Archiv des Autors: Elke von Berkholz

Schönste Vogelkinder

Schönheit liegt immer im Auge des Betrachtenden, sie ist per se und auch trotz zeitgenössischer Standards nicht wirklich objektiv. Kommt Liebe ins Spiel, wird sie zunehmend subjektiv.
Bei einer speziellen Form von Liebe, der von Eltern zu ihren Kindern, wird Schönheit absolut erratisch. So sei es der liebenswerten Eulenmutter verziehen, dass sie das Pfauenkind nicht findet. »Könnten Sie meinem Sohn auch sein Pausenbrot mitnehmen?«, fragte Herr Pfau. Soeben ist Frau Eule zufällig bei ihm vorbeigekommen, um ihrem Küken das vergessenen Brot in die Schule zu bringen. »Natürlich!«, sagte Frau Eule. »Aber woher soll ich wissen, wer Ihr Sohn ist?« Herr Pfau lachte und putzte sich: »Gib es einfach dem schönsten Kind dort«, sagte er.

Typisch eitler Gockel, denkt man unwillkürlich. Aber nicht die freundliche Eule.
Als sie in der Schule mit den beiden Päckchen ankommt, ist gerade Pause. Also versorgt sie schnell das eigene Kind. Und macht sich dann gewissenhaft auf die Suche, nach dem angeblich schönsten Kind. »Sie betrachtete jedes Kind ganz genau. Dann verglich sie die einzelnen Kinder miteinander. Sie ordnete sie in einer Reihe und musterte sie aus unterschiedlichsten Blickwinkeln.«

Farbenprächtig und urkomisch in allen Typen

William Papas hat wunderbare, farbenprächtige und urkomische Vögel in allen Größen, Farben, Arten und Typen gemalt. Es gibt nämlich nicht nur kleine und große Vögel (hier spielt auch geschickt die Typografie mit, also kleine und große Vögel), sondern unter anderem auch mürrische und glückliche. Und auf dem Schulhof kleine verdutzte, zutrauliche, freche, verspielte, grimmige, gelangweilte, muntere und leicht verpeilte Vögelchen. Letzteres ist das Eulenkind, man merkt, dass das wirklich nicht seine Tageszeit ist, trotz seiner weit aufgerissenen Augen sieht es sehr verschlafen aus. Mittendrin ein gar nicht eitel scheinendes Pfauenkind, das brav abwartend in der Reihe steht.

Durch die großen, liebevollen Augen von Frau Eule

Absolut zauberhaft, wie der langjährige Karikaturist des Guardian hier seine große Kunst ausspielt: Warmherzige und vielfältige Typenzeichnungen. Der 1927 in Südafrika geborene Künstler produzierte auch Cartoons für die Sunday Times und das Satiremagazin Punch – pointiert, subtil und mit feinem Strich. 1973 hat Papas dieses prächtige Bilderbuch gemalt, jetzt hat der Schweizer Verlag Aracari es wiederveröffentlicht. Selten hat man so schön, so bunt und so lustig diesen liebevollen Blick, mit dem Eltern ihre Kinder betrachten, so gesehen, wie durch die großen, gelben Augen der freundlichen Frau Eule.

Auch im nächsten Bilderbuch wird ein kleiner Vogel sehr genau von mehreren großen Tieren betrachtet, aber sehr kritisch. Weil die kleine Ente sagt Miau. So heißt das entzückende Pappbilderbuch der neuseeländischen Bilderbuchautorin Juliette MacIver und der in Auckland arbeitenden Illustratorin und Designerin Carla Martell.
Das geht natürlich gar nicht. »Muh! Macht die Kuh« »Wuff macht der Hund« »Gack macht das Huhn« »Und Ente macht … Miau«

Tanzt dem Yak auf dessen haarigen Kopf herum

Also nochmal: »Muh!« (in großer Sprechblase) macht die Kuh. Und immer mehr Tiere kommen zum Sprachunterricht für das Küken hinzu: Pferd, Spatz, Schwein, Schaf und Yak und sogar eine Schlange. Doch egal, wie hartnäckig ihm die erwachsenen Tiere versuchen, ein korrektes Quak zu entlocken. Das gelbe Daunenbündel sagt zuverlässig, genau … »Miau«. Punkt. Und tanzt dem Yak damit wortwörtlich auf dessen haarigem Kopf herum.

Muttersprache

Carla Martells vor verschiedenen monochromen Hintergründen markant in Szene gesetzte Tiere sind hinreißend. Die Großen, wie sie hartnäckig in Sprechblasen den für sie typischen Laut wiederholen. Und dann das flauschige Entlein, das mal keck von schräg oben, mal selbstbewusst allein mitten auf einer blauen Seite stehend ebenso konsequent Miau wiederholt. Dann plötzlich »ruft Ente Mama!« Kuh sagt: »Juhu! Hör einfach deiner Mama zu.«
Dieses Pappbilderbuch ist das schönste des Jahres, mindestens. Auf jeden Fall ist es das Schönste überhaupt zum Thema Muttersprache. Das sage ich jetzt ganz objektiv.

William Papas: Das schönste Kind überhaupt, Aracari, 32 Seiten, 15 Euro, ab 6 Jahre

Juliette MacIver, Carla Martell (Illustration): Ente sagt Miau, Übersetzung; Bernd Stratthaus, Annette Betz Verlag, 24 Seiten, 12 Euro, ab 1 ½ Jahre

Mit allen Wassern gewaschen

Zwei große, glänzende Toaster
– Zwanzig Kalender – das waren große Pappen mit den Tagen drauf
– Zehn Abroller mit dickem Klebeband (Sie waren ein bisschen klein, aber hatten knallige Farben, das konnte helfen, um aufzufallen)
– Zehn Tablets (deren Akkus leer waren, sodass man die unglaublich vielen Wörter und Bilder und Filme, die darauf waren, nicht mehr sehen konnte.)
– Fünf Taschen (Manche sahen vornehm aus, andere waren Einkaufstaschen mit Werbung drauf. In einer davon stank ein platt gedrücktes Butterbrot vor sich hin.)
– Sechs Gummihandschuhe (Einen behielt sie für sich, um damit zu spielen, denn mit Augen drauf wurde er zu einem Gesicht.)
– Vier eckige Kissen, die lose auf den Stühlen lagen.
– Topfpflanzen (Denen wollte sie Wasser geben, dann gingen sie nicht ein.)
– Alle Geschirrtücher und Handtücher aus der Küche der Kantine (damit kam man ganz schön weit, wenn man sie ausbreitete.)
– Dreißig Tabletts aus der Kantine (langweilige braune, aber das macht nichts.)
– Drei gemalte Bilder (die ihr nicht gefielen)
– Eine Rolle Luftpolsterfolie (Vorher ließ sie viele Luftpolsterblasen zerplatzen, denn das machte Spaß.)
– Ein paar Kleiderhakenbretter (eigentlich waren die zu dünn.)
– Dreißig Schubladen, die sie aus Schränken gezogen hatte (Alles, was darin war, kippte sie vorher auf den Fußboden.)
– Fünf Rollen Alufolie aus der Küche (die glitzerten schön, das fiel auf.)
– Zwanzig Bücher (Die meisten sahen nicht so spannend aus, das waren keine richtigen Bilder drin und sie hießen zum Beispiel Wegweiser in einer Welt des Wandels. Aber eine schönes Fotobuch war auch darunter mit besonderen Gebäuden aus der ganzen Welt.)

Alle diese Dinge braucht Jona, um auf dem Dach des Hochhauses in zehn riesigen Buchstaben und einem Ausrufezeichen den Satz »ICH BIN HIER!« zu legen.

Unterm Radar

Das ist auch der Titel von Joke van Leeuwens hervorragender und packender Erzählung – zunächst eine Mischung aus Robinsonade und Klimathriller. Vor allem ist es aber eine Geschichte der Selbstbehauptung eines Kindes, das gewohnt ist, unter dem Radar zu leben. Und nicht nur aufs Klima bezogen gilt das für die ganze jüngste Generation, so sehr, wie ihre Bedürfnisse von den Älteren ignoriert werden.
Interessanterweise ist auch das Mädchen Jona wie Cato in Cato und die Dinge, die niemand sieht Halbwaise: »Ihre Mutter war krank geworden und niemand hatte sie wieder gesund machen können.« Auch hier ist der Vater emotional abwesend, versorgt sie mit dem Lebensnotwendigen, hat aber immer etwas zu regeln oder zu Ende zu bringen. Weshalb Jona nach der Schule zu ihm ins Büro kommt, das im einzigen Hochhaus ihres kleinen Heimatortes steht, dreißig Stockwerke hoch. Wo ihr Vater sie nach mehreren Stunden lobt, dass sie schön still gewesen war. »Das sagte er jeden Tag. Dass sie schön still gewesen war. Als hätte sie auch hässlich still sein können.«

Echt intelligent

Das ist gleich auf den ersten Seiten eine kurze Passage, die zeigt, was für ein erstaunliches Mädchen Jona ist. Ihr Wissen ist beeindruckend (nicht nur für eine Achtjährige). Und zwar nicht auf eine anstrengende, klugscheißerische Art. Sondern echt intelligent, wie sie Gelesenes, Beobachtetes, Aufgeschnapptes klug und raffiniert kombiniert. Man sollte Kinder nie unterschätzen.
Vor allem nicht, weil Erwachsene dazu tendieren, sich selbst in ihrem Erwachsensein zu überschätzen. Sie denken, dass sie alles verstehen und im Griff haben. »Jonas Vater glaubt nicht, dass das Wasser so schnell kommen wird, wie alle fürchten. Er wird genug Zeit sein, um sich in Sicherheit zu bringen.« Und dann reicht das Wasser plötzlich bis zum dritten Stock. Rundum das Hochhaus steht alles unter Wasser. Und Jona ist ganz allein auf dem Dach und weiß nicht, wann jemand kommt, um sie zu retten. Oder ob man überhaupt nach ihr sucht.

