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Eine Frage der Identität

Dieser Tage kann man Angie Thomas quasi im Doppelpack erleben. Im Kino läuft seit vergangener Woche die sehr gelungene Verfilmung ihres Debüt-Romans The Hate U Give, im Buchhandel ist ab heute ihr neues Werk mit dem Titel On The Come Up zu haben.
Auch Thomas‘ neuer Roman spielt im selben Viertel wie THUG, in Garden Heights, einer nicht genannten amerikanischen Großstadt. Ging es im Vorgängerroman um Polizeigewalt gegen die schwarze Bevölkerung und begann spektakulär mit den Tod eines Jungen, so ist die Gewalt in On The Come Up anders gelagert. Hier stirbt niemand, doch nett oder gar beschaulich geht es auch jetzt nicht zu. Thomas erzählt von der jungen Rapperin Bri, deren Familie kurz davor steht, obdachlos zu werden, da die Mutter ihren Job verliert und die laufenden Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können. Bris Bruder findet trotz guter Ausbildung nur eine mies bezahlte Anstellung in einem Pizza-Laden. Der Vater, der im Viertel ein angesehener Gangsta-Rapper war, ist schon vor Jahren, als Bri noch klein war, bei einer Schießerei (die hier eben nicht erzählt wird) umgekommen.

Zwischen Leidenschaft und Rollenspiel

Bri möchte ihrer Familie helfen, indem sie als Rapperin groß durchstartet. Und sie kann Talent vorweisen. In einem Battle schlägt sie den Sohn eines Rap-Managers und wird quasi über Nacht zu einer Berühmtheit. Allerdings mit einem Song, in dem sie sich selbst als bewaffnet und zur Gewalt bereit darstellt. Damit reagiert sie auf einen Vorfall in ihrer Schule, bei dem zwei Sicherheitsbeamte sie bei der Taschenkontrolle aus rassistischen Gründen überwältigt und zu Boden geworfen haben. Rasch wird sie als Drogendealerin verunglimpft, obwohl sie nur Süßigkeiten verkauft hat – doch als Tochter einer ehemaligen Drogenabhängigen ist so ein Urteil schnell gefällt.

Mit einem Mal muss Bri feststellen, dass sie zwar Rap-Talent und eine Botschaft hat, doch dass diese Botschaft nicht so verstanden wird, wie sie es sich gedacht hatte. Der Rap-Manager würde sie allerdings gern unter Vertrag nehmen und ködert Bri mit schicken Timberlands und einem Radio-Interview. Bri sieht sich dem Erfolg schon ganz nah – bis sie hinter die Kulissen schaut und eine Entscheidung trifft.

Die Stimme erheben

Angie Thomas ist hier erneut eine sehr komplexe und faszinierende Geschichte gelungen, in der sie zahlreiche Themen anspricht und zu einem wahren Pageturner verflechtet. Sie führt den Leser_innen vor Augen, wie schwierig es ist, sich aus alt eingesessenen Strukturen zu befreien – sei es von einer Drogenabhängigkeit, sei es von dem Vergleich mit dem Vater, sei es aus einem Problemviertel herauszukommen und die Armut zu überwinden. Überall stoßen Bri und ihre Familie auf Widerstände, Vorurteile, Missgunst oder Gier.
Bri als impulsive 16-Jährige, die durch die Vorfälle, die in THUG geschildert werden – auf den Vorläuferroman spielt Thomas immer wieder sehr geschickt an –, verstanden hat, dass sie ihre Stimme erheben muss, hält folglich nicht den Mund. Sie redet den anderen nicht nach dem Maul, sondern sagt unumwunden ihre Meinung. Und macht sich damit angreifbar.

Wer bin ich?

Über allem steht für mich fast nicht so sehr die Frage, wie man in der Gesellschaft aufsteigt (eng. the come up), sondern wer man/frau selbst sein will. Was prägt die eigene Identität? Die Herkunftsfamilie? Der eigene Kiez? Die Leidenschaft, für die man alles tun würde? Bri stellt sich diese Fragen zwar nie konkret, doch sie schwingen immer mit, bei ihr, bei ihrem schwulen Freund, bei Mutter und Tante. Für Bri ist die Verlockung groß, für ihre Leidenschaft – das Rappen – alles zu geben und, wie von ihrem gierigen Fast-Manager empfohlen, eine Rolle zu spielen. Angie Thomas beschreibt dies so unmittelbar aus Bris Perspektive, dass man ihr den Erfolg und den (finanziellen) Durchbruch eine Zeit lang durchaus wünscht. Doch schnell wird auch klar, dass darin nicht das Glück liegt.
Denn das Offensichtliche ist nicht immer das, was einen Menschen glücklich macht. Das entdeckt Bri neben all den Karriere-Aufregungen dann fast noch wie nebenbei, als sie merkt, dass ihr alter liebenswerter Kumpel Malik nicht so ein Herzklopfen und Britzeln bei ihr auslöst, wie der coole Curtis.

Das Rapper-Vokabular

Sprachlich zeichnet sich On The Come Up, wie schon THUG, durch sehr viel Slang, Ghettosprache sowie amerikanische Jugend- bzw. Hiphop-Sprache aus. Hier muss man der Übersetzerin Henriette Zeltner erneut höchsten Respekt zollen, da sie dieses spezielle Vokabular so im Text belässt, dass es sich authentisch anhört, man aber durch ihre sprachlichen Hinleitungen immer genau weiß, was die einzelnen Ausdrücke und die Rap-Texte, die komplett auf englisch belassen wurden, bedeuten. Ich glaube jedoch, dass für die Jugend, die eh schon viel intensiver mit der englischen Sprache groß wird, als meine Generation, mit all diesen Texten und Worten keine Schwierigkeiten haben wird.
Für gewisse Zweifelsfälle kann man hinten im Glossar nachschlagen und sich schlau machen.

Auch ohne den Vorgänger THUG zu kennen kann man On The Come Up sehr gut lesen. Die Anspielungen an THUG, die Thomas in die neue Geschichte einwebt, bringen den Kennern ihres Debüts die Erinnerungen daran zurück, die Thomas-Neulinge werden auf jeden Fall neugierig gemacht, diese Lektüre nachzuholen.
Und wer es schneller haben möchte, kann dieser Tage The Hate U Give im Kino anschauen – und wird von Amandla Sternberg als Starr Carter hoffentlich genauso begeistert sein wie ich.

Angie Thomas: On The Come Up, Übersetzung: Henriette Zeltner, cbj, 2019, 512 Seiten, ab 14, 18 Euro

Trost ist ein schräger Vogel

Trost

»Ich gebe Gott bei Google ein. Zum Glück lässt sich das leicht buchstabieren. Es erscheinen eine Menge langer Worte, die ich überhaupt nicht verstehe. Zum Beispiel monotheistisch. Aber eine Sache finde ich trotzdem heraus: Gott ist der Herr über Leben und Tod. Ich würde gern mal ein Wörtchen mit ihm reden, diesem Herrn Gott.«

Ist Gott dumm?


Hugos heißgeliebter Opa liegt nämlich im Sterben. Samstag Morgen war noch alles wie immer mit Rosinenbrötchen, Kaffeeduft, Schlagballspielen im Park und Pokern. Am Abend ist der Großvater kollabiert. Donnerschnitzel, das sagt nur Hugos Opa. So nennen Ida-Marie Rendtorff und Daniel Zimakoff ihr ein bisschen trauriges, ziemlich lustiges, mal  spannendes und ungeheuer tröstliches Kinderbuch über Verlust und Tod, hilflose Wut und Trauer. Weil Religion, in den hiesigen westeuropäischen Gesellschaften vor allem das Christentum, bei dem Thema unumgänglich ist, lässt das dänische Autorenpaar geschickt und behutsam verschiedene Vorstellungen davon einfließen. In der Schule hören Hugo und sein bester Freund Dylan etwas vom Baum der Erkenntnis, von dem Adam und Eva aßen, und zur Strafe aus dem Paradies vertrieben und sterblich wurden. »Kann es sein, dass Gott ein bisschen dumm ist?«, fragt Hugo ob solch drastischer Maßnahmen, die Gott seinen eigenen Geschöpfen antut. Auch Mitschülerin Siri findet: »Gott ganz schön ungerecht.«

Trost aus dem Himmel?

Für manche ist die Vorstellung von Gott, Himmel, ewigem Leben und einer vermeintlich verdienten Hölle tröstlich. Hugo hilft es nicht. Zu konstruiert, abstrakt, auch unlogisch –  und überhaupt kann Opa, sein »Mentor«, ihm jetzt nicht mehr Pokern beibringen. »Manche Menschen glauben, dass man immer wieder neu geboren wird«, erzählt Hugos Vater. Als es plötzlich »Donnerschnitzel« aus einer Tierhandlung krächzt, ist Hugo sofort klar : »Mein Opa ist ein Papagei!« Und er muss Opa nach Hause holen.

Wie Hugo und Dylan mutig und erfinderisch das Geld für den besonderen Vogel verdienen und schließlich doch alles anders kommt, ist eine charmant geschriebene und hübsch illustrierte Geschichte, Donnerschnitzel!

Trost

Berührend und von Mehrdad Zaeri wunderschön illustriert erzählt Werner Holzwarth, wie der Madenpickervogel Hacki Abschied von seinem Freund nimmt. Mein Jimmy ist ein altes Nashorn, das spürt, dass es mit ihm zu Ende geht und Hacki mit gemeinsamen Erinnerungen und schrägen Witzen trösten möchte. »Ich hatte mal wieder gedöst. Dann öffne ich die Augen und schaue direkt einem Typen ins Gesicht, der sein Gewehr auf mich anlegt. Du merkst sofort was los ist, und fliegst auf ihn zu und flatterst ihm so um den Kopf herum, dass er die Hände nach oben reißt und dabei das Gewehr fallen lässt. Da hast du mir das Leben gerettet.« Aber Hacki ist zu traurig und frustriert: »Hat auch nicht viel gebracht, Jimmy, ist ja erst zwei Monate her … Dann hätte er dich auch gleich erschießen können.«

Der altersweise Jimmy sieht das anders: »Die letzten Wochen waren doch schön. Wie die ganze Zeit mit uns. Jeder einzelne Tag«, muntert der müde, alte Dickhäuter seinen gefiederten Freund auf. Und stirbt. Wobei man angesichts der ruhigen, dunklen, scherenschnittartigen Bilder über mehrere Doppelseiten ehrlich »schläft friedlich ein« sagen darf.

Berührender Abschied

Werner Holzwarth, der mit dem Kinderbuchklassiker »Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat« weltberühmt geworden ist, hat die Geschichte im Alter von 67 Jahren seinem kleinen Sohn erzählt. Die Zeichnungen, die der damals fünfjährige Tim dazu gemacht hat, sind auf dem Vorsatzpapier abgedruckt.
Seine Geschichte besticht durch die lebendige, nie sentimentale Sprache – die lebenskluge, gelassene und zärtliche Stimme Jimmys und die erst trotzige und enttäuschte und schließlich muntere und fröhliche Hackis.
Solange du an mich denkst, wird es mich geben«, sind Jimmys letzte Worte –  der einzige Trost, den es gibt, wenn ein geliebtes Wesen stirbt.

