Urzustand jedes Seins

Zuletzt hat hier Burkhard Spinnen mit »Fipp, Vanessa und die Koofmichs« gezeigt, was der Besuch von Außerirdischen mit den Erdenbewohnern machen kann. Diesmal werden Außerirdische durch eine Begegnung mit dem All bedroht. Es sind Die letzten 23 Tage der Plüm, die die Comic-Zeichnerin Katharina Greve höchst vergnüglich in Szene setzt. Ursprünglich als täglicher Strip in der Berliner Tageszeitung abgedruckt, liegt die komplette Katastrophe jetzt sauber hintereinander weg erzählt in einem entzückenden, querformativen Band des avant-Verlags vor.

Erste Regel in ausweglosen Situationen: PANIK!!!

Es ist das klassische Endzeitszenario zahlreicher Filme und reizvoller Gedankenspiele: Du hast nur noch wenige Tage zu leben – was machst du? Oder anders gesagt: Du hast keine Chance – nutze sie.
Das ist leichter gesagt als getan. »Schte, Rüm, schlechte Nachrichten. Dieser pinke Punkt da oben kommt auf uns zu. Nach meiner Berechnung stoßen wir in 23 Tagen mit ihm zusammen. Wir werden alle sterben«, erklärt Pla, der schlaueste der letzten drei Bewohner des Planeten Plümos. Und die drei Plüm reagieren so, wie wohl Jeder andere auch. Erste Regel in ausweglosen Situationen: PANIK!!! Zweite Regel: So viel Summerling, das lokale Rauschmittel, trinken wie sie können.

Ungeschlechtliche Kopffüßler mit erstaunlich viel Charakter

Die Plüm sind ungeschlechtliche Kopffüßler. Greve gibt den drei extrem reduzierten grünen Riesenköpfen mit Strichbeinchen und -ärmchen erstaunlich viel Charakter. Nicht nur optisch sind die kuriosen Plüm auf das Wesentliche reduziert. Jeder Tag endet mit »Wissenswertem über die Plüm«. Greves Comic ist eine famose Symbiose aus lustigen Zeichnungen und hintersinnigen Texten, die genug Raum zum Weiterdenken lassen.
Auch die Zivilisation der Plüm konzentriert sich auf das Essenzielle: Zum Beispiel haben sie sich von den immer komplizierteren Ritualen der Anbetung einer stetig wachsenden Zahl von Göttern dem Monotheismus zugewandt. »Da aber auch der Kult um nur einen Gott den Plüm bald zu anstrengend wurde, schafften sie einfach die Religion komplett ab.« Eine weise Entscheidung, die auch den Bewohnern anderer Planeten viele Probleme ersparen würde.

Diese komische Phase, wenn man dem Leben Sinn geben will

Sehr sympathisch ist auch diese Lebenseinstellung: »Seit jeher halten die Plüm den Schlaf für den Urzustand jedes Seins, da man schlafend niemandem Schaden zufügt. Alle anderen Aktionen – wie etwa die Ernährung – dienen nur dazu, den Schlaf zu sichern.«
So könnte es also immer weitergehen, wenn sich nicht dieser pinke Punkt auf ihren Planeten zu bewegen würde … Verdrängen, Ignorieren und demonstratives Vorbeisehen klappen auf Dauer nicht.
Und so machen die Plüm diese komische Phase durch, wenn man glaubt, dem Leben einen Sinn geben zu müssen. Vermehren, was in ihrem Fall mühselige Teilung statt entspanntem Sex bedeutet, verbietet sich, weil dann noch mehr Plüm beim Zusammenstoß getötet würden.

Alles sinnlos, sehr lustig und allzu menschlich

Also entschließen sie sich, jeden Tag etwas zu machen, was sie noch nie gemacht haben: Schmutzen und den Dreck wieder auffegen. Vergammeltes Trufontfleisch essen und zum ersten Mal eine Fleischvergiftung haben – obwohl der plümsche Magen sonst fast alles verträgt. Überflüssige Bildhauerei, Megaschaumbäder, unspielbare Bälle, mythische Artefakte ausgraben und vor des Rätsels Lösung gleich wieder vernichten …
Alles sinnlos, total bekloppt, sehr lustig und vor allem allzu, ja genau, menschlich. Kein Wunder, dass die taz-Leser vehement gegen Greves ursprünglichen Plan, die Plüm nach 23 Tagen tatsächlich sterben zu lassen, protestierten. Mit Erfolg: Am Ende entpuppt sich der große Knall als ein großer »Platsch«, es regnet rosa, das war’s. »Na, das war ja maximal ein ENDCHEN«, konstatiert ein Plüm.

Very nice, very nice … but maybe in the next world

Der kluge Pla begreift den knapp verpassten Weltuntergang als zweite Chance: »Wir sind quasi verpflichtet, die Plümheit zu neuer alter Größe zu führen! Wir legen Sum-Baum-Plantagen und Lübosen-Farmen an, füllen die Plüm-Kultur mit neuem Leben, bauen Städte, Straßen, Kanäle, erschließen neu Energiequellen, versetzen Berge, erobern den Weltraum!«
Tolle Ideen, leider sehr anstrengend umzusetzen. Oder wie The Smiths einst sangen: »Love, peace and harmony? Oh, very nice. Very nice. Very nice … but maybe in the next world.«
Darauf einen Summerling. Und noch einen. Und noch ganz viele. Und ein Hoch auf die Plüm!