Hohe Wertschätzung in den Niederlanden

Das ist ein Buch, wie es nur in den Niederlanden geschrieben wird. Und zwar nicht nur, weil die Niederlande eben so niedrig sind, dass das Land teilweise unter dem Meeresspiegel liegt und durch steigendes Wasser als erstes in Europa, überflutet zu werden und unterzugehen droht. Wobei die Niederländer schon immer mit der Gefahr gelebt haben, teils in Hausbooten oder Pfahlbauten wohnen und das nationale Faible für Campingwagen wie eine prophetische Variante mobiler Tiny Houses anmutet.
Bei der niederländischen Autorin Joke van Leeuwen und ihren Kolleginnen und Kollegen hat das Schreiben für junge Leser einen viel größeren Stellenwert als hierzulande. Nicht nur wird die Kinder- und Jugendliteratur viel mehr gefördert und honoriert. Sie ist auch deutlich anspruchsvoller, weil die Autorinnen und Autoren für Kinder nicht anders schreiben als für Erwachsene. Und man weiß, dass man Kindern mehr zumuten kann und darf, um sie zu fordern, zu fördern, zu unterhalten und auch mit dem Leben klar kommen zu lassen. Oder auch ein Gespür dafür zu entwickelt, wann Regeln ihren Sinn verlieren. Natürlich darf man normalerweise nicht in ein Büro gehen, die Schubladen ausleeren und Dinge daraus mitnehmen.

Zumuten, fordern, fördern und unterhalten

Nach mehreren Tagen und Nächten auf dem Dach überkommt Jona ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins. Als sich schließlich ein Flugzeug dem Hochhaus nähert, aber vorzeitig wieder abdreht, droht sie alle Hoffnung zu verlieren. Als wären alle Anstrengungen, um auf sich aufmerksam zu machen und gerettet zu werden sinnlos.
Das ist absolut nachvollziehbar und lebensecht. Und macht Joke van Leeuwens Geschichte umso berührender und spannender und wunderbarer. Erneut ein brillantes Buch aus dem Nachbarland.

Joke van Leeuwen: Ich bin hier!, Übersetzung: Hanni Ehlers, Gerstenberg, 120 Seiten, 15 Euro, ab 8

Folge dem grunzenden Kaninchen

Cato

Als Cato auf die Welt kam, hat ihre Mutter sie verlassen. »Natürlich hatte sie es nicht mit Absicht getan, aber die Sache war nun mal eindeutig: Wäre Cato nicht geboren worden, würde ihre Mutter noch leben. Manchmal fühlte sie Abscheu und Wut auf sich selbst. Manchmal fühlte sie Wut auf alles und jeden, auf die ganze Welt. Als ob sich die Wirklichkeit vom Moment ihrer Geburt an gegen sie verschworen hätte.«
Eine ziemliche Last, die die Zwölfjährige ihr ganzes Leben mit sich herumschleppt. Bei der sie niemand entlastet. Denn ihr Vater ist nur noch eine traurige, funktionierende Hülle, völlig im eigenen Schmerz vergraben. Dabei lässt er außer Acht, dass seine Tochter niemanden hat.

Mutter- und vaterseelenallein

Cato ist mutter- und vaterseelenallein. Von ihrer Mutter, die sie nie kennenlernen konnte, ist ihr nur ein rotes Kleid und ein Foto geblieben. Darauf ist ihre Mutter in eben jenem Kleid, schwanger und mit einem strahlenden Lächeln zu sehen.

Zu allem Elend kommt täglich die fiese, spießige Nachbarin Cornelia, umgeben von einer Wolke widerlich süßem Parfüm, zum Putzen und Kochen vorbei. Sie mischt sich in alles ein, diffamiert Catos Gefühle, ihre Wut, ihren Trotz, ihre Zweifel, als »Gewühle«, das im Kopf weggesperrt gehört. Und tut scheußlich vertraut mit Catos Vater. Eine  Möchtegern-Stiefmutter par excellence.

Kraft der Erinnerungen

Mit dieser herrlich ätzenden Ausgangslage in bester Roald-Dahl-Tradition beginnt Yorick Goldewijks traurig-schöner Roman Cato und die Dinge, die niemand sieht. Aber dann  tritt Frau Kano in Catos Leben. Laut ihrer Visitenkarte zeigt sie im alten, schon seit Jahren geschlossenen Kino, Filme, die  nirgends laufen, die du aber schon immer sehen wolltest. Aus Neugier heuert Cato bei der rätselhaften Frau an, putzt das Kino, bringt die Reklame an der Fassade wieder zum Leuchten, kocht wie gewünscht rabenschwarzen, schauerlichen Kaffee und wird Frau Kanos Assistentin. So lernt sie die Bedeutung und Kraft von Erinnerungen kennen.

Lust auf Neues, Unbekanntes

Gleichzeitig entdeckt die Liebhaberin von Kung-Fu-Filmen und Zombie-Comics ihre besonderen Superkräfte: »Dieser Blick. Nur wenige Menschen besitzen ihn. Denn man muss natürlich ein bisschen speziell sein«, wie Frau Kano an Cato beobachtet. »Sich trauen, das Fremde zu umarmen. Du bist genau wie ich früher, Cato. Auch ich war immer schon neugierig auf all die Dinge, die alle anderen lächerlich fanden. Und ich war genauso schlau wie du und genauso starrköpfig. Wenn du dir die Neugier lange genug erhältst, dann findest du Dinge heraus, die du selbst nie für möglich gehalten hättest.«

Nach betrunkenem Kung-Fu-Meister benannt

Neugier (die im niederländischen Original ebenso heißt) bekommt hier eine positive Konnotation, nicht Gier, sondern das Interesse an und die Lust auf Neues, Unbekanntes ist eine wichtige Triebfeder für Menschen, die etwas bewegen und ändern wollen.
Cato findet Normalität, die es tatsächlich vom Moment ihrer Geburt für sie nicht gab, keinen erstrebenswerten Zustand. Deshalb trägt sie unterschiedliche Socken. Und fotografiert Dinge, die keiner bemerkt. Oder hat ihr ebenfalls eigenwilliges, weil grunzendes Kaninchen nach dem betrunkenen Kung-Fu-Meister Beggar So aus einem Jackie-Chan-Film benannt. Cato ist meist ein freier, unabhängiger Geist. Eine Erziehungsexpertin hat es soeben im Interview so auf den Punkt gebracht: »Frei ist, wer missfallen kann.« (und darf)

Pointierte Schimpftiraden

Mit Frau Kano kommt zwar etwas Magisches in die Geschichte. Was aber Goldewijks Heldin so liebenswert macht, ist, dass sie so lebendig, authentisch und menschlich ist. Auch Cato ist zum Beispiel zunächst zu feige, sich für den gemobbten Lehrer stark zu machen. Wer kennt das nicht? Lesenswert sind auch ihre erfrischend pointierten Schimpftiraden auf ihren Vater. Und die Nachbarin. Und gemeine Mitschüler, zwei Ekelpakete. Sonja Fiedler Tresp hat das kreativ und witzig übersetzt. Im Trottel etwa spielt sowohl Catos Verachtung als auch Mitleid für ihren Vater mit. Knalltüte neckt Cato später liebevoll ihren unverhofft gewonnen, einzigen Freund.
In Cato und die Dinge, die niemand sieht versteckt sich so viel, was man zunächst nicht erkennen kann. Und dann umso erhellender und freudig überraschter wahrnimmt. Dagegen ist dieses Buch schon auf den ersten Blick auch ein sehr hübscher Hingucker, wegen des Titelbilds und des schicken orangenen Schnitts. Die famose Cato sollte wirklich jede und jeder sehen.

Yorick Goldewijk: Cato und die Dinge, die niemand sieht, Übersetzung: Sonja Fiedler Tresp, Dragonfly, 240 Seiten, 15 Euro, ab 10

Entfesselte Energie

Löwenmäulchen sind hübsche Blumen. Als Mädchenname taugt das von Hummeln sehr geschätzte Wegerichgewächs nicht so gut – im Deutschen. Snapdragon klingt dagegen super. Und passend für die mutige, eigenwillige Heldin in Kat Leyhs gleichnamigen Comic.

Hexen gibt’s nicht, oder?

