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Krieg erklären – Frieden suchen

Die Ereignisse in der Ukraine in den vergangenen zwei Wochen haben mich – wie vermutlich jeden von uns – schockiert, deprimiert, wütend und ängstlich gemacht. Nach dem ersten News-Overflow, ersten Demos, blau-gelben Posts und Spenden für die humanitäre Hilfe konnte ich jetzt den Blick wieder auf die Bücher richten.

Krieg ist jedoch ein so großes, so komplexes Thema, dass es hier in einem kleinen Post kaum aufzufangen ist, selbst wenn es nur um Bücher geht. In dem Jahrzehnt, den es diesen Blog nun schon gibt, haben wir immer wieder Bücher über und gegen den Krieg vorgestellt. Es sind das jedoch vor allem Bücher über die beiden Weltkriege, zum Beispiel Elisabeth Zöllers Der Krieg ist ein Menschenfresser, Maja Nielsens Feldpost für Pauline, Dorothee Haentjes-Holländers Paul und der Krieg oder auch Joke van Leeuwens Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor. Das sind allerdings immer auch Geschichten über lang zurückliegende Ereignisse, die vielleicht das Verhalten von Großeltern und Eltern erklären, für Kinder aber eher abstrakt bleiben.

Mit dem Ukraine-Krieg rückt das Geschehen nun räumlich näher, wie schon in den 1990er Jahren im Serbien-Krieg, und hat aber, dadurch, dass mit Putins Russland eine Großmacht einen Nachbarstaat angreift, eine weltpolitische Reichweite, der sich niemand mehr entziehen kann. Und die Kinder spüren natürlich unsere Ängste, hören unsere Gespräche, gehen mit auf die Demos und stellen Fragen. Einige dieser Fragen lassen sich mit den folgenden drei Büchern ansatzsweise beantworten.

Die einfachen Grundregeln des Zusammenlebens

Louise Spilsbury erklärt in Wie ist es, wenn es Krieg gibt? in 13 kurzen Kapiteln die Grundvoraussetzungen für einen Krieg: den Streit zwischen Menschen und die Gründe für Konflikte unter ihnen. Die unterschiedlichen Traditionen in verschiedenen Ländern und Religionen gehören dazu. Der Krieg verändert das Leben der betroffenen Menschen, viele verlassen die Heimat, flüchten und suchen Sicherheit.
Spilsbury kann das alles natürlich nur kurz anreißen, zeigt aber in wenigen Worten und durch die eindrücklichen, aber nicht traumatisierenden Illustrationen von Hanane Kai, welche Lösungen es für Kriege und Konflikte gäbe: miteinander reden, Regeln aufstellen und diese auch einhalten. Dazu der Versuch, andere Menschen zu verstehen und zu respektieren. Im Fall eines Konfliktes ist es wichtig zu helfen, und auch dazu gibt es in diesem Buch einige Anregungen, die den jungen Leser:innen helfen können die eigene Ohnmacht zu überwinden. Dies hier so einfach aufzuschreiben, kommt mir fast unwirklich vor, weil es im Grunde so simpel ist – und doch von gewissen Machthabern nicht befolgt wird.

Die machtgierigen Männer

Wie es dazu kommt, dass Männer machtgierig werden, zeigte David McKee bereits 2014 in seinem Buch Sechs Männer. Diese Parabel heute zu lesen, lässt einen quasi erschaudern: Es wirkt wie die Blaupause zu Putins Verhalten.
Es beginnt harmlos mit sechs Männern, die einen friedlichen Ort zum Leben und Arbeiten suchen. Dort werden sie Baumeister und Bauern – und reich. Mit dem Reichtum kommen die Sorgen, weil sie ihr Gut schützen und behalten wollen. Die Männer stellen sechs Wachen an, vorsorglich. Doch die Wachen haben nichts zu tun. Die Herrscher wollen ihr Geld aber nicht umsonst ausgegeben haben. Also werden die Soldaten losgeschickt, andere Bauern zu überfallen und deren Land zu rauben.
Die Spirale der Gewalt kommt in Gang: mehr Soldaten werden gebraucht. Die Bauern auf der anderen Seite des Flusses bekommen Angst, rüsten ebenfalls auf. Ein dummer Zufall löst den Krieg aus … Die einfachen Strichzeichnungen von McKee treffen so ins Mark, dass ich diese wenigen Seiten eigentlich nur ungläubig anschauen kann. Hier ist die gesamte Absurdität des Krieges drin: Die Soldaten der kämpfenden Parteien sind nicht mehr auseinanderzuhalten und am Ende herrscht nur der Tod. Krieg ist keine Option. Niemals. Das begreifen mit dieser Lektüre bereits Kinder.

Give Peace a chance

Das Plädoyer für den Frieden kommt von Baptiste & Miranda Paul, zusammen mit den farbenfrohen Illustrationen von Esteli Meza. Kinder sind hier auf jeder Seite mit Tieren zusammen, seien es Elefanten, Füchse, Koalas, Pandas, Pferde oder Löwen. In kurzen, oftmals gereimten Zeilen beschwören die Pauls die Schönheit des Friedens, das Wohlgefühl, das Zuhause sein und die Sicherheit herauf, die der Frieden uns gibt. Mit wenigen Sätzen erklären sie, wie wichtig es ist, die eigenen Freunde wirklich anzusehen, ihre Namen zu kennen und gemeinsam etwas Mutiges zu tun. Das Geben wird über das Nehmen gestellt und viele kleine Fische können den spitzzähnigen Hai besiegen. Im Frieden werden auch die Kleinsten gehört und der Satz »Es tut mir leid« schafft Versöhnung und echten Frieden.

Frieden ist ein hoffnungsfrohes Buch, das die Tiere mit im Blick hat, denn auch sie leiden in kriegerischen Auseinandersetzungen. Die warmen Farben der Bilder, die Kinder aus allen Nationen, die mit den Tieren kuscheln und am Ende um das Lagerfeuer sitzen und einer Vorleserin lauschen – all dies ist so tröstlich und erstrebenswert. Es gibt keine andere Option als Frieden.

Das blau-gelbe Bild mit der Taube vom Anfang dieses Posts stammt aus dem Buch der Pauls – und die Farbwahl sehen wir heute natürlich mit ganz anderen Augen. Es dürfte einer dieser seltsamen Zufälle sein, die dieses Leben auch immer wieder so erstaunlich macht.

Die drei Bücher werden momentan nachgedruckt. Louise Spilsbury ist ab 7. April wieder zu haben.

Baptiste Paul & Miranda Paul: Frieden, Illustration Esteli Meza, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2021, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Louise Spilsbury: Wie ist es, wenn es Krieg gibt?, Illustration: Hanane Kai, Übersetzung: Jonas Bedford-Strom, Gabriel Verlag, 2022, 32 Seiten, ab 5, 10 Euro

David McKee: Sechs Männer, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd Verlag, 2014, 48 Seiten, ab 5, 13,99 Euro

Angst in Bilderbüchern

Bei mir auf dem Schreibtisch hat sich in den vergangenen Wochen, sei es bei meiner Arbeit als Übersetzerin und Lektorin, als auch bei der Suche nach »schönen« Kinderbüchern ein Thema herauskristallisiert: die Angst. Gefühlt leben wir in einer Zeit, in der die Menschen immer mehr Angst haben. Vor Viren oder Impfstoffen dagegen, vor den Auswirkungen der Klimakatastrophe, vor drohenden Kriegen in nicht allzu weiter Entfernung. Die Liste ließe sich beliebig erweitern.

Ein Leben ohne Angst gibt es allerdings nicht und hat es auch nie gegeben. Das Gefühl der Angst ist uns angeboren und erfüllt eine wichtige Funktion, in dem sie uns vor lebensbedrohenden Gefahren schützen will. Nur, dass wir in unserem hochtechnisierten und durchgetakteten Leben voller Ansprüche und Erwartung mittlerweile auch vor Dingen Angst haben, die nicht unbedingt lebensgefährlich sind. Aber wie oft hat man als Erwachsener Angst um den Ruf oder den Job. Menschen wollen dazugehören, denn auch das sichert unser Überleben.

Kindern geht es nicht anders. Nur verfügen sie noch nicht über die Erfahrung, wie sie das unangenehme Gefühl Angst bewältigen können, welche Tricks und Kniffe man anwenden kann, um es wieder loszuwerden. Oder auch hinter die Schatten zu blicken. Aus Erwachsenenperspektive von oben herab zu sagen: »Da ist doch gar nichts« hilft den Kindern nicht. Die Angst bleibt und wird im schlimmsten Fall größer.

Bei der Durchsicht der aktuellen Verlagsvorschauen sind mir dann eine Vielzahl von Neuerscheinungen zum Thema Angst aufgefallen. Daraufhin habe ich mich ein bisschen umgesehen und erst einmal die Bilderbücher aus den vergangenen drei Jahren gesichtet (weiter zurück zu gehen würde das Internet sprengen…). Die Bandbreite bei Bilderbüchern zum Thema Angst ist riesig. Auffallend ist, dass hauptsächlich tierische Akteuere auf die eine oder andere Art gegen ihre Angst ankämpfen, vom Opossum bist zum klassischen Wolf, vom Hasen bis zum Mops, es ist alles dabei. Sogar ein Ents-ähnlicher Baum hilft bei der Angstbewältigung. Mag sein, dass die Angst so weniger Angst macht und die Identifikation leichter fällt. Dazu gibt es in so einigen Büchern Reime und Bannsprüche, die im realen Leben Halt und Hilfe geben können.

Ich habe versucht, die Bücher ein wenig nach Themen zu sortieren. Aber ich erhebe hier natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch ersetzt die Lektüre nicht eine professionelle psychologische Betreuung, wenn ein Kind unter einer Angst so sehr leidet, dass es davon ernsthaft krank wird. Aber meine kleine Hoffnung ist, dass ihr hier vielleicht Anregungen findet, wie ihr eurem Kind die Angst vor der Angst nehmen könnt. Es gibt hier sehr viel zu gucken, zu entdecken, zum Schmunzeln und zum Lachen. Vor der Angst braucht sich niemand zu fürchten. Sie gehört zu uns, zu unserem Leben dazu. Es ist eine Frage der Einstellung und des Wissens, wie wir ihr begegnen. Und sie dann letztendlich in Mut verwandeln und uns viel mehr trauen.
Viel Spaß beim Stöbern.

Sich etwas trauen gegen die Angst

Schon für die kleinsten Leser:innen lässt sich das Gefühl Angst mit Hilfe eines Buches bewältigen. Das Pappbilderbuch Kleiner Angst-Frosch hab doch Mut! von Christine Kugler und Jutta Berend zeigt kindgerechte Alltagssituationen, in denen Angst aufkommen kann: auf der Rutsche, beim Sprung ins Schwimmbecken, abends im Bett oder auf der Bühne beim Chorkonzert. In kurzen gereimten Texten wird die Situation erklärt und Hilfe in Form von Freunden, Taschenlampe oder Mitsingenden geboten. So überwindet Frosch Ferdi schließlich seine Angst. Und jede kleine Leser:in erfährt schon hier, dass Angst etwas ganz Normales ist.

Angst versus Mut treffen unmittelbar im Wendebuch von Andrea Schütze und Stéffie Becker aufeinander: Ich trau mich/Ich trau mich nicht. Das mutige Orang-Utan-Mädchen Olivia und der ängstliche Tiger Jonte leben im Urwald und wüschen sich eigentlich nur einen Freund, ganz für sich. Die Elternteile können den beiden dabei nicht besonders gut helfen, ermuntern den jeweiligen Spross aber, auf die Suche zu gehen. Olivia und Jonte begegnen dem Krokodil Rokko, der sich als Freund anbietet. Allerdings unter der Bedingung, dass die beiden eine Mutprobe bestehen sollen …
Das Gegenüber der unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Figuren lässt kleine Leser:innen sicher über die Vielfalt im Leben nachdenken. Die identische Reaktion von Olivia und Jonte auf die Mutprobenfrage von Rokko macht ihnen jedoch auch klar, dass Freundschaft nicht unter Bedingungen geschlossen werden kann – und es mitunter sehr mutig ist, Nein zu sagen.

