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Freunde auf dem Holodeck

whaleyDas Leben ist kein Ponyhof. Auch ohne Kriege, Hungersnöte und Naturkatastrophen ist es nicht einfach, in der Welt klarzukommen. Zu sagen, „der Mensch ist des Menschen Wolf“, wäre falsch, weil ein