Auf der Suche nach ihrem Hund fährt Snapdragon zum Haus der Hexe. Zumindest halten ihre Mitschüler sie für eine und erzählen gruselige Geschichten über die Einsiedlerin im langen schwarzen Mantel, mit großem Hut und dunkler Augenklappe. Aber Hexen gibt es doch nicht, oder?
Tatsächlich findet Snapdragon ihre kleine Bulldogge wohlbehalten bei der knurrigen, unheimlichen Frau. Und freundet sich nach und nach mit ihr an. Dabei spielen viele Tiere eine wichtige Rolle. Die meisten tot, überfahren auf der Straße. Jacks, so heißt die Alte, kümmert sich um sie, um ihre achtlos liegengelassenen Kadaver – und ihre Seelen. Den toten Tieren haucht sie wieder neues Leben ein, indem sie ihre Skelette minutiös rekonstruiert und an Sammler oder Museen im Internet verkauft. »Wow«, sagt Snapdragon beeindruckt. Jacks lächelt geschmeichelt. Bis das Mädchen gleich hinterherschiebt: »Jemand Altes, der das Internet benutzt.«

Respekt gegenüber allen

Das ist ein ganz kleiner Moment, drei Bilder kurz, in dem Kat Leyh, die bislang vor allem Superheldengeschichten illustriert hat, sehr geschickt und ganz beiläufig auch das Thema Altersdiskriminierung einflicht. Denn darum geht es in ihrem ersten Kindercomic: um Vielfalt und Respekt gegenüber allen. Allen Menschen und allen Lebewesen. Egal, ob Mädchen wild und draufgängerisch sind. Jungs lieber Mädchenkleider tragen und ein Faible für Lila haben. Frauen Motorradrennen fahren und Frauen lieben.
»Ich bin nicht so wie jeder andere auch«, sang schon Carsten Friedrichs von der Liga der Gewöhnlichen Gentlemen (dessen brillante Songtexte auch als Buch zu haben sind, Später kommen, früher gehen, Ventil Verlag, 216 Seiten, 17 Euro). Das zu erkennen, zu akzeptieren und auszuleben kostet viel Energie. Es kann aber auch fantastische und inspirierende Kräfte entfesseln.

Seiten mit dramaturgischem Kniff

Von Außenseitern mit starkem Willen und großen Herzen erzählt Kat Leyh in klaren Panels mit kräftigen Farben. Ihre Figuren sind höchst lebendig, mit hochemotionaler Mimik und dynamischen Bewegungen. Auf manchen Seiten verwendet Leyh mit dem letzten Bild unten rechts einen dramaturgischen Kniff: In Serien würde man vielleicht von Cliffhängern sprechen. Hier sind es eher Appetithäppchen oder Teaser, die einen sofort neugierig umblättern lassen und gleich in die nächste Szene hineinziehen.

… und ein Schuss Magie

Eine starke Nebenfigur ist auch Snapdragons alleinerziehende, hart arbeitende Mutter. Respekteinflößend und ebenso respektvoll und anerkennend. Als sie zum Beispiel von der Arbeit weg in die Schule zitiert wird, ist sie nicht wütend auf ihre Tochter. Sie lobt Snapdragon, weil diese ihren Freund Lu gegen gehässige, sexistische Mitschüler verteidigt hat. Was ihr blumiger Vorname für eine Bedeutung hat, das ergibt sich in der in der wunderbar verwoben Geschichte und wird hier natürlich nicht verraten.
Kat Leyhs Snapdragon ist ein mitreißender, ausdrucksstarker und famos gezeichneter Comic, ebenso bunt wie seine Heldenfiguren. Mit einer spannenden Geschichte, beeindruckenden Charakteren – und einem klugen Schuss Magie.

Kat Leyh: Snapdragon, Übersetzung: Matthias Wieland, Lettering: Kathrin Liehr, Reprodukt, 240 Seiten, 20 Euro, ab 10

Ansichtssache

Brille

Es gibt Leute, die haben Adleraugen. Andere lassen ihre Augen lasern, um besser  gucken zu können. Manche tragen Brillen mit Fensterglas, um schärfer auszusehen. Einige gehen ohne rosarote Brille nicht aus dem Haus. Und der Kleine Prinz sagt, nur mit dem Herzen sieht man gut.
Aber was heißt gut? Und ist gut auch schön? Leo Timmers ändert in seinem neuen Bilderbuch Bär und seine Brille die Sichtweise. Der Bär sucht seine Brille, vermutlich hat er sie bei der Giraffe verloren. Auf dem Weg zu ihr sieht er viele Lebewesen, die er noch nie zuvor in der Gegend getroffen hat. Einen Hirsch, einen Elefanten, ein Krokodil, einen Flamingo. Wie schön, freut sich der Bär. Da hat er seiner langhalsigen Freundin was Tolles zu erzählen.

Die Brille funktioniert wie gedacht

Doch mit Brille auf der Nase findet er die neuen Nachbarn nicht mehr. Nicht nur die Giraffe ist enttäuscht. »Ich verstehe das nicht. Vielleicht ist meine Brille kaputt …«, sagt der Bär entschuldigend. Doch die Brille funktioniert genauso, wie sie gedacht ist: Die Realität deutlich erkennbar zu machen und für Durchblick sorgen. Für fantasievolle Täuschungen taugt sie nicht.
Die meisten möchten die Wirklichkeit klar im Blick haben. Aber entgeht ihnen nicht etwas? Etwas Schöneres?
Man kommt schon etwas ins Philosophieren, über Ent-Täuschungen und Ansichten. Für Kinder ist dieses Bilderbuch vor allem ein großer Spaß. Der Bär ist aber auch ganz schön dusselig. Denn eigentlich hat er seine Brille gar nicht verloren. Die Giraffe übernimmt die kindliche Perspektive, augenrollend und leicht indigniert ob ihres liebenswert verpeilten Freundes.

Knuffige Figuren und lautmalerische Typografie

Timmers schafft knuffige, unproportionale Figuren, mit wuschelig gestricheltem Fell getuscht und stellt sie frei mit viel Weißraum drumherum. In dem verteilen sich wenige Worte in schnörkelloser Typographie (fast wie die nüchternen, scharf konturierten Buchstaben beim Sehtest). Hier wird nur mit der Größe gespielt, »Oh, Giraffe«, flüstert der Bär entschuldigend in kleiner Schrift. Um gleich aufgeregt (und deutlich größer gedruckt) zu rufen »Schau mal, da!« Und noch größer: »Siehst du das auch?«

Durch Täuschungen lebendiger und lustiger

Ein ebenso einfaches wie raffiniertes Spiel mit der Schrift, lautmalerisch könnte man sagen. Auch Kinder, die noch nicht lesen können, verstehen es instinktiv und wissen, wie man die Zeilen betont. Eva Schweikart hat es frisch und schwungvoll übersetzt. Nur der Titel hat im Deutschen verloren. Im Niederländischen lautet er De bril van Beer. Da drin steckt mehr, es könnte auch heißen: Bär und wie er die Welt sieht.
Die ist durch seine optischen Täuschungen lebendiger, lustiger und schöner. Ob man Bärs Vision und Version vorzieht oder die ent-täuschte Variante besser findet – das ist Ansichtssache.

Leo Timmers: Bär und seine Brille, Übersetzung: Eva Schweikart, aracari Verlag, 36 Seiten, 15 Euro, ab 4

Einzigartige DNA

Gene

Sachbücher (und Fachbücher) sind eine Sache für sich: mal ebenso lehrreich wie dröge, mal völlig verquast und fachidiotisch, oder unterhaltsam, aber mit geringem Erkenntnisgewinn. Manchmal gelingt die Mischung aus anschaulicher Wissensvermittlung und spannender Erzählung.
Und dann gibt es den exzentrischen Sachcomic Billie und seine Gene von Stefan Boonen und Wout Schildermans alias Melvin.

Von beidem etwas

Geschickt beginnt das flämische Duo die Geschichte in einem Laden – einem Laden, in dem ein Mann und eine Frau ein Kind bestellen. »Also, möchten Sie ein gewöhnliches oder ein ungewöhnliches Kind?«, fragte der Verkäufer. »Äh, von beidem etwas. Ginge das?« »Natürlich«, sagte der Verkäufer, »mit Vergnügen.« Kein Designerkind, keine zukünftige Nobelpreisträgerin oder Sportskanone, einfach nur ein Kind mit ein paar Ähnlichkeiten zu den zukünftigen Eltern.
Da wird jetzt jedes Kind zetern: »Total falsch! Kinder kommen doch nicht aus dem Laden!« Absolut richtig. Aber in diesem Buch geht es nicht darum, wie ein Kind entsteht. Sondern woraus es besteht. Und nicht nur Kinder. Sondern einfach alles, Pflanzen, Einzeller, Pilze, Säugetiere … es geht um Gene. Und nicht nur um Billies, wie der Titel, Wortspiel auf einen Hit von Michal Jackson, vermuten lässt.