Die Neuausgabe von Valeri Gorbachevs Nur Mut, kleine Küken! ist im Grunde ein Klassiker von 2001 und begleitet zwei Kükengeschwister bei ihrem ersten Besuch auf den Spielplatz. Alles ist groß und scheinbar gefährlich: die Wippe mit den Hundekindern, das Karussell mit den Ferkeln drauf, die Schaukeln, die von den Kätzchen besetzt sind. Die anderen Tierkinder sind nett und fragen die Küken, ob sie mitmachen wollen, doch die beiden antworten stets: »Danke, aber dafür sind wir noch zu klein.« Man kann es ihnen nicht verdenken… Doch als der Biberjunge auf der Rutsche Verständnis für ihre Angst zeigt (er hatte beim ersten Mal auch Angst) und mit ihnen gemeinsam rutscht, überwinden die beiden ihre Scheu.
Die nicht Verurteilung von Angst, das Verständnis der anderen und die Hilfsbereitschaft, die knuffige Tierfiguren hier zeigen, fördern auch bei den Betrachter:innen den Mut, sich auf neue Abenteuer, sei es auf dem Spielplatz oder sonst wo im Leben, einzulassen.

Der kleine rote Drache mit den niedlichen Flügeln traut sich nicht – zu fliegen. Obwohl das doch genau das ist, wozu er geboren ist, finden die großen Tiere wie Fuchs, Hase und Dachs. Allein Mama Drossel verteidigt den Ziehsohn: »Ach, das macht er schon noch, wenn die Zeit gekommen ist.«
Bis dahin entdeckt der kleine Drache die Moosrutsche auf dem Baumstamm, malt Bilder in den Sand, betrachtet hübsche Blumen. Alle Versuche seiner tierischen Genossen, ihn zum Fliegen zu bewegen, bringen nichts. Bis er es eines Nachts selbst ausprobiert … Neben der Bewältigung der Furcht vor einer zu erlernenden Fähigkeit, geht es in Ein komischer Vogel traut sich was von Michael Engler und Joëlle Tourlonias auch um das Aushalten von gesellschaftlichem Druck. Alle erwarten etwas, drängen den kleinen Drachen förmlich – doch nur die Ziehmutter hat im Blick, dass jedes Wesen seinen eigenen Rhythmus hat und Zeit braucht. Ein Mutmachbuch für kleine Leser:innen der besonderen Art, ganz im Sinne: Kommt Zeit, kommt Mut.

Tiere gibt es im psychologischen Bilderbuch Muträuber von Johannes Traub, Wiebke Alphei und Suse Schweizer nicht: Dafür sind die Räuberbrüder Hugo und Zugo ziemlich verschieden. Hugo ist eher der angstfrei Draufgänger, Zugo der ängstlich Zurückhaltende. Zugo möchte gern mutiger sein, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll. Der Räubervater gibt ihnen den Tipp, sich Mut zu räubern. Und Mut findet man da, wo Angst ist … und so stellt sich Zugo seinen Ängsten (der großen Rutsche, Radfahren). Hugo unterstützt ihn dabei, so dass auch Zugo sich schließlich traut.
Geschickt sind hier im Text verschiedene Arten von Angst und ihre körperlichen Merkmale eingebaut. Die bestärkende Art von Hugo gegenüber dem Bruder zeigt den Lesenden, wie bei Kindern Ängste abgebaut werden sollten. Die Variante, dass hier nur Jungs und der Vater auftreten, macht das Buch zu einer perfekten Vater-Sohn-Vorlesegeschichte.

Mitmachbücher

Konkrete Strategien, wie Kinder mit ihren Ängsten umgehen können, liefern Nanna Neßhöver und Eleanor Sommer in Wenn ich ängstlich bin. Murmeltier Mumm verlässt seinen Bau und ist plötzlich einsam und bekommt Angst. Bär, Luchs, Mauerläufer und Steinbockmädchen machen ihm vor, wie sie ihre Angst wegbrummen, weghopsen, sich groß machen oder sich schöne Orte vorstellen. Mumm probiert das alles aus und findet schließlich das, was er am besten kann: pfeifen.

Mit kleinen Aufforderungen im Text werden die Kinder beim Betrachten der Bilder animiert, beispielsweise auf die Blüten zu tippen, über einen Stein zu streichen oder sich ihren Lieblingsplatz vorzustellen. Die Macherinnen zeigen den Kids durch süße Bilder und einfache Texte, wie sich die Angst körperlich zeigt (zittern), wofür sie gut ist (Warnung) und wie sie damit umgehen können (atmen, vorstellen, hopsen). Das Abenteuer von Mumm hat Unterhaltungswert und hilft Kindern und Eltern gleichzeitig mit alltäglicher Angst umzugehen.

Ähnlich geht es in dem Mitmachbuch Nur Mut, kleiner Schmollmops von von Lucy Astner und Alexandra Helm zu: Der Mopswelpe hat vor seinem ersten Tag in der Möpschen-Spielgruppe ein ganz seltsam kribbeliges Gefühl im Bauch. Mops-Eltern und -Großeltern konstatieren dem Nachwuchs Angst und reden ihm Mut zu. Doch wie wird man mutig? Hilfe naht durch Specht, Hamster, Dachs und Katze. Jedes Tier bringt dem kleinen Mops eine Entspannungs-Mutmach-Technik bei, die die kleinen Leser:innen dem Schmollmops aktiv vormachen sollen. Da wird geklopft, Katzenbuckel gemacht, die Backen aufgeblasen und durchgeatmet. Der Trick, den Kindern so ein paar Entspannungskniffe beizubringen, ist entzückend, bedarf aber sicher mehr als eine Lektüre, um alles wirklich zu verinnerlichen. Am Ende merkt der Schmollmops, dass es in der Spielgruppe gar nicht schlecht ist und er einfach seinem Herzen folgen sollte.

Angst vor Unbekanntem

Angst hat immer auch etwas mit dem Unbekannten, dem Fremden zu tun. Darum geht es in Jessica Meserves Die Welt da draußen. Die Betrachtenden tauchen ein in die Welt der Kaninchen, die am liebsten zu Hause und mit ihresgleichen zusammen sind. Am liebsten futtern sie Möhren und haben es gern kuschlig warm in ihrem Bau. Das Helden-Kaninchen gerät beim Ausrupfen eines leckeren Mörchens, das ein klein wenig außerhalb des bekannten Gefildes wächst, ins Neuland. Es kullert in ein unbekanntes Loch und erlebt ganz unkaninchenhafte Dinge wie Nasswerden und Luftanhalten.
Auf seiner Reise begegnet es einem Tier mit Krallen und Haaren, vor dem Kaninchen immer gewarnt wurde. Kaninchen steht böse Ängste aus. Doch das Nicht-Kaninchen ist gar nicht schlimm, im Gegenteil, es versorgt Kaninchen mit lecker Essen … Und so kommt Kaninchen auf den Geschmack, dass es auch noch was anderes im Leben geben kann. In einem Baum, auf den es ganz unkaninchenhaft klettert, findest es Freunde mit Federn, Schuppen, Hörnern oder Hufen – und von allen kann es etwas lernen …
Diese neue Häschen-Schule ist quasi ein Plädoyer für eine bunte Gesellschaft, in der wir alle von anderen sehr viel lernen können. Der Angst vor dem Fremden, dem vermeintlich Gefährlichen, wird hier eine charmante Absage erteilt – und tut uns allen gut.

Schon ganz junge Bilderbuchbetrachter:innen nimmt der kleine Bär, ein Puh-der-Bär-Look-a-like, mit auf einen Weg gegen die Furcht. Nach dem Besuch bei Großvater Bär geht der kleine Bär allein, aber mit einer Laterne in der Pfote nach Hause. Im Wald hört er immer wieder unheimliche Geräusche und findet kleine Tierkameraden, die sich im Dunkeln fürchten. Mit dem titelgebenden Mantra »Ich habe ein Licht und fürchte mich nicht!« nimmt er die Freunde mit und so gelangen alle schließlich sicher nach Hause.
Gerade dieser Reim, den auch kleine Kinder ganz rasch behalten, wirkt wie eine erhellende Ermutigung. Der blau gehaltene Nachtwald mit den Augen, den versteckten Tierchen und deren süßen Behausungen (genau hinschauen!) machen das Buch von Brigitte Weninger und Laura Bednarski zu einer Lektüre voller Überraschungen.

Auf eine Reise oder einen Weg begibt sich auch die Ente. Zusammen mit der Maus macht sie sich in Wird schon schiefgehen, Ente! von Daniel Fehr und Raphaël Kolly auf, den Biber an seinem neuen Damm zu besuchen. Nur plagen die Ente unzählige Alltagsängste: Man könnte sich verlaufen, sich im Regen erkälten, verhungern oder verdursten. Zum Glück hat die entspannte Maus Proviant dabei und erträgt die schwarzseherische Ente mit einer bewundernswerten Gelassenheit. Und plötzlich sind die beiden am Ziel – und nichts ist passiert. Dieser sommerlich orangefarbige Reisegeschichte ist im Grunde der Monolog der ängstlichen Ente. Die Maus reicht ihr zu essen und zu trinken und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch so kann man oder sollte man Ängsten von anderen vielleicht begegnen: Nicht viel sagen, sondern einfach weitermachen. Das Ergebnis ist überzeugender als jede Erklärung.

In einem tiefen, aber wunderbar bunten Wald treffen in Ab hier kenn ich mich aus von Andrea Schomburg und Amrei Fiedlerein ein Menschenkind und ein Baumwesen, das erstaunlich an die Ents aus »Herr der Ringe« erinnert aufeinander. Das Kind hat sich verlaufen, findet den Weg nicht mehr. Dazu die unheimlichen Geräusche, das Geraschel, Gepiepse, Geheule und Geklopfe. Der Baum erklärt und zeigt, und gemeinsam finden sie den Weg aus dem Wald und gelangen in die Stadt mit den vielen Menschen, Häusern, Autos, der Enge, dem Gerumpel. Nun erklärt das Menschenkind und findet den Weg nach Hause wieder. Andrea Schomburg reimt was das Zeug hält und öffnet die Augen für die Schönheit der schützenswerten Natur, auch in der Stadt. Der Angst des Kindes im Wald setzt sie die Angst des Baumes in der vollen Stadt entgegen und zeigt, dass die Angst verschwindet, sobald man sich besser auskennt und gewisse Regeln (die Ampel) beachtet.

Angst vor Gewitter

Die Angst vor dem Naturphänomen Gewitter findet sich aktuell in zwei Bilderbüchern. In Da liegt was in der Luft von Malin Hörl wohnt Svea mit ihren zwei Schwestern, Mama und Papa irgendwo auf dem Land, als ein Sommergewitter aufzieht. So ein richtig heftiges. Die Mädchen sind leicht panisch, ziehen im Haus die Stecker aus den Dosen. Aber Papa bleibt cool, erklärt wie man Schutz sucht und die Entfernung des Gewitters berechnet. Dann schmiert er Erdnussbutterbrote und vom geschützten Balkon beobachten Vater und Töchter das Naturspektakel, mit ganz viel Respekt. Dieser und die gelassene Zugewandtheit des Papas bewirkt, dass Svea schließlich sagt: »Ich mag Gewitter.« Die gemeinsame Lektüre und das Betrachten der warmfarbigen, aber sturmbewegten Bilder kann kleinen Menschen vielleicht die Gewitterangst nehmen.