Katharina Greve: Die letzten 23 Tage der Plüm, avant-Verlag, 2021, 104 Seiten, ab 10, 20 Euro

Umfallen lernen

umfall

Was ist das denn für ein schräger Superheld? Ein moppeliger Kerl mit schwarzem Pilzkopf  und Oberlippenflaum, im rotgestreiften Schlafanzug und Badeschlappen an den Füßen, der sich seinen Umhang festknotet – so steht er auf dem Titelbild von Mikael Ross‘ Comic Der Umfall. Und wieso Umfall?

Zack, ist man schon drin in der Geschichte: Jetzt ist der Held namens Noel in seiner Daunenjacke ein rotes Michelinmännchen mit Mütze – und er benimmt sich auch ziemlich schräg: Bestaunt Prinzessinenpuppen, weiß nicht, wie alt er ist, schmettert lauthals im Feierabendrummel umgetextete Weihnachtslieder. Nach ein paar idyllischen, liebevollen Szenen mit seiner Mutter, genannt Mumsie, Geburtstagsgeschenken und gegrillten Marshmallows auf dem Balkon passiert der titelgebende Umfall: »Mumsie schläft auf dem Boden. Schlafen tut man aber im Bett. Und da is auch Blut … gehört da nicht hin.«

Panik, zur Beruhigung stülpt Noel sich einen Blumentopf über den Kopf, schließlich schafft er es mit größter Anstrengung einen Rettungswagen zu rufen.

Mit dem Umfall fällt Noel aus seinem bisherigen behüteten Leben in Berlin. Mumsie liegt im Koma, allein kann Noel nicht in der Wohnung bleiben. »Daheim ist nicht mehr mein Daheim.« Also bringt ihn »der Mann mit Bart« (sein Vater? Eine Frage, die Noel nicht stellt) nach Niedersachsen in das Dorf Neuerkerode.

Neuerkerode – die besondere Dorfgemeinschaft

Wie sein fiktiver Held Noel kam der Comiczeichner Mikael Ross in eine ihm zuvor völlig unbekannte Welt: Neuerkerode gibt es wirklich. Es ist ein inklusives Dorf, in dem Menschen mit und ohne Behinderung, unterschiedlichster Vorgeschichte und Prägung, leben und arbeiten. Ross erzählt die Geschichte dieser besonderen Dorfgemeinschaft aus Noels Perspektive: vorsichtig beobachtend und absolut unvoreingenommen. Langsam lernt er die Bewohner, Bürger genannt, und ihre individuellen Besonderheiten kennen. Wir sind hautnah dabei. Natürlich läuft beim »normalen« Leser (in der taz nannte eine Autorin, Mutter eines Sohns mit Downsyndrom und Tochter mit ADHS, ihren Mann »mehrfach schwer normal«) immer der Meta-Text mit: Wir versuchen die Art der Behinderung und ihre Schwere zu benennen, erkennen natürlich einen epileptischen Anfall als solchen, fremdeln in diesem Kontext noch mehr als sonst beim Thema Sex, denken über vermeintlich politisch korrekte Begriffe wie »anders begabt« nach. Oder, wie Andreas Steinhöfels Rico sagen würde: »tiefbegabt«.

Recherche vor Ort

Es gelingt Mikael Ross grandios, die Menschen aus Noels Sicht zu zeigen und sie einfach, so wie sie sind, auf sich zu kommen zu lassen. Ihren eigenen Humor, ihre Sprache, teils verquere Sichtweise und skurrile Logik übersetzt er geistreich und witzig. Zweieinhalb Jahre hat Ross in Neuerkerode recherchiert und wiederholt mehrere Tage in einem Apartment im Dorf gewohnt. Nach einiger Zeit hat er gelernt, dass er viel mehr über die Menschen vor Ort erfährt, wenn er, anstatt einzelnen gezielt Fragen zu stellen, sie auf sich zukommen lässt. Sie haben ihn an ihrem Leben, ihrer individuellen, teils sehr speziellen Erlebniswelt teilhaben lassen.

Und sie haben ihm viel von sich erzählt, unter anderem von dem schrecklichen Kapitel der 150 Jahre alten Einrichtung während der NS-Zeit. Zahlreiche Bewohner wurden abgeholt und ermordet. Damals waren Jungen und Mädchen, Männer und Frauen streng durch einen hohen Zaun voneinander getrennt. Trotzdem konnte ein Junge seine Schwester noch warnen, bevor auch er deportiert wurde. Die mit 92 Jahren älteste Bewohnerin Neuerkerodes überlebte, weil sie sich im Wald versteckt hatte. Diese erschütternde Erzählung webt Ross geschickt als eine frühmorgendliche Begegnung Noels mit der reizenden, alten Irma an der Bushaltestelle ein.

Beiläufig erfährt man andere Lebensgeschichten, vom autistisch-zahlenversessenen Valentin, von Alice, die bei großer Aufregung epileptische Anfälle erleidet, von der Frau, die sich früher selbst verletzt hatte, mit Medikamenten sediert und ans Bett fixiert wurde und dann Judo für sich als Therapie ohne schädliche Nebenwirkungen entdeckt hat und den übersetzt »sanften Weg« anderen Bewohnern beibringt.

Dabei beschönigt Ross nicht, er idealisiert und verharmlost Behinderungen nicht. Die meisten Neuerkeroder wären außerhalb, in der »normalen« Welt nicht lebensfähig. Schon am Anfang reißt Noels Mutter angesichts seiner Trödel- und Singerei irgendwann der Geduldsfaden und sie brüllt: »Es reicht. Du nervst.«

Sie alle sind mal niedlich, lustig, entzückend, sympathisch verschrobene, harmlose Spinner. Aber ebenso können sie extrem anstrengend sein, gewalttätig, nerven und einen in den Wahnsinn treiben.