0,1 Prozent als Apfelkuchenrezept

Gene sind nicht nur winzig klein, man kann sie weder sehen noch anfassen. Genetik ist auch sehr abstrakt und kompliziert. Aber nicht bei Boonen und Schildermans, die gleich im ersten Kapitel erstmal ihre eigenen Gene haben untersuchen lassen: »Wir mussten dreimal in ein Glasröhrchen spucken und zwei abgeschnittene Zehennägel abgeben.« Und siehe da, auch ihre Gene sind zu 99,9 Prozent denen von allen Menschen gleich. Und die unterschiedlichen 0,1 Prozent?
Die erklären sie mit dem Apfelkuchenrezept. Aus einer Handvoll immer gleicher Zutaten kann man unterschiedliche Kuchen backen. »Kuchen mit großen oder kleinen Apfelspalten, dickem oder dünnflüssigen Teig, luftig oder schön krümelig.«

Neonorange Farbakzente und blaue Katze als Sidekick

Wout Schildermans‘ Bilder dazu sind viel mehr als nur Illustration: Witzig, karikaturesk, überdreht, mit neonorangen Farbakzenten und einer kleinen blauen Katze als Sidekick ergänzen sie Stefan Boonens Text kongenial und sind wie eine parallele, intensivierende Erzählung in Bildsprache. Auf jeder Seite liest man, wie viel Spaß die beiden mit dem Thema haben. Zum Beispiel: »Ein Kind erhält seine Gene von seinen Eltern. Die Eltern können sich also scheiden lassen, so viel sie wollten. In Billie bleiben sie für immer zusammen.« Birgit Erdmann hat es mitreißend klug und lustig übersetzt.

Dracula und Van Gogh

Autosomale und rezessive Vererbung werden praktisch und lebensnah erklärt, wir lernen die Ohrläppchenbande kennen und dass »etwa 739 Gene bestimmen, ob du lieber Schokoladeneis oder Vanilleeis magst.«. Warum Dracula und Van Gogh in den Genen der Fruchtfliege sind und was das Besondere an Reiskörnern ist oder wie Genscheren funktionieren – Erwachsene und Vorlesende lernen hier auch noch einiges. Und erkennen: dieses Sachbuch hat eine einzigartige DNA von seinen wunderbar schrägen Eltern bekommen, zwei frisch gebackenen genialen Genetikern.

Stefan Boonen: Billie und seine Gene. Von Fruchtfliegen, Sommersprossen und dem Bauplan des Lebens, Illustration: Wout Schildermans (Melvin), Übersetzung: Birgit Erdmann, mixtvision, 96 Seiten, 18 Euro, ab 8

Wie Leben geht

Magali ist 13 Jahre alt und wünscht sich, möglichst bald geküsst zu werden. Herr Krekeler ist 98 Jahre alt und möchte sterben. Was das junge Mädchen und den alten Mann verbindet und wie das mit dem großen Ganzen zusammenhängt, das man Leben nennt, erzählt Nikola Huppertz sehr geistreich und berührend und umwerfend lustig im Roman Fürs Leben zu lang.

Ein Tagebuch von allen anderen

Magali ist sehr groß für ihr Alter, mit 1,82 Meter überragt sie alle Gleichaltrigen. Auf 1,89 bis 1,92 Meter wird sie mindestens noch wachsen, so die Prognosen. Ihr eigenes Leben findet die Teenagerin langweilig. Alle anderen scheinen ihr interessanter. Und deshalb beginnt sie in »das überteuerte Notizbuch mit Goldschnitt und Lesebändchen« zu schreiben, das ihre Eltern ihr etwas einfallslos zum Geburtstag geschenkt haben: »Ein Tagebuch von allen anderen ist nicht unsinnig. Und irgendjemand muss ja festhalten, was in der Welt passiert. Die echten Dinge. Die einen umhauen. Auch wenn es nicht die eigenen sind.«
Niedliche Mädchen und hübsche Jungs, die chaotische Familie ein Stockwerk tiefer, eine exzentrische Nachbarin, ihre ältere Schwester Malve, mit Hang zum Melodram, ihre Seneca zitierende Mutter und ihr schweigsamer Vater, beide Anhänger der »bewussten Elternschaft« … Magali ist eine hervorragende Beobachterin und äußerst witzige Tagebuchautorin.

Rumpelstilzchen springt von Treppenabsatz

»Guten Tag, Magali«, begrüßt Alfred R. Krekeler sie, wenn sie sich im Treppenhaus begegnen. »Ich habe schon oft überlegt, wie er es macht, dass er sogar in seinem dunkelblauen Jogginganzug schick aussieht. Wirklich schick und kein bisschen seltsam.«  Doch dann beschließt Herr Krekeler, 98 Jahre sind genug.
Und damit springt KK in Magalis Leben, wortwörtlich vom Treppenabsatz. Der Gleichaltrige begrüßt sie mit: »Wir kennen uns!« »Ich war zu Tode erschrocken. Er erinnerte mich irgendwie an das Rumpelstilzchen (1,53 Meter maximal und überaus wuselig), aber sonst an niemanden.« Kieran Krekeler ist Herrn Krekelers Enkel. Er erzählt Magali, dass sein Großvater sterben will.

Tod = Nichtsein in alle Ewigkeit

Magali akzeptiert das zunächst nüchtern als die Entscheidung ihres freundlichen Nachbarn, von dem sie sonst fast gar nicht weiß. Immerhin ist der Mann 98.
Doch je länger sie drüber nachdenkt, desto klarer wird ihr: »Tod = Nichtsein in alle Ewigkeit«. Besser kann man es nicht Punkt bringen.
Das macht Nikola Huppertz‘ Roman so brillant: Ihre Sprache und wie sie durch Magali die Menschen und die Welt beschreibt. Auch ihre Dialoge und Textnachrichten sprühen vor Witz, Screwballcomedy at it’s best.

Keine Anleitung, keinen Plan

In ernsten, ja todernsten Passagen schafft die Autorin eine intensive, fühlbare  Atmosphäre, als wäre man selbst dabei: »Mühle ist ein langweiliges Spiel. Wenn man es kann, gewinnt immer, der der beginnt. Trotzdem spielten KK und ich dreizehn Partien, sechs gewann er, sieben ich. Irgendwann sagte KK: ›Hättest du gedacht, dass Sterben so geht?‹ Er fragte es nur so, als handele es sich um den Wetterbericht oder darum, was es morgen zum Osterfrühstück geben sollte, fragte es mitten in die Langeweile hinein. Und auch mir rutschte die Antwort einfach über die Lippen, sie stand schon im Raum, ehe ich darüber nachdenken konnte, sagte sich selbst: ›Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, wie Leben geht.‹«
Magali und Kieran erfahren, dass niemand es weiß. Nicht die Eltern, nicht die ganz Alten, auch nicht der Philosoph, den die Kinder per Mail fragen (übrigens ein realer Philosoph, den Huppertz angeschrieben hat). Es gibt keine Anleitung, keinen Plan. Jedes Leben ist einzigartig.

Einfach grandiose Literatur

Wie Huppertz diese ebenso simple wie wertvolle Erkenntnis mit lebendiger Sprache, mit einem Sumoringer oder der Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamar, mit Worten wie Würde, Walddrama, Schuk, Struwen, Nagelfetisch, Nazimutter, Beinkind und Zusammenstoßkind erzählt, oder von der wunderbaren Magali ins Tagebuch schreiben lässt, das ist ganz große Literatur. Keine weitere Comig-of-age Geschichte, keine Sick Lit (was für eine kranke Genrebezeichnung!) und erst recht kein Kinderbuch. Einfach grandiose Literatur.

Nikola Huppertz: Fürs Leben zu lang, Tulipan, 200 Seiten, ab 12, 16 Euro

Zum Heulen schön

Der Hund stammt vom Wolf ab. Mittlerweile läuft es beim gezähmten Haustier aber ganz anders als bei den wilden Verwandten, wortwörtlich. Sehr anschaulich erklärt Wolfsforscher Michał Figura die Unterschiede in wenigen Bildern: »Hunde schlagen Haken und wechseln öfter die Richtung.« Tatsächlich mäandern die Pfotenabdrücke mal in die eine, mal in die andere Richtung. »Wölfe hinterlassen schnurgerade Spuren, sie setzen Abdruck auf Abdruck. Sie schnüren«, erklärt der polnische Experte in dem furiosen Sachbuch Wölfe.

Der Untertitel Wahre Geschichten ist Programm. Die Comicautoren Alexandra Mizielińska und Daniel Mizieliński haben nichts erfunden, ihre naturalistischen Bilderstrecken beruhen auf Wildtierkamera- und anderen Aufnahmen. Wir begleiten Michal und seine Kolleginnen und Kollegen sowie Tierärztinnen, Naturschützer, Polizistinnen und Ehrenamtliche bei ihrer engagierten und oft sehr mühsamen Arbeit.

Rudel sind Familien

Erzählt werden die Geschichten von acht Wölfen, denen wir auf ihren hunderte, auch bis zu tausenden Kilometer langen Wanderungen folgen (aktuell wird gemeldet, dass ein Wolf von Niedersachsen 1200 Kilometer bis nach Katalonien gewandert ist ). Man erfährt alles über die faszinierenden und polarisierenden Tiere. Gleichzeitig wird faktenreich und klug mit falschen und gefährlichen Mythen aufgeräumt. So gibt es keinen einsamen Wolf. Und auch keine Alphatiere oder tödliche Machtkämpfe innerhalb eines Rudels. Rudel sind Familien, bestehend aus einem Elternpaar, das lebenslang zusammenbleibt, und bis zu zweijährigen Jungtieren. Die kümmern sich anfangs noch um jüngere Geschwister und Welpen, bevor sie ihre Familie verlassen, sich einen Partner oder eine Partnerin suchen und ein eigenes Revier, um ein Rudel zu gründen.