Auch Hibiskus, der Hase, findet Gewitter nicht gerade toll. In Hase Hibiskus und das grausige Gruseln von Günther Jakobs und Andreas König freut sich der Langohrheld auf einen geruhsamen Abend mit Kakao, doch stattdessen zieht ein Gewitter auf und der Strom fällt aus. Allein im Dunkeln ist es ganz schön gruselig. Schaurige Geräusche dringen von außen ins Haus, dunkle Schatten sind zu sehen, Monster schauen durchs Fenster. Doch glücklicherweise sind es lauter Freunde von Hibiskus, die nach und nach vom Gewitter überrascht bei ihm Unterschlupf suchen. So füllt sich das Hasenhaus mit Maus, Bär, Esel, Uhu und Schlange. Und gemeinsam bei einem Becher Kakao sind sich die Freund einig: »Und gruselt dich auch mal etwas, hab keine Angst, wir klären das.« Genaues Hingucken hilft also gegen Angst, erfahren kleine Leser:innen hier – und Kakao im Warmen ist bei Gewitter ein Seelentröster.

Dunkelheit und Schattenwesen

Die generelle Angst vor der Dunkelheit thematisiert das künstlerische Bilderbuch Louisa und die Schattenmonster von Liliane Steiner. Louisas Eltern haben sich für das Mädchen einen Bannspruch ausgedacht, damit es im Dunkeln keine Angst mehr hat: »Feenschmalz und Kräutersalz, lässt verschwinden von allein, Geister, Monster und Gebeine.« Dazu wird Glitzerstaub verstreut.
Dennoch wird Louisa mulmig, wenn das Licht aus ist. Die Schatten an der Wand sind einfach unheimlich. Licht und Zauberspruch helfen ihr zunächst. Doch auf dem Weg in die Küche begegnen ihr noch mehr gruselige Schatten… Die Künstlerin arbeitet geschickt mit den Schatten von Alltagsdingen. So werden Holzlöffel, Spaghettizange und Kelle zu einem Skelett, Kehrblech, Handbesen und Wischeimer zu einem Teufel. Die Seiten sind dem Setting entsprechend dunkel gehalten, was für kleine Betrachter:innen spannend sein kann. Louisa enttarnt die Schattenmonster und verliert ihre Angst.
Auf dem Vorsatz sind Beispiele für Schattenspiele mit den Händen zu sehen, die sofort zum Nachmachen animieren und die Verwandlung von verschränkten Fingern zu mehr oder minder gefährlichen Tierschatten veranschaulicht.

Die Angst vor der Dunkelheit findet in Hab keine Angst, kleines Dunkel von Peter Vegas und Benjamin Chaud eine reizvolle Umkehrung: Das kleine Dunkel hat nämlich Angst vor dem Licht. Es versteckt sich in Schubladen, unterm Bett und traut sich erst vor die Tür, wenn die Sonne weg ist. Das Dunkel bleibt die ganze Nacht wach, damit die Kinder ruhig schlafen können, auch wenn es selbst dann nichts erlebt. Dafür lieben Fledermäuse und Sterne das Dunkel. Dunkelheit kommt hier als ein sehr sympathisches und wichtiges Element in unserem Leben daher. Es wird Kindern, die sich davor fürchten, wie ein guter Freund präsentiert, dem man durchaus mal »Hallo« sagen kann. Nach dieser Lektüre können junge Leser:innen dem Dunkel mit ganz anderen Augen begegnen.

Ganz anders geht es in der folgenden Geschichte zu: Eines sonnigen Morgens entdeckt Hase, dass etwas nicht stimmt. Da war plötzlich noch jemand: Schwarzhase. Und ganz gleich, was Hase tat – rennen, verstecken, schwimmen – Schwarzhase verfolgte ihn und machte ihm Angst. Erst im dunklen Wald hat er Ruhe vor Schwarzhase. Bis ihn der Wolf zu jagen beginnt. Als Hase aus dem Wald in die Sonne rennt, passiert es …
Das Schattenspiel in Philippa Leathers Bilderbuch Schwarzhase verdeutlicht die Funktion von menschlichen Ängsten schon für ganz kleine Leser:innen. Sie sind immer bei uns, aber sie schützen uns vor lebensbedrohlichen Gefahren.

Von Träumen und Albträumen

In der Dunkelheit kann es sein, dass wir von bösen Träumen belästigt werden. So er geht es Anton in Ben Furman und Mathias Weber Buch Antons Albtraum. Er soll bei Oma schlafen. Aber Anton hat in letzter Zeit immer wieder Albträume und kann nur schwer einschlafen. Oma weiß nichts davon und die Eltern vergessen, es ihr zu erzählen. Als Anton ihr selbst davon erzählt, sagt Oma: »Es gibt gar keine Albträume.«
Aus dieser überraschenden Aussage entsteht ein Gespräch über Antons Albtraum. Oma nimmt die Bilder aus Antons Traum auf und erzählt dazu eine Geschichte mit einem schönen Ende. Die Beschäftigung damit hilft Anton, ohne Angst einzuschlafen.
Nicht alle Albträume sind natürlich so »harmlos« wie Antons, daher erläutert Autor und Psychologe Ben Furman in einem Nachwort, wie Eltern damit umgehen können, wenn ihre Kinder etwas wirklich Erschreckendes erlebt oder gesehen haben. Offene Gespräche über das Erlebte oder Geträumte, das Malen von Bildern oder die Besuche von Orten oder Einrichtungen, die im Traum eine Rolle spielen, helfen den Kindern bei der Verarbeitung. Dieses Buch liefert eine wunderbarer Idee dafür.

Fantasie und Wirklichkeit treffen auf eine leichtere Art im Buch Timo kann was Tolles von Nikola Huppertz und Tobias Krejtschi aufeinander. In seinen Träumen ist Timo mutig, fliegt, hat keine Angst vor Dschungeltieren oder fährt große Feuerwehrautos. Doch tagsüber im Kindergarten schafft er es nicht hoch zu schaukeln, hat Angst einen Regenwurm zu streicheln und seine Bilder sehen aus wie Krikelkrakel. Die anderen Kinder lachen ihn aus. Bis auf Ava. Erst als sie Timo fragt, ob sie etwas zusammen machen wollen, erkennt Timo seine besondere Gabe. Und auf einmal fallen ihm zusammen mit Ava die Dinge ganz leicht. Träum können also wahr werden, wenn Kinder den Mut aufbringen, sich anderen anzuvertrauen. Gemeinsam ist man stärker und kann gewissen Hindernisse überwinden.

Angst als Freundin

Dass wir der Angst anders begegnen können, thematisieren zwei sehr ähnliche Bücher. In Mirjam Zels erdig-pastelligem Bilderbuch Fast wie Freunde geht es um das Mädchen Sophie. Sie wohnt in einer ganz normalen Stadt, in der die Leute sich zwar grüßen, aber nicht so genau hinschauen. Was sie nicht genau sehen, ist zunächst nicht erkennbar. Nach und nach wird klar, dass Sophie eine schwarze Last mit sich herumschleppt: ihre Angst. Sie hat Angst auf den Baum zu klettern oder im Teich zu schwimmen. Niemand versteht, was mit ihr los ist. Erst als sie ganz allein ist, entdeckt sie ihre Angst – und stellt fest, dass sie eigentlich gar nicht so schlimm ist. Sophie ändert ihre Taktik: Statt die Angst einfach herumzuschleppen, nimmt sie sie wie eine Freundin an die Hand und zeigt sie den Menschen in der Stadt. Und nun ändert sich etwas: Sophie erkennt, dass die Angst manchmal ganz sinnvoll ist – als Warnung vor Gefahren –, sie aber oftmals gar nicht nötig ist. Ihr Beispiel steckt an und so zeigen nun auch die anderen Menschen ihre Ängst und alle werden irgendwie netter zueinander.
Mut zur Angst ist hier das wichtige Thema. Denn kein Mensch ist ohne Angst. Sie macht uns menschlich. Die eigene Angst zuzugeben, zu ihr zu stehen macht vielleicht angreifbar, aber das Zusammenleben gestaltet sich freundlicher, wenn wir für andere Verständnis entwickeln.

Francesca Sanna, die hierzulande mit ihrem Buch Die Flucht bekannt wurde, verarbeitet in diesem künstlerischen Bilderbuch in ähnlicher Weise ihre eigenen Ängst. Sie zeigt ein Mädchen, das ihre Angst als weißes Knuddelmonster immer dabei hat. Diese Angst ist mal kleiner und mal größer, oft beschützt diese Angst das Mädchen.
Doch als es in ein neues Land kommt, in dem sich das Mädchen nicht wohl fühlt, wird diese Angst riesengroß. Sie stellt sich zwischen das Mädchen und die neuen Mitschüler:innen, sie verhindert, dass das Mädchen mit anderen reden kann, sie zerrt das Mädchen immer gleich wieder nach Hause. Erst als ein Junge aus ihrer Klasse ihr etwas zeigt und später beim Spielen seine eigene Angst offenbart, wird die Angst des Mädchens wieder kleiner.
Die Darstellung der Angst als Barbapapa-förmiges Etwas entspricht der von Mirjam Zels in Fast wie Freunde. Die Beherrschung von Angst durch die Hilfe eines Freundes ist auch hier eine wichtige Botschaft.

Märchen reloaded

Seit Rotkäppchen und der Wolf ist dieses wunderbare Tier zu einem Angstsymbol geworden – völlig zu Unrecht. Er bietet sich trotzdem immer wieder an, die Angst zu illustrieren oder damit zu spielen. Ein herrliches Spiel mit diesen Stereotypen ist das Bilderbuch von Jan De Kinder: Keine Angst, Großer Wolf. Schon der Titel könnte stutzig machen: Warum wird der Große Wolf angesprochen?
Das zeigt sich auf der ersten Doppelseite: Der kleine Wolf geht mit dem großen Papa Wolf in den Wald. Der kleine marschiert voran, der große mit angstvoller Schnauze hinterher. In farblich schön reduzierten Bildern lockt der Wolf-Sohn den Vater durch das Unterholz, erklärt, was für Geräusche zu hören sind, was es so zu sehen und zu riechen gibt. Bis die zwei tatsächlich jemandem begegnen und der große Wolf reiß aus nimmt.
De Kinder spielt geschickt mit dem Märchen von Rotkäppchen. Er löst Ängst durch genaues Beobachten auf. Gleichzeitig zeigt er Kindern durch die Umkehrung der Vater-Sohn-Rolle, dass sie mutiger sein können als der Papa. Und nimmt am Ende das psychologische Trauma des Vaters aufs Korn – was für erwachsene Vorleser:innen eine sehr amüsante Pointe darstellt.

Das angebliche Angsttier Wolf schwebt auch in Myriam Ouyessads und Ronan Badels Der Wolf kommt nicht, quasi über allem. Hasenmutter bringt hier ihr Hasenkind ins Bett, das ständig fragt: »Bist du ganz sicher, dass der Wolf nicht kommt?« Hasenmutter beruhigt mit allen möglichen Argumenten: Es gibt keine Wölfe mehr, sie leben weit weg im Wald, ein Wolf kommt nicht in die Stadt, im Verkehr würde er nicht überleben und so weiter. Häschen versteckt sich derweil unter der Decke, schaut erschreckt. Die Hasenszenen mit dem Text finden sich immer auf der linken Seite, während rechts der Wolf in den verschiedenen Situationen gezeigt wird und immer näher kommt. Als sich Häschen scheinbar beruhigt hat und das Licht aus ist, klingelt es an der Tür … Die Auflösung ist so charmant, die müssen die Lesenden selbst herausfinden. Der Twist, den die Geschichte dadurch bekommt, ist absolut Angstvertreibend.