Das Leben in allen Facetten

Während Noels Eingewöhnungszeit, seinen Begegnungen und Erfahrungen, wird uns klar, dass genau das unser Unbehagen gegenüber Behinderten ausmacht: Dass sie uns »Normalen« fremd und unberechenbar sind. Dass ihre Handlungen oft unlogisch erscheinen und wir uns nicht in sie hineindenken und –fühlen können; dass wir uns in ihrer Gegenwart deshalb selbst hilflos fühlen.

Ross zeigt auch, dass in Neuerkerode ebenso geliebt, gestritten, um Aufmerksamkeit geeifert, getrauert, vermisst und Freude empfunden wird. Leben in allen Facetten, nur halt ein bisschen anders.

Kluger Strich, kühne Konturen

Ross, der ursprünglich Herrenschneider gelernt und nie Illustration studiert hat und heute im Zweitjob als Kostümbildner arbeitet, fängt dieses eben nicht ganz normale Leben in Buntstiftzeichnungen ein. Die Technik hat er erst in Neuerkerode für sich entdeckt, wo viel und begeistert gezeichnet wird. Seine Figuren sind alle ausgereifte Charaktere mit markanten, nie genormten oder klassisch schönen Physiognomien. Manchmal bekommen die Zeichnungen etwas karikatureskes, doch ohne jemanden zu verspotten oder lächerlich zu machen. Außer bei der Gruppe Ärzte, die Noel über den Zustand seiner Mutter informieren wollen: Sie wirken absolut nachvollziehbar wie durcheinanderquakende Enten, angesichts unverständlicher und kaum empathisch hervorgestoßener Fachtermini. Flaschenbodendicke Brillengläser etwa lassen aus Sicht Noels die Augen seines Gegenübers wahlweise verschwinden oder untertassengroß erscheinen. Und Alices Eifersuchtsanfall zum Beispiel verwandelt sich zum Cartoon in Stop-Motion-Bildern. Ross braucht im Gegensatz zum Film keine aufwendigen Special Effects für seinen mitreißenden Comic. Kluger Strich, kühne Konturen und kräftige Colorationen machen seine Panels lebendig und dynamisch.

Erstaunlich ist die Entstehungsgeschichte dieses Comics: Es ist die offizielle Festschrift zum 150. Geburtstag Neuerkerodes am 13. September 2018, wie man erst im Nachwort  erfährt.  Zwar gab’s einen konkreten Abgabetermin, ansonsten hatte Ross aber hierfür sämtliche künstlerische Freiheiten. Das spricht auch für den ungewöhnlichen Geist dieses inklusiven Dorfs: Dass man eben nicht das macht, was man normalerweise macht.

Zum Schluss, ein Jahr ist mittlerweile rum, hat Noel sich mit seinem neuen Leben in Neuerkerode arrangiert. Er hat vieles gelernt. Auch, nicht zuletzt dank Judo, richtig umzufallen – und wieder aufzustehen.

Mikael Ross: Der Umfall, Avant Verlag 2018, 128 Seiten, ab 14, 28 Euro

Den Blick schärfen, die Kreativität fördern, Kunst machen

Gerade ist – wieder mal – ein Gemälde eines alten Meisters für eine Unsumme versteigert worden, obwohl die Urheberschaft anscheinend nicht eindeutig geklärt ist und sich da ein potenter Käufer vielleicht gar keinen echten Leonardo Da Vinci zugelegt hat. Kunst ist eben ein ziemlich macht- und geldgetriebenes Geschäft geworden. Was aber auch wieder zeigt, dass Kunst in unserem Leben einen (ge)wichtigen Stellenwert einnimmt. Was mich zu der Frage bringt: Wie führt man Kinder an die Kunst und ihre Vielfältigkeit heran?

Selbst malen ist wahrscheinlich der beste Weg, kleine Menschen mit Kunst vertraut zu machen. Neben der Fähigkeit einen Stift zu halten, gehört dann aber auch das genaue Hinsehen und Beobachten dazu. Denn wer aufmerksam hinschaut, bringt irgendwann auch Wiedererkennbares aufs Papier.
Ganz spielerisch geht die Berliner Illustratorin Marion Goedelt an diese Herausforderung ran. Sie verwandelt die eigentlich immer etwas spießig und unkreativ daherkommenden Zahlenbilder – bei den man also durchnummerierte Punkte zu einem Objekt verbinden muss – in ein aufregendes Entdeckungsabenteuer.

Angelehnt an da Spiel „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist …“ wiederholt sich auf jeder Doppelseite dieser Satz, ergänzt durch etwas, das herausgefunden werden soll, beispielsweise etwas Spaciges, Schleimiges, Gruseliges oder Gefährliches. Auf wunderschön aquarellierten oder mit Wachsmalfarben gestalteten Hintergrundbildern müssen die kleinen Künstler nun das Werk vervollständigen. Die schrägen Figuren, die bei den Zahlenbildern entstehen, sind nicht leicht vorherzusehen (auch für Erwachsene nicht). Was die Angelegenheit dann auch noch spannend macht.
Und hat man mit einem dünnen Bleistift (meine Nichte und ich haben uns erst gar nicht getraut, dicke Filzer zu nehmen) alle Punkte verbunden, geht der Spaß noch eine Runde weiter, denn nun müssen die Gesellen mit dicken Stiften und bunten Farben weiter zum Leben erweckt werden. Die Endergebnisse verwandeln dieses so schon charmante Malbuch dann in ein ganz feines, wertvolles Einzelstück.