Der Mensch ist die größte Gefahr

Wölfe meiden Menschen, außer sie haben sich als Welpen an Menschen gewöhnt, dann können sie gefährlich werden. Anhand des Welpen Luna, der als vermeintlich ausgesetztes Hundebaby von Wanderern aufgelesen wurde, wird eindrücklich gezeigt, was passiert, wenn Wildtiere ihrer Umgebung und Familie entrissen werden.
Dass die Menschen nicht nur für Wölfe die größte Gefahr sind, zeigt sich am Schicksal Kampinos, der von einem Auto angefahren wurde. Oder von Jung, der nicht nur einmal in eine von Wilderern ausgelegte Schlinge geraten ist und elendig hätte krepieren können. Wie so viele andere, die nicht rechtzeitig gefunden werden.

Wildtierkameras und GPS Halsbänder

Umfassend und sehr gut verständlich werden auch die wichtigsten Werkzeuge der Wolfsforscherinnen und -forscher erklärt. Zum Beispiel wie eine Wildtierkamera funktioniert und dass bereits Ende des 19. Jahrhunderts erste Aufnahmen von Wildtieren mit solchen Apparaten gemacht wurden. Oder wie man komplexe und aufschlussreiche Daten mithilfe von GPS Halsbändern gewinnt. Und wie diese den Wölfen schonend angelegt werden, so dass, wenn alles gut läuft, über zwei Jahre zuverlässig Bewegungsdaten gesendet werden, aus denen sich viel ablesen lässt.
Wolfsforschung ist mitunter echte Detektivarbeit. Es bedeutet auch Nachtschichten, immer auf dem Sprung sein, stundenlange Autofahrten und Fußmärsche durch unwegsames Gelände. Es ist auch der Versuch, Menschen und Wildtiere miteinander auskommen zu lassen. So gibt es praktikable Methoden, um zu verhindern, dass Wölfe Nutztiere reißen.

Wissen Panel für Panel einprägsam vermittelt

Dieses exzellente Sachbuch vermittelt im perfekten Tempo, Schritt für Schritt, Bild für Bild, Panel für Panel alles Wissenswerte über Wölfe und illustriert es einprägsam. Es ist nur ein Beispiel, dass Comics längst nicht mehr nur Bildergeschichten mit Sprechblasen und onomatopoetischen Wörtern sind. Nicht nur billige Heftchen, von denen nur ganz wenige erhalten bleiben und nach Jahrzehnten für absurd viel Geld gehandelt werden.
Comics sind Erzählungen und Romane, Biografien, Fantasygeschichten, Kinder- und Erstlesebücher, aufwändig und hochwertig gestaltet. Die Form eignet sich auch hervorragend als Sachbuch von bleibendem Wert. Erstmals wurde dieses Jahr eine Graphic Novel in der Kategorie Belletristik für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, Genossin Kuckuck von Anke Feuchtenberger. Nicht nur für Wölfe ist diese Wertschätzung zum Heulen schön.

Michał Figura, Alexandra Mizielińska, Daniel Mizieliński: Wölfe – Wahre Geschichten, Übersetzung: Marlena Breuer, Thomas Weiler, Moritz, 268 Seiten, ab 8 32 Euro

Der Geruch des Grolls

Naphtalin

Eigentlich freut ich es mich ja, wenn dich das mit Oma nicht so mitnimmt … so ähnlich wie ihr euch seid«, sagt Rocíos Mutter nach der Beerdigung ihrer Großmutter. Das bringt die Achtzehnjährige zu Beginn von Sole Oteros packender Familiengeschichte Naphtalin ins Grübeln: »Wir haben wirklich viel Zeit miteinander verbracht, da hätte ich gedacht, dass dein Tod mich viel trauriger macht. Ob das daran liegt, dass du kein guter Mensch warst? Warum wird man bloß so wie du? Was muss man erlebt haben?«

Zukunft ungewiss, Heldin in der Krise

Sole Oteros Graphic Novel beginnt in Argentinien im Jahr 2001, während einer schweren Wirtschaftskrise. Es sind unsichere Zeiten, Fabriken werden geschlossen und abgefackelt, Menschen verarmen, Viertel verkommen, die Zukunft ist ungewiss. Auch die junge Ro befindet sich einer Krise, als sie vorübergehend in das leerstehende Haus ihrer Großmutter Vilma zieht. Was möchte sie wirklich tun? Wie kann sie den Erwartungen ihrer Eltern gerecht werden? Wo will sie hin? Und wer sind ihre Freunde?
Nach und nach, beim Aufräumen erfährt die junge Frau mehr über Vilmas Leben. Allein in den verlassenen Zimmern setzt Ro Erzählungen, eigene Erinnerungen und Fotografien zusammen. Ro versucht zu verstehen, warum Vilma einsam und verbittert gestorben ist. Und was das mit ihr selbst zu tun hat.

Verflohte Katze

Die 1985 in Buenos Aires geborene Comickünstlerin erzählt in farbigen Panels, wie Vilma noch als Baby mit ihrem kleinen Bruder und ihren Eltern aus Italien nach Argentinien gekommen ist, wie sich die Familie ein neues Leben aufgebaut hat, wie Vilma geheiratet und zwei Söhne bekommen hat. Eingebettet ist ihre Geschichte in die Gegenwart, wo Ro mit sich, mit dem Haus und einer verflohten Katze hadert, die ihre Großmutter rätselhafterweise kurz vor ihrem Tod aufgenommen hat.

Großen Familienroman gezeichnet

Soleros Stil ist speziell und man braucht etwas, um mit den leicht unförmigen Figuren warm zu werden, die an Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero erinnern. Doch schon bald wird man in die spannende und vielschichtige Erzählung hineingezogen. Naphtalin ist eine Graphic Novel im wahrsten Sinne, ein großer, bewegender Roman, der eine Familiengeschichte über mehrere Generationen zeichnet.
Vilma hatte Träume. Sie wollte lernen, studieren und Lehrerin werden. Doch sie hat für ihren Bruder zurückgesteckt, im Vertrauen, dass er sie eines Tages unterstützen wird. Von ihrer Mutter, die selbst in Argentinien nie heimisch geworden ist, fühlt sie sich nicht geliebt.
Sie wird enttäuscht. Versprechen werden gebrochen. Vilma fühlt sich zeitlebens immer wieder im Stich gelassen. Deshalb verschließt sie sich auch denen gegenüber, die sie lieben und brauchen.

Durch Türen aus dem Leben verschwunden

Je mehr man dem spröden Charme der zwei Erzählungsstränge erliegt, desto deutlicher erkennt man raffinierte Strukturen in Oteros Darstellungsstil: Immer wenn jemand aus Vilmas Leben verschwindet, verlässt die Person sie durch eine Tür, den Rücken zugewandt, während direkt auf der äußeren Seite, ihre Konturen bereits verblassen und verschwimmen. Vilmas Haus, sein Grundriss, ist ein weiterer Protagonist, wiederholt sieht man Rocío im wandelnden Verhältnis dazu. Früher erschienen ihr die Räume viel größer, jetzt wirkt sie deplatziert. Irgendwann wird sie dem Haus im Guten entwachsen. Eine zärtliche Rolle spielt auch die schwarze Katze, wie ein verbliebener Schatten, laut maunzend fordernd, doch auch zutraulich und anschmiegsam.

Eigene Fehler machen

Das namensgebende Naphtalin ist der Geruch von Mottenkugeln. Der Geruchssinn ist unser entwicklungsgeschichtlich ältester Sinn. Gerüche sind assoziiert mit Erinnerungen, die mit ihnen aus dem Unterbewusstsein kommen. Haus, Geruch, Fundstücke, Fotos, Katze werden von Sole Otero subtil verwoben. Ro versteht schließlich, warum ihre Großmutter zeitlebens Groll gehegt hat und keine Zuneigung zeigen konnte. Und sie weiß, dass sie diese über Generationen weitergereichte Anleitung zum Unglücklichsein durchbrechen muss und ihre Geschichte ändern kann. Oder wie ihr Vater am Ende beschwichtigend zur Mutter sagt: »Lass sie ihre eigenen Fehler machen und daraus lernen.«

Sole Otero: Naphtalin, Übersetzung: Lea Hübner, Handlettering: Sole Otero, Reprodukt, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16

Bezaubernde Freundinnen

Schau mal, Hermine, mein neues Feenkostüm!«, begrüßt Margot ihre Freundin. Hermine ist hin und weg: Hellblaues Überkleid mit Puffärmeln und rosa Schleife überm Po, ein spitzer Hut und ein goldener Zauberstab mit einem Stern an der Spitze. »Wollen wir spielen, dass ich eine sehr mächtige Fee bin und alles Mögliche verwandeln kann?«
Los geht’s: »Simsalabim!« Und tatsächlich: Aus einem Stuhl wird ein Kürbis. Ein sehr gefräßiger Kürbis. Bevor Margot von der fleischfressenden Pflanze verschlungen wird, verzaubert sie das Biest in einen Kinderwagen. Aber was ist das für ein hässliches, kaputtes Monstrum?