Ida-Marie Rendtorff, Daniel Zimakoff, : Donnerscnitzel. Mein Opa ist ein Papagei, Übersetzung: Friederike Buchinger, Illustration: Peter Bay Alexandersen, Carlsen 2018, 112 Seiten, ab 8, 7,99 Euro

Werner Holzwarth: Mein Jimmy, Illustration: Mehrdad Zaeri, Tulipan 2019, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

So ’n Hals

Giraffe Roberta hat ein Problem: »Mein Hals macht mich fertig. Ehrlich.« Ihr Hals ist zu lang, zu dünn, zu auffällig … »Zu … halsig.« Anders gesagt: Roberta hat so ´nen Hals auf ihren Hals. Und sie ist der festen Überzeugung, dass alle ihren Hals anstarren,

Eine klassische Projektion wie aus Freuds Psychologiebuch: Weil sie immer nur an ihr prominentestes Körperteil denkt, glaubt sie, das geht allen anderen, von ihr beneideten Tieren auch so. Dabei ist allen anderen Robertas Hals egal, nur ihr Genöle geht den Savannenbewohnern auf die Nerven.

Bei ihren lächerlichen Versuchen, den Hals zu verstecken, stolpert die Giraffe über eine kleine Schildkröte namens Henry. Und der hat ein ganz anderes Problem: Sein Hals ist zu kurz. Und überhaupt ist er viel zu klein, um an die schön reife Banane oben am Baum zu gelangen. Entzückend lamentiert Henry auf den Hinterbeinen stehend, mit empört vorgeschobenem Panzerbäuchlein über seine wortwörtlich körperlichen Unzulänglichkeiten.

Von Projektionen & Freundschaft

Da zeigt sich, dass so ein langer Hals ganz schön praktisch ist. Und wir sehen den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Roberta & Henry ist ein hinreißendes Buch über verquere Selbstwahrnehmung und Zuneigung, die entsteht, weil jeder im anderen etwas Besonderes sieht und beide sich ideal ergänzen. Manchmal braucht man genau so jemanden zur Selbstreflexion, der das eigene verzerrte Spiegelbild heilsam korrigiert.

Nebenbei wird sehr treffend bemerkt, dass Mütter für diesen Job nicht taugen: Die finden ihre Kinder fast immer wunderschön. Nicht nur Pubertierende mit florierenden Pickeln auf der Stirn, verunglücktem Haarschnitt und Speckröllchen können ein Lied davon singen. »Meine Mama meinte immer, ich sollte stolz auf meinen Hals sein. Sie sagte, andere Tiere würden sonst was für meinen Hals geben. Klar, sicher doch«, übersetzt Andreas Steinhöfel. »Nimms mir nicht übel, Mama. Aber keiner will so einen Hals. So einen Hals kann nur einen Mutter lieben.« »Übersetzt von Andreas Steinhöfel« steht wie ein Qualitätssiegel auf dem Einband. Ganz abgesehen davon, dass eigentlich immer auch die Übersetzungsarbeit gewürdigt werden sollte, ist Steinhöfel wirklich kongenial: »Einfach bekloppt«, so famos lässt Steinhöfel Roberta über ihren Hals schimpfen. »… während ich wartete und wartete … dass entgegen aller Hoffnung diese Banane vor mir herabfallen würde, um mir gleichermaßen Nahrung und einen Begriff von ihrer Süße zu verschaffen«, schwadroniert Henry kurios kompliziert.

Sprachlicher & optischer Genuss

Nicht nur sprachlich, auch optisch ist das Buch ein Genuss: Lane Smith hat brillante Bilder in raffinierter Mischtechnik dazu geschaffen. Überwiegend in erdigem Gelb, Braun und Grün gehalten, bekommen die Tiere durch dynamisch-breiten Pinselstrich und Druckvariationen geradezu Textur. Kleine Knopfaugen blinzeln lebendig und erstaunlich ausdrucksstark aus den collagierten Farbkörpern hervor. Roberta & Henry hat das Zeug zum Klassiker in einer Reihe mit Werken von Eric Carle oder Leo Leonni!

Das zweite Bilderbuch Fredy flunkert passt wegen des Untertitels »Lügen haben lange Hälse« anscheinend perfekt in diese etwas halslastige Auswahl. Jaqueline und Daniel Kauer haben ihre Geschichte von den Freunden Fredy, dem Lama, und Fauli, dem Faultier, aber irreführend betitelt. Weil es weniger um Unwahrheiten und ihre Folgen im allgemeinen geht, sondern darum, was eine Freundschaft ausmacht und warum man mit jemandem befreundet ist. Auch hier spielt ein schwaches Selbstbild eine Rolle. Fredy ist nämlich ein enormer Angeber: Sein von Fauli wegen eines klitzekleinen Nickerchens verpasster Bandauftritt war natürlich »komplett ausverkauft«, bald würden sie ganze Hallen rocken und ein Plattenvertrag winke auch. Fredys Laden brummt, Kunden stünden Schlange, alles sei komplett ausverkauft. Und wenn Fauli ein Date hat, dann geht Fredy natürlich gleich mit drei heißen Lamadamen schick essen …

Von Angebern & Faultieren

Anfangs wundert sich Fauli noch, dass im Internet nichts von einem furiosen Konzert zu lesen ist. Dann quellen aus der Kammer Unmengen von Schuhen hervor. Übernachtet hat Fredy einsam und allein in seinem Auto, von Begleiterinnen keine Spur. Und als Fredy schließlich noch behauptet, ein Ufo gesehen zu haben, reicht es dem Faultier und es zieht wütend aus.

Die Frage ist, warum stellt Fredy sich seinem Freund gegenüber immer viel cooler und erfolgreicher dar, als er es ist? Warum traut er sich nicht, ehrlich er selbst zu sein, mit allen Schwächen und Fehlern? Was ist das Wesen ihrer Freundschaft?
Diese interessanten Fragen reißt das Buch an und lässt den Betrachtern Raum für eigene Überlegungen.

Eine Frage der Ehrlichkeit

Mit den Illustrationen verhält es sich ähnlich: Auf den ersten Blick sind die beiden Hauptfiguren Lama und Faultier (zu den beiden Tierarten gibt es übrigens viel Wissenswertes auf dem Vorsatzpapier zu lesen) etwas plump und bunt und vermenschlicht geraten. Umso mehr erfreuen die munteren Kleinstnebendarsteller sowie witzige Details und Anspielungen: So heißt Fredys Band »The Dalai Lamas«, das Faultier ist ein echter Meister im Aufwandvermeiden (»Kochen für Faule«, Fertigessen aus der Mikrowelle).

Man versteht sehr gut, warum das Faultier zwischenzeitlich einen ziemlichen Hals auf seinen Freund hat. Fredy ist auch wirklich sehr zerknirscht und lernt seine Lektion: Ehrlich zu sein gegenüber seinem Freund – und sich selbst zu akzeptieren wie man ist.

Hals

Grete, das Kamel (genauer gesagt ein Dromedar) hat auch einen außergewöhnlichen  Hals, einen besonders schön gebogenen. Aber der beschäftigt die Trampeltierdame ebenso wenig wie Selbstdarstellungszwänge. Tiefenentspannt schreitet sie im Passgang durch die Wüste. Der Leser begleitet sie in 14 knappen Kapiteln über sieben Tage, in denen so gut wie nichts passiert. »Stinklangweilig« sind die Geschichten natürlich nicht, gerade weil »Manchmal in der Wüste gar nichts los ist. (Pause) Haaalt, Eine richtige Pause, bitte. Wer will, probiert es aus: Dem anderen zuhören, wie er gar nichts sagt.«

Vom Nichtstun & Zuhören

Die in Wien lebende Autorin Veronika Trubel schaltet ein paar Gänge zurück und übt das Nichtstun, ein Luxus heute, wenn Tage möglichst effizient durchgetaktet sind und zeitliche Lücken als Verschwendung gelten. Sind sie aber nicht, sondern notwendig, um dem Hirn Ruhe zu gönnen.

Und gerade wenn man sich auf den hypnotischen Rhythmus und die Wiederentdeckung der Langsamkeit eingelassen hat, und zu entspannen beginnt, dann lässt Trubel geschickt einen klugen Gedanken vorbeischweifen. Zum Beispiel: »Was ist eigentlich eine gute Nacht? Für ein Kamel? Für eine Eule? Für eine Maus? Für ein Beduinenkind? Für dich?« Im nächsten Kapitel lernt man den sehr nützlichen A… der Welt kennen, kann über den Geruch von Eulenrülpsern nachdenken. Oder es begegnet einem ein einzelgängerischer Termit (männliche Termite), der auf die harte Tour zur Erkenntnis gelangt, dass es »ungeheuer praktisch ist, wenn man ein paar Kumpels hat.« Und deshalb »hat er einen riesigen Termitenstaat gegründet: eine Volksdemokratie, mit sich selbst als Kaiserkönigpräsident und Chefdiktator.«

Entspannt runterkommen

Zu diesen nicht pseudophilosophisch verschwurbelten, dafür klugen und witzigen Texten hat Isabel Pin wunderschöne Aquarellszenarien und zart hingetupfte Tiere gemalt, in flirrendem Wüstensandgelb, Sonnenuntergangsorange, Mitternachts- oder Sternenhellblau. Entspannter und schöner Runterkommen geht kaum.

Jury John, Lane Smith (Illustrationen): Roberta & Henry, Übersetzung: Andreas Steinhöfel, Carlsen 2019, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Jaqueline und Daniel Kauer: Fredy flunkert, Kalea Book 2018,  36 Seiten, ab 4, 18,90 Euro

Veronika Trubel, Isabel Pin (Illustrationen): Grete, das Kamel – Stinklangweilige Gute-Nacht-Geschichten, Karl Rauch Verlag 2019, 56 Seiten, ab 2, 15 Euro

Mädchen, werdet laut!

moxie

Vor wenigen Tagen hat die Süddeutsche Zeitung ein Projekt zu Geschlechterklischees in Kinderbüchern veröffentlicht. Allein die Auswertung der Meta-Daten von Tausenden von Büchern zeigt bereits, dass – anders als gefühlsmäßig angenommen – männliche Protagonisten immer noch in der Überzahl sind, die weiblichen Heldinnen nicht so komplexe Abenteuer erleben dürfen und die Verschlagwortung den Jungs mehr Begriffe zugesteht. Vermutlich lese ich nicht genug Kinderbücher und lasse mich von den Jugendbüchern blenden, unter denen es mittlerweile doch so einige Geschichten von Mädchen gibt, die gegen die Klischee angehen und feministische Töne anschlagen. Aber vermutlich müsste man auch hier mal eine Meta-Daten-Analyse durchführen, um ein genaueres Bild zu bekommen.

Machogehabe an der Highschool

Ein aktuelles Jugendbuch, das gegen die männliche Dominanz angeht, ist in jedem Fall Jennifer Mathieus Moxie – Zeit, zurückzuschlagen. Die Heldin Vivian hat es nämlich satt, sich in ihrer Highschool, in einem kleinen Seekaff in Texas, von den Jungs ständig dumme Sprüche anhören zu müssen, in denen die Mädchen auf ihre vermeintliche Rolle in der Küche reduziert werden. Die Jungs haben an ihrer Schule alle Freiheiten der Welt: Sie dürfen T-Shirts mit Machosprüchen tragen, während den Mädchen die Miniröcke und Tops verboten werden. Die Jungs können die Mädchen körperlich angehen, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Und das Football-Team steht als Inbegriff von Männlichkeit und Erfolg über allem und wird von allen Seiten finanziell unterstützt, während die Mädchen das Nachsehen haben.