Ist nach diesem ersten Malabenteuer dann der Schritt zum genauen Hingucken und angeleitetem Zeichnen vollzogen, stellt sich oft die Frage: Wie bekommt man die Figuren und Gegenstände auf den Bildern so hin, dass sie witzig, dynamisch und mehr oder minder realistisch aussehen?
Der Münchner Comic-Zeichner Ja Reiser hat dafür nun, seine Strich-und-Farben-Kolumne, die zwei Jahre lang in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung erschienen ist, zu einem knallbunten Anleitungsbuch zusammengefasst.
In seinem comic-artigen Stil zeigt er zunächst einmal alles, was man zum Zeichnen benötigt, neben Papier, Stifte und Farben, eben auch Anspitzer und Radiergummi, sowie einen passenden Stuhl, damit man beim Zeichnen keine Rückenschmerzen bekommt. Immer wieder eingeflochten sind dann kurze Kapitel über Grundlagen des Zeichnens, also Erläuterungen zu Licht und Schatten oder der Perspektive.

Reisers Sammlung von Motiven – Tiere, Menschen und Fahrzeuge aller Art – liefert unzählige Vorschläge, was alles gezeichnet werden kann. Dabei macht er durch den Aufbau einer Seite klar, dass nicht einfach drauflos gekritzelt wird, sondern, dass man jedes Motiv zunächst einmal genau betrachten sollte und es dann in seine Formen zerlegt. Diese zeichnet man vor und fügt schließlich die Details hinzu. Um den typischen Ligné-claire-Stil der Comics hinzubekommen, werden die Umrisse dann mit Schwarz nachgezogen und erst ganz zum Schluss werden die Motive bunt koloriert. Das mag für angehende Comic-Zeichner vielleicht erstmal frustrierend sein, macht ihnen jedoch bereits von Anfang an klar, dass es eben kein Kinderspiel ist, einen richtig guten Comic zu zeichnen.

Wem der humoristische Comic-Stil dann doch nicht so liegt, sondern wer sich völlig frei auf dem Zeichenblatt bewegen will, der findet eine überaus großartig Anregung bei Marion Deuchars. In ihrem fast DIN-A-4-großen Wälzer Malen und zeichnen wie die großen Künstler stellt sie 18 Künstler_innen vor, von Joan Mirò, Salvador Dalí, Frida Kahlo oder Andy Warhol bis zum Japaner Hokusai.

In kurzen Texten erläutert sie den besonderen Stil des jeweiligen Künstlers und lädt dann sofort zum Nachmachen ein. So entstehen auf dickem, ungebürstenem Papier kubistisch inspirierte Stillleben, Collagen, Selbstportraits, Kalligramme, Menschen und Tiere, Kreise und Dreiecke, Selbstportraits und Tintenkleckszeichnungen.

Auch hier wird wieder genau hingeschaut, beispielsweise bei den mexikanischen Glyphen oder bei den Unterschieden von zornigen oder fröhlichen Bleistiftstrichen. Und bei all dem entfaltet sich vor den Augen der Betrachter_innen die ganze Vielfältigkeit der Kunst und ihre Sinnhaftigkeit. Dabei zeigt auch das Beispiel der australischen Aborigine Emiliy Kngwarreye, dass man für künstlerische Betätigung nie zu alt ist (sie begann mit 80 Jahren zu malen). Ihr Rückgriff auf die eigenen Traditionen und die eigene Lebenswelt beweisen anschaulich, dass auch ein einfacher Stock zu einem Kunstwerk werden kann.

Nach der Beschäftigung mit diesem Buch, das selbst ein Kunstwerk ist, schaut man seine eigene Umwelt definitiv mit anderen Augen an. Man entdeckt, was in Haus und Garten alles für die Erstellung von Kunstwerken genutzt werden kann. Beim Malen, Zeichnen, Kleben, Ausschneiden, Zusammensetzen, Kolorieren und Ausdenken entsteht so ein sinnliches Erlebnis, das weitaus mehr befriedigt, als so manch andere passive Freizeitbeschäftigung. Hier bekommen die Synapsen im Hirn richtig Futter – und vielleicht findet der oder die kleine Künstler_in ganz nebenbei ihren eigenen Stil und ihre eigene Leidenschaft.

Marion Goeddelt: Ich sehe was, was du nicht siehst. Zahlenbilder zum Verbinden, Aus- und Weitermalen, Tulipan, 2017, 40 Seiten, ab 6, 10 Euro

Jan Reiser: Strich und Farben – Die große Zeichenschule, 96 Seiten, ab 8, 14,99 Euro

Marion Deuchars: Malen und Zeichnen wie die großen Künstler, Übersetzung: Claudia Koch/Kathrin Lichtenberg, Midas, 2. Aufl. 2015, 240 Seiten, ab 10, 24,90 Euro

Die ganz große Liebe

vater 1vater 2vater 3Wenn ich so überlege, wo meine Leidenschaft für Bildergeschichten, Comics und Graphic Novels herrührt, gibt es eigentlich nur eine Antwort: von Vater und Sohn von E.O. Plauen.

Die Sammlung der Zeitungsstrips standen bei meinen Eltern im Regal im Wohnzimmer, und es gab für mich nichts Schöneres, als sie auf dem Teppich liegend anzuschauen, drei schmale Büchlein mit lustigen Bildergeschichten. Das war vor fast 40 Jahren. Jetzt hat der Südverlag diese Schätze wieder neu aufgelegt. Und ich schwelge in diesen hintersinnigen und auf den Punkt gebrachten Erlebnissen von Vater und Sohn.