Sehr französische Bilder

Wer hätte gedacht, dass so ein schönes Kostüm und so ein glänzender Zauberstab tatsächlich funktionieren … neija, zumindest ziemlichen Effekt haben? Der französische Kinderbuchautor und Illustrator André Bouchard hat sich diese wundervolle Geschichte vom Tag im Leben einer Fee ausgedacht und erzählt sie in hinreißenden und sehr französischen Bildern.

Klassische Metallstühle und träge Bulldoggen

Auf großen Doppelseiten mit viel Weißraum spielen die beiden ganz unterschiedlichen und gleich entzückenden Freundinnen in einem typischen Pariser Park, etwa dem Jardin du Luxembourg, mit breiten Wegen, Rasenflächen und den klassischen, schlichten Metallstühlen in gedecktem Grün. Vereinzelte, übergroße Erwachsene laufen achtlos im Vordergrund vorbei, wahlweise auf ihr Display starrend oder telefonierend, auch mal eine träge, dicke Bulldogge hinter sich herziehend.
Erst allmählich merken die Großen, was da bei den kleinen Mädchen abgeht. Aus ein paar Tauben werden keine Prinzen, wie von Margot gedacht, sondern scheußliche Trolle. Die wiederum ganz begeistert mit dem ollen Kinderwagen herumtoben, hinter den panisch fliehenden Parkbesuchern her.

Bedröppelt, klein und grün

Hermine ist begeistert und lacht sich kaputt über Margots verunglückte Zauberkünste. Da wird Margot richtig sauer: »Na schön, dann pass mal gut auf! Ich verwandle dich jetzt in eine Kröte! Das wird dir eine Lehre sein! Simsalabim!«
»Quak!« Auweia, Hermine ist tatsächlich in eine Kröte verwandelt, bedröppelt, klein und grün hockt sie vor der von ihrer Magie erschrockenen Margot. Herzzerreißend. Während die Trolle im Hintergrund einen verängstigten Jogger über den Rasen jagen.
Natürlich tut Margot es sofort total leid. Doch es ist wie verhext. Sie kann Hermine nicht mehr zurückverwandeln. Wie soll sie das nur deren Eltern erklären?

Kröte auf dem Schoß

Das nächste Bild ist das schönste des ganzen Buchs und bereits ausschnittsweise auf dem Titel zu sehen: Margot und Hermine gemeinsam im Bus, Hermine auf Margots Schoß, beide sich sehr zerknirscht anblickend. Um sie herum lauter Erwachsene, entweder auf das Mädchen mit der Kröte starrend, empört, neugierig, amüsiert oder angewidert. Oder ins Telefon vertieft und von dem Drama keine Notiz nehmend. Alle Erwachsenen ähneln Karikaturen, leicht grotesk und insgesamt ziemlich gräulich.
Bouchards Bilder wirken wie Radierungen, schwarz-weiße Strafuren, fein gestrichelte Texturen, Bäume, Flächen und zart ziselierte Häuserfassaden. Darauf setzt er vereinzelte Farbakzente für Kinder und Fabelwesen. Nicht nur stilistisch erinnert es an Sempé, der mit leisem Humor und feinem Strich die liebenswerten Macken großer und kleiner Leute zeigt. Formidabel übersetzt ist dieser wandlungsreiche Tag von Andreas Illmann, eloquent, zeitlos und sehr amüsant.
Ein Tag im Leben einer Fee erzählt von zwei wenig feenhaften, dafür umso bezaubernderen Freundinnen.

André Bouchard: Ein Tag im Leben einer Fee, Übersetzung: Andreas Illmann, Schaltzeit Verlag, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Unbezahlbar

Eifersucht

Man kennt die die Kisten mit der Aufschrift »Zu verschenken«, die vor allem in Großstädten an den Straßen stehen. Darin findet sich manchmal Nützliches, häufig aussortierte Bücher, auch hübscher Kleinkram, oder einfach nur Müll.
Ein Karton mit der Aufschrift Kind zu verschenken! ist allerdings außergewöhnlich. Wie auch das gleichnamige Kinderbuch von Hiroshi Ito. Das kleine Mädchen darin sucht eine neue Familie. Sie hat die Nase voll: »Vor drei Monaten habe ich einen kleinen Bruder bekommen. Er sah aus wie ein Äffchen. Wenn er nicht schrie, wurde er gestillt oder kackte. Er war kein bisschen niedlich.«

»Ich suche mir ein neues Zuhause« »Ja ja«

Trotzdem kümmert sich ihre Mutter nur um das Baby. Und überhaupt nicht um ihre Tochter. Also zieht das vernachlässigte, zornige Mädchen Konsequenzen: »Du brauchst mich wohl nicht mehr, Mama, oder?« »Ich haue ab, ich suche mir ein neues Zuhause!« Als auch auf diese Drohung nur ein geistesabwesendes »Ja, ja,« kommt, macht die Kleine ernst und sich auf in ein neues Leben.
Sie findet einen leeren Pappkarton, schreibt in ihrer schönsten Schrift Kind zu verschenken drauf, wartet und träumt von einer neuen Familie. Einer mit großem Haus und Garten und Pool. Einer, in der sie das einzige Kind ist und mit Eltern, die nur sie liebhaben.

Minimalistisch und vielsagend

Diese Mischung aus Comic und Erstlesebuch ist eine entzückende Geschichte über ein Gefühl, das jedes Kind mit Geschwistern kennt, die Eifersucht. Die Zeichnungen in Schwarz-Weiß, mit nur wenigen roten Akzenten für die Wangen oder einer Schleife auf dem Kopf, sind minimalistisch und doch sehr vielsagend. Das Mädchen kann richtig böse gucken, ihre Wut und Enttäuschung ist offensichtlich. Ebenso ihre Stärke und ihr Eigensinn.
Auch sprachlich ist es so puristisch wie ausdrucksstark. »Jetzt reichte es mir. In diesem Affenhaus wollte ich keine Minute länger bleiben«, sagt sie. Und brummelt »Pff, Mama ist pupsgemein.« Ursula Gräfe hat das Abenteuer pointiert und urkomisch übersetzt. Und genial und sehr witzig wird der Konflikt zum Schluss zum Schluss gelöst.

Ein Äffchen. Aber süß

Dazwischen rappelt es aber noch ordentlich im Karton, wenn es zur Variante der Bremer Stadtmusikanten wird. Ein verlaufender Hund, eine streunende Katze und eine ausgesetzte Schildkröte gesellen sich auf der Suche nach einem neuen Zuhause dazu. So kann Eifersucht richtig Spaß machen. Und manchmal ist ein kleiner Bruder wirklich ein Äffchen. Aber süß.

Jüngere Geschwister haben es auf der anderen Seite aber auch nicht immer leicht: »Angefangen hat alles mit dem Straßentrödel. Einfach mal das alte Spielzeug rausgestellt  und ein bisschen Geld verdient. Da haben wir, ganz aus Versehen, unsere kleine Schwester verkauft.« Geld gewonnen und nebenher noch eine kleine Nervensäge losgeworden. Klassische Win-Win-Situation. Nur die Eltern sind sauer. »Meine Mama war ziemlich wütend und Papa hat geweint«, erzählt die geschäftstüchtige und überhaupt nicht zerknirschte Tochter. Der Vater schluchzt: «Die war doch ganz neu!«

Famose Kapitalismus Satire

Macht nix, kann man sich ja eine neue, höfliche und adrette gegenüber kaufen, inklusive einem Koffer mit Wintersachen. »Allerdings war sie nicht ganz billig. Deshalb mussten wir Oma verkaufen.« Die ist zwar kein scheckheftgepflegter Oldtimer und hat viele Gebrauchsspuren, geht aber an einen Liebhaber zum Liebhaberpreis weg.
Und so wird munter die ganze Familie inklusive Katze versilbert, in Zahlung gegeben, im Internet angepriesen, nach dem Motto »Alles muss raus«. Nur die Mutter ist zu ramponiert und taugt nur noch für Bastler.
Was als Flohmarktgeschichte beginnt, entwickelt sich zu einer famosen Kapitalismus-Satire, verpackt in einem witzigem Kindercomic. Als die gewiefte Göre erstmal auf den Geschmack des Geldes kommt, gibt’s zunächst kein Halten. Doch wenn alle Fast Food bestellt und auf dem Tablet alles durchgeglotzt ist, kann es auch ziemlich einsam werden. Also beschießt unsere übersättigte Erzählerin: »Ich glaub, ich geh einkaufen!«
Was sie bei ihrer neuen Shoppingtour erwirbt, ist sehr überraschend und eine weitere tolle Lektion der freien Marktwirtschaft … und wird hier natürlich nicht verraten.

