaters sind. Ebenso wie ihre Leidenschaft für Musik und das Trommeln. Sie findet ihre Wurzeln, jedoch ohne zu Verzweifeln.
Denn wenn sie auch ihren Vater nicht mehr kennenlernen wird, so treten auf diesem sommerlichen Roadtrip neue Menschen in Lisses Leben, die sie bereichern.

In Huppertz‘ Roman geht es um das große Gefühl der Trauer und wie man ordentlich Abschied nimmt, ganz egal, ob man den Menschen kannte oder nicht. Jetzt könnte man vermuten, Woher ich meine Sommersprossen habe sei ein todtrauriger Roman, doch dem ist nicht so. Denn Huppertz versteht es vorzüglich, die Hoffnung in das Geschehen einzuflechten, in Form einer neuen Freundschaft, durch wunderschöne Naturerlebnisse, durch eine neue Vertrautheit zwischen Mutter und Tochter und durch Lisses Erkenntnis, dass ihr Leben und ihre Familie in Hannover vollkommen ist.

Ich weiß natürlich nicht, wie viele Kinder genau solche Familien-Geschichten und -Konstellationen erleben, doch von Lisse können sie sich so Manches abschauen, sei es, dass Mädchen sehr coole Schlagzeugerinnen abgeben oder dass man seinen Eltern durchaus nervende Fragen über die Vergangenheit stellen sollte, um mehr über sich selbst zu erfahren.
In diesem Sinne ist dieser wunderbare Roman ein Vorbild für die Suche nach den eigenen Wurzeln. Denn auch das gehört zum Erwachsenwerden dazu.

Nikola Huppertz: Woher ich meine Sommersprossen habe, Thienemann, 2017, 176 Seiten, ab 11, 11,99 Euro

Follow my blog with Bloglovin

Einladung zum Gespräch

mohrZwei Menschen begegnen sich. Im Zug. Die eine mit gültiger Fahrkarte, der andere offensichtlich nicht. Die eine nimmt ihn auf ihrem Ticket mit, der Fahrkartenkontrolleur gibt Ruhe. Und dann? Trennen sich ihre Wege? Nein, für die beiden beginnen 48 funkelnde, anstrengende, lebensentscheidende Stunden. Und wir fuchsen uns lesend rein in dieses Abenteuer, bis wir mitfiebern und die Daumen drücken.

Wer sind die beiden?

Da ist Aino, 18, schweigsam. Sie berührt sofort, etwas Geheimnisvolles umgibt sie, an sie heranzukommen, ist Arbeit.
Da ist Nik, 16, ein Draufgänger, der stets in Schwierigkeiten steckt, vor allem mit seinem älteren Bruder, und die nächsten Tage erst mal ungern daheim gesehen wird.

Nik ist sofort fasziniert, überrumpelt Aino geradezu durch seine Unmittelbarkeit, Neugier, Naivität, seine Jungenhaftigkeit; manchmal redet er wie ein Wasserfall. Als ihm Aino erklärt, sie gehe in ein Schweigekloster und werde Nonne, schlägt er ihr einen Deal vor: Wenn er ihr innerhalb von zwei Tagen und zwei Nächten beweist, was sie auf dieser Welt verpasst, wird sie ihm erzählen, warum sie für immer schweigen will. Aino willigt ein.

Sie haben kein Geld, keinen fahrbaren Untersatz, kein Dach über dem Kopf. Beste Voraussetzungen für ungewöhnliche Entscheidungen, die Nik leichter fallen als Aino. Trotzdem ist sie dabei, um sich auf nicht ganz legalen Wegen das Portemonnaie und den Magen zu füllen. Sie landen in einem Sexshop, treffen eine Wahrsagerin, fahren Riesenrad, übernachten in einer Hütte im Wald und unter klarem Himmel, hören Musik und singen gemeinsam. Sie tun Dinge, die sich für beide fremd anfühlen — und doch so richtig. Vertrauen baut sich auf, Nähe. Berührung überwindet das Schweigen und die Trauer. Denn Aino trauert um ihren kleinen Bruder, während Nik auf der Suche nach den Wurzeln seiner Familie, nach Heimat und Geborgenheit ist.