Sie feiern Geburtstag, spielen Schach, gehen in den Zoo, rauchen Pfeife, helfen einander, jagen einander, erziehen einander, lesen gemeinsam, verteidigen sich gegen Fremde, Einbrecher und Lehrer, schummeln und beschenken sich, weinen zusammen, erben Reichtümer und landen auf einer einsamen Insel. Es sind alltägliche Situationen, die E.O.Plauen ab dem 13. Dezember 1934, also vor genau 80 Jahren, in der Berliner Illustrirten veröffentlicht hat. Doch hinter dem Alltäglichen steckt im Komischen das Subversive, das gegen Spießertum und absurde Regeln aufbegehrt. Und es steckt Liebe, jede Menge Liebe, in den Strips. Die Liebe vom Vater für den Sohn, vom Sohn für den Vater. Auch wenn es in der Tradition der schwarzen Pädagogik mal Prügel setzt, so setzt es die nicht nur für den Sohn, sondern auch für den Vater.
Was auf jeden Fall jedoch überwiegt, ist der Spaß, den beide miteinander haben. Sie beweisen auch in scheinbar aussichtslosen Situationen, dass es Lösungen gibt. Und darin sind diese Strips einfach zeitlos.

In ihrer Kürze – meist braucht E.O. Plauen nur vier bis neun Panels, um eine Geschichte zu erzählen – und in ihrem schnörkellosen Strich gleichen sie kurzen Gedichten, die einem die Welt eröffnen. Ist das Lachen und Schmunzeln vergangen, kommt die Erkenntnis und das Nachdenken, darüber, wie die Welt vielleicht sein sein sollte und wie die Beziehung von Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Sohn und Mutter, Tochter und Vater, Eltern und Kindern, Kindern und Eltern.
E.O. Plauen zeigt es eindrücklich und voller Liebe.

E. O. Plauen: Vater und Sohn. Band 1-3
50 Streiche und Abenteuer 

Noch 50 Streiche und Abenteuer
Die letzten 50 Streiche und Abenteuer
Südverlag, 2014, je 112 Seiten, je 12 Euro

Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur

kriegAm Wochenende war ich in Tutzing am Starnberger See. Dort findet alle zwei Jahr in der Evangelischen Akademie eine Tagung zur Kinder- und Jugendliteratur statt, die von der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (AvJ) und dem Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität in Frankfurt am Main organisiert wird. In diesem Rahmen treffen dann Wissenschaft, Verlage, Autoren, Übersetzer, Lehrer, Buchhändler und Bibliothekare aufeinander und informieren sich und diskutieren lebhaft über ein bestimmtes Thema im Bereich Kinder- und Jugendbuch.

Im Zuge des Gedenkens an den Ausbruch des ersten Weltkriegs vor hundert Jahren stand diese Tagung ganz im Zeichen von Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur. In den Vorträgen wurde dabei sowohl ein Blick zurück geworfen, auf die Literatur, die unmittelbar im ersten Weltkrieg erschien, wie beispielsweise Nesthäkchen und der Weltkrieg von Else Ury, aber auch auf die Gegenwartsliteratur, die sich mit dem Kriegsgeschehen befasst, wie Feldpost für Pauline von Maja NielsenDer Krieg ist ein Menschenfresser von Elisabeth Zöller oder Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg von Nikolaus Nützel. Quintessenz war, dass es kaum noch Erfahrungs- und Erlebnisliteratur über den ersten Weltkrieg geben kann, da die Zeitzeugen bereits gestorben sind, und daher eigentlich nur noch die Form des historischen Romans als Darstellungsmittel in Frage kommt. Von diesen aktuellen Büchern bekamen die Tagungsteilnehmer einen plastischen Eindruck, da neben Elisabeth Zöller auch die Autoren Herbert Günther und Jürgen Seidel aus ihren neuesten Werken am Samstagabend lasen.

kriegDoch nicht nur Literatur, die den Krieg in all seinen Facetten zeigt, um so zu pazifistischem Denken anzuregen, wurde vorgestellt, sondern auch die Kriegsdarstellung in Tiererzählungen und -animationsfilmen sowie in zeitgenössischen Computerspielen wurde betrachtet. Mag das für Außenstehende abwegig klingen, so ist dieser Blick über den Tellerrand jedoch immer sehr erhellend und aufschlussreich, zumal zu unserem täglichen Konsum von Kulturgut Film und Computer mittlerweile selbstverständlich dazugehören. Filme wie Antz oder Das große Krabbeln, die ab sechs Jahren freigegeben sind, konfrontieren die Kinder bereits früh mit Kriegsgeschehen und militärischen Machtspielen. Ähnlich scheint es bei Computerspielen zu sein, mit denen ich mich so gut wie gar nicht auskenne. Auch dort gibt es Spiele, in denen gekämpft, angegriffen und zerstört wird, an die bereits Sechsjährige heran dürfen. Hier entspann sich kurz eine Diskussion um Ächtung von Kriegs- und Killerspielen, die zwar berechtigt, für die diese Tagung jedoch der falsche Ort war, ging es doch vornehmlich um eine Präsentation des Ist-Zustandes und dem, was es in unserer Gesellschaft alles gibt. Eine moralische Bewertung des Phänomens Ego-Shooter muss an anderer Stelle geschehen.