Ein weiteres Spiel mit Märchenklischees ist Prinzessin Riesenmut von Rachel Valentine und Rebecca Bagley. In knallbunten Illus machen sich die drei Prinzessinnen-Schwestern Thea, Juno und Liliy entgegen dem Verbot ihres Königs-Großvaters auf, den Riesen zu suchen. Dieser hat das Land verwüstet und treibt sein Unwesen. Angst kennen die drei scheinbar nicht: der Zauberwald schreckt sie nicht. Die Spinnen, die darin hausen, setzen sie geschickt außer Gefecht. Eine kaputte Brücke über eine Schlucht überqueren sie mit Kreativität. Und schließlich holen sie den Riesen ein, verschnüren und verhaften ihn. Ein klärendes Gespräch liefert dann die Erklärung für das zerstörerische Verhalten des Riesen … und alles wird gut.
Der Mut der Prinzessinnen und ihr resolutes, aber auch einfühlendes Vorgehen räumt gehörig mit dem Image von braven Prinzessinnen auf, die auf ihren Prinzen warten und sich ihm unterwerfen. Die moderne Prinzessin trägt Kopfhörer und Sneakers, fährt Rollerskates, ist mit technischem Gerät ausgestattet und tanzt durchs Leben, ohne sich von schissigen Rittern Angst machen zu lassen. Die coolen Prinzessinnen geben vorzügliche Rolemodels ab.

Ängste im Alltag

Manchmal ist es natürlich auch so, dass wir mit der Angst leben, sie in unseren Alltag integrieren müssen. Wie so etwas entspannter geht, zeigt Kommt Zeit, kommt Opossum von Jennifer Black Reinhardt, das im April erscheint.
Wenn Opossum Alfred Angst hat, erstarrt es und stellt sich tot. Das ist jedoch nicht besonders hilfreich in der Schule oder beim Sport. Freunde hat er so auch nicht gefunden.
Doch dann lernt er Sofia, das Gürteltier, kennen. Sie rollt sich immer zu einer Kugel zusammen, wenn sie sich erschrickt.
Die Erkenntnis der beiden, dass sie etwas gemeinsam haben, entspannt die Lage schließlich. Immer wenn der eine erstarrt oder die andere sich zusammenrollt, wartet er oder sie einfach ab. Und mit der Zeit passiert es ihnen immer seltener. Stattdessen entdecken sie, dass auch die anderen ihre Ängste habe: der Krake versprüht schwarze Tinte, die Schildkröte versteckt sich im Panzer, die Ziege fällt auf den Rücken. Doch mit Geduld und Verständnis weitet sich so ihr Freundeskreis aus.
Die Verteidigungs- und Schutzmechanismen aus der Natur hat die Autorin für diese charmante Geschichte genutzt, um zu verdeutlichen, dass alle Menschen Ängste haben – und sogar die Tiere. Die Hilfe gegen die Angst liegt hier im Verständnis, das wir anderen gegenüber aufbringen sollten.

Auch Igel können Angst haben und bekanntermaßen rollen sie sich bei Gefahr zu stachligen Kugeln zusammen. Bei Autos haben sie damit leider nicht viel Glück. Doch in Britta Teckentrups Ich hab doch keine Angst! entgehen der große und der kleine Igel diesem Schicksal.
Die beide Stacheltiere verleben einen schönen Tag zusammen, aber auch hier gibt es immer wieder Momente, in denen sie Angst haben könnten: der dunkle Keller, Geräusche im Wald, der Fuchs, das herannahende Auto, der Nebel. Dabei hat der große Igel genauso wie der kleine Igel Angst. Der Lütte behauptet jedoch steif und fest: »Ach was, ich hab doch keine Angst!« – was nicht immer ganz stimmt.
In poetischen Illustrationen erleben die Betrachtenden hier, dass auch Erwachsene Ängst haben und damit umgehen müssen. Die Hilfe der befreundeten Katze verschafft den beiden Igeln schließlich einen guten Tagesabschluss.

In Kate Hindleys und Pamela Butcharts Buch Mika und das mutigste Mädchen der Welt hat der Titelheld Mika Angst vor allem: verbranntem Toast, komischen Socken, entlaufenen Dinos, zu knusprigen Keksen, bösen Eichhörnchen. Er benutzt keine Reißverschlüsse mehr, weil die ja klemmen könnten. Und am schrecklichsten ist der Wind, der ihn wegwehen könnte. Als Mika die unbeschwerte Emily trifft, die immer sagt: »Was soll schon passieren?«, erwacht sein Beschützerinstinkt. Doch da passiert’s: Der Wind bläst ihn davon, über Schnee und Meer zu den Piraten, bis ein Hubschrauber ihn rettet. Mika merkt, dass das alles gar nicht so schlimm ist und sogar Spaß machen kann. Und so wird er genauso mutig, wie das mutigste Mädchen der Welt. Gleichzeitig machen er und das Emily den jungen Leser:innen Mut, Dinge einfach mal auszuprobieren, denn: Was soll schon passieren?

Der Klassiker

Momentan ist auch wieder ein Klassiker der der psychologischen Bilderbücher zum Thema Angst auf dem Markt: Susi Bohdals Selina, Pumpernickel und die Katze Flora. In Neuauflage ist er seit vergangenem Jahr wieder zu haben. In schwarzweißen Federzeichnung erzählt Bohdal die Geschichte von Selina, die sich mit der Maus Pumpernickel anfreundet. Pumpernickel hat jedoch Angst vor der großen Katze Flora, der besten Mäusefängerin der Stadt.
Als Selina sich zwischen Flora und Pumpernickel stellt, wird Flora wild und verfolgt das Mädchen. Immer größer wird die Angstkatze, während Selina mit der Maus vor ihr flieht. Eindrucksvoll ist die Katze auf den Illus irgendwann größer als die Häuser der Stadt. Pumpernickels Rat: »Du musst gegen sie laufen und ihr fest in die Augen sehen!« Selina nimmt allen Mut zusammen und wendet sich der Katze zu. Sie blickt ihr in die Augen. Und so wird Flora wieder kleiner.
Natürlich merkt man diesem Buch sein Alter an. Illustrationen und Erzählstil haben eben schon 40 Jahre auf dem Buckel. Doch die Message gilt immer noch: Sich der eigenen Angst stellen, ihr in die Augen zu sehen, das kann helfen.

Das Sachbuch

Fiktive Geschichten können mit bunten Bildern, knuffigen Figuren und aufregenden Abenteuern bei der Angstbewältigung eine Form von Hilfe sein. Aber auch sachliche Texte, die zur Reflexion anregen, sind natürlich nicht zu unterschätzen. Ein solches Sachbuch ist Hey, du bist großartig von Karen Young und Norvile Dovidonyte, in dem es um Angst, Mut und die besonderen Fähigkeiten von kleine Menschen geht. Karen Young erklärt in einfachen Sätzen, was es mit unseren Angst-Gefühlen auf sich hat, welche Rolle das Gehirn dabei spielt und wie wir es trainieren oder verändern können. Bestärkende Gefühle und Gedanken können die Kinder quasi zu Superhelden machen, so dass sie in sich den Mut finden, schwierige Dinge zu meistern – beispielsweise vom Sprungturm im Schwimmbad zu springen.
Young zeigt den jungen Lesenden, wie sie ihre Aufmerksamkeit auf das Hier & Jetzt lenken können, wodurch die Angst ebenfalls verschwinden kann. Sie fördert die Kinder in ihrer Kreativität und ihrer Entdeckerlust, unterstützt sie bei Entscheidungsfindungen. Dieses bestärkende Buch spricht die Kinder direkt als »du« an, kommuniziert also auf Augenhöhe und gibt ihnen das Gefühl, dass sie wichtig und eben großartig sind.
Ein paar einfache Achtsamkeitsübungen schließen den Text ab und hinterlassen ein wohliges Gefühl.

Christine Kugler: Kleiner Angst-Frosch, hab doch Mut!, Illustration Jutta Berend, Penguin Junior, 2022, 12, Seiten, ab 2, 9 Euro
Andrea Schütze: Ich trau mich/Ich trau mich nicht!, Ein Wendebuch, Illustration: Stéffie Becker, Ellermann, 2022, 52 Seiten, ab 5, 15 Euro
Valeri Gorbachev: Nur Mut, kleine Küken!, Übersetzung: Christiane Jung, NordSüd, überarbeitete Neuausgabe 2022 (2001), 40 Seiten, ab 4, 15 Euro
Brigitte Weninger: Ich habe ein Licht und fürchte mich nicht!, Illustration: Laura Bednarski, Annette Betz, 2019, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro
Michael Engler: Ein komischer Vogel traut sich was, Illustration: Joëlle Tourlonias, Annette Betz, 2020, 32 Seiten, ab 3, 14,95 Euro
Johannes Traub/Wiebke Alphei: Muträuber. Hugo und Zugo besiegen die Angst, Illustration: Suse Schweizer, Balance, 2020, 40 Seiten, ab 3, 17 Euro
Nanna Neßhöver: Wenn ich ängstlich bin, Illustration: Eleanor Sommer, Carlsen, 2022, 40 Seiten, ab 3, 15 Euro
Lucy Astner: Nur Mut, kleiner Schmollmops, Illustration: Alexandra Helm, esslinger, 2022, 32 Seiten, ab 3, 14 Euro
Jessica Meserve: Die Welt da draußen, Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, Bohem, 2022, 40 Seiten, ab 3, 16,95 Euro
Daniel Fehr: Wird schon schiefgehen, Ente!, Illustration: Raphael Kolly, Thienemann, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14 Euro
Andrea Schomburg: Ab hier kenn ich mich aus, Illustration: Amrei Fiedler, Tulipan, 2021, 48 Seiten, ab 4, 15 Euro
Malin Hörl: Da liegt was in der Luft, annette betz, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14,95 Euro
Günther Jakobs: Hase Hibiskus und das grausige Gruseln, Illustration: Andreas König, Ravensburger, 2022, 32 Seiten, ab 3, 14,99 Euro
Liliane Steiner: Louisa und die Schattenmonster, Kunstanstifter, 2021, 28 Seiten, ab 4, 20 Euro
Peter Vegas: Hab keine Angst, kleines Dunkel, Illustration: Benjamin Chaud, Übersetzung: Ebi Naumann, Aladin, 2022, 36 Seiten, ab 4, 14 Euro
Philppa Leathers: Schwarzhase, Übersetzung: Salah Naoura, Thienemann, 2019 (2013), 40 Seiten, ab 4, 13 Euro
Ben Furman: Antons Albtraum, Illustration: Mathias Weber, Carl-Auer, 2. Auflage 2021, 28 Seiten, ab 4, 19,95 Euro
Nikola Huppertz: Timo kann was Tolles, Illustration: Tobias Krejtschi, Tulipan, 2022, 32 Seiten, ab 4, 15 Euro
Mirjam Zels: Fast wie Freunde, Kunstanstifter, 2. korrigierte Auflage 2020 (2017), 44 Seiten, ab 4, 22 Euro
Francesca Sanna: Ich und meine Angst, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd, 2019, 40 Seiten, ab 4, 16 Euro
Jan De Kinder: Keine Angst, Großer Wolf, Übersetzung: Eva Schweikart, Sauerländer, 2020, 40 Seiten, ab 4, 14,99 Euro
Myriam Ouyessad: Der Wolf kommt nicht, Übersetzung: Ina Kronenberger, Illustration: Ronan Badel, Gerstenberg Verlag, 2020, 32 Seiten, ab 4, 13 Euro
Rachel Valentine: Prinzessin Riesenmut, Übersetzung: Sabine Rahn, Illustration: Rebecca Bagley, Penguin Junior, 2021, 38 Seiten, ab 4, 14 Euro
Jennifer Black Reinhardt: Kommt Zeit, kommt Opossum, Übersetzung: Ingrid Ickler, dtv, 2022, 32 Seiten, ab 4, 14 Euro – erscheint am 13.4.2022
Britta Teckentrup: Der große und der kleine Igel – Ich hab doch keine Angst, Jacoby & Stuart, 2022, 32 Seiten, ab 3, 12 Euro
Kate Hindley: Mika und das mutigste Mädchen der Welt, Illustration: Pamela Butchart, Übersetzung: Michael Petrowitz, Ravensburger, 2021, 32 Seiten, ab 3, 12,99 Euro
Susi Bohdal: Selina, Pumpernickel und die Katze Flora, Carl-Auer, 3. Auflage 2021 (ursprünglich 1981), 30 Seiten, ab 4, 19,95 Euro
Karen Young/Norvile Dovidonyte: Hey, du bist großartig! Ein Buch über Angst, Mut und deine besonderen Fähigkeiten, Übersetzung: Siegfried Joel, Peter Lieder und Weronika M. Jakubowska, Carl-Auer, 2. Auflage 2021, 38 Seiten, ab 6, 19,95 Euro

Tierisch interessanter Sex

sexÜber Sex bei Menschen glauben bereits die meisten Grundschüler gut Bescheid zu wissen, unter anderem durch Videos, die gemeinsam auf dem Pausenhof angeguckt werden.