Angela Mohr erzählt in alternierenden Kapiteln, jeweils aus der Ich-Perspektive ihrer Protagonisten, davon, was sie bewegt. Was sie denken, fühlen, wovon sie träumen, was sie bedrückt, woher sie kommen — und warum sie beide auf der Flucht sind.
Da Aino zunächst beharrlich schweigt, ist die Kommunikation ein Balanceakt, verlangsamt das Tempo, denn sie schreibt ihre Fragen und Antworten in Kurzform auf kleine Zettel. Nik, der die Geschwindigkeit liebt, muss geduldig sein, kann manchmal nur intuitiv erfassen, was nicht formuliert ist, ist darauf angewiesen, aufmerksam zu sein und zu beobachten. Schließlich traut sich Aino doch zu sprechen. Noch ein Kraftakt, denn sie stottert, je aufgeregter sie ist, umso mehr.

»Aino sagt Worte.
Jede Menge Worte. Schöne Worte und hässliche Worte und seltsame Worte.
Sie hetzt ihnen nach. Sie reitet auf ihnen. Sie fliegt mit ihnen davon.
Ihre Stimme ist wie eine Landschaft, sie hat Täler und Höhen, Felsen und Geröllhalden, schneebedeckte Gipfel, leere Wüsten. Sie hat Dunkelheit und Sonne, Bäche und Flüsse und Gämsen, die von Fels zu Fels springen.
Ihre Stimme ist die ganze Welt.« (S. 301)

Dieser Roman schwingt, hat einen eigenen Ton und Rhythmus. Es gibt zahlreiche Textstellen, die man sich notieren möchte, weil die Autorin es schafft, dass wir mitfühlen, mitdenken, mithoffen. Uns mit Aino und Nik identifizieren. Ein authentisches Buch, vielschichtig, voller Humor — und eine Einladung zum Gespräch!

Angela Mohr: Zwei Tage, zwei Nächte und die Wahrheit über Seifenblasen, Arena Verlag, 2016, 310 Seiten, ab 14, 12,99 Euro

Die Psyche der Täter

attentäterSeit dem Anschlag im Zug bei Würzburg im Juli diesen Jahres dürfte auch der Letzte in unserem Land wissen, dass wir 15 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Zeiten beständiger Bedrohung leben. Nun kann man vor lauter Angst absurde Maßnahmen ergreifen, wie Burkinis und Burkas verbieten lassen – oder man versucht zu ergründen, wie junge Menschen dazu kommen, zu Attentäter zu werden.