mutter kriegFür mich war darüber hinaus noch der Workshop zum ersten Weltkrieg im Comic interessant. War der Große Krieg  lange Zeit nur in wenigen Publikationen von Hugo Pratt, Jacques Tardi oder Markus Wiedenhöft und Dirk Fastermann ein Thema, so gibt es  momentan doch einige neue Graphic Novels dazu.
Die umfangreichste ist die Gesamtausgabe Mutter Krieg von den Franzosen Kris und Mael, die vor dem Hintergrund der Schlachten an der französischen Westfront einen Kriminalfall inszenieren. In aquarellierten Panales mit zarten Tuschzeichnungen werden die Schrecken des Krieges eindrücklich sichtbar: jugendliche Soldaten, Grabenkämpfe, Panzer, Giftgasangriffe – das Spektrum ist umfangreich in diesem Werk. Leider ist die Übersetzung hier nicht ganz stimmig, was u.a. an den zu aktuellen Schimpfworten oder dem nicht korrekten Ave-Maria zu erkennen ist. Es hat mich schon ein wenig gewundert, dass bei der deutschen Produktion dieses in Frankreich sehr geschätzten Bandes darauf nicht richtig geachtet wurde. Übersetzen ist überhaupt nicht einfach, das weiß ich aus Erfahrung, und ich habe höchsten Respekt vor der Arbeit der Kollegen, doch ein gutes Lektorat gehört einfach dazu, denn kein Übersetzer ist perfekt.
In Sachen Comics zum ersten Weltkrieg muss ich also noch weiterschauen, was sich zu lesen lohnt.

kriegLohnend scheint auf jeden Fall der Erzählband Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen zu sein. Herausgeberin Alexandra Rak hat dafür 15 Autorinnen und Autoren angeschrieben und um eine Erzählung zum ersten Weltkrieg gebeten. So finden sich in diesem Band Gudrun Pausewang, Paul Maar, Kirsten Boie, aber auch Nils Mohl und Nataly Elisabeth Savina als Vertreter der jüngeren Generation und liefern neben ihren Geschichten auch Bilder aus der Zeit von vor hundert Jahren. Diesen Band werde ich mir dieser Tage  genauer anschauen.

Wie es Tagungen so an sich haben: Tutzing war anstrengend und anregend zugleich. Anstrengend, weil „nur“ herumsitzen und zuhören einen ganz schön fordern kann. Anregend, weil meine Hirnfestplatte mit Neuem gefüllt wurde, sowohl durch die hervorragenden Vorträge, als auch durch die Gespräche in den Pausen und am Abend. Meine Leseliste ist um einige Titel angewachsen – und das Thema erster Weltkrieg wird auf diesem Blog noch so einige Male auftauchen. Ganz sicher.

Herbert Günther: Zeit der großen Worte, Gerstenberg Verlag, 2014, 272 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Jürgen Seidel: Der Krieg und das Mädchen,  cbj, 2014, 480 Seiten, ab 12, 16,99 Euro

Kris/Maël: Mutter Krieg, Übersetzung: Marcel Küsters, Splitter Verlag, 2014, 256 Seiten, 39,80 Euro

Alexandra Rak (Hg.): Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Erzählungen über den Ersten Weltkrieg, Fischer, 2014, 320 Seiten, ab 12 16,99 Euro

Von fremden Welten

Zugegeben, ich liebe Atlanten. In Momenten, in denen ich nicht durch unbekannte Gefilde fahren oder wandern kann, bieten mir die geografischen Karten unendliche Möglichkeiten, auf Reisen zu gehen. Dann durchstreife ich fremde Städte, erklimme Gebirgszüge, folge Küstenlinien und Flussläufen. Manche Orte, an denen ich schon mal war, erkenne ich wieder (es sind die wenigsten). Alle anderen befeuern meine Fantasie und die Sehnsucht, vielleicht einmal dorthin zu gelangen.

Ähnliches ist mir jetzt mit einem sehr ungewöhnlichen und sehr schönen Atlas passiert, dem Atlas der fiktiven Orte. Hier gibt es „Karten“ der anderen Art. Sie zeigen keine realen Orte, sondern – wie der Titel schon sagt – 30 erfundene Städte, Länder und Welten aus Literatur, Theater, Film und Fernsehen. Es handelt sich dabei um collageartige Illustrationen von Steffen Hendel, die den Leser nach Avalon, Xanadu, Springfield, aber auch Gondor und auf die Schatzinsel entführen. Die Illus setzen sich aus Fotos, Grundrissen, realen Flussläufen und grafischen Elementen zu Fantasiekarten zusammen. Viele kleine, überraschende Details entdeckt man erst bei genauem Studium.

Die Karten und die zugrundeliegenden Werke erläutert der Komparatist Werner Nell. In seinen literaturwissenschaftlichen Aufsätzen ordnet er die Bedeutung der Orte in der jeweiligen Geschichte ein, referiert kurz deren Inhalt und stellt Bezüge zu anderen Werken, Genres und gesellschaftlichen Phänomenen her. So regen nicht nur die Karten zum fiktiven Reisen an, sondern auch Nells Analysen und Interpretationen beinhalten jede Menge Entdeckungspotential. In seiner Kombination aus Text und Illustration führt dieser Atlas dem Leser eindringlich vor Augen, dass der Mensch mit seiner Fähigkeit, sich fiktive Geschichten auszudenken, auch seinem tiefen Bedürfnis Ausdruck verleiht, eigene Welten zu erschaffen. So kann er immerhin im literarischen Rahmen ein bisschen Gott spielen.