Moxie ruft zum Widerstand auf

Viv nervt dieses Gesamtsituation ziemlich. Eines Tages stöbert sie in den alten Sachen ihrer Mutter, die Viv seit dem Tod ihres Vater allein großzieht. Dort findet sie Andenken an deren rebellische Jugend und Riot-Grrrl-Manifeste, die eine ganz andere Seite der Mutter offenbaren. Viv kommt die Idee, selbst ein Zine, also ein Magazin, für Mädchen zu gestalten und an der Schule zu verteilen. Im Alleingang und ohne, dass sie irgendjemandem davon erzählt, stellt sie vier Seiten zusammen, kopiert sie und verteilt sie schließlich auf den Mädchentoiletten. Sie tauft ihr Zine Moxie, was so viel wie Mut, Tatkraft und Selbstbewusstsein bedeutet – und bei ihr für all die Mädchen steht, die sich nichts gefallen lassen. Als erstes Erkennungszeichen fordert sie die Leserinnen auf, sich Sterne auf die Hand zu malen, falls sie ebenfalls ein Moxie-Girl sind.

Zunächst scheint Vivians Zine nicht viele Mädchen aufzurütteln, nur wenige kommen am verabredeten Tag mit Sternen auf der Hand in die Schule. Doch als die Kleiderkontrollen des Direktors immer absurder werden und immer mehr Schülerinnen beschämen, fordert Viv in der nächsten Ausgabe die Leserinnen auf, im Bademantel zum Unterricht zu kommen. Dieses Mal folgen dem Aufruf von Moxie bereits mehr Schülerinnen. Ein erstes Gefühl von Gemeinschaft macht sich breit.
Die gute Stimmung unter ihnen jedoch sinkt wieder, als neben einem „Mädchen-Vergleichs-Wettbewerb“ im Internet, bei dem Jungs über den Coolness/Schönheitsfaktor der Mädchen abstimmen, zusätzlich bei den Jungs ein übergriffiges Spiel angesagt ist, bei dem sie die Mädchen begrapschen. Schließlich geht einer noch weiter. Da ruft Moxie zum Streik auf – doch dieses Mal steckt nicht Vivian hinter der Veröffentlichung. Und Vivian gerät in einen schweren Gewissenskonflikt.

Gemeinsam stark

Mathieus Roman, von Alice Jakubeit souverän ins Deutsche übertragen, liest sich wie im Rausch runter. Mag sein, dass die Lage an der Schule etwas zugespitzt und übertrieben ist – normalerweise würde eine frauenfeindliche Aktion ja schon ausreichen, um auf die Barrikaden zu gehen. Doch als erzählerisches Mittel treibt es die Leserinnen vorwärts, sodass deren Wut proportional zu der Wut der Mädchen in der Geschichte steigen dürfte. So emotional mitgenommen wirkt eine Lektüre später sicherlich auch nach außen und in das hiesige Schulleben. Denn zum Glück solidarisieren sich die Mädchen im Buch, Viv lernt neue Mitschülerinnen kennen und überwindet eigene Vorurteile gegenüber anderen, die sie zunächst für arrogant gehalten hat. Mehr und mehr wird den Schülerinnen bewusst, dass sie nur gemeinsam gegen Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Gewalt kämpfen können. Und sensibilisieren damit auch gleichzeitig die Leserinnen, was sie, sollten sie Ähnliches erleben, machen könnten.

Die Sensibilisierung geschieht nicht nur durch die Aktionen der Mädchen, sondern auch durch die abgebildeten Moxie-Ausgaben, in denen Viv neben Bildern von 40er-Jahre Boxerinnen mit jeder Ausgabe mehr und mehr Infos zur weiblichen Selbstwahrnehmung, zu unsinnigen Kleiderordnungen sowie Zahlen zu sexueller Belästigung und den psychischen Folgen davon liefert. Sie zeigt aber auch, dass sexuelle Diskriminierung nicht erst mit einer Vergewaltigung zu einem Delikt wird, das frau anzeigen sollte, sondern oft schon viel früher beginnt –  in vermeintlich normalen Situationen zwischen Mädchen und Jungen.

Liebe inklusive

Jetzt könnte man denken, dass in diesem Roman alle Jungs doof sind. Zugegeben viele sind es, aber Mathieu hat natürlich – erzähltaktisch clever – auch ein gutes Exemplar in die Geschichte eingebaut. Seth, der gut aussehende Neuzugang an der Schule, findet die Moxie-Zines klasse, noch bevor herauskommt, von wem sie eigentlich stammen. Und er mag Viv und unterstützt sie. So wird der durchaus aufregende Kampf um Gleichbehandlung und Gleichberechtigung von diesem Liebes-Plot-Strang begleitet. Ganz im Sinne: Frau kann Feministin sein und trotzdem einen Mann lieben. Hier gleitet es vielleicht ein bisschen ins Klischee, doch wenn es jungen Mädchen die Angst nimmt, sie würden allein bleiben, wenn sie sich feministisch betätigen, hat das durchaus seine Berechtigung. Und es zeigt zudem, dass auch Jungs sich für den Feminismus und die Gleichberechtigung begeistert können. Auch das ein Thema, das noch viel zu wenig dargestellt wird.

Jennifer Mathieu: Moxie – Zeit, zurückzuschlagen, Übersetzung: Alice Jakubeit, Arctis Verlag, 2018, 352 Seiten, ab 14, 16 Euro

Coole Comics für Kids

Wenn Wünsche wahr werden … so träumen wir im Leben von möglichen und unmöglichen Dingen. Manchmal rühren wir keinen Finger, um bei der Wahrwerdung mitzuhelfen, manchmal setzen wir Himmel und Hölle in Bewegung – und genau das macht Toni in dem gleichnamigen Comic von Philip Wächter.

Denn Toni wünscht sich nichts sehnlicher als die coolen Blink-Funktion-Fußballtreter seines Idols Renato Flash, für schlappe 80 Euro. Die Diskussion mit Mama um neue Fußballschuhe läuft jedoch ins Leere, Opa ist mehr an seiner neuen Lesebrille interessiert und als Mama zu allem Überfluss auch noch beschließt, Weihnachten ohne Geschenke zu feiern, muss Toni aktiv werden. Und Geld verdienen. Voller Elan macht er sich ans Werk. Er verteilt Flyer, führt den Hund der Nachbarin aus, veranstaltet einen Flohmarkt und versucht es mit Straßenmusik.
Doch bei allem lauern die Tücken: Die Kumpels, die beim Flyerverteilen helfen, haben hinterher Hunger. So geht der Verdienst bei einer Runde Pommes drauf, das Strafgeld für den nicht-beseitigten Hundehaufen (weil Toni die Gassitüte zerplatzen ließ) reduziert den Stundenlohn, lustige Songs über Chinesen mit Kontrabässen bringen in der Weihnachtszeit auch nicht viel ein … Mit anderen Worten: Toni lernt eine Menge über Wünsche, Arbeiten und die Unvorhersehbarkeiten des Lebens – als er nämlich ein richtige nettes Mädchen kennenlernt.

Auch dass Betteln keine Alternative ist, um an Geld zu kommen, macht ihm Mama unmissverständlich klar. Stecken doch hinter jedem Menschen, der auf der Straße sitzt, dramatische und traurige Schicksale.

Charmant erzählt, luftig gezeichnet bringt Philip Wächter jungen Comic-Lesenden wichtige Lektionen des Lebens, des Konsums und des Miteinanders näher. Nicht alle Wünsche können einfach so erfüllt werden, schon gar nicht, wenn die Eltern es nicht so dicke habe, und selbst wenn – sobald man sich selbst für etwas ins Zeug legt, Hindernisse überwindet und sein Möglichstes tut, steigt die Wertschätzung für das Erlangte mächtig. Und das gilt dann nicht nur für neue Schuhe, sondern für alle Ziele, die man sich setzt, und auch für die Menschen, die sich für solche Ziele einsetzen.

Das darüberhinaus die menschlichen Begegnungen – das spontane Fußballspiel, die Suche nach der richtigen Mütze – der viel bereicherndere Aspekt im Leben ist, zeigt sehr eindrücklich, dass Geld allein eben doch nicht glücklich macht. Und für diese Botschaft ist kein Kind zu klein.

Um Geld geht es auch bei Akissi von Marguerite Abouet und Mathieu Sapin so gar nicht, um Wünsche hingegen schon.

Akissi lebt zusammen mit ihren Eltern und dem größeren Bruder Fofana in einem Dorf der Elfenbeinküste. Sie spielt gern Fußball und lässt sich dabei und ganz generell von den Jungs nicht einschüchtern. Zudem liebt sie Bonbons und Kino und hätte gern eine kleine Schwester oder wenigstens ein Haustier.

In neun Geschichten entfalten Abouet und Sapin ein alltägliches Kinderleben in Afrika – jenseits von Krieg, Gewalt und Hunger. Zwar gibt es durchaus Dinge, die natürlich anders sind als in Europa – die Lehrer züchtigen die Schüler, Mäuse huschen durchs Haus, fremde Erwachsene werden respektvoll Onkel und Tante genannt – aber die Kinder sind genauso frech, verspielt, lebhaft, übermütig und quirlig wie überall auf der Welt. Sie verehren Superhelden, glotzen heimlich Fernsehen, haben Läuse, ärgern sich gegenseitig und bringen die Erwachsenen manchmal zur Weißglut. Das ist liebenswert und lustig, und trotz aller Unterschiede auch sehr vertraut.

Muss ich hier darauf eingehen, dass bei Akissi natürlich alle Figuren dunkelhäutig sind? Die Geschichten spielen an der Elfenbeinküste, also ist das nur logisch. Hiesigen Kindern wird es hoffentlich egal sein – zumal mit diesem Buch endlich einmal die Kinder mit afrikanischen Wurzeln richtige Identifikationsmöglichkeiten bekommen, etwas, was in den rein weißen Produktionen für diese Zielgruppe immer noch viel zu selten vorkommt. Werden diese und Kinder aus anderen Regionen der Welt eigentlich als Zielgruppe mitgedacht? Es scheint nicht so … und sollte sich schleunigst ändern!

Denn neben der Erinnerung, dass Kinder überall auf der Welt ähnlich ticken, ist Akissi eine quietschbunte Aufforderung an alle Büchermachende noch mal genauer über kommende Leser_innen nachzudenken. Wir sind schon lange keine homogene Gesellschaft mehr – waren es vermutlich nie – und das sollte sich in den Büchern, die wir lesen noch sehr viel mehr spiegeln. Und im Bilder- und Kinderbuchbereich nicht immer über die Aushilfslösung unterschiedlichster Tierfiguren. Was im Genre der Tierbücher geht, sollte doch für die Produktion von Büchern mit menschlichen Heldinnen eigentlich selbstverständlich sein.

Philip Waechter: Toni und alles nur wegen Renato Flash, Beltz & Gelberg, 2018, 64 Seiten, ab 6, 14,95 Euro

Marguerite Abouet/Mathieu Sapin: Akissi – Auf die Katzen, fertig, los!, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Reprodukt, 2018, 96 Seiten, ab 8, 18 Euro

Packende Geschichtsstunde in Mogelpackung

ostpreußenEin Pferdebuch auf LETTERATUREN? Das gab’s in sieben Jahren noch nie. Ja, genau, klassische Pferdegeschichten kommen hier eigentlich nicht vor, aber bei Anne C. Voorhoeves neuem Roman darf man sich auf gar keinen Fall von Titel und Cover täuschen lassen.