Für letztere Variante hat sich die Autorin Antonia Michaelis entschieden und hat ein Szenario erdacht, in dem Berlin zur Zielscheibe von islamistischen Attentäter wird. Dabei liefert sie jedoch keine reine Terror-Story, sondern baut eine komplexe psychologische Dreiecksgeschichte auf.
Ihre Helden sind der Halbfranzose Alain, der Halbtürke Cliff und das Mädchen Margarete. Gemeinsam wachsen sie in einem Wohnhaus im Prenzlauer Berg auf, sind Freunde von klein auf.
Alain und Cliff verbindet, dass beide begnadete Zeichner sind und gute Chancen hätten, auf der Kunsthochschule angenommen zu werden. Die Jungs fühlen sich aber auch emotional voneinander angezogen, ohne dass sie lange Zeit über ihre Liebe sprechen.
In dem Trio ist es Cliff, der mit den größten familiären Problemen zu kämpfen hat: Seine Mutter Cemre hat die Familie früh verlassen. Cliff glaubt lange, dass er die Schuld daran trägt. Er schwankt zwischen der Liebe zur Mutter und der Abgrenzung von ihr; er lehnt sich als keines Kind so sehr gegen seinen Vater auf, dass dieser ihn im Schuppen im Hinterhof in einer kalten Weihnachtsnacht einsperrt und vergisst. Alain und Margaret retten den Freund aus diesem eiskalten Gefängnis. Doch sie können Cliff nicht vor den Irrungen und Wirrungen des Heranwachsens bewahren. Cliff rebelliert, wo es nur geht. Er schließt sich rechten Schlägertrupps an, er will dazugehören – egal wo. Bis er bei einer Demo Alain, dem links Orientierten, direkt gegenübersteht.
Cliff lässt nach einer Weile die rechte Szene hinter sich. Sucht weiter, nach seinen Wurzeln, nach seinem Platz in der Gesellschaft und konvertiert zum Islam. Er geht in die Moschee und gerät mit der Zeit in den Einflussbereich der Islamisten. Trotz der Regeln und der vermeintlichen Klarheit des Islam kann Cliff jedoch nicht von Alain und Margarete lassen. Er ist zerrissen zwischen den verschiedenen Welten. Bis die dunkle Seite in ihm die Überhand gewinnt und er mit einem Kumpel nach Syrien ins Kalifat geht. Ein Jahr später kehrt er mit einem Auftrag nach Berlin zurück.

Der Roman von Antonia Michaelis ist auf mehreren Ebenen harte Kost. Sie erzählt die Geschichte der drei Helden nicht als chronologisches Kontinuum, sondern sie springt sowohl in den Zeitebenen, als auch in den Perspektiven ihrer Hauptfiguren. Alle drei lässt sie aus der Ich-Perspektive berichten, was sehr viel Aufmerksamkeit vom Leser erfordert, da nicht immer sofort erkennbar ist, wer spricht. Das ist zwar anstrengend, aber auch ziemlich genial, denn die drei Protagonisten bilden so eine Einheit, bei der es fast egal ist, wer erzählt.
Nach und nach setzt sich schließlich das Puzzle einer möglichen Attentäter-Psyche zusammen. Lange Zeit hält Michaelis den Leser im Unklaren, ob Cliff tatsächlich im Kalifat war – so wie er seine Freunde und seine Familie in Berlin im Unklaren lässt. Das ist extrem spannend und erzeugt im Laufe der Lektüre einen immer größeren Sog.

Gegen Ende war ich hin- und hergerissen. Man fiebert tatsächlich daraufhin, ob der „Tag des Blutes“, wie die Attentäter ihren Plan nennen, wirklich stattfindet, gleichzeitig will man das natürlich nicht. Stattdessen wünscht man sich für Alain und Cliff und auch Margarete endlich ein versöhnliches Ende. Das, was dann passiert, ist schockierend – aber gleichzeitig sind alle Figuren so tief gezeichnet, dass man sie ins Herz schließt. Selbst den Attentäter Cliff.
Natürlich wäre es einfach, ihn zu hassen. Er will Menschen und sich selbst töten. Das ist etwas zutiefst Unmenschliches und Abscheuliches. Doch das Wissen um seine vermurkste Kindheit und seine familiären Abgründe haben bei mir so viel Mitleid mit ihm aufgebaut, dass man ihm den Wunsch nach Erlösung wirklich abnimmt.