Genau diese einzigartigen Welten jenseits unserer Realität tragen neben den Handlungen und den Figuren maßgeblich zur Faszination der Bücher, Theaterstücke oder Comics bei, die wir täglich verschlingen. Wir träumen uns weg oder freuen uns diebisch, wenn wir unsere Alltäglichkeiten dort gespiegelt oder aufs Korn genommen vorfinden. So habe ich in diesem Atlas alte Bekannte aus der Kindheit getroffen wie Lummerland und Entenhausen, bin mal wieder auf den Zauberberg gestiegen, habe Metropolis von einer anderen Seite kennengelernt und bin dann in die unbekannten Sphären von Utopia und der Sonnenstadt vorgedrungen. So ein Buch hätte ich mir zu Studentenzeiten gewünscht, als mein strukturalismusfixierter Professor über Orte in der Literatur monologisierte, ohne das der Funke für Literatur übersprang. Anregend geht anders, wie dieses Kompendium zeigt.

Als Nebenwirkung der gerade erlebten Fantasiereisen muss ich jetzt mit dem dringenden Bedürfnis leben, so schnell wie möglich auch die Originaltexte zu lesen, die ich bis jetzt noch nicht kenne. All die fremden Welten muss ich jetzt unbedingt selbst erkunden. Für ein Buch, das so etwas in mir auslöst, bin ich den beiden Autoren sehr dankbar.

Werner Nell/Steffen Hendel: Atlas der fiktiven Orte. Utopia, Camelot und Mittelerde. Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen, Meyers, 2011, 160 Seiten, 29,95 Euro

Endlich.

buddha 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen in Japan bringt der Hamburger Carlsen Verlag nun den Manga Buddha von Osamu Tezuka heraus. Besser spät als nie, könnte man anfügen.

Doch vielleicht braucht auch alles seine Zeit, um angemessen gewürdigt zu werden. Carlsen veröffentlicht Tezukas Werk jedenfalls unter dem Label „Graphic Novel“, was vor ein paar Jahren wahrscheinlich nicht denkbar gewesen wäre.

Die Umetikettierung von Comics in Graphic Novel ist ein Phänomen der vergangenen Jahre und zeigt, wie sehr in deutschen Köpfen eigentlich immer noch das Vorurteil gegen den „Schund“ der Bildergeschichten herumgeistert. Comics, das sind Donald Duck, Micky Maus, Tim und Struppi, Asterix und Obelix – und somit angeblich nur was für Kinder (Donaldisten mal ausgenommen). Graphic Novels hingegen sind erwachsen, anspruchsvoll, gebildet und cool – also genau richtig für vermeintlich fortschrittliche Hipster. Und so verkaufen sich Comics und Mangas unter dem neuen Genre-Namen plötzlich besser und sind en vogue.

Auch wenn ich über diesen „Etikettenschwindel“ manchmal noch den Kopf schüttele, so soll er mir doch recht sein, wenn dadurch Bildergeschichten wie die von Osamu Tezuka endlich wertgeschätzt und ins Deutsche übersetzt werden.

Tezuka, der Schöpfer von Astro Boy und Kimba, der weiße Löwe, wird in Japan als „Gott der Manga“ verehrt. Ein Stellenwert, den hierzulande kein Comic-Zeichner bis jetzt erreicht hat. Seit ich vor Jahren Tezukas Pentalogie Adolf verschlungen habe, gehört er zu meinen persönlichen Favorits. Dementsprechend gespannt war ich auf den ersten Teil seiner Buddha-Biografie – und bin jetzt mal wieder so richtig angefixt.

In dynamischen Bildern, kräftigen Strichen und abwechselungsreichen Panels erzählt er in Band 1 von einer zutiefst ungerechten, hierarchischen Gesellschaft, in der das Kastensystem vor allem die Ärmsten der Armen knebelt. So hoffen die Menschen auf einen Erlöser, der sie aus ihrem unverschuldeten Elend befreien soll. Der Mönch Naradatta wird ausgeschickt, nach diesem Auserwählten zu suchen. Er trifft die Jungen Tatta und Chapra, die aus den untersten Kasten stammen. Gemeinsam entkommen sie mordenden Soldaten und gelangen in die Stadt Kapilavastu. Dort mehren sich die Anzeichen, dass ein Wunder kurz bevorsteht. Wenig später bringt Prinzessin Maya ihren Sohn Siddhartha zur Welt.

Wohin die Erzählstränge um Naradatta, Tatta und Chapra führen werden, bleibt in diesem ersten von insgesamt zehn Teilen natürlich unbeantwortet. Doch Tezukas humanistischer Anspruch ist schon hier sehr eindrücklich zu spüren. Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit stellt er an den Pranger. Dass er diese Geschichte vor über 40 Jahren gezeichnet hat, ist dem Werk in keinem Panel anzusehen, viel mehr reißen die augenzwinkernden Anspielungen auf die Gegenwart den Leser immer wieder aus der erzählten Zeit heraus und verweisen darauf, dass die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft auch 2500 Jahre nach Buddha immer noch die Welt regieren.

Man muss kein Buddhist sein, um den Wert dieses Mangas schätzen zu können. Mit Band 1 startet ein beeindruckendes Werk der grafischen Literatur, das in keiner Comic-Sammlung fehlen darf. Nur gut, dass die nächsten Bände in kurzen Abständen erscheinen – dann dauert die Qual des Wartens nicht allzu lange.