»Can’t buy me love«

Zu Martin Baltscheits herrlich schnoddrigem Ton passen Thomas Wellmanns karikatureske Illustrationen perfekt. Die originellen Familienmitglieder werden charmant frotzelnd charakterisiert. Die Verlockungen des Reichtums in knallig überladenen Bildern ausgemalt. Und das Besondere von Familienbanden, nicht nur der eigenen Kleinfamilie, bunt und vielfältig gefeiert.
»Can’t buy me love«, sangen schon die Beatles (was man Kindern nicht früh genug vorspielen kann). Wir lernen: Mit Geld kann man nicht kuscheln, und verrückte Gutenachtgeschichten wie Oma zu verkaufen liest es auch nicht vor.

Hiroshi Ito: Kind zu verschenken, Übersetzung: Ursula Gräfe, Moritz Verlag, 120 Seiten, ab 6, 14 Euro

Martin Baltscheit, : Oma zu verkaufen, Illustrator: Thomas Wellmann, Kibitz, 32 Seiten, ab 6, 15 Euro

Unendliche Welten

Telegraph

Pulp Fiction als Erweckungserlebnis: »Auf dem Einband waren gleich zwei Frauen abgebildet, eine Blondine und eine Brünette. Die Blonde trug ein pinkes Negligé und kniete schüchtern auf dem Boden, mit niedergeschlagenen Augen, während hinter ihr die wohlgeformte Brünette aufragte. Das Buch hieß ›Sonderbare Zeiten‹ und der dazugehörige Slogan lautete: ›Den widernatürlichen Neigungen ihres Herzens konnte sie nicht entkommen‹.
Aufregung fuhr wie ein Stromstoß durch Lily.« Als die Siebzehnjährige den Schundroman bei den billigen Taschenbüchern hinten im Drugstore entdeckt, erkennt sie, dass sie für ihre Mitschülerin Kathleen mehr empfindet als nur Sympathie. Und ihr ist klar, dass das verboten, gegen die Regeln und undenkbar ist.

Faible für Frauen ist unmöglich

Von ihr als ordentlichem Mädchen aus Chinatown in San Francisco Anfang der 1950er Jahre wird erwartet, dass sie amerikanischer ist als junge weiße Mädchen: ausgezeichnete Schülerin, was Anständiges studieren, heiraten, Hausfrau und Mutter von ebenso folgsamen Kindern werden. Mag ihr Interesse für Raumfahrt und der Wunsch, zum Mond zu fliegen, noch als vorübergehende jugendliche Spinnerei durchgehen. Ein Faible für Frauen ist absolut unmöglich.

Anpassung an das weiße Amerika

Als aus China stammende Amerikanerin haben es sie und ihre Familie, ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter Krankenschwester, schwer. Antikommunistische Hetze stellt alle Asiaten unter Generalverdacht. Und so genau wird auch nicht unterschieden, der Zweite Weltkrieg ist noch nicht lange her, damals war China zwar mit den USA verbündet, aber Japaner waren Feinde. Und innerhalb der chinesischen Community gelten strenge Konventionen, Anpassung an den Mainstream ist das oberste Gebot.
Lily und Kathleen, genannt Kath genannt, freunden sich an. Und mehr als das, Kath nimmt Lily mit in einen Club namens Telegraph Club. Dort tritt auch die Herrenimitatorin Tommy Andrews auf. Lily ist fasziniert, für sie tun sich nicht nur im Weltraum unendliche Welten auf.

Leben zwischen zwei Welten

Malinda Lo erzählt in Last Night at the Telegraph Club spannernd und vielschichtig von San Francisco in den 1950er Jahren. Von den Menschen in der chinesischen Community, schillernd und exotisch, angepasst und ambitioniert, Leben zwischen zwei Gesellschaften.
Lo taucht ein in Bars und Treffpunkte der lesbischen Szene, man begegnet sich männlich gebenden Butches und femininen Femmes. Beklemmend wird die aufgeheizte politische Paranoia beschrieben. Und natürlich erzählt der Roman auch vom Coming out eines jungen Mädchens, das gegen viele Vorurteile kämpfen muss. Sogar in der lesbischen Szene, wo eine Asiatin doch sehr exotisch ist.

Privates und historisches verknüpft

Der Roman ist sehr gut recherchiert und absolut stimmig. Zwischendurch wechselt er auch die Perspektive und Zeit, erzählt aus der Sicht ihrer Eltern, kurz nachdem sie China verlassen und sich in den USA kennenlernen. Oder aus der Sicht ihrer Tante, einer Mathematikerin, die in einem Raumfahrtprojekt arbeitet. Private und historische Ereignisse werden auf einem Zeitstrahl angeordnet und miteinander verknüpft.

Zeitgeschichtliches Tableau

Last Night at the Telegraph Club ist mittlerweile unter jungen Menschen ein Bestseller. Zurecht, ist der Roman doch über die queere Thematik hinweg ein brillantes zeitgeschichtliches Tableau. Nur die wenigen erotisch angehauchten Petting Passagen fallen dagegen ab. Die monotone und einfallslose Wiederholung von »pochendem Herz«, »schmerzhaftes Ziehen im Unterleib« oder »weiblichen Kurven« rührt wahrscheinlich weniger daher, dass Lily die Worte für ihre neuen Empfindungen fehlen. Es ist eher ein Zeichen der Sprachlosigkeit angesichts von Sex und Körperlichkeit in der amerikanischen Literatur. Da kann auch die sensible Übersetzerin Beate Schäfer nichts dran ändern.

Last Night at the Telegraph Club feiert die kulturelle, sexuelle und geistige Vielfalt, ein mitreißender und funkelnder Roman.

Malinda Lo: Last Night at the Telegraph Club, Übersetzung: Beate Schäfer, DTV, 445 Seiten, ab 14, 19 Euro

Unter Wölfen

Wolfspelz

Vor kurzem ging es hier um einen Baum. Sid Sharp führt uns jetzt inmitten ganz vieler Bäume in den Wald. Dort wachsen nämlich die vom Schaf Bellwidder Rückwelzer heißgeliebten Brombeeren.

Leider lauern im Wald auch hungrige Wölfe, die scharf auf Schaf sind. Also braucht Bellwidder eine sehr gute Tarnung und kommt auf die raffinierte Idee, das Bild vom Wolf im Schafspelz umzukehren: Er schneidert sich einen Wolfspelz.

Wolf im Schafspelz reverse

Das Kostüm hat zwar ein paar Nachteile: Mit seinen unter spitzen Attrappen eingeklappten Ohren kann er das Vogelgezwitscher nicht hören. Und durch die aus Lehm modellierte Nase kann er den Duft der Blumen nicht mehr riechen. Dafür kann er Brombeeren essen und wird nicht selbst gefressen.

Sid Sharp zeigt Bellwidder in Der Wolfspelz gleich zu Anfang in klaren Panels als einen glücklichen Schafsbock, der sich sehr wohl in seiner Haut fühlt. Er mag sein liebes Gesicht, seine schlappen Ohren, die paarigen Hufe und langen Wimpern, seine weiche Wolle und den Puschelschwanz. In seinem Haus am Waldrand – hinter geschlossenen Vorhängen – tanzt er und fühlt sich sicher.

Bedrohlich buntes Schwarz

In der außergewöhnlichen Mischung aus Graphic Novel und Bilderbuch dominiert schwarz als Hintergrund. Davor heben sich freundliche und farbige Details umso lebendiger hervor, zum Beispiel das blumige Tapetenmuster in Bellwidders Haus oder die üppige Vegetation des Waldes. Das flächige Schwarz steht auch für düstere Gedanken und Bellwidders Wut, dass er nicht einfach so, wie er ist, in den Wald gehen kann, die Welt außerhalb seines Hauses. Und es wirkt auch ganz schön unheimlich und macht die dunkle Gefahr fühlbar.

Als Bellwidder in seinem Wolfspelz tatsächlich drei Wölfen über den Weg läuft, wird es zappenduster. Er gibt sich besonders böse und behauptet schon hunderte Schafe gefressen zu haben. Aber bei seinem Kostüm lösen sich die Nähte, der Wolfspelz beginnt zu reißen und Bellwidders wahre Natur kommt zum Vorschein. Als er sicher ist, dass er gleich gefressen wird, kommt alles ganz anders …

Unter Druck

Raffiniert, in schön spröden und in absolut nicht niedlichen Bildern zeigt Sid Sharpe, unter welchem Druck man steht, wenn man sich verleugnen und gegen sein wahres Ich handeln muss. Wenn man eine Rolle spielt, die nicht zu einem passt. Wenn man glaubt, niemandem trauen zu können. Dazu reichen ihr wenige Worte in Sprechblasen, kurze prägnante Mono- und Dialoge.

Umso vielsagender sind die Farben, die scharfen Konturen und die mysteriös belebte Umwelt. Immer wieder blitzen Augenpaare aus dem Unterholz und dem Dunkeln hervor. Sid Sharpes überraschende Umkehr vom Wolf im Schafspelz ist ein kluges und subtiles Plädoyer gegen Vorurteile und für Vielfalt.