Gefährten für immer erzählt zwar auch von Pferden, von den Trakehnern Ostpreußens, doch es ist nicht die klassische Kombination von ein Mädchen plus ein Pferd gleich Freunde für immer. Denn hier geht es um die 14-jährige Lotte, die im Sommer 1943 von ihrem blinden Vater nach schweren Bombenangriffen auf Hannover auf den Pferdehof Waldeck in Ostpreußen geschickt wird. Zur Sicherheit. Denn eigentlich will Lotte nicht weg, da ihr Vater nicht allein zurecht kommt und sie gerade erst in den Trümmern fast verschüttet worden war und nun weiß, wie hilflos ein Mensch sich im Krieg und im Dunkel fühlen kann. Doch der Vater bekommt Hilfe von einer Nachbarin, die seit dem Tod von Lottes Mutter ein Auge auf den Vater geworfen hat.
An ihrem letzten Tag in der Stadt, an dem Lotte sich von ihren Freunden verabschiedet, begegnet sie Georg, einem Klassenkameraden, dessen Vater als Kommunist im KZ in Dachau sitzt. Innerhalb von wenigen Stunden, die die beiden in den Trümmern Hannovers zusammen verbringen, entwickelt sich eine Freundschaft, die auch über die Entfernung halten soll.

Mit all diesem psychischen Gepäck kommt Lotte wenig später in Waldeck bei Antonia, einer Freundin ihrer verstorbenen Mutter an, die der Familie die Hilfe angeboten hat. Lotte mag Antonia, doch das hilft ihr nur bedingt, sich an das Leben auf dem Hof zu gewöhnen. Im Pferdeland Ostpreußen dreht sich nämlich alles um die geschätzten Trakehner, und das Reiten ist eine unabdingbare Voraussetzung. Lottes Reitkünste sind jedoch ziemlich beschränkt. Und so blamiert sie sich beim ersten Ausritt. Emilia, Antonias Nichte, ebenfalls 14, verspottet das Stadtkind – und es sieht nicht so aus, als könnten die beiden Mädchen Freundinnen werden, wie Antonia es sich gewünscht hat.
Stattdessen soll zunächst Harro, 17, Sohn des ehemaligen Verwalters, Lotte den Umgang mit den Pferden inklusive Reiten und Springen beibringen. Die beiden verbringen Zeit bei Ausritten in den Weiten Masurens, baden in den Seen – und Lotte verknallt sich in den gut aussehenden Jungen. Doch auch Emilia ist in Harro verliebt.
In dieser Konstellation verbringt Lotte ein Jahr auf Waldeck. Anfangs ist der Krieg scheinbar weit weg, zu schön, zu idyllisch ist die Landschaft, zu wichtig die Arbeit mit den Pferden. Doch rasch begreift Lotte, dass hier jede Familie bereits Angehörige im Krieg verloren hat, dass die Zwangsarbeiter nicht ohne Grund auf dem Hof sind, und alle Männer und Jungen fürchten, jederzeit eingezogen werden zu können.

Die Idylle zerfällt. Antonia hört alliierte Radiosender, um über die wirkliche Lage im Krieg besser unterrichtet zu sein. Den Durchhalteparolen und Falschinformationen der Nazis schenken immer weniger Menschen Glauben. Doch Kritik darf man nicht äußern, zu groß ist die Gefahr, verraten und drakonisch bestraft zu werden. Das Leben auf dem Hof wird immer schwieriger. Antonia beschließt, einen Teil ihrer Pferde nach Pommern zu evakuieren – und die Jugendlichen als Begleitung mitzuschicken.
So verlassen Lotte, Emilia und Harro im Herbst 1944 Ostpreußen und landen auf dem Lindenhof bei Stettin, wo Harros Vater und Emilias Mutter, die vor Jahren für einen Skandal auf Gut Waldeck gesorgt haben, zusammen leben. Hier hoffen die drei, dass Antonia mit den Bewohnern Waldecks, darunter Harros Mutter, und den restlichen Pferden zu ihnen stoßen wird. Doch Ostpreußens Gauleiter Koch hat unter Strafe verboten, die Provinz zu verlassen.
Ein eiskalter Winter bricht an, und Anfang 1945 greifen die Russen ultimativ an.
Endlose Flüchtlingstrecks machen sich auf den Weg in den Westen. Als auch Gräfin von Dobschütz, eine gute Freundin Antonias, den Lindenhof auf ihrem Hengst erreicht, erfahren die Jugendlichen, dass Ostpreußen unwiederbringlich verloren ist.

Mehr und mehr merkt Lotte zudem, dass sie – anders als auf Waldeck – nicht mehr zur Gemeinschaft von Lindenhof, der Familie von Harro und Emilia, dazugehört. Für sie wird es Zeit wieder nach Hannover zurückzukehren. Sie kann Gräfin von Dobschütz überzeugen, sie auf dem zweiten Pferd der Gräfin mit nach Westen reiten zu lassen. Entbehrungsreiche Wochen durch Schnee und Kälte beginnen.

Anne C. Voorhoeve, bekannt für die Romane Unterland und Nangking Road, führt auch hier wieder die jugendliche Leserschaft in die düsteren Kapitel deutscher Geschichte. In einem komplexem Plot verpackt sie die Schrecken von Bombenangriffen, Verlust der Heimat und die Verbrechen der Nationalsozialisten auf feinfühlige, aber dennoch eindrückliche Art. Sie erinnert an das alte Leben in Ostpreußen, an den Stolz der Trakehner-Züchter und räumt neben all der Trauer um Menschen und Orte auch den Tieren ihren Raum ein.
Da sie Lotte als Ich-Erzählerin agieren lässt, die sich entweder an Schreckliches erinnert (das Verschüttetsein) oder von anderen die Schrecknisse erzählt bekommt, mildert Voorhoeve das Grauen für die Leser_innen gekonnt ab. So bekommen sie zwar einen Eindruck, was vor allem im Winter 44/45 in Ostpreußen passiert ist, werden aber nicht durch die Gräueltaten traumatisiert. Diese erzählerische Gratwanderung ist hervorragend gelungen.

Die Figur der Gräfin Dobschütz ist zudem eine ganz wunderbare Hommage an Marion Gräfin von Dönhoff, deren eigene Flucht per Pferd nach Westdeutschland hier Pate stand. Realität und Fiktion verweben sich zu einer eindrucksvollen Erzählung, die die Geschichte lebendig werden lässt und die Erinnerung an Menschen und Orte bewahrt.

Das Einzige, was ich nicht gelungen finde, sind, wie schon angedeutet, der Titel und das Cover. Dass es dort nicht einen Hinweis auf den historischen Hintergrund der Geschichte gibt, grenzt für mich schon fast an Lesertäuschung und suggeriert, dass hier eine klassische Mädchen-Pferde-Geschichte erzählt wird. Ich möchte mir die Enttäuschung der Mädchen nicht ausmalen.
Wobei man sich dabei zudem fragen könnte, warum die Geschichte über diese Kombination so angelegt wurde, dass sie für Jungs nicht mehr interessant ist. Dabei besteht die Enkel- und Urenkelgeneration der aus Ostpreußen Geflüchteten ja nicht nur aus Mädchen. Umso mehr würde es mich freuen, wenn auch Jungs den Mut hätten, sich auf diese Geschichte einzulassen – denn das Erzählte geht sie genauso an.

Anne C. Voorhoeve: Gefährten für immer, Sauerländer, 2018, 480 Seiten, ab 13, 17 Euro

Im Hier und Jetzt

wilkeWelches Kind liest ein Buch über ein dickes Mädchen, einen Jungen mit Down-Syndrom und einen mit bunten Haaren, der ein Versprechen an seinen verstorbenen Opa halten will?
Hoffentlich ganz viele!

Jutta Wilkes Stechmückensommer ist so bittersüß, wie es der Titel bereits ahnen lässt. Eine Sommergeschichte, in schönster schwedischer Wald- und Seenlandschaft – jedoch voller quälender Mücken.
Die fast 14-jährige Ich-Erzählerin Madeleine, von allen nur Made genannt, berichtet als extrem gut beobachtende Zeitgenossin von ihren Sommerferien, die sie in einem Ferienlager – ohne die Eltern – verbringen soll. Die Eltern brauchen Zeit für sich, nachdem das zweite Kind tot geboren wurde. Madeleine selbst kann mit diesem toten Bruder, der nie gelebt hat, eigentlich auch nicht umgehen, doch hat sie niemandem, mit dem sie darüber reden kann. Sie fühlt sich unsichtbar, versteckt ihren dicken Körper unter Zeltkleidern und versucht, nur nicht aufzufallen.

Als sie sich auf einem Ausflug in ein Bergwerk früher in den Bus zurückzieht, lernt sie Julian kennen. Dieser klaut den Bus und will damit zum Nordkap, weil er es seinem kürzlich verstorbenen Großvater versprochen hat. Dass dieser Road-Trip zu einem ganz anderen Ziel führt, wird spätestens dann klar, als sich zu diesen beiden unfreiwilligen Reisegenossen auch noch der 16-jährige Vincent gesellt. Der trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Keep calm! It’s only an extra Chromosome“. Seine Eltern scheinen jedoch nicht so cool mit dem Extra-Chromosom umzugehen, verbringen sie doch nur die Ferien mit dem Sohn und schieben ihn die restliche Zeit des Jahres in ein Heim ab.

Mit anderen Worten: Hier treffen drei Jugendliche aufeinander, die alle ihr unbequemes Päckchen zu tragen haben. Als Leser möchte man sie alle drei drücken und trösten – und die Erwachsenen sonst wohin wünschen. Die drei selbst jedoch haben erst einmal keine Zeit fürs Trösten. Das Leben ist nämlich kein Ponyhof, und auch Bullerbü ist in Schweden nur noch schwer zu finden. So raufen sie sich mühsam zusammen. Madeleine kämpft gegen ihre Unsicherheit, Vincent führt allen vor Augen, dass er zwar das Down-Syndrom hat, aber eben kein Idiot ist, und Julian muss schmerzlich von seinem Vorhaben absehen, das Nordkap zu erreichen, und seine persönliche Schwäche eingestehen.

Die Erwachsenen spielen zum Glück keine Rolle bei dem Abenteuer dieses Trios, das zwischen Bäumen, Seen und festgefahrenem Auto sein Coming-of-Age erlebt und eine Ahnung davon bekommt, was im Leben wirklich wichtig ist – trotz all der traurigen Facetten, die das Leben prägen.

Sehr unaufgeregt entwickelt Jutta Wilke diese Geschichte, zeigt mit wunderbarer Leichtigkeit, dass Down-Menschen zu unserer Gesellschaft dazugehören – ohne dass sie mahnend den Inklusions-Zeigefinger hebt. Sie lässt Madeleine erkennen, dass auch sie trotz Übergewicht glücklich sein kann und sich eben nicht verstecken braucht. Und auch für Julian, der hinter all seiner Trauer noch ein weiteres Problem verbirgt, gibt es Hoffnung.

Überhaupt: Hoffnung und die Erkenntnis, dass der wichtigste Moment immer das Hier und Jetzt ist, das lässt einen beglückt zurück – und liefert jungen Leser_innen jede Menge Stoff zum Überdenken eigener Vorurteile, zur Diskussion, wie weit man gehen darf, und wie man sein Leben schließlich selbst besser gestaltet. Und wie wichtig richtig gute Freunde sind.

Jutta Wilke: Stechmückensommer, Knesebeck, 2018, 208 Seiten, ab 10, 15 Euro

Wer ist hier spießig?

pogoWissen Kinder heute eigentlich noch, was Punks sind oder waren? Und mit Punks meine ich nicht Menschen wie Sascha Lobo, die den Iro nur noch als Attitüde tragen.
Eine Antwort auf diese Frage und eine sehr witzig Ahnung vom Punker-Dasein bekommen junge Leser_innen nun mit dem Roman Pogo & Polente von Jochen Till.