Aber wie machen es eigentlich die Tiere? „Wie machen Elefanten Sex? Können Tiere schwul sein?“ Solche angesichts von einschlägigen Bildungsmedien wie YouPorn rührend kindlich-naive Fragen hört die Sexualpädagogin Katharina von Gathen häufig. Und deshalb hat sie jetzt im Klett Kinderbuch Verlag, der ohnehin für mutige, gegen den Strich gebürstete Veröffentlichungen steht, ein ganz besonderes Tierbuch herausgebracht: Das Liebesleben der Tiere.

Umfassend, in zahlreichen Kapiteln und inklusive eines Registers aller genannten Tiere informiert sie auf 144 Seiten über alles, was zum Thema Sex gehört und weit über den eigentlichen Akt hinausgeht. Auch erwachsene Leser, die wissen, dass das Liebesleben ganz schön kompliziert sein kann, wundern sich und lernen noch einiges. „Lustiges und Erstaunliches, Gruseliges und Merkwürdiges, Vertrautes und Fremdartiges“ verspricht die Autorin, und das ist noch untertrieben. Die Formen der Fortpflanzung treiben mitunter bizarre Blüten. Und doch hat sich alles für die jeweilige Art und Gattung bewährt und ist von der Evolution erprobt und für sinnvoll befunden.

Es fängt wie beim Menschen meist auch mit der Partnersuche an: Da wird zunächst gebalzt und geworben, ganz ohne Datingportale, dafür umso variantenreicher und farbenfroher. Lauben werden gebaut, es wird getanzt, gerubbelt, und nicht nur Nachtigallen und Vögel im allgemeinen trällern Liebeslieder. Auch männliche Buckelwale und Bootsmannfische locken mit süßen Sirenengesängen (oder was für die weiblichen Ohren der jeweiligen Tierart so klingt). Gibbons finden mit der idealen Duettpartnerin auch die perfekt passende Gespielin. Und Kugelfische malen tagelang mit ihren Flossen kunstvolle Mandalas in den Meeresgrund.

Dann geht’s zur Sache: ganz langsam oder sekundenschnell, einige setzten auf Täuschung oder Bestechung, manchen reicht einmal im Leben (und es ist nicht die Eintagsfliege), andere legen Marathons hin, stundenlang oder bis zu 40 Mal am Tag, bis zur Erschöpfung oder sogar bis zum Tod! Arme Breitfuß-Beutelmausmänner.

Sex dient auch bei Tieren nicht nur der Fortpflanzung, sondern erfüllt zudem soziale Funktionen: Bonobos setzten bekannterweise auf körperliche Liebe statt Gewalt.

Silberfischchen bauen Stolperfallen, die Befruchtung findet indirekt, wenn auch nicht im Reagenzglas statt. Und Fledermäuse, Mauersegler oder Nacktschnecken stehen auf Funsportvarianten. Es gibt aber nicht nur Kuschelsex: Erpel, die ganz rührende und treue Entenpapas werden, stehen auf brutale Gruppenvergewaltigung. Und Katerpenisse haben an der Eichel Stacheln und Widerhaken und sind äußerst schmerzhaft. Kein Wunder, dass Katzen danach nicht gut auf die Kerle zu sprechen und die meiste Zeit des Jahres aufs Rolligsein überhaupt nicht scharf sind.

Katharina von der Ganthen beschreibt diese Kuriositäten wohltuend klar und nüchtern, ohne zu vermenschlichen oder verniedlichen und niemals mit einem Feigenblatt vor dem Mund. Der Humor ergibt sich aus den tierischen Absurditäten an sich.

Das alles wäre aber nur halb so unterhaltsam und lesenswert ohne Anke Kuhls brillante und eigenwillige Illustrationen. Kuhl, die mit dem schrägen Antiwestern-Bilderbuch Cowboy will nicht reiten (Carlsen) debütierte und mit Alle Kinder (Klett) charmant politisch unkorrekte Scherze mit Namen gemacht hat, bildet seit Klär mich auf. 101 Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema seit 2014 mit von der Gathen ein bewährtes Duo in Sachen Aufklärung. Die charakteristischen kleinen Glubschaugen verleihen ihren Figuren, ob Mensch, ob Tier, grandios treffende Gesichtsausdrücke und Emotionen.

Echte Hingucker sind ihre beiden aufklappbaren Panoramaseiten mit „Geniale Genitalien“: Es gibt nichts, was es nicht gibt, und Größe ist beileibe nicht alles.

Auch in den Abschnitten Schwangerschaft, Geburt und Familienleben finden sich etliche Kuriositäten, von denen die zweifache Geburt der Kängurubabys die bekannteste und entzückendste ist. Katharina von der Gathen hat im Vorwort nicht zu viel versprochen. Bei „Vertrauten“ ertappt sich der erwachsene Leser immer wieder dabei, Parallelen zu ziehen und festzustellen, dass im menschlichen Miteinander auch nicht alles so anders ist und vieles bestimmt nicht logisch.

Nur der Begriff „Liebesleben“ im Titel ist nicht ganz treffend, denn mit dem, was wir unter Liebe verstehen und was beim Sex eine Rolle spielen kann, aber nicht muss, hat der tierische Akt nichts zu tun. Es macht auf jeden Fall Riesenspaß, darüber zu lesen, und genau so sollte Sex auch sein: Nicht wie in den einschlägigen Filmchen athletisch und hyperästhetisiert, sondern lustig, entspannt, unreflektiert, auch mal unfreiwillig komisch, lächerlich, gelegentlich peinlich, doch stets ein Vergnügen und keine Pflichtleibesübung.

Katharina von der Gathen, Anke Kuhl (Illustrationen): Das Liebesleben der Tiere, Klett Kinderbuch Verlag, 2017, 144 Seiten, ab 8, 18 Euro

Fridas Universum

 

 

 

 

 

 

 

Wie führt man junge Menschen an das Leben von großen Künstlerinnen heran? Wie kann man deren Neugierde auf das Werk von bereits verstorbene Berühmtheiten wecken?

Zum 110. Geburtstag der mexikanischen Malerin Frida Kahlo ist nun das farbenfrohe und fröhliche Bilderbuch Frida Kahlo und ihre Tiere erschienen, das ein Anfang sein kann. Die Autorin Monica Brown und Illustrator John Parra bringen über Fridas Beziehung zu ihren unzähligen Haustieren den jungen Betrachter_innen Leben und Werk dieser leidgeprüften Frau näher. Sie erzählen von Papagei, Rehkitz, Katze, Klammeraffen, aztekischen Nackthunden und Truthähnen. Sie begleiten die Künstlerin durch Kindheit, Jugend und die von Krankheit geprägten Jahre. Fridas Leiden wird hierbei nur dezent angedeutet, lediglich eine Abbildung zeigt einen Rollstuhl und eine Beinprothese, die erahnen lassen, wie schlimm es um Frida stand.

Die Lebensfreude und die scheinbar unverwüstbar gute Stimmung von Frida stehen hier im Mittelpunkt. Die Malerin wird zum leuchtenden Vorbild, sich von Schicksalsschlägen nicht unterkriegen zu lassen, und zeigt, dass man in guter tierischer Gesellschaft vieles ertragen und vieles erschaffen kann.

Die Bilder unterstreichen dies durch ihre kräftigen Farben: Das typische Blau der Casa Azul zieht sich durch alle Seiten. Begleitet wird es vom Rot von Fridas traditionellen Blusen und dem Grün der mexikanischen Natur, alle Farben sind jedoch etwas abgetönt, sodass Fridas Schmerz durchaus zu erahnen ist. Die Art der Illustrationen deuten aztekisch Kunst und deren Muster an – und macht auf jeden Fall Lust, entweder selbst zum Pinsel zu greifen oder sich noch weiter mit Frida Kahlo zu befassen.

Letzteres war dann bei mir der Fall, und so stieß ich auf die ebenfalls frisch erschienene Graphic Novel der Italienerin Vanna Vinci, Frida. Ein Leben zwischen Kunst und Liebe.
Hier geht es nun wahrlich an die grundlegenden Themen, die Fridas Leben geprägt haben – und die sind nicht unbedingt jugendfrei. Fridas schwerer Unfall mit 18 Jahren und die daraus resultierenden Schmerzen haben ihr Leben durch und durch geprägt. Was sie jedoch nicht davon abgehalten hat, exzessiv zu lieben. Diego Rivera, den berühmten Maler der Murales, wohl an erster Stelle, aber auch andere Männer und Frauen. Frida hat ihre sexuellen Bedürfnisse ausgelebt: zusammen mit anderen, an ihrer Leinwand oder auch nur mit sich selbst. Vinci macht auf jeder Seite deutlich, wie sehr Frida das Leben geliebt und in sich aufgesaugt hat.

Vinci greift dafür zu einem besonderen erzählerischen Kniff. Sie lässt Frida ein Gespräch mit dem Tod führen, in dem sie ihr eigenes Leben reflektiert. So ist auf jeder Seite Frida selbst in ihrer mexikanischen Tracht zu sehen, die ihre kulturelle Identität zeigt und doch auch zu einer Uniform geworden ist, wie sie selbst sagt. Mag man zwischendrin vermissen, dass bestimmte Erlebnisse und Begegnungen nur von Frida selbst erzählt und nicht im Bild gezeigt werden, so merkt man im Laufe der Lektüre, dass genau dies die Persönlichkeit von Frida perfekt spiegelt. Durch die langen Zeiten, die sie an Bett gefesselt war und in denen sie sich vor allem mit sich selbst, ihrem Körper, ihren Schmerzen und der Allgegenwart des Todes auseinandersetzen musste, hat sie zu einer Expertin in Sachen Selbstreferenzialität gemacht.

Und obwohl sich im Universum Frida Kahlos so gut wie alles um Frida Kahlo dreht, ist ihr Leben voll mit historisch wichtigen Lebensgefährten wie Leo Trotzki oder Tina Modotti. Man bekommt den Eindruck, dass Frida in den 47 Jahren ihres Lebens unzählige Leben gelebt hat, so viel ist ihr zugestoßen, so viel hat sie erlebt.
Vielleicht ist es die dauerhafte Präsenz des Todes in ihrem Leben, die sie zu so unbändiger Lebenslust getrieben hat. Auch der Tod, la Santa Muerte, ist in der Graphic Novel ständig präsent, entsprechend des mexikanischen Totenkultes. Er sitzt ihr gegenüber, raucht mit ihr oder zeigt sich in den Schädeln ihrer Haustiere.