Darin liegt nun aber auch die Krux. Ich kann ja nicht mit jedem Attentäter Mitleid haben und alles mit einem verständnisvollen „Er-hatte-eine-schwere-Kindheit“ entschuldigen. Nein. Attentäter sind – entschuldigt den Ausdruck – Arschlöcher. Punkt.
Und nun tun sich jede Menge Fragen auf: Wie wird ein Mensch zum Attentäter? Sind also alle ausländischen Dschihadisten psychisch angeschlagen, zerrissen, nicht gut integriert? Könnte man Anschläge verhindern, wenn nur alle Menschen aus heilen Familien stammen? Oder die nötige Hilfe bekommen, wenn die familiären Verhältnisse nicht mehr zu retten sind?
Michaelis gibt darauf keine Antworten. Allgemein gültige Antworten kann es aber auch nicht geben. Wir sind alle gefordert, jungen Menschenkindern Halt, Wurzeln und Werte zu vermitteln, von Bildung mal ganz abgesehen, damit sie später Chancen auf gute Jobs und Anerkennung haben. Vielleicht könnte man dadurch eine offnere und tolerantere Gesellschaft schaffen und Anschläge verhindern.
Klar ist allerdings auch, dass das nicht immer klappen kann und wird. Zu tief sitzt die Verunsicherung des Menschen am Leben, zu stark sind die Einflüsse von Demagogen, zu tief sitzen bei vielen Menschen die Kränkungen und die Enttäuschung. Man kann beileibe nicht alle Menschen retten. Es ist schier zum Verzweifeln.

In dieser Hinsicht gibt einem der Roman von Antonia Michaelis jedenfalls sehr zu denken, wie man, jenseits des Kampfes gegen die Indoktrination durch Islamisten, jugendliche Seelen so stärken kann, dass sie diesen falschen Versprechungen nicht verfallen. Und das macht sie nebenbei auf äußerst fesselnde Art.

Antonia Michaelis: Die Attentäter, Oetinger Verlag, 2016, 432 Seiten, ab 16, 19,99 Euro

[Gastrezension] Eine Frage der Identität

minhEs gibt einen tollen Cartoon des Zeichners Tom: Ein junger Schwarzer schlurft mit Skateboard unterm Arm und Baseballcap auf dem Kopf durchs Bild. Da schnauzt ihn ein dicker, alter Mann mit Lodenhütchen an: „Geh doch nach Hause!“ Gedankenblase über dem Skater: „Was soll ich in Dortmund?“

Genauso würde die 16-jährige Minh Thi, genannt Mini, die Heldin aus dem Roman Im Jahr des Affen, denken: „Was soll ich in Herford?“ Denn für die als Kleinkind aus Vietnam geflohene Chinesin ist die Stadt in Nordrhein-Westfalen längst ihr Zuhause. Sie spricht fließend und akzentfrei Deutsch. Sie denkt auf Deutsch. Mit ihrem Vater wechselt sie nur wenige, einfache Worte auf Chinesisch. Doch dann kommt ihr Onkel Wu zu Besuch und stellt vieles im Leben der Teenagerin in Frage. Dabei spielt die Sprache eine große Rolle im Zusammenprallen der Kulturen und Lebensweisen. Zum Beispiel begrüßen Chinesen sich mit dem Spruch: „Hast du schon gekochten Reis gegessen?“ Mini antwortet ihrem Vater: „Nein, ich habe noch keinen Reis gegessen – aber Kartoffeln.“ Das ist etwa so, als wenn man in Süddeutschland auf die Formel „Grüß Gott“ antwortet: „Mach ich, wenn ich ihn sehe.“ Nur mit dem Unterschied, dass die meisten Menschen am Weißwurstäquator ein bisschen beleidigt sind, wenn man sie beim Wort nimmt. Minis Vater dagegen lacht höflich, obwohl er den Witz seiner Tochter nicht versteht.