Sid Sharp: Der Wolfspelz, Übersetzung: Alexandra Rak, NordSüd, 136 Seiten, ab 6, 22 Euro

Zum Anbeißen

Apfelbaum

Wann hat der Apfel eigentlich seine Unschuld verloren? Die meisten würden spontan antworten, mit dem Alten Testament und der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Und natürlich war die Frau an allem schuld. Anderes Thema …
Tatsächlich ist der Apfel in der Neuzeit zum Problem geworden, weil mittlerweile so viele Menschen allergisch auf ihn reagieren. Was sehr schade ist, da Äpfel ein preiswertes, bestenfalls nahezu klimaneutrales und ebenso einfach wie vielfältig zu konsumierendes Superfood sind, denn sie enthalten Vitamine, Mineralien, Ballaststoffe und Antioxidantien.

Leises Rauschen in der Rinde

Das große Buch vom Apfelbaum hat so profane Gesundheitswerte nicht nötig, um für das Obst und seinen besonderen Mikrokosmos zu begeistern. Der Biologe Holger Haag beginnt mit der Schönheit: »Im Frühling erstrahlt der Apfelbaum in einem Meer aus rosaweißen Blüten.« Aber der Baum wird natürlich nicht einfach so »wach geküsst«, wie es in einer Kapitel-Überschrift poetisch heißt. »Die Tage werden länger, die Temperaturen steigen. Der Baum kann wieder Wasser und Nährsalze aus der Erde aufnehmen, weil der Boden nicht mehr gefroren ist«. Und weiter: »Wenn du dein Ohr ganz dicht an den Stamm hältst, hörst Du mit ein bisschen Glück das leise Rauschen in der Rinde.«

En passant Interessantes lernen

Elegant und mühelos leitet Haag von den sinnlichen Eindrücken über zur Wissenschaft. »Es gibt zwei verschiedene Leitungsbahnen: Im sogenannten Xylem findet der Wassertransport von der Wurzel bis in die Baumspitze statt. Im Phloem dagegen gelangen wichtige Nährstoff wie Zucker und Eiweiße von den Stellen, wo sie hergestellt werden, dorthin, wo sie gebraucht werden, also zum Beispiel von den Blättern zu den Früchten.« Da hat man auf der ersten Seite schon en passant etwas sehr Interessantes gelernt.

Vögel auf Daunenlänge und Felle zum Streicheln

Lars Baus malt dazu wunderschöne naturalistische Bilder. Man kann die Struktur der zarten Blütenblätter und der rauen Rinde des Stamms geradezu fühlen. Auch die zahlreichen Lebewesen, die von, auf und mit dem Baum leben: Vögeln wie Feldsperlingen, Neuntötern oder Seidenschwänze kommt man auf Daunenlänge, bis zu den fluffigen Federn, nah. Bei Eichhörnchen, Rotfuchs und Gelbhalsmaus möchte man das feine Fell streicheln.

Die Rehabilitation der Ohrenkneifer

Zum Anbeißen ist auch im Kapitel Herbst die Doppelseite mit acht Apfelsorten. Holger Haag erklärt dazu viel Spannendes und Wissenswertes mit wenigen präzisen Worten. Wie aus der bestäubten Blüte schließlich ein Apfel wird. Woraus das Kerngehäuse entsteht. Das Besondere einer Obstwiese. Welche Insekten dem Apfelbaum nutzen. Und welche ihm schaden.
In dem Zusammenhang wird ein »kleines Tier mit schlechtem Ruf« mehr als rehabilitiert: Der Ohrenkneifer. Der interessiert sich nämlich überhaupt nicht für Ohren. Tatsächlich vertilgt das Insekt liebend gern Blattläuse, Gespinstmotten und die Larven des Apfelwicklers. Dazu gibt es noch einen einfachen Basteltipp, mit dem man diese Nützlinge anlocken und am Baum heimisch werden lassen kann.

Auch für Allergiker ein Genuss

Abgerundet wird Das große Buch vom Apfelbaum mit einem zweiseitigen Glossar und einem Register der Tiernamen. Ein Bilderbuch von einem Sachbuch, bildschön in Illustration und Text. Es macht die faszinierenden Früchte und alles drumherum zum Genuss – auch für Allergiker.

Holger Haag (Text), Lars Baus (Illustrationen): Das große Buch vom Apfelbaum, Coppenrath, 56 Seiten, ab 5, 22 Euro

40.000 Kilometer durch das Meer

Meeresschildkröte

Die ersten Schritte einer Meeresschildkröte sind die gefährlichsten. Der erste Strandspaziergang der frisch geschlüpften Reptilien kann auch ihr letzter sein. Doch wenn sie die ersten 24 Stunden nicht gefressen werden und die Brandung erreichen, können sie 80 Jahre alt werden.

Klein, kraftlos, mit Delle

Die kleine, sogenannte Unechte Karettschildkröte oder Caretta caretta, die japanische Fischer 1997 in den Wellen fanden, hatte es zwar lebend bis ins Meer geschafft. Aber sie war klein, kraftlos und hatte eine Delle im Panzer. Die Männer gaben ihr Fisch und den Namen Yoshitaro und brachten sie ins Aquarium in Kapstadt.

Der Ruf des Meeres

20 Jahre später ist Yoshi ein ziemlicher Oschi, von zwei auf 183 Kilogramm angewachsen und 107 Zentimeter lang. Und Yoshi hört den Ruf des Meeres. Das entspricht dem natürlichen Lebensrhythmus von Meeresschildkröten – dorthin zurückzukehren, wo sie geschlüpft sind. Yoshi und das Meer ist die unglaubliche und doch wahre Reise einer Meeresschildkröte, von der die Meeresbiologin und Künstlerin Lindsay Moore faszinierend erzählt.

Trainiert und mit Peilsender versehen

Die ersten zwei Jahrzehnte im Aquarium sind schnell und prägnant dargestellt. Bevor Yoshi tatsächlich ausgewildert wird, versuchen die Menschen sie auf das Leben und die Gefahren im Meer vorzubereiten. »Was ist mit Tigerhaien und Zusammenstößen mit Schiffen? Was ist mit treibendem Plastik und Fischernetzen?« Plastiktüten, die für Quallen und Futter gehalten werden, und Netze sind tatsächlich die größten Bedrohungen. »Yoshi dreht ihre Runden und frisst mehr als sonst. Sie trainiert für den Heimweg.« Kurz bevor Yoshi in die Freiheit entlassen wird, wird ihr noch ein Peilsender auf den Panzer geklebt.

23.167 Funksignale

Und so weiß man, dass diese Meeresschildkröte 40.000 Kilometer durchs Meer geschwommen ist, mit einem Ziel, das bis zur Ankunft nur sie kannte. Lindsay Moore zeigt diese Reise in hinreißenden und atemberaubenden Doppelseiten. Yoshi schwimmt durch türkisgrüne Weiten und mitternachtsblaue Tiefen. Sie schwimmt an der Seite von Delphinen, Kugelfischen, Robben und Walen, vorbei an Korallen und Quallen, futtert Garnelen und Schnecken. Und zwischendurch kommt sie immer wieder an die Oberfläche und sendet ein Signal: Grüße von Yoshi. 23.167 Funksignale schickt sie in 982 Tagen.

Prägnant und poetisch erzählt

Moore erzählt anschaulich, in wenigen prägnanten, auch poetischen Worten. Ihre fantastischen Bilder orientieren sich an tatsächlichen Gegebenheiten wie den Unterwasserlandschaften, bekannten nahrungsreichen und auch gefährlichen Gründen, Gegenden, wo besonders viele Fischereiboote unterwegs sind, mit Schleppnetzen, Leinen und Haken. Yoshi ist eine freie Schildkröte.

Schlau, mutig, entschlossen

»Das ist Yoshi, die Meeresnomadin.« »Das ist Yoshi, die schlaue Schildkröte.« … die mutige Schildkröte, die entschlossene. So beginnen die meisten Doppelseiten. Und es passt, es ist wirklich sehr beeindruckend, wie die Meeresschildkröte die unfassbar lange Reise beharrlich fortsetzt, eins wird mit den Strömungen, Tälern, Bergen, Plateaus und alle Hindernisse bewältigt. Johanna Ruhl hat dieses wunderbare Reisebuch einfühlsam und kitschfrei übersetzt.

Hohe Sachbuchkunst

Zum Schluss gibt es noch einen hervorragenden Sachbuchteil. Pointiert und präzise werden Unechte Karettschildkröten vorgesellt, ihre perfekt ans Leben im Meer angepasste Anatomie und ihr Lebenszyklus, zu der auch diese unglaubliche Reise gehört. Moore zeigt auch die komplexe Unterwassergeographie und welchen Einfluss diese auf Flora, Fauna und Nahrung für die Meeresbewohner hat. Und welche Gefahren von Plastik in den Ozeanen ausgeht. Die amerikanische Autorin illustriert diese wesentlichen Informationen auch optisch eingängig. Das ist nicht nur hohe Bilderbuchkunst, sondern auch das ideale Sachbuch für jedes Alter – klug, wissenwert, wunderschön und berührend.

Lindsay Moore (Text und Illustrationen): Yoshi und das Meer – Die unglaubliche Reise einer Meeresschildkröte, Übersetzung: Johanna Ruhl, CalmeMara Verlag, 64 Seiten, ab 5, 25 Euro