Der 12-jährige Pogo, Sohn eines Punkerpärchens, findet diese Lebensweise allerdings nicht so besonders toll: Der Vater Spritti hätte es gern, wenn Pogo unordentlich, unpünktlich und unangepasst wäre. Pogo soll die Schule hassen, schnorren gehen und kalte Ravioli aus der Dose mögen. Doch genau  diesen Erwartungen kann Pogo leider so gar nicht entsprechen: Er ist nämlich Klassenbester, achtet auf die Zeit und hat es gern aufgeräumt. Seinen Namen und den unaussprechlichen zweiten Vornamen hasst er und wird sie, so bald es geht, ändern lassen. Am liebsten in „Thomas“ oder „Markus“ – „irgendetwas Stinknormales auf jeden Fall“. Und er hätte gern ein Smartphone, um auch am Wochenende, wenn die Bibliothek geschlossen hat, im Netz recherchieren zu können. Daher verteilt er heimlich Werbezettel und verdient sich etwas Geld.
Pogo vereint in sich also lauter Eigenschaften, die der Vater als spießig brandmarkt, und ihn dafür regelmäßig bestraft. Dann muss Pogo in voller Lautstärke Punkrock hören, vorzugsweise die Ramones.

In genauso einem Straf-Moment taucht Vanessa auf, die überkorrekte Tochter des neuen Nachbarn. Dieser ist Polizist, und Vanessa eifert ihrem Vater nach, indem sie ständig eine Polizeiuniform trägt und Gesetzesverstöße ihrer Umwelt ahndet. Pogo verpasst sie folglich erst einmal einen Strafzettel wegen Lärmbelästigung. Dieser tauft sie daraufhin auf den Namen „Polente“.
Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft – wenn man mal von Sprittis punkergemäßen Polizeiallergie absieht, die ihn quasi an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringt.

Als in der Stadt plötzlich vermehrt Fahrräder geklaut werden und auch Pogos schräges Schrottfahrzeug mit der Kronkorkenverzierung verschwindet, machen die beiden unterschiedlichen Helden sich auf die Suche nach dem Täter.

Jochen Till spielt in seinem Kinderroman offensiv mit den Gegensätzen zwischen alternativen Punks und korrekten Gesetzeshütern. Doch hinter allem findet man ein riesiges Augenzwinkern bezüglich der angeblichen Unangepasstheit der Punks, die Spritti so vehement vertritt, dass er schon wieder zum Oberspießer mutiert. Das Bild des bösen Bullen hingegen straft hingegen Polentes kumpelhafter Vater Lügen. Und selbst der Fahrraddieb ist eigentlich ein ganz sympathischer Typ, man muss sich eben nur mal trauen hinter die Fassaden zu schauen, die wir alle so gern um uns herum aufbauen.

Diese Geschichte ist ein wunderbarer Spaß und zeigt, dass zwischen den unterschiedlichsten Gruppierungen, mögen sie auch noch so verschiedene Uniformen tragen, manchmal mehr Übereinstimmungen und Verständnis herrschen kann, als wir so vermuten. Eine Erkenntnis, die uns ganz gleich welchen Alters gut zu Geschichte stehen würde.

Und natürlich liegt über allem die Frage: Wer ist hier der Spießer? Und was ist heute eigentlich noch ein Spießer? In unserer differenzierten Gesellschaft, in der unzählige Parallelwelten auf engstem Raum existieren und jeder das eigene Glück sucht und der ganz individuellen Lebensweise frönt, bleibt dann noch die Frage, ob es Spießer eigentlich noch gibt. Mit seinem Wunsch nach etwas „Normalen“ adelt Pogo das Punkerdasein seiner Eltern als genauso nervig wie die Lebensstile anderer Eltern, denen die Kinder so schnell wie möglich den Rücken kehren wollen.

Bleibt schlussendlich die Erkenntnis, dass Eltern nicht unbedingt als Vorbilder taugen und jeder Mensch seinen eigenen Weg im Leben finden muss – und den Lebensstil anderen besser nicht bewerten sollte.

Jochen Till: Pogo & Polente, Tulipan, 2018, 144 Seiten, ab 8, 13 Euro

Einpacken, einstecken, aufdecken

Es gibt Spiele die sind zeitlos gut, so das klassische Ich packe meinen Koffer. Die Autorin Regina Schwarz hat mit der Illustratorin Julia Dürr daraus ein sehr hübsches Bilderbuch gestaltet, das zusammen mit der kostenlos herunterladbaren App vor allem als Anregung zu verstehen ist. „Komm wir wollen Urlaub machen und packen alle Siebensachen …“ und schon geht es los. Was Erwachsene und Eltern meistens eher als anstrengend und lästig empfinden, steigert bei Kindern die Vorfreude auf die Ferien. Besonders wenn nicht unbedingt Vernünftiges in den Koffer wandert, sondern Sachen, deren Einsatz Spaß verheißt, unter anderem Picknickgabeln, Luftmatratze und Leuchtraketen.

Das wird aber, hübsch bunt und collageartig bebildert, den kindlichen Zuhörern nicht einfach so vor den Latz geknallt, sondern als zu erratender Reim. So lässt sich einiges anderes ins Gepäck hineinfantasieren: Warum nicht eine Picknickparabel und eine aufblasbare Fratze einpacken? Auf jeden Fall würde ich mit dem schönen, roten Taschenmesser auch einen Zombiefresser mitnehmen, den kann man immer brauchen (obwohl ich vor anderen lebenden Untoten sehr viel mehr Angst habe, aber das kommt beim nächsten Mal). Natürlich ist der Koffer viel zu klein, und Julia Dürrs lustiges und lebendiges Sammelsurium ergießt sich explosionsartig über mehrere Seiten … auf ein Neues! Ich packe meinen Koffer …

Der freundliche Herr Hoi hat in Pardon Bonbons auch mit Kindern zu tun, die etwas einstecken. Ihm gehört ein kleines Geschäft für Süßigkeiten, wo sich regelmäßig ein paar Kinder Bonbons nehmen, ohne zu bezahlen. Die junge Illustratorin Malin Neumann (1995 geboren) hat zu Marjaleena Lembckes Erzählung teils schwelgerische, doppelseitige Bilder gemalt, mit ungewöhnlichen Perspektiven. Dabei setzt sie nicht auf Bonbonfarben, sondern nimmt ein schönes gedecktes Blau als Grundton, der dem Ganzen etwas Gelassenes und zeitlos Elegantes gibt. Der aus Thailand stammende Herr Hoi glaubt einfach unerschütterlich an das Gute im Menschen. Er ist ein glücklicher Mensch, egal ob eine Kundin ihn ermahnt, „aufzupassen, dass die Kinder Ihnen nicht auf der Nase herumtanzen“ und sein Sohn sich über die Großzügigkeit des Vaters ärgert. „Pardon Bonbons“ sind seine Spezialität und die haben es in sich. Zwar wirbt der Bohem Verlag für das besondere Bilderbuch mit der Erkenntnis, „dass es nie zu spät ist, Entschuldigung zu sagen“, vor allem aber erzählt es von einer Lebenseinstellung, von der wir uns alle mehr als nur ein Stückchen einstecken sollten.

Zeitlose Wahrheiten entdeckt auch Emilia im Geheimnis der gelben Tapete. Andrea Schomburg erzählt in der Tulipan-Reihe Kleiner Roman, erneut sympathisch illustriert von Dorothee Mahnkopf, in zwei Zeitebenen von Freundschaft, Gruppendynamik und Außenseitern. Anscheinend hat es schon immer diese Typen oder – wie hier – biestige Mädchen gegeben, die als cool gelten und andere manipulieren können – bis man in den meisten Fällen merkt, dass es nur langweilige, oberflächliche Hohlbirnen sind.

Das ist harmlos und flott erzählt, ein bisschen im leicht betulichen Stil von Kinderbüchern aus den 50er Jahren, in denen das Geheimnis angesiedelt ist. Eindrückliche Sprachbilder wie in ihrer Erzählung Lisa und das Fluff findet Schomburg diesmal nicht. Doch abgesehen von der klugen Erkenntnis über das Wesen wahrer Freundschaft ist dieser Band Anlass für Erstleser, andere Kleine Romane zu entdecken.

Regina Schwarz: Ich packe meinen Koffer, Illustration: Julia Dürr, Tulipan, 2018, 36 Seiten, ab 4,18 Euro

Marjaleena Lembcke: Pardon Bonbons, Illustration: Malin Neumann, Bohem 2017, 42 Seiten, ab 3, 16,95 Euro

Andrea Schomburg, : Das Geheimnis der gelben Tapete, Illustration: Dorothee Mahnkopf, Tulipan, 2017, 64 Seiten, ab 7, 10 Euro

Glück mit vier Pfoten

Vor kurzem habe ich über einen Wunderhund gemeckert, die schneeweiße Retrieverhündin Alaska in Anna Woltz’ gleichnamigen Roman, weil mir das Tier doch etwas zu gut erschien, um wahr zu sein.

Jetzt kommen hier gleich zwei Hunde vor, und die sind alles andere als immer nur brav und duftend. Mein kleiner Hund Mister und Ein Hund namens Kominek sind zwei absolute Individuen und Charaktertypen, und genau das macht sie so sympathisch. Als Rudel brauchen beide nicht mehr als jeweils einen menschlichen Gefährten und von gehorsam unterordnen kann nicht die Rede sein. Eher auf der Nase rumtanzen und das ist bei Kominek fast wortwörtlich gemeint, doch dazu später mehr.

Mit dem struppigen Hund Mister und dem Erzähler fängt es denkbar zwiespältig und deshalb umso vielversprechender an: „Das ist keine so gute Idee“, sagt der Mann, als eines Tages ein kleiner Hund vor seiner Tür steht und sagt, er wolle bei ihm wohnen. Er habe einfach keine Zeit, er lasse sich nicht gern die Schnauze lecken, und einen Wachhund brauche er auch nicht. „Ich finde, nasse Hunde riechen grässlich“, kommt erschwerend dazu.

Aber der ungebetene Gast, von dem grandiosen Wolf Erlbruch hinreißend lebendig und ausdrucksstark gezeichnet, ist hartnäckig. Und so wird der Mann ein Herrchen wider willen, wobei selbst Herrchen schon viel zu viel vermeintliche Dominanz vorgaukelt. Vor allem ist er Unterhalter, Begleiter und Verfütterer von Leberwurstbroten an seinen haarigen Freund, den er trotz aller Frechheiten schon bald nicht mehr missen möchte.

Der Eingangsszene folgen viele tierisch gute Geschichten, die der Mann dem Hund Mister erzählt, moderne Fabeln und „Menschengeschichten“, wie Mister klug betont, weil sie so sind, wie Menschen glauben, dass Tiere denken und sich verhalten würden. Mister betreibt auf diese Art interessante anthropologische Studien, denen die Leser und Zuhörer durch seine gewitzten Einwände und Nachfragen folgen dürfen.

Der dänische Autor Thomas Winding, geboren 1932 (und 2008 gestorben) schreibt ungeheuer modern, von Gabriele Haefs ebenso frisch und klar übersetzt, allein seine Neuinterpretation des Märchens vom „Fischer un sin Fru“ als Portrait einer glücklichen Ehe lohnt das Buch. Oder die „Geschichte über Hühner im Wohnzimmer“, die von einem in sehr bedrängten Verhältnissen lebenden Mann handelt, der einfach nur mal seine Ruhe möchte und Rat beim Nachbarn sucht. „Es war einmal ein Mann, der allen Grund zum Jammern hatte.“ „Ja, wer hat das nicht“, kommentiert Mister. Nach einigen Tagen wundert er sich zwar über die „bekloppten Ratschläge und fragt sich, ob der Gute den Verstand verloren hat. Und doch gibt es eine überraschende Lösung und ein glückliches Ende.