Klug beobachtend, mit leisem Humor und einem besonderem Gespür für vielsagende Situationen beginnt die 1974 im südvietnamesischen Saigon geborene und in Deutschland aufgewachsene Chinesin Que Du Luu ihr erstes Jugendbuch (nach zwei Erwachsenenromanen). Dabei hat sie zumindest bei mir von Anfang an leichtes Spiel, beschreibt sie doch im Jahr 1992, dem titelgebenden Jahr des Affen, eine Party, bei der Mini und ihre Freundinnen Sarah und Micha zu Hits wie Marc Almonds Tainted Love, I Just Can’t Get Enough von Depeche Mode und Balladen von Guns’n’Roses tanzen. Mini verliebt sich, ausgerechnet in Bela, für den doch Sarah aufs Melodramatischste schwärmt. Kurz darauf erleidet ihr Vater, überarbeitet von der Schufterei in seinem schlecht laufenden Restaurant einen Herzinfarkt, Mini findet ihn mitten in der Nacht auf der Straße, neben sich eine ausgekippte Schüssel mit extra für sie zubereitetem gebratenen Reis. Und dann kommt Onkel Wu, der in Australien lebt, aber nur Chinesisch sprechen will, und nennt sie eine Banane: Außen gelb, innen weiß.

Obwohl Mini es zu Recht absurd findet, Menschen als „gelb“ zu beschreiben, bringt der Vergleich es für sie doch auf den Punkt. Nach außen ist sie die Chinesin, sie fällt auf, weckt Erwartungen und Vorurteile bei den Leuten – unterscheidet sich aber in ihrem Fühlen und ihren Wünschen nicht von ihren deutschen Freundinnen.

Onkel Wu und die weitläufige Verwandtschaft in Australien dagegen pflegen und leben das Chinesische. Und während der ältere Bruder ihres Vaters an fast allem rummeckert, sich im Café laut palavernd Schnitzel zum Frühstück schmecken lässt und versucht, das Restaurant in Schwung zu bringen, erfährt Mini vieles über ihre Herkunft und ihr Geburtsland Vietnam, wo sich einst viele Chinesen angesiedelt hatten. Hier spielen Küchengötter, Wächterlöwen, Pfirsiche und das Vier-nicht-ähnlich-Tier wichtige Rollen.

Vor allem der störrische, auch nur auf Kantonesisch kommunizierende Koch Bao erzählt ihr, von Onkel Wu aus der Reserve gelockt, von der Flucht in einem wackeligen Motorboot über das Meer, von tagelanger Seekrankheit und der Angst zu kentern und wie sie gerade im vermeintlich sicheren Singapur angekommen, sofort abgewiesen und wieder aufs offene Meer geschleppt worden sind. Vom Auffanglager in Thailand, wo sie ein Jahr lang in provisorischen Hütten aus Planen gehaust hatten. Dramatische Bilder und Erlebnisse, wie sie momentan wieder so aktuell und allgegenwärtig sind.

Und Bao erzählt von einem dunklen Geheimnis, dass Minis Vater mit ihm verbindet.

An all das erinnert sich die Protagonistin genauso wenig wie an ihre nicht weiter erwähnte Mutter. Zum einen, weil sie gerade mal drei, vier Jahre alt war, als die Vietcong sie vertrieben. Zum anderen, weil ihr Vater sich hingebungsvoll um sie gekümmert, sie vor allem beschützt und alles für sie getan hat. Das wird ihr erst jetzt bewusst, nachdem sie sich immer für die mit gespendeten Möbeln ausgestattete Hochhauswohnung, das düstere Restaurant und mit chinesischen Delikatessen ruinierte Geburtstagspartys geschämt hatte. Und sie fragt sich, warum ihr Vater sich in einem ihm fremd gebliebenen Land, fern seiner Familie abmüht, ein Leben, das nur aus Arbeit und erschöpft nachts vor dem Fernseher einschlafen besteht, ohne einen einzigen Freund, einen Menschen, mit dem er reden kann.

In diesem Sommer Im Jahr des Affen ändert sich viel in Minis Leben. Que Du Luu erzählt von Flucht und Fremde, von zu Hause und Familie in einer ganz eigenen Sprache, die noch lange nachhallt und den Leser vieles mit anderen Augen sehen lässt.

Elke von Berkholz

Que Du Luu: Im Jahr des Affen, Königskinder, 2016, 288 Seiten, ab 14, 16,99 Euro