Osamu Tezuka: Buddha, Bd.1 Kapilavastu, Übersetzung: John Schmitt-Weigand, Carlsen Verlag, 2012, 310 Seiten, 22,90 Euro

Voll verzerrt

steamnoirDie Literatur ist voller fremder Welten. Menschen brauchen fiktive Orte, denn hier können sie ihrer Fantasie alle Freiheiten lassen, Autoren können Gott spielen, Leser sich eskapistisch aus der Realität wegträumen. Nicht jede der fiktiven Welten reizt mich oder zieht mich so in ihren Bann, dass ich tatsächlich darin eintauche. Neulich hat diese aber nach langer Zeit mal wieder ein Comic geschafft. Zuerst mit Unverständnis, dann mit steigender Faszination habe ich Steam Noir – Das Kupferherz verschlungen, Auftakt zu einer vierbändigen Steampunk-Saga.

Autor Benjamin Schreuder und Zeichner Felix Mertikat erschaffen eine düstere Ätherwelt, in der ein zerbrochener Planet schwebt. Sie beschränken sich jedoch nicht nur eine eindimensionale Steampunk-Geschichte zu erzählen, sondern flechten in die Dampf- und Ätherwelt einen Krimiplot mit den unterschiedlichsten zwielichtigen Figuren sowie eine mythische Toteninsel Vineta mit ewigwandelnden Seelen ein.

In eine Villa wurde eingebrochen und nun ermittelt ein sehr schräges Kriminalisten-Team: Heinrich Lerchenwald, ein sogenannter Bizzaromanten, der für übernatürliche Phänomene zuständig ist, der empfindsame, 2,25 Meter große Maschinenmensch Richard Hirschmann und die kühle Forensikerin Frau D. In der Villa finden sie zweierlei: Spuren einer Mädchenleiche und die einer verlorenen Seele. Scheinbar hat die Seele die Leiche, die in einem Hauskamin eingemauert war, gestohlen. Das tote Mädchen trug ein künstliches Kupferherz in der Brust. Bei einer Begegnung mit einer Seele verliert Lerchenwald eine Hand, ein unbekannter Wohltäter spendiert ihm jedoch eine hochwertige Technohand. Nach und nach kommen die drei Protagonisten einem skrupellosen Prothesenhersteller auf die Schliche, der den unsterblichen kybernetischen Organismus schaffen will. Die Auflösung des Falls wird sich in den kommenden drei Bänden entwickeln.

Vieles, nicht alles, in dieser Dampfmaschinen-Welt versteht man eigentlich erst, wenn man das Bonusmaterial studiert und dort beispielsweise die Erklärung für Aufbau der Atmosphäre (dichter Äther) und die Fortbewegungsmittel (Ätherschiffe) findet. Doch die oliv-braun-grau-gedämpften Panels mit ihren schwarzen, dynamischen Rahmen bieten in ihrer Detailfülle so viel zu entdecken, dass man diese Wissenslücken geradezu als reizvoll empfindet. So entdeckt man sonderbarste Maschinen und Waffen, Menschen und Tiere mit künstlichen Gliedmaßen, absurde Kreaturen. Sobald man nach dem Comic die Hintergründe dieser tristen, aber überaus faszinierenden Welt erfährt, blättert man mit einem „wissenden“ Blick noch mal zurück und begreift die Feinheiten dieses Universums. Die beiden Macher haben mit Steam Noir die Steampunk-Kultur um eine extrem coole grafische Umsetzung bereichert.

Einziger Wermutstropfen ist für mich jetzt nur, dass ich auf die Fortsetzung der Geschichte bis zum Sommer 2012 warten muss. Das wird hart …

Felix Mertikat/Benjamin Schreuder: Steam Noir. Das Kupferherz (Band 1), Cross Cult, 2011, 61 Seiten, 16,80 Euro

Eine Frage der Haltung

grenzfallWas weiß man heute noch vom Grenzfall? Damit ist nicht der Mauerfall gemeint, sondern die Untergrundzeitschrift, die von 1986 bis 1987 in der DDR erschien. Nicht sehr viel, zumindest im Westen. Meine Bildungslücke zu diesem Thema hat vor einiger Zeit der Comic „Grenzfall“ von Thomas Henseler und Susanne Buddenberg wenigstens ansatzweise geschlossen.

In eindringlichen, klaren Bildern erzählen die Grafiker die Geschichte des Schülers Peter Grimm, der keine „sozialistische Persönlichkeit“ aus sich machen lassen will. Stattdessen schließt er sich dem Dissidentenkreis um Katja Havemann, der Witwe von Robert Havemann, an. Vergeblich versucht die Stasi, den jungen Mann anzuwerben. Im Gegenzug wird Grimm neun Tage vor dem schriftlichen Abi von der Schule verwiesen. In der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, der er sich anschließt, entsteht später die Idee, eine eigene Zeitung jenseits der staatlichen Meinung herauszugeben. Der erste „Grenzfall“ erscheint in Kleinstauflage von 50 Stück – und die Stasi schreibt seitenlange Berichte … bis sie mit der Aktion „Falle“ zuschlägt.

Die schwarzweißen Panels dieser Graphic Novel schaffen es, die bedrückende Atmosphäre der späten 80er Jahre in der DDR wieder aufleben zu lassen. Originalzitate aus den Stasi-Unterlagen zeugen von dem Überwacherwahn der Herrschenden. Henseler und Buddenberg gelingt es durch die verdichtete Darstellung einer wahren Geschichte, der Aufarbeitung der SED-Diktatur ein fesselndes Puzzleteil hinzuzufügen. Und gelungen an eine wichtige Keimzelle der Wende von 1989 zu erinnern.

Thomas Henseler/Susanne Buddenberg: Grenzfall, avant-verlag, 101 Seiten, 14,95 Euro