Vinci erinnert auf großartige, packende Art an diese schillernde Frau, mit der man mitleidet, die man gleichzeitig für ihre Kunst verehrt und sie um ihren unverfrorenen, selbstbewussten Charakter beneidet. Auch bei Vanna Vinci sind die Farben gedeckt, Rot und Grün dominieren, umrahmt von dicken schwarzen Linien, die sich ausdrucksstark ins Gedächtnis prägen.
Und natürlich deutet Vinci die Kunstwerke Frida Kahlos an, sodass man sich nach Ende der Lektüre diese auf jeden Fall im Original ansehen will.
Besser kann man diese große Künstlerin kaum ehren.

Vanna Vinci: Frida. Ein Leben zwischen Kunst und Liebe, Übersetzung: Christine Schnappinger, Prestel, 2017, 160 Seiten, 22 Euro

Monica Brown: Frida Kahlo und ihre Tiere, Übersetzung: Elisa Martins, Illustration: John Parra, NordSüd, 2017, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

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Die Wochenration Lyrik

Kinder KalenderEs gibt viele Arten, wie man Kinder an Poesie heranführen kann. Eine der schönsten ist für mich der Arche Kinder Kalender. Jetzt wieder zu haben für 2017.

Wie in den Jahren zuvor hat die Internationale Kinderbibliothek in München wieder mit feinem Gespür entzückende Gedichte mit ebenso wunderschöne Illustrationen aus aller Welt zusammengestellt. Jedes Wochenblatt brigt etwas Überraschendes, Fröhliches, Urkomisches, aber auch Nachdenkliches. Denn in diesen Mikrogeschichten eröffnen sich ganze Welten, zeigen sie doch, was in den verschiedenen Ländern von Italien bis China, von Portugal bis Russland, was also rund um den Globus die Menschen so sehr bewegt, dass sie es in einem Gedicht würdigen.

Das können fantastische Wesen wie der Drachen-Veteran, aber auch kulinarische Grundnahrungsmittel wie die Rote Bete oder Papadam sein. Oder aber die täglichen Ängste der Schüler vor dem Unterricht. Die Musik des Aprilregens wird genauso aufgeführt wie der Blumenreigen in einem Garten. Mäuse spielen Fußball, Schwäne ziehen über das Meer. Man kommt ins Träumen und fängt selbst an zu reimen, zu dichten. Ich möchte am liebsten meinen hopsenden Eichhörnchen im Baum vor dem Küchenfenster ein paar Zeilen widmen.

Wie schon vor zwei Jahren erfreut mich auch dieses Mal wieder, dass die Originalgedichte wie immer mitabgedruckt sind. Es würdigt die Autoren, aber im gleichen Maße die vielen vorzüglichen Übersetzer_innen, die großartige Lösungen für diese kondensierten Inhalte gefunden haben.
Aber gerade bei den Sprachen mit anderen Buchstabenschriften wie dem Kyrillischen, aber auch bei Chinesisch, Koreanisch oder bei den runden indischen Malayalam-Buchstaben, schaut man zudem die Gedichte selbst wie Bilder an. Manches Mal werden sie sogar Teil der Illustrationen, was ihre Schönheit doppelt unterstreicht. Im kommenden Jahr werde ich mit meiner dann fünfjährigen Nichte mal erkunden, wie das auf die Zielgruppe wirkt.

Sicher ist, dass die Kinder ein Gespür für Poesie entwickeln werden. Denn sie finden hier nicht nur gereimte Verse, sondern auch freie Formen und manch auf den ersten Blick rätselhafte Zeilen. Da werden dann die Gehirnwindungen gefragt sein, dem Gelesenen einen Sinn zu geben – oder vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall werden sie erfreuen, bewegen, anregen. Manch Baum wird vielleicht im Juni vorsichtiger bestiegen werden, damit Mama sich keine Sorgen mehr machen muss. Und Ende September sprudelt es möglicherweise aus den Kindern selbst heraus, denn dort gibt es eine leere weiße Seite, die mit Worten, Versen und Bildern gefüllt werden möchte.

Ich freue mich, dass ich diesen Begleiter durch das kommende Jahr bei mir aufhängen kann, und wünschte, dass er in möglichst vielen Kinderzimmern ebenfalls seinen Platz findet.

Arche Kinder Kalender 2017. Mit 53 Gedichten und Bildern aus der ganzen Welt. Herausgegeben und ausgewählt von der Internationalen Kinderbibliothek München, Arche Kalender Verlag, 2016, ab 5, 18 Euro

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Die Schönheit der Welt entdecken

45824_Guelich_Gaspards_Reise_US_DF.inddWas für ein wunderbares Bilderbuch! Die fabelhafte Reise des Gaspard Amundsen ist das Debüt der jungen Illustratorin Laura Fuchs, deren Textidee der erfahrene Autor Martin Gülich zu einer überzeugenden Geschichte ausgebaut hat. Ein BRAVO gleich vorweg!

Worum geht´s?
Gaspard Amundsen lebt allein, aber nicht unglücklich, umgeben von warmer Häuslichkeit inmitten eines Büchermeers. Er zählt 107 Jahre und hat sich prima gehalten. Auch dank seiner bevorzugten Teesorte: dem Brennnesseltee. Eigentlich ist er rundum zufrieden mit sich und seinem Leben in der großen Stadt. Und doch, etwas regt sich in ihm — eine seltsame Unruhe, das Gefühl, Neues wagen zu wollen. Gaspard fasst sich ein Herz, sammelt dies und das für die Reise zusammen. Gepäck ohne Ende, inklusive Lieblingstee.

Doch kaum aus dem Haus und auf dem Weg zum Bahnhof passiert Unglaubliches: Man raubt ihn aus! Eine freche Bande von Waschbären macht sich über sein Zeug her, nur ein kleiner Rucksack bleibt ihm. Soll er zurück ins eng gewordene Zuhause? Nein! Er muss raus in die Welt, die eigenen Grenzen sprengen.

Im Zug schnappt er das Gespräch zweier Flugenten auf. Vom Fliegen ist die Rede. Ach ja, genau das will er: Fliegen! Kurz darauf begegnet er dem ziemlich blinden, aber routinierten Flugprofi Maulwurf, und gemeinsam schrauben sie sich in ungeahnte Höhen. Wie riesig diese Wolkenberge, wie klitzeklein die Welt am Boden. Gaspard ist hin und weg. Und dann? Plötzlich knallt und rumpelt es in der altersschwachen Maschine. In letzter Minute gelingt eine Bruchlandung auf unbekanntem Eiland mitten im Ozean. Soll das etwa das Ende seines Abenteuers sein? Gaspard weiß: Ein Krokodil wie er muss keine Angst vorm Wasser haben. Und eh sich Pilot Maulwurf versieht, entert sein Fluggast ein Ruderboot und schippert auf und davon.

Wie weit ist das Meer, wie glatt, wie unsagbar schön! Gaspard genießt seine Reise, und als ihn ein Blauwal einlädt in seine Welt unter Wasser, gibt es kein Zögern. Geschmeidig gleitet er hinter ihm her und fühlt sich auf einmal so jung!

Als Gaspard zum Luftholen auftaucht, ist das Boot weg. Was nun? Bange machen gilt nicht mehr, dafür hat er bereits zu viel Neues gemeistert. Und tatsächlich, die Rettung ist nah. Ein prächtiger Dreimaster nähert sich, und Kapitän Albatros nimmt ihn an Bord bis an den Rand des Eismeers.

Hier beginnt die letzte Etappe seines Abenteuers: Über ihm funkeln die Sterne, neben ihm genießen ein Eisbär und ein Wolf das grandiose Lichterspiel. Und doch, es ist Zeit: Gaspard spürt, sein Zuhause wartet auf ihn. Leichtfüßig wandert er heim. Ab heute wird er sein Tässchen Tee hoch oben auf dem Dach seines Hauses genießen, neue Entdeckungen nicht ausgeschlossen …

In wenigen Worten eine ganze Welt: Martin Gülich beschreibt die wundersame Wandlung des Gaspard Amundsen sparsam und eindringlich zugleich. Sein Text lädt ein, mit zu träumen und zu reisen in ferne Welten, farbenfroh und höchst lebendig illustriert von Laura Fuchs. Der alte Gaspard, ein wenig weltfremd und naiv, ist so liebevoll und unverwechselbar gezeichnet, dass wir am liebsten an seiner Seite wären. Die Illustratorin hat ein Händchen für Charaktere, ob so kess wie die Waschbären, so verschroben wie der Maulwurf oder so in sich ruhend wie der Blauwal. Dazu die große Stadt, die Landschaften, das Meer, der Himmel, das All. Wir sind Teil des Ganzen, atmen die Weite, die Luft und entdecken die Schönheit dieser Welt — und uns selbst.

Und mein Lieblingsbild? Der Rochenschwarm im Grün-Ton-Konzert des Meeres. Da capo!

Heike Brillmann-Ede

Martin Gülich: Die fabelhafte Reise des Gaspard Amundsen, Idee und Illustration: Laura Fuchs, Thienemann, 2016, 32 Seiten mit Landkarte auf den Vorsätzen, ab 4 (und jedes Alter!), 14,99 Euro

[Gastrezension] Manege frei

trickDie Faszination für den Zirkus hat sich mir nie erschlossen: Rämtamtam-Musike, Tiere, die in nicht artgerechter Umgebung gezwungen werden, alberne Kunststückchen zu vollführen und vor allem eine der Schlüsselfiguren dieser Welt liegen mir gar nicht. Das hat weniger mit einer ausgewachsenen Coulrophobie – also der Angst vor Clowns zu tun – als eher mit der Abneigung, etwas lustig zu finden, was bestenfalls über Schadenfreude funktioniert und ansonsten überhaupt nicht komisch, sondern nur lachhaft ist.

Nina Wegers neues Kinderbuch, Trick 347 oder Der mutigste Junge der Welt, ist also auf den ersten Blick und den Klappentext hin vielleicht nicht mein Ding. Aber dennoch hat mich die Geschichte des elfjährigen Tom, der seinen Vater sucht und eine famose Familie unter dem sternenübersäten Himmel des Chapiteaus, des Zirkuszelts, findet, von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt.

Tom lebt in München mit seiner liebevollen und patenten Mutter, einer Geologin. Aber bei Fragen nach seinem Vater reagiert sie so vage und emotional, dass er das Thema lieber nicht mehr anspricht. Nur soviel verrät sie: Er sei Artist gewesen und vor Toms Geburt bei einem Unfall gestorben.

Doch dann reißt ein Anruf die beiden aus ihrem harmonischen, unspektakulären Alltag: Toms Großvater, den er nie kennengelernt hat und mit dem seine Mutter schon lange nicht mehr spricht, liegt im Sterben. Kurze Zeit später zieht Tom bei seiner Großmutter in Hannover ein, seine Mutter geht auf Forschungsreise in die Arktis – und Tom findet in einer der Umzugskisten eine alte Eintrittskarte für den Zirkus Merlini, der mittlerweile auf einer Brachfläche in Hannover residiert. Als Tom, der ein begabter Turner ist, versucht, dort mehr über seinen Vater herauszufinden, gerät er mitten in eine üble Intrige, mit der ein fieser Immobilienmakler die Artisten von dem Grundstück, das für viele auch ein Zuhause ist, vertreiben will. Tom setzt mit neugefundenen Freunden und außergewöhnlichen Mitstreitern alles daran, den Zirkus zu retten. Dass sich dabei manches zu wohlgefällig löst, stört nicht, immerhin ist es ein Kinderbuch. Die nüchterne Realität der Erwachsenenwelt greift früh genug.

Dabei bedient Nina Weger, die auch den Kinderzirkus Giovanni leitet, nie irgendwelche Klischees. Nach dem Abitur ist die Autorin selbst ein Jahr lang als Seiltänzerin mit einem Zirkus im eigenen Wagen durch die Lande getingelt und man merkt: Sie weiß, worüber sie schreibt, nicht nur bei den anschaulich und mit viel Sachverstand beschriebenen Kunststücken. Sie beginnt Toms Geschichte sogar mit der nüchternen Kehrseite des Artistenlebens: die ständige Gefahr von Unfällen, die das Ende der Karriere bedeuten; Zeiten ohne Engagement, wenn die Zirkusleute nur mit Mühe über die Runden kommen; Eifersüchteleien, Konkurrenzkampf und die alltäglichen Vorurteile, denen das fahrende Volk begegnet.