Glücklich ist auch Mister mit seinem selbstgewählten Zuhause und Gefährten. Aber das war nicht immer so: Beim Anblick eines Spazierstocks reagiert das sonst so selbstbewusste Wesen sehr verstört und verängstigt – weil er als junger Hund gequält und fast totgeprügelt worden ist. Der geprügelte Hund steckt für immer in ihm drin.

Geprügelt wurde der kleine, schwarze Mischling Kominek nicht. Anfangs lebt er glücklich mit dem alten Autoschrauber Tadeusz auf einem Schrottplatz am Rande eines Dorfs am Fuß der Karparten. „Und so soll es für immer bleiben. Aber nichts im Leben ist für immer.“ Tadeusz stirbt. Das ist der traurige und spannende Beginn seiner Freundschaft mit Janusz, dem Klarinette spielenden Briefträger. Auch diese Beziehung beginnt unter widrigen Bedingungen. Und es dauert einige Zeit, bis der verwaiste Vierbeiner Vertrauen fasst und sich schließlich wieder „schnudelwohl“ in seinem Fell fühlt – er ist eine Mischung aus Schnauzer und Pudel.

Die Geschichte von Kominek und Janusz ist auch eine Liebeserklärung an das Land Polen und seine freundlichen Bewohner: 2017 erhielt die in Berlin Kreuzberg lebende Antje Bones ein Künstlerstipendium der Villa Decius in Krakau, das hat sie offensichtlich nachhaltig beeindruckt. Auch der Stadt huldigt sie: „In Warschau spielt die Politik, in Krakau der Jazz“, weiß Janusz und schwärmt von den unzähligen Clubs, die er selbst nur aus Erzählungen kennt. Jazz war schon immer die Musik freier Geister. Für Janusz und Kominek wird es das Tor in die weite Welt und in die Heimat des Jazz, nach Amerika (wobei die USA und geistige Freiheit unter Präsident Trump eher ein Oxymoron sind, aber in Kinderbüchern sei diese Analogie verziehen)

Wahrscheinlich hat der kleine Hund Mister recht und es sind letztlich keine Tiergeschichten, sondern wieder Menschengeschichten. Sie erzählen von unbedingter Freiheitsliebe, vom Respekt für das Individuum und vom großen Glück, das eigentlich ganz einfach ist: ein seelenverwandtes Wesen, genug zu Essen, ein Leben in Freiheit, ohne Angst. Glücklich macht Rumtoben, durch die Gegend stromern, in Dreck wälzen, schubbern, eine schöne Melodie oder ein unverhoffter Sommerferientag am Elbstrand mitten im April.

Natürlich kann ich als Katzenliebhaberin den Hunden nicht ganz das Feld überlassen, und seien sie auch noch so liebenswerte Typen. Dass Katzen nicht nur ganz reizenden Wesen sind, sondern auch ausgesprochen nützlich sein können, zeigt das Bilderbuch Sechs Gründe für schwarze Katzen der Italienerin Francesca Cosanti.

Mit viel Witz und Humor versucht Lili ihrer Mutter die große Schar schwarzer Samtpfoten schmackhaft zu machen: Nicht nur „sehen sie schöner aus als Gartenzwerge“, sie lassen sich auch vielseitig als stilvolle Accessoires aus dem Schöner-Wohnen-Spektrum verwenden: Zum Beispiel als hübsche Sofakissen, Buchstützen und Kleiderbügel. Die flächigen, farbenfrohen Bilder sind eine Augenweide und sehr überzeugend. Obwohl Cosanti auf dem hinteren Vorsatzpapier zeigt, dass Katzen natürlich lebendige Tiere mit eigenen Köpfen und nicht nur dekorativ sind. Deshalb unbedingt Restexemplare diese schnurrigschönen Buchs von 2012 kaufen.

Thomas Winding: Mein kleiner Hund Mister, Übersetzung: Gabriele Haefs, Illustrationen: Wolf Erlbruch, dtv Reihe Hanser, 2018, 160 Seiten, ab 8, 10,95 Euro

Antje Bones: Ein Hund namens Kominek, Illustrationen: Jasmin Schäfer, Knesebeck, 2018, 128 Seiten, ab 6, 13 Euro

Francesca Cosanti: Sechs Gründe für schwarze Katzen, aracari, 2012, 32 Seiten, ab 4, gebraucht ab 5,50 Euro

Auf den Hund gekommen

Der denkbare schlechteste Start in der neuen Klasse: Die 13-jährige Parker lässt sich hinreißen, bellt aus Spaß bei der Kennenlernrunde„Jingle Bells“ – und bekommt prompt den Spitznamen „Barker“ verpasst. Sven, der schlechte Witze auf ihre Kosten macht, um cool zu wirken, gibt selbst plötzlich merkwürdige Geistergeräusche von sich. Und muss allen sagen, dass er Epilepsie hat. Zwei Freaks knallen aufeinander.

In der Nacht begegnen sie sich erneut und sind ganz anders: Parker ist keine Witzfigur, sondern eine faszinierende Einbrecherin. Eine, die das Vertrauen in die Menschen verloren hat und sich nach einem bestimmten Lebewesen sehnt. Und Sven kann mir ihr reden, über seine Krankheit, die vor einem Jahr plötzlich begann und seitdem sein Leben bestimmt. Über seine Angst vor dem nächsten Anfall. Über seine Hilflosigkeit. Zwei verletzte Seelen nähern sich behutsam einander.

Die Verbindung zwischen Parker und Sven, zwischen ihren knalligen Images tagsüber und ihren sensiblen Nachtseiten, ist ein Hund. Genauer gesagt: Jene titelgebende Alaska, eine schneeweiße Golden-Retriever-Hündin. Jenes geliebte Wesen, von dem Parker sich vor vier Monaten trennen musste, weil einer ihrer kleinen Brüder allergisch reagierte. Und die jetzt als sogenannter Assistenzhund bei Sven lebt, von ihm „das Tier“ und „haariges Monster“ genannt, weil ihre Anwesenheit ihn ständig an seine Krankheit erinnert.
„Und da musste der Hund weg?“, fragt Sven seine nächtliche Besucherin.
„Oder Joey“, sagte sie. „Aber meine Eltern wollten ihn behalten. Also musste Alaska weg.“ Und riss ein hundeförmiges Loch in das Herz des Mädchens, dessen Leben ein paar Wochen später erschüttert wird durch einen Raubüberfall auf das Fotogeschäft ihrer Eltern. Parker muss, versteckt hinter einem Vorhang, ohnmächtig miterleben, wie ihre Mutter geschlagen und ihr Vater niedergeschossen wird. Weil die Täter entkommen, ist die Angst seitdem auch ihr ständiger Begleiter.

Ausgedacht hat sich diese vielschichtigen Charaktere die niederländische Autorin Anna Woltz in ihrem nun vierten Roman. In einem Alter, in dem man ohnehin unsicher ist, auf der Suche nach einem Sinn und sich selbst, wenn ein banaler Pickel einen schon aus der Bahn wirft, kann eine unkontrollierbare, beherrschende Krankheit, die einen mit dem Kopf auf den Boden knallen und „sabbernd und mit Gehirnerschütterung“ aufwachen lässt, einem komplett den Boden unter den Füßen wegreißen. Ebenso der Verlust eines geliebten Tieres.

Woltz lässt Sven und Parker aus wechselnder Perspektive erzählen und entspinnt grandiose Dialoge zwischen ihnen. Verständlich, dass Woltz die Lieblingsautorin der Übersetzerin Andrea Kluitmann ist, die erfrischend und glaubwürdig aus dem Niederländischem übersetzt. Mal komisch, mit trockenem Humor und Selbstironie, mal behutsam, dann wieder von entwaffnender Direktheit: „Das will jeder. Etwas Großartiges machen, damit die ganze Schule sofort weiß, wer man ist. Aber klappt das auch? Natürlich nicht! Das liegt wirklich nicht an deiner Epilepsie“, flüstert Parker. „Was hast du erwartet? Dass du Harry Potter bist? Dass man schon seit Jahren auf dich gewartet hat? Dass du die ganze Welt rettest?“

Später blafft Sven Parker an: „Sieh dich um Barker. Alle haben Angst. Oder sie haben nur mal kurz keine Angst – das ist so ziemlich dasselbe. Alle wissen, dass die Welt verdorben ist. Aber warum darfst du mehr Angst haben als alle anderen? Warum darfst du ständig darüber jammern und wir müssen einfach weitermachen mit dem Leben?“

Das erinnert an eine grandiose Szene aus Ally McBeal, in der die Titelheldin gefragt wird, warum eigentlich ihre Probleme immer so wichtig seien. Und Ally antwortet: „Weil es MEINE Probleme sind!“ Wie Sven und Parker nicht nur mit ihrem eigenen Leben weitermachen, wie sie beide über ihren Schatten und dem anderen zur Seite springen, und schließlich mit großem Mut für den anderen da sind – das ist die packende und zum Hinschmelzen schöne Geschichte von Freundschaft und größter Zuneigung.

Zuletzt noch eine kleine Mäkelei: So hübsch die Hündin als treues Bindeglied auch ist, wirkt sie doch etwas zu gut, um wahr zu sein. Kein Zweifel, dass manche Tiere einen sich anbahnenden epileptischen Anfall spüren und rechtzeitig vor dem Fallen warnen können. Aber dass ein Hund wirklich nur aus Wohlgeruch, Wärme und Verantwortungsbewusstsein besteht, sodass auch Sven schließlich vom haarigen Monster ganz hin und weg ist, erscheint doch etwas zu viel des Guten. Trotz Wunderhund ist es aber wieder ein wunderbarer Roman.

Anna Woltz: Für immer Alaska, Übersetzung: Andrea Kluitmann, Carlsen, 2018, 176 Seiten, ab 10, 12 Euro

Goldrichtig

dumplinWillodean, 16, ist dick. Sie sagt es selbst von sich, am liebsten noch bevor andere sie merkwürdig anschauen oder einen dummen Spruch machen. Dicke Menschen haben es nicht einfach, das ist bekannt, in Zeiten von Magermodels und TV-Formaten wie „GNTM“ oder „The Biggest Loser“. Man nennt so etwas auch Gewichtsdiskriminierung.

Julie Murphy erzählt in ihrem Roman Dumplin‘. Go big or go home von eben so einem Mädchen, das nicht den angeblichen Schönheitsidealen der Gesellschaft entspricht. Will arbeitet im Burger-Laden, liebt Dolly Parton und trauert um ihre früh verstorbene Tante Lucy, die zum Schluss 225 Kilo wog. Von ihrer Mutter wird sie Dumplin‘, also Kloß, genannt, was Will mehr und mehr ärgert. Denn sie fühlt sich wohl in ihrem Körper und hat nicht vor, sich zu verändern oder ihre Essgewohnheiten aufzugeben. Will ist bei allem aber nicht das verschüchterte, unsichere Mädchen, sondern hat Ecken, Kanten und viel Selbstbewusstsein, weshalb sie nicht immer nur nett und zurückhaltend ist. Dann lernt sie im Job den schönen Bo kennen und verknallt sich. Bei Bo ist jedoch nicht ganz klar, ob er es ehrlich mit Will meint oder nur mit ihr spielt.