Nach und nach aber tauchen wir mit Tom in eine ganz besondere Gemeinschaft von exzentrischen und meist erst auf den zweiten Blick sehr liebenswerten Menschen und (Überlebens-)Künstlern ein. Trick 347 verbindet höchst raffiniert gegenwärtige Themen wie Gentrifizierung und eiskalte Profitsucht, Depression und gestörte Kommunikation mit der Magie der Manege. Zum Zauber des Zirkus gehören tolle Kunststücke und atemberaubende Artistik, Glitter und der Duft von Sägespänen. Das wirklich Faszinierende aber ist die zusammengewürfelte Zirkusfamilie selbst, die Tom seine größte Angst überwinden lässt und jedem Einzelnen das Unmögliche möglich macht. Nicht zuletzt ist dieses Buch bis zur letzten Seite superspannend und grandios geschrieben. Echt magisch!

Elke von Berkholz

Nina Weger: Trick 347 oder Der mutigste Junge der Welt, Verlag Friedrich Oetinger, 320 Seiten, 12,99 Euro, ab 10 Jahren

Bilderbuch-Perlen

bilderbuch 1Ich bin noch eine ganze Reihe von Bilderbücher-Rezensionen schuldig. Nun habe ich endlich die Zeit gefunden.

Den Auftakt macht Der Mondfisch in der Waschanlage von Andrea Schomburg und Dorothee Mahnkopf. Hier trifft man auf sehr merkwürdige, aber real existierende Tiere wie Thermometerhuhn, Nacktmull oder Pistolenkrebs. Jeweils auf einer Doppelseite gibt es eine detaillierte Illustration, auf der es jede Menge zu entdecken gibt. Flankiert werden die Getiere von zwei Texten: einem Sachtext, der über die Natur der Portraitierten – also Art, Größe, Lebensraum und Besonderheiten – aufklärt. Dazu gesellt sich dann ein extrem geistreiches, rhythmisch gereimtes Gedicht, bei dem man entweder vor Lachen nicht mehr weiterlesen kann oder sich stante pede in die seltsamen Gesellen verliebt. Der Vorlesespaß ist garantiert.

Bilderbuch 2Der Titel Noch mal! vom Bilderbuch von Emily Gravett ist Programm. Wer kennt das nicht, wenn vorgelesen wird: Ein ums andere Mal muss die Geschichte wiederholt, das Bild noch mal angesehen, die App noch mal durchgespielt werden. So auch hier: Mama-Drache liest ihrem Sprössling die Geschichte von Drache Chlodwig vor, ein gereimtes Epos. Und das Drachen-Junges bekommt natürlich nicht genug davon. Also: Noch mal!
Mama-Drache, sichtlich erschöpft mit hängenden Ohren, liest – und variiert. Aber der Lütte ist nicht zu befriedigen … bis schließlich ein Loch im Buch prangt.

Diese kleine Geschichte macht auch menschlichen Vorlesejunkies eindrücklich klar, dass irgendwann mal Schluss sein muss – vermutlich allerdings erst nach zehnmaliger Lektüre von Emily Gravetts Noch mal!

bilderbuch 3Verzweiflung ganz anderer Art kann kleine Menschen überkommen, wenn es zum ersten Mal heißt: Hilfe, der Babysitter kommt. Anke Wagner und Anee-Kathrin Behl erzählen in ihrem Bilderbuch von Olli. Dessen Mama und Papa wollen am nächsten Abend endlich mal wieder ins Kino. Beide freuen sich bannig. Olli unterhält sich mit Stubs, seinem Kuschlemuschelfreund, darüber, dass in der Zeit, in der Mama und Papa nicht da sind der Babysitter kommt. Stubs ist entsetzt und kann nicht einschlafen: Vielleicht ist der Babysitter eine „Schminkedame“ oder ein „aufgeblasener Muskelmann“ … Die Vorstellung, was der Babysitter alles sein kann, könnte als ein modernes Gruselkabinett durchgehen – wären die Illustrationen nicht so reizend und charmant bunt. Die Auflösung am nächsten Abend ist dann natürlich eine völlig andere … aber die wird hier nicht verraten.
Für alle, deren Vorstellungskraft immer schon zehn Kilometer vorneweg galoppiert und irrationale Ängste schürt, ist dieses Büchlein eine hervorragende Vorbereitung und Beruhigung für neue Situationen im Leben.

bilderbuch 4Wenn man klein ist und noch nicht so viel darf und noch weniger kann, ist das Leben manchmal echt schwierig. Das merkt der Kleine. Er möchte gern Etwas ganz Großes machen. Im Bilderbuch von Silvie Neemann und Ingrid Godon entspinnt sich ein Gespräch zwischen Groß und Klein. Gemeinsam überlegen die beiden, was man Großes machen könnte. Doch nichts scheint dem Kleinen groß genug, nicht der Leuchturm, nicht die Reise. Ein Spaziergang am Strand schließlich bringt die Lösung.

In grün-blau-roten Kohlezeichnungen zeigen die französische Autorin und die Illustratorin, dass auch kleine Dinge ganz groß sein können. Eine philosophische Erkenntnis, die man nie früh genug erfahren kann.

lebenBei all dem sollte man auch immer bedenken: Das Leben kann so schön sein! Genau das beweist der  französische Comic-Zeichners und Illustrators Floc’h in seinem Bilderbuch.

Auf schlichten weißen Seiten lädt ein elegant gekleideter, irgendwie altersloser Herr die Leser ein, in das Buch zu springen. Ein kleines Mädchen mit Pagenschnitt und Rock folgt seiner Aufforderung, und gemeinsam erkunden sie das Leben. Die schönen Seiten des Leben. Ein kleiner Hase wird Begleiter des Mädchens, Jäger mit üblen Absichten müssen draußen bleiben. Losgelöst von Zeit und Raum zeigt der Mann dem Mädchen, was die Fantasie alles vermag. Sie träumen sich in ein Baumhaus, freuen sich an schönen Kleidern und schnellen Fortbewegungsmitteln, können sogar fliegen – bis zu den Pyramiden (das Bilderbuch kommt ohne Reime aus … 😉 ).

Es spielt keine Rolle, ob das möglich ist oder nicht. Die Fantasie ist so stark, dass allein die Vorstellung von etwas glücklich machen kann. Dass es tatsächlich hauptsächlich die kleinen Dinge des Lebens sind, die das Mädchen und den Mann glücklich machen, erfährt man fast nebenbei: Schaukeln, ein Tennis-Match, ein Spaziergang, der Regentanz, einer Gute-Nacht-Geschichte lauschen.

Im Ligne-claire-Stil und in merkwürdig-schönen altmodischen Bildern entführt Floc’h nicht nur das kleine Mädchen, sondern jeden Betrachter. Man braucht keine komplizierte Geschichte, um an die einfachen Dinge des Lebens erinnert zu werden, die Frage: „Was ist das schöne Leben?“ reicht völlig. Die Fortsetzung im tatsächlichen Leben wird jede_r Vorleser_in mit den Kindern erleben, denn die Bilder regen ungemein dazu an, darüber nachzudenken, was für einen selbst schön ist. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt …

wolfFantasievoll geht es auch in DEM Bilderbuch für alle kleinen Buchliebhaber weiter, das mich ganz frisch erreicht hat. Der Held: Der Wolf, der aus dem Buch fiel. Der Ort: das Kinderzimmer, ein höchst gefährlicher Ort. Die Handlung: Aus dem übervollen Regal fällt eines Tages ein Buch, und der Wolf plumpst heraus. Sollte man nun meinen, dass der Wolf froh ist,  von den Fesseln seiner Geschichte befreit zu sein, hat man sich gründlich getäuscht. Im Kinderzimmer lauern schreckliche Gefahren: die Katze! Die Dinos! Genervte Schafe! Es ist ein Graus. Verzweifelt versucht der Wolf, in seine Geschichte zurückzufinden. Doch entweder ist er nicht richtig gekleidet oder er kommt zu früh oder zu spät … Bis er im Wald ein weinendes rotgekleidetes Mädchen trifft … und alles gut wird.

Charmant spielen Illustrator Grégoire Mabire und Texter Thierry Robberecht mit dem Zustand eines übervollen Kinderzimmers, mit den Märchen und Geschichten, die man als junger Mensch bereits kennt. Der Wiedererkennungseffekt dürfte bei Buchliebhabern ziemlich groß sein. Und die Erkenntnis, dass auch Figuren aus Büchern eine Heimat und eine bestimmte Aufgabe haben, bietet Raum sowohl für ernsthafte Gespräche, als auch Fantastereien, wenn man den Wolf im eigenen Kinderzimmer durch seine Lieblingsbücher schickt …

Andrea: Schomburg: Der Mondfisch in der Waschanlage, Illustration: Dorothee Mahnkopf, Tulipan, 2015, 36 Seiten,  ab 4, 14,95 Euro

Emily Gravett: Noch mal! Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn, FISCHER Sauerländer, 2. Aufl.2015, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Anke Wagner/Anne-Kathrin Behl: Hilfe, der Babysitter kommt! Inkl. HörFux MP3 Hörbuch zum Downloaden.  NordSüd Verlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 13,99 Euro

Sylvie Neeman/Ingrid Godon: Etwas ganz Großes, E-Book inklusive. Übersetzung: Anna Taube, mixtvision, 2015,  32 Seiten, ab 5, 14,90 Euro

Floch: Das Leben kann so schön sein! Übersetzung: Edmund Jacoby, Jacoby & Stuart, 2015,  64 Seiten, ab 4, 16,95 Euro

Gregoire Mabire/Thierry Robberecht: Der Wolf, der aus dem Buch fiel, Übersetzung: Ilse Rothfuss,  Ravensburger Buchverlag, 2015, 32 Seiten, ab 4, 12,99 Euro

Endlich mal neu sortiert

tiereMal ehrlich, der Mensch braucht Ordnung. Wir räumen vielleicht nicht gern auf, aber wenn es dann mal getan ist, alles an seinem Platz steht, freuen wir uns und atmen durch. Ordnung brauchen wir auch außerhalb der vier Wände, um diese doch sehr komplexe Welt um uns herum wenigstens ansatzweise zu verstehen.

So haben die Zoologen beispielsweise die Tierwelt ordentlich kategorisiert und in so wunderbare -ologien, wie Entomologie (Insektenkunde), Ichthyologie (Fischkunde) oder Malakologie (Weichtierkunde) unterteilt. Und natürlich haben sie nicht an Untergruppen gespart: Allein bei den Säugetieren unterscheiden sie Chordatiere, Wirbeltiere, Kiefermäuler, Landwirbeltiere, Beutelsäuger und was nicht noch alles. Ich komm da immer ganz durcheinander. Aber Ordnung muss sein.

Das Ordnung auch anders gehen kann, davon hat mich Adrienne Barman schon auf den ersten Seiten ihres GROSS-AR-TI-GEN Sammelsurium-Buch Walsross, Spatz und Beutelteufel überzeugt. Darin hat die Schweizerin, die in Genf lebt, alle möglichen und unmöglichen Tiere in satten Farben und mit lustig verdrehten Augen gezeichnet. Und sortiert. Und hier liegt das Faszinosum, denn sie hat weder alphabetisch gearbeitet, noch nach irgendwelchen zoologischen Klassen, Stämmen oder Reihen, sondern Barman hat ganz eigene Kriterien für die Zusammenstellung entworfen.

So sortiert sie beispielsweise nach Farben: Da treffen bei den „Schneeweißen“ Eisbär auf Weißhaubenkakadu und Weißgesicht-Scheidenschnabel, bei den „Himmelblauen“ gesellt sich Fächertaube zu Plattbauch, Siedleragame zu Blaumeise. Ich gebe zu, ich kenne mit Nichten alle diese Tiere. Und das zieht sich durch das ganze Buch, wenn ich mir die Kategorie „Stubenhocker“ anschaue oder die „Tauchkünstler“. Überall entdecke ich neue Tiere, neue Informationen (so ein Pottwal kann 90 Minuten unter Wasser bleiben …), die „Verschwundenen“ erinnern an die ausgestorbenen Dinos, die „Gezähmten“ zeigen den Einfluss des Menschen auf die Tiere, die „Bedrohten“ rühren mit den Tränen in den Augen den Betrachtern. Erklärenden Text gibt es in diesem Buch nicht – und  der ist auch gar nicht nötig. Denn entweder erfindet man durch die ungewohnten Zusammenstellung der Tiere sofort eine eigene Geschichte oder ist so angeregt, dass man selbst anderen Orts nachliest.
Und immer weiter geht es mit Kategorien, die die wichtigsten Eigenschaften von bestimmten Tieren in den Mittelpunkt stellen: die „Stachligen“, die „Gestreiften“, die „Schnellen“, die „Lauten“, die „spektakulären Verführer“. Es ist eine Wonne, weil jede Kategorie überrascht und scheinbar Selbstverständliches in andere Beziehungen setzt. Man kann stundenlang blättern und schauen. Dieses Buch verführt zum hin und her springen, die Farbkonzepte der einzelnen Seiten ziehen einen magisch an, der subtile Witz in den Bildern fordert die ganze Aufmerksamkeit.

Bei all der Schauerei und dem Vor- und Zurückblättern geht einem dann irgendwann auf, dass man sich viel öfter von althergebrachten Ordnungen trennen könnte und seine eigenen Kriterien aufstellen sollte. Der Blick weitet sich, das Kreativ-Gen fängt an zu rumoren und es kribbelt im Bauch. So etwas können Leser und Betrachter jeden Alters gebrauchen, weshalb dieses Werk für mich in die Kategorie All-age gehört und ein Highlight meines Buchjahres ist.

Adrienne Barman: Walross, Spatz und Beutelteufel. Das große Sammelsurium der Tiere, Übersetzung: Susanne Schmidt-Wussow,  Aladin, 2015,  216 Seiten, ab 4, 24,90 Euro

Der Sinn des Lebens ist mehr als Eierbrötchen

kunoDass Bücher wahre Wundertüten sein können, ist für Buchliebhaber nichts Neues.   Ein ganz knalliges Exemplar dieser Spezies ist das Bilderbuch Kuno Knallforsch von Dietmar Jacobs, Andreas Schnermann und Horst Klein.

Jacobs, der unter anderem für die TV-Serien „Stromberg“ und „Pastewka“ geschrieben hat, erzählt hier die Geschichte von Frosch Kuno, der lieber knallt, als quakt. Kuno knallt so laut, dass er aus dem heimischen Froschteich fliegt. Er macht sich auf den Weg in die große, weite Welt und sammelt andere Tiere ein, die ebenfalls ungewöhnliche Geräusche machen und etwas aus der Art fallen: Der Specht Woody dingel-dongelt, der Elch Sören röhrt, Hahn Breular bringt den Eierschneider zum Klingen und Katze Mimi bubbeldibabt. Gemeinsam wollen sie nach Hamburg in den berühmten Club Bubalubalu, um dort zu rocken und berühmt zu werden. Dass nicht immer alles so kommt, wie man es sich vorstellt, müssen die fünf Freunde dann natürlich feststellen.

Aber bis es so weit ist, machen sie Musik. Die findet sich als Musical-Hörbuch auf einer beigelegten CD. Die Texte und Noten der Songs von Andreas Schnermann sind gleichzeitig im Buch zum Mitsingen und – wer ein Instrument beherrscht – zum Mitspielen abgedruckt. Die Lieder gehören unterschiedlichen Gattungen an, von der ruhigen Ballade über die peppige Polka bis zum geschmeidigen Swing, und zeigen den Kindern so, was Musik alles zu bieten hat.
So wie die Musik die Geschichte zum Rocken bringt, so steht die Sprache auf der Textebene dem in nichts nach: Es knallt und reimt, plingt und plongt, erzählt von Flummis, die pinkeln müssen, überrascht mit Schweden-Wortwitzen, die zwar nur die Erwachsenen verstehen dürften, und bubbeldibabelt vor sich hin, wie es nicht nur junge Leser gern haben.
Die dritte Ebene, die dann die Wundertüte fast zum Platzen bringt, sind die Bilder von Horst Klein: Großzügig, flächig, in leicht gedämpften Farben verpasst er jedem Musik-Tier eine eigene Persönlichkeit, so dass man sie allesamt sofort ins Herz schließt.
Diese Kombination aus Text, Bild und Musik liefert den Lesern, Zuschauern und Zuhörern nicht nur jede Menge Spaß, sondern auch ein wunderbares Beispiel, was interdisziplinäre Kunst alles kann.

Die Kirsche auf diesem Bilder-Buch-Musik-Leckerbissen ist dann natürlich die Botschaft von Kuno: Selbst wenn man wegen einer durchgeknallten Eigenschaft aus dem heimischen Teich fliegt, kann man viel Spaß und gute Freunde im Leben finden. Man sollte sich also nie von seinem Knall abbringen lassen und fröhlich weiter machen.

Dietmar Jacobs/Andreas Schnermann,: Kuno Knallfrosch. Musical für Kinder, m. Audio-CD, Illustration: Horst Klein,  Fischer KJB, 2014, 48 Seiten, ab 2, 19,99 Euro

Alles eine Frage der Geschwindigkeit

schnellerEs ist, glaube ich, unbestreitbar, dass wir in einer Zeit leben, in der in unserer Gesellschaft alles immer schneller gehen muss. Kommunikation per Mail, Chat, SMS in Sekundenschnelle über tausende Kilometer hinweg, schneller Shoppen im Internet, schneller Abi machen in nur acht statt neun Jahren, schneller studieren … die Liste lässt sich sicher noch um so Einiges fortsetzen.

Wie sehr die Geschwindigkeit unser gesamtes Universum prägt, verbildlicht das französische Graphikstudio Cruschiform auf ganz ungewöhnliche und eindrucksvolle Weise. In dem Bilderbuch Schneller?! ordnen sie in orange-gelb-blauen Illustrationen Tiere, Menschen und technische Errungenschaften der jeweiligen Geschwindigkeit zu. Angefangen beim langsamen Seepferdchen, das gerade einmal 300 Meter pro Stunde zurücklegt, über den Mauersegler mit 200 km/h bis hin zur Sternschnuppe, die mit mehr als 100.000 km/h am Himmel verglüht.

Obwohl es nur im „Nachspann“ kurze, erklärende Texte über die dargestellten Objekte gibt, sind die Doppelseiten mit der km/h-Angabe und der Legende links und den Illustrationen rechts überaus informativ – vor allem die, auf denen Technisches  Natürlichem gegenübergestellt wird. Da kommt zum bloßen Lernen, dass ein Schnellzug mit 350 km/h genauso schnell wie ein Formel-1-Rennwagen sein kann, das große Staunen, dass nämlich auch Wanderfalke und Fregattvogel diese  erreichen können.

Je genauer man hinschaut und je mehr man sich die dargestellten Dinge bewusst macht, umso mehr bekommen manche technische Errungenschaften einen ganz anderen Stellenwert – das Atom-U-Boot „USS Nautilus“ schafft gerade einmal 35 km/h und auch der Luxusdampfer „Queen Mary 2“ ist mit 50 km/h nicht sehr viel schneller. Gleichzeitig ist man jedoch auch beeindruckt, dass der Mensch Dinge wie die Raumfähre „Apollo 11“ bauen konnte, die mit 40.000 km/h ins All flog.

Den größten Respekt jedoch entwickelt der Betrachter unweigerlich für die Großartigkeit der Natur, die in Sachen Schnelligkeit –  und nicht nur darin – vermutlich für immer unschlagbar bleiben wird. Zum Ansehen dieses Buches sei daher Kindern und Erwachsenen jede Menge Muße empfohlen, um all die großartigen Details zu entdecken und zu begreifen.

Cruschiform: Schneller?!, Übersetzung: Barbara Heller, Illustration: Cruschiform, Fischer Sauerländer, 64 Seiten, ab 5, 15,99 Euro

I <3 Großstadttiere

tiereDie Großstadt ist ein Dschungel – altbekannt ist das allemal. Auch dass sich nicht nur Menschen, sondern jede Menge Tiere in der Stadt herumtreiben ist eigentlich nicht besonders neu. Skurrile Nachrichten über Vierbeiner schwirren spätestens im Sommerloch wieder durch die Medien.

Doch nun hat die Künstlerin Nadia Budde unsere tierischen Nachbarn auf eine ganz schräge Art gewürdigt und zwar im Buch Großstadttiere. Darin stellt sie 24 Tierarten vor, die die großen Städte wie New York, Zürich, Berlin, Neu Delhi, Bukarest bevölkern. Sei es Waschbär, Fuchs, Schabe, Regenwurm oder Wildschwein, zu jedem Tier erzählt sie eine kleine, zumeist sehr ungewöhnliche Geschichte. Außer bei den Schaben. Zu diesen Krabbeltieren, die in ihren I-love-Stadtname-T-Shirts die Metropolen der Welt stürmen, gibt es scheinbar nichts zu sagen. In allen anderen Geschichten steckt ein wahrer Kern, manches ist aber auch wunderbar gaga – beispielsweise die Therapiegruppe der Großstadtregenwürmer. Man bekommt sofort Mitleid mit den Sitzriesen und möchte ihren zu Hilfe eilen und gleich mal den Asphalt aufreißen. Auch das Schicksal der Pariser Ratten ist herzergreifend, doch zeigt sich hier vor allem der Sprachwitz, mit dem Budde ihre Texte würzt.

Nadia Budde verleiht den Tieren nicht nur ein persönliches Gesicht, sondern gleich einen ganzen Charakter. Die Eigenwilligkeit der Fledermäuse in Austin/Texas ist fast ein Symbol für die Eigenwilligkeit dieses Bilderschatzes. Dick schwarz umrandet kommen Tiere und auch Menschen daher. Vor zitronenfaltergelben, taubenblauen, eichhörnchenroten, regenwurmrosanen Hintergründen schauen sie lieb, treuherzig, fies, hinterhältig, harmlos, naiv, freundlich, verschlagen, böse, treudoof, traurig, genervt … und dem Leser und Betrachter geht das Herz auf. Man hat sie auf einen Schlag alle lieb – auch die Wölfe aus Moskau, die die Einkaufstüten plündern.

Ganz nebenbei hält Budde dann noch einen Kurs in gelingender Fotografie ab, indem sie einen Exkurs über das Phänomen „Turm auf dem Kopf“ als Folge des Fototourismus einbaut. Sie braucht nur ein paar wenige Sätze und fünf Illustrationen dazu – und mit Sicherheit wird keiner der Leser danach mehr Fotos mit solchen Auswüchsen schießen. Genialer geht’s kaum.

Großstadttiere ist ein herrlich schlauer Spaß, der mit viel Herz alle Bewohner der Städte würdigt und ihnen ihren Raum zugesteht. Die Menschen ermahnt die Autorin mit einem Augenzwinkern, ab und an das Auto stehen zu lassen und stattdessen das Fahrrad zu nehmen – und vielleicht doch mal auf fiese Taubenspikes zu verzichten. In diesem Sinne ist Großstadttiere ein grandioses Bilderbuch für jedes Alter.

Nadia Budde: Großstadttiere, Jacoby & Stuart,  2013, 140 Seiten,  ab 9, 18 Euro