Als Will schließlich unter den Hinterlassenschaften ihrer Tante ein Anmeldeformular für den Schönheitswettbewerbs des Ortes findet, den ihre Mutter seit Jahren voller Leidenschaft und mit viel Selbstdisziplin leitet, meldet sie sich an. Mag es am Anfang eine Laune, ein nostalgischer Akt sein, doch sie tut es ganz bewusst und in dem Wissen, dass sie nie eine Chance haben wird.

Hier kommt beim Lesen zum ersten Mal extremer Klischeeverdacht auf, man möchte ahnen, dass sich hier eine Cinderella-hässliches-Entlein-Verwandlungs-Errettungsgeschichte anbahnt. Doch in diese Fallen tappt die Autorin glücklicherweise nicht. Sie stellt Will viel mehr drei weitere Mädchen an die Seite, allesamt Außenseiterinnen wegen ihres nicht normgerechten Aussehens, die sich, durch Will ermutigt, ebenfalls zu dem Wettbewerb anmelden. Auch sie sind natürlich chancenlos. Doch darum geht es den Mädchen – und den Leserinnen – dann irgendwann auch gar nicht mehr.

In diesem locker erzählen Unterhaltungsroman emanzipieren sich diese vier Heldinnen von den Zwängen der Gesellschaft, erobern sich ihren Platz, zeigen, was sie jenseits ihres Aussehens drauf haben. Ja, doch, in diesem Sinne bleibt es beim Klischee, aber es ist so liebevoll gemacht, so geschmeidig geschrieben, auch durch die Übersetzung von Kattrin Stier, dass man als Leserin nicht umhinkann diese vier zu lieben. Sie sind die eigentlichen Schönen der Geschichte, gegen die die anderen Teilnehmerinnen des Schönheitswettbewerbs wie Hungerhaken und überzeichnete Karikaturen der Modelszene daherkommen.

Allen Mädchen, die mehr Gewicht auf die Waage bringen oder nicht den Medien-Idealen entsprechen, schreibt Julie Murphy aus dem Herzen. Denn in einer Gesellschaft, in der die Medien mager als schön definieren, in denen verzerrende Kameras vorgeben, wie man vermeintlich besser auszusehen hat, und in der dicke Menschen öffentlich in Abnehm-Shows wie Freaks vorgeführt werden, ist es verdammt schwierig, sich selbst zu mögen, wenn man genau diesem Bild nicht entspricht. Sich mit seinen eigenen Pfunden und Rundungen der Öffentlichkeit zu stellen, sich dem Fat- und Bodyshaming-Storm auszusetzen gilt immer noch als mutig. Doch Will, die mit ihrer Teilnahme am Schönheitswettbewerb genau das tut, sagt: „Ich will nicht, dass es mutig ist. Ich will, dass es normal ist.“

Genau darin liegt die Stärke dieses Romans. Er macht Mut, sich zu stellen, er feiert die Differenz, aber er fordert auch von den anderen, den angeblich „Normalgewichtigen“, ihre Beurteilungen und Wertungen, ihre angeblichen „Normen“ und oberflächlichen Standards zu hinterfragen und sie endlich abzulegen. Der Mensch ist nämlich mehr als seine Kleidergröße.

Genau damit befasst sich auch der Roman Tanz der Tiefseequalle von Stefanie Höfler, der gerade für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 nominiert wurde.

Sie stellt jedoch den dicken Niko, 14, in den Fokus ihrer Geschichte. Niko scheint das perfekte Mobbingopfer zu sein. Durch seinen Körperumfang fällt er auf, kommt beim Sport nicht mit, steht unter Dauerbeobachtung und ist permanenten Hänseleien und Vorurteilen ausgesetzt.

Auch Sera, die Klassenschönheit mit ägyptischen Wurzeln, lacht zunächst über Niko. Doch sie, die zwar eher lakonische Sätze von sich gibt, ist eine genaue Beobachterin und stellt fest, dass Niko alle Attacken seiner Mitschüler mit stoischem Gleichmut erträgt. Als Niko dann auf dem Schulausflug Sera vor dem sexuellen Übergriff des angesagtesten Jungen schützt, kommen die beiden sich näher.

Voller Verwunderung und Unglauben nähern die beiden sich an. Sera kämpft gegen die gängigen Vorurteile gegenüber Dicken, Niko hadert, ob sich ein hübsches Mädchen wirklich für ihn interessieren kann. Höfler lässt die beiden je aus ihrer eigenen Ich-Perspektive erzählen, sodass die Leser_innen immer dicht an der Gefühlswelt der Helden dran sind – und sich durchaus ertappt fühlen können, was die eigenen Sichtweisen auf Menschen mit anderem Aussehen angeht.

Auch Niko hat, trotz aller psychischen Gründe für seine Statur, nicht vor, etwas an sich zu ändern, sondern sehnt sich nach uneingeschränkter Akzeptanz, also ebenfalls nach einem Zustand völliger Normalität. Dabei ist Normalität eigentlich der falsche Begriff, steckt doch schon wieder der Ausdruck „Norm“ darin. Viel eher sollte man von Gewichtsvielfalt sprechen und damit klar machen, dass alle Menschen, egal, wie sie aussehen, genau goldrichtig sind. Gerade in Zeiten eines Übermaßes an Selbstdarstellung, Ab- und Ausgrenzung, weil man sich dann angeblich besser fühlt (in jeglicher Hinsicht), kann man diese Aussage, die eigentlich banal ist, nicht oft genug wiederholen.

Dumplin‘ als Unterhaltungsroman wird sein Publikum finden, der Tanz der Tiefseequalle hat es schwerer, denn es ist leider kaum anzunehmen, dass dicke Jungs ein Buch mit diesem Thema lesen werden. Zumal sie ja nicht die sind, die sich ändern sollen, sondern die Menschen, die ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle machen. So kann man eigentlich nur hoffen, dass Höflers Buch es als Schullektüre zu den Jugendlichen schafft und dort ein neues Klima im Umgang miteinander schafft. Das wäre goldrichtig.

Wer sich in Sachen Gewichtsdiskriminierung weiter informieren will – auch wie man sprachlich dicke Menschen nicht diskriminiert (z.B. durch den Verzicht auf Begriffe „Übergewicht“, was auf eine Normabweichung verweist, „moppelig“ oder „stark“, die euphemistische sind – dem sei die Website der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung empfohlen, zu finden hier.

Julie Murphy: Dumplin‘ – Go big or go home, Übersetzung: Kattrin Stier, Fischer FJB, 2018, 400 Seiten, ab 14, 18,99 Euro

Stefanie Höfler: Tanz der Tiefseequalle, Beltz, 2017, 192 Seiten, ab 12, 12,95 Euro

 

Nur mit Verstand sieht man gut

PrinzMeine erste Begegnung mit Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz war nicht in Buchform, sondern auf der Bühne, genauer gesagt als Marionettentheater. Den Fuchs, der gezähmt werden will, und den Biss der Schlange zum Schluss erinnere ich vage. Am lebhaftesten ist mir die kürzeste Textpassage in der Puppen- Darstellung in Erinnerung geblieben: Die des Säufers, dem der kleine Prinz auf seiner Rundreise über seine Nachbarplaneten begegnet. Wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass er in der Inszenierung gesagt hat, er trinke, weil er traurig sei, und sei traurig, weil er trinke, der Originaltext „vergessen, dass ich mich schäme“ war mir nicht präsent. Das fand ich einleuchtend und die traurigen Gestalten dazu, sogenannte „Penner“, kannte ich vom Sehen aus der Altstadt und später nicht nur dort.

Das Originalbuch habe ich tatsächlich nie gelesen. Es wird leider immer auf das Zitat „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ reduziert. Und dieser furchtbar Paulo-Coelho-hafte Sinnspruch, tausendfach verewigt auf Kaffeetassen, Radiergummis und Postkarten, wirkte auf mich bisher abschreckend.

Jetzt hat Isabel Pin für den Karl Rauch Verlag, der die deutschen Rechte am Original hat, unter dem Titel Kinder, wenn Euch ein Kleiner Prinz begegnet … die Geschichte für Kinder im Vorschulalter neu erzählt. Die Illustrationen sind die originalen des Autors, der Text wurde auf etwa ein gutes Viertel reduziert. Nur auf dem roten Vorsatzpapier sind sehr hübsche, von Pin gezeichnete, Wüstenfuchsköpfe zu sehen. Jetzt kann man natürlich fragen, warum so junge Kinder unbedingt diesen Text vorgelesen bekommen müssen, aber das ist eine Frage, die sich für viele Leute, denen de Saint-Exupérys Büchlein heilig ist, offensichtlich nicht stellt. Man merkt, ich stehe dem Projekt insgesamt etwas skeptisch gegenüber, wie auch der zwanghaften Modernisierung von Klassikern sowie einem vermeintlichen Kanon, was Kinder lesen und kennen sollten, im allgemeinen.

Deshalb gleich gerade heraus: Die kindgerechte Aufbereitung ist teils gut, teils schlecht. Insgesamt sind die Kürzungen gelungen, besonders auf das letzte Fünftel des Originals, die doch sehr rührselig und unvermutet leicht schwadronierende Todesszene und abschließende Gedanken, kann man sehr gut verzichten. Einige Passagen lesen sich fokussierter und gewinnen dadurch. Man merkt, dass die Kinderbuchautorin und preisgekrönte Illustratorin Isabel Pin als Tochter einer Deutschen und eines Franzosen in beiden Sprachen zu Hause ist.

In ihrer Version macht sich ein Problem aber schon mit dem neuen Buchtitel bemerkbar: „Kinder, wenn Euch …“. Störend wird diese direkte Ansprache, auf der ersten Seite im Vorwort: „Passt bitte gut auf, Kinder, es fängt an …“ Dieses etwas plumpe Abholen zieht sich vom Tonfall durch Pins gesamten Text. Ein guter Freund  von mir reagiert zu Recht aggressiv, wenn man im Gespräch sagt: „Jetzt pass auf!“, impliziert es doch, dass er seinem Gegenüber bis dahin nicht wirklich zugehört hat.

Verloren hat eine Schlüsselszene, als der Fuchs dem Prinzen erklärt, was es heißt, ihn zu zähmen: „Zähmen“, sagte der Fuchs, „bedeutet jemanden kennenzulernen und sich an ihn zu gewöhnen.“ Im Original kommt ein sehr essenzielles Wort vor für das, was Zähmen, also Freundschaft, bedeutet: „Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“, sagte der Fuchs. „Es bedeutet, sich vertraut machen.“ Vertrauen ist ein soviel stärkerer Begriff als kennenlernen.

Verloren gegangen ist auch Antoine de Saint-Exupérys lakonische Sprache, sein trockener Humor und seine Illusionslosigkeit ob der „großen Leute“. Dass Erwachsene alles nur in monetären Werten bemessen und Vorurteile ihre Wahrnehmung bestimmen (und die Entdeckung des Heimatplaneten des kleinen Prinzen ungehört bleibt, weil der türkische Astronom keinen westlichen Anzug trägt), geht in Pins Neuerzählung ebenfalls unter. Gestrichen ist auch eine starke Szene zum Schluss des Originals, in der es um die missglückte Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen geht: Wenn für Kinder wichtige Fragen unbeantwortet bleiben, weil die Großen sich mit vermeintlich relevanteren Problemen rumschlagen und gedanklich woanders sind; wenn, wie so oft, die großen Fragen vom schnöden Alltag gefressen werden.

Der Kleine Prinz handelt von Freundschaft. Und davon zu verstehen, wie Erwachsene ticken, sich mit ihrer Welt zu arrangieren und trotzdem Phantasie und ideelle Werte zu bewahren. Gewonnen hat auf jeden Fall das Original von 1946, beziehungsweise in meinem Fall die zeitlos moderne Übersetzung von Grete und Josef Leitgeb für den Karl Rauch Verlag 1956. Ich habe entdeckt: Der kleine Prinz ist viel mehr als ein billiger Kalenderspruch.

Isabel Pin: Kinder, wenn Euch ein Kleiner Prinz begegnet …, Antoine de Saint-Exupérys Der Kleine Prinz erzählt für Kindern, mit Originalillustrationen des Autors, Karl Rauch Verlag, 2018, 64 Seiten, 3 bis 6, 12 Euro

Hummel, Hummel – Mors, Mors

Sbuchholzimone Buchholz wird vielen von euch vermutlich als Krimi-Autorin bekannt sein. Nun hat sie ihr erstes Kinderbuch vorgelegt – ich als Hamburgerin, die eher selten Krimis liest, war nun doch neugierig.

In Johnny und die Pommesbande erzählt Buchholz von der Clique um den 12-jährigen Johnny, der bei seinem Opa, einem alten Seebären, in einer Hafenstadt aufwächst.
Johnny ist mit seinen Kumpels, Ella, der Seiltänzerin, Sue und Buxe, den Zwillingen, Carlos, seinem besten Freund, und Tomek, dem Hafentroll, der auf einem alten Kahn wohnt, täglich an der Waterkant unterwegs. Sie haben eine clevere Masche entwickelt, um ihr Taschengeld aufzubessern. Ahnungslosen Touristen, die von Hafen und Kiez so dermaßen beeindruckt sind, dass sie kaum noch klar denken können, bieten die Kids an, die Sache mit der Kurtaxe für sie zu übernehmen. Ein einträgliches, wen auch nicht ganz legales Geschäft. Aber wie es im Leben so geht, reicht irgendwann das eigene Revier nicht mehr aus und die Kids streben nach Expansion.

So trauen sich Johnny und seine Freunde nach eingehender Diskussion auf die Meile. Dort ist alles bunt, schrill und voller Blingbling – und es gibt noch mehr Touristen, die den Mund vor Staunen nicht mehr zubekommen. Das Geschäft läuft.
Bis die Helden auf eine picklige Bande voller Halbstarker treffen, die es gar nicht gern sieht, wenn jemand in ihrem Revier wildert. Der Stress ist programmiert, und eines Tages verwüsten die Pickel-Brüder den Kiosk von Ellas Eltern und drohen, Schlimmeres anzurichten …

In herrlich schnoddriger Art lässt Buchholz Johnny von den Abenteuern der Clique berichten. Die Namen Hamburg, St. Pauli oder Reeperbahn fallen dabei nicht einmal. Doch jeder Hamburger hat sofort die entsprechenden Straßen und Viertel vor Augen – und freut sich. Alle Nicht-Hamburger bekommen ein cooles Gespür für die Hafenstadt vermittelt.

In Sachen Freundschaft und Gemeinschaftsgefühl finden junge Leser_innen hier großartige Vorbilder, bei denen jede_r seine/ihre Eigenarten hat, die allseits akzeptiert werden. Zusammen bilden die Kids so etwas wie eine Familie, in der die Erwachsenen nur am Rande eine Rolle spielen. Hier macht ihnen niemand Vorwürfe, sondern die Bande merkt selbst sehr schnell, was okay und was nicht gut ist. Auch verurteilt niemand ihre Kurtaxen-Abzocker-Nummer, was völlig in Ordnung ist – denn wenn Touristen zu dusselig sind, den Trick zu durchschauen, müssen sie eben bluten.

So entwickelt sich Buchholz‘ Geschichte zu einem spannenden, unkonventionellen Lesespaß ohne Moralkeule – und man wünscht sich, dass die Kinder auch im echten Leben immer noch solche Banden bilden und draußen auf der Straße echte Abenteuer erleben, und nicht nur vor Bildschirmen hängen oder von Helikoptereltern in abgezäumten Spielwiesen gehalten werden. Bei erwachsenen Leser_innen mag diese Geschichte einen Hauch von Nostalgie hinterlassen, die jungen mögen nach der Lektüre hoffentlich hinaus auf die Straße wollen und ihren Kiez erkunden. Und in ihrer restlichen Freizeit vielleicht mehr von solch unterhaltsamen Büchern lesen!

Simone Buchholz: Johnny und die Pommesbande, Illustration: Horst Klein, Dressler Verlag, 2018, 160 Seiten, ab 10, 12 Euro

Herzensbildungsreise

leeDie Mitte ihres Leibes ist vom Nabel bis zum Brustbein frisch vernäht, und ein rötlicher Schimmer dringt von innen durch die Haut, wie wenn eine Laterne unter einem Laken brennt. „Also gut.“ Er packt die Pistole am Lauf, holt aus und zertrümmert der Frau den Brustkorb. Es klingt, wie wenn ein Stein durch eine Eisdecke bricht. Und da liegt das Herz. Es schlägt nicht eigentlich, sondern pulsiert wie eine Wunde.

Dieses Herz soll das Allheilmittel und die Lösung existenzieller Probleme sein. Es soll auch Montys Liebe retten. Die Suche danach hat den jungen Engländer von Frankreich über Barcelona bis in die Gruft auf einer versinkenden Insel vor Venedig getrieben. Und doch muss dieses Herz jetzt vernichtet werden, bevor noch mehr Unheil deswegen geschieht.

Passend zum 200. Geburtstag von Mary Shelleys unsterblichem Klassiker über menschliche Allmachtsphantasien verbreitet die Autorin Mackenzi Lee in ihrem furiosen Historienroman Cavaliersreise, übersetzt von Gesine Schröder, sanftes Frankenstein-Grauen.

Ebenso passend und weiblich pragmatisch packt ausgerechnet Montys jüngere Schwester beherzt zu und beendet den makabren Spuk. Wie hatte sie zuvor sehr richtig bemerkt und damit den jungen Männern die Schamesröte ins Gesicht getrieben: „Frauen können es sich nicht leisten, in Bezug auf Blut zimperlich zu sein.“

Ein solch gruseliges Finale der gemeinsamen Bildungsreise hätte sich weder Henry Montague, genannt Monty, noch sein gestrenger Vater in ihren kühnsten Träumen ausdenken können. Ihre Albträume hatten auch mit Herzensangelegenheiten zu tun, aber ganz anderer Art.

Vor wenigen Monaten noch war Monty halbnackt und verdreht, mit Megaschädel und ohne Erinnerung an den vorherigen Abend aufgewacht, schlonzte kurz am Frühstückstisch vorbei, küsste flüchtig seine Mutter zum Abschied, ließ eine ätzende Unterredung mit seinem Vater über sich ergehen und sprang in die Kutsche. So unbekümmert und formvollendet nonchalant würde man auch gern reisen. Für Monty und Percy, seinen Freund seit Kindertagen, ist es der Auftakt zur Cavaliersreise. Auf die begaben sich im 17. und 18. Jahrhundert junge Adelige nach dem Schulabschluss, um sich zu bilden in Kunst und Architektur, um klassische Kapitalen kennenzulernen wie Rom, Paris, Wien, Florenz oder Amsterdam, und um Verbindungen zu knüpfen in der gehobenen, herrschenden Gesellschaft Europas. Und nicht zuletzt, um sich noch einmal richtig auszutoben, bevor sie Verantwortung für Gut und Ländereien übernehmen.

Heute reist man ganz demokratisch und klassenübergreifend per Billigfluglinie, wobei der Bildungsaspekt mittlerweile kaum eine Rolle spielt und von anschließendem seriösen Lebenswandel auch nicht auszugehen ist.

Was ein großer Spaß für den 18-jährigen Monty und seinen Freund Percy werden könnte, bekommt gleich einen fetten Dämpfer: Nicht nur müssen sie Montys jüngere, ernsthafte Schwester Felicity mitschleppen, die kaum ihre bebrillte Nase aus ihren Schundromanen nimmt. Als absolute Spaßbremse wird ihnen noch ein Tutor aufgedrückt, mit allen notwendigen Reisepapieren und strengem Zeitplan sowie erzieherischem Auftrag.

„Ich verspüre den Drang, mich auf seine Schnallenschuhe zu übergeben“, kommentiert Monty für sich den ungewünschten Reisebegleiter. Aber man ahnt, dass sich hinter seiner reizend schnodderigen Fassade tiefe Gefühle und große Ängste verbergen. Und er wiederum kapiert, dass auch Percy und Felicity Geheimnisse haben. Und überhaupt ist die Welt ganz anders, als er sie bisher aus seiner privilegierten Perspektive als junger, attraktiver, wohlhabender und weißer Mann wahrgenommen hat. Allein für diese Erfahrung lohnt sich die Reise.

Schon bald ist klar, dass die amerikanische Historikerin Mackenzi Lee nicht nur eine packende Abenteuergeschichte geschrieben hat, gewürzt mit reichlich Promille und Flirts, prunkvollen Festen und üppigen Kostümen, inklusive Verfolgungsjagden, Räubern und Piraten. Wenn Monty aufgescheucht von einem Techtelmechtel nackt über den Rasen von Versailles flitzt, muss ihm seine kleine Schwester sagen, dass die Situation für ihn jetzt ein vielleicht ein bisschen peinlich ist, für sein Gespielin aber mehr als den sozialen Tod bedeutet.

Und nicht nur Felicitys vermeintliche Liebeslektüre lehrt einen einmal mehr, dass man ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen soll: Nur weil für Monty Percys dunkle Hautfarbe – Percys früh verstorbene Mutter stammt aus der britischen Kolonie auf Barbados – kein Thema ist, sondern ihn in Montys Augen eher noch attraktiver macht, ist der relativ behütet aufgewachsene, farbige Junge trotzdem alltäglichem Rassismus und Vorurteilen ausgesetzt. Wie auch Montys Schwester als Mensch zweiter Klasse gilt, eben weil sie ein Mädchen ist. Beiden wird eine fundierte Ausbildung, ein Studium und ein selbstbestimmtes Leben verweigert.

Selbst Monty darf nicht so leben und vor allem nicht so lieben, wie er will. Wie ein blutroter Faden zieht sich seine Herzensangelegenheit durch die Geschichte. Es ist das ewige, verwirrende, erregende, auch nervtötende Spiel aus Anziehung und Zurückstoßen, Schüchternheit und Mut, Sprachlosigkeit und der Angst endgültig die Antwort zu bekommen, die man am meisten fürchtet, die Angst vor dem Verlust. Hier wird sie nicht unwesentlich dadurch kompliziert, dass Monty Percy liebt, einen Mann, und sich nach dessen Körper sehnt. Vor 200 Jahren galt die sogenannte „Sodomie“ als Kapitalverbrechen und ist auch erst seit den 1970er-Jahren kein Verbrechen mehr – hierzulande.

Es ist eine packende Herzensbildungsreise: Für Monty, der immer ein charmanter Exzentriker bleiben wird, nun gezeichnet mit ein paar Narben und oberflächlich nicht mehr ganz so schön, dafür innerlich gereift und wesentlich weniger egoistisch. „Tausend Meilen musste ich reisen, um zu begreifen, dass ich nicht so übel bin wie meine übelsten Taten“, schreibt er abschließend aus dem griechischen Exil. Und für den Leser, der diesen kuriosen Gentleman mit dem größten Vergnügen fast 500 Seiten lang begleitet.

Mackenzi Lee: Cavaliersreise. Bekenntnisse eines Gentlemans, Übersetzung: Gesine Schröder, Carlsen, 496 Seiten, ab 16, 19,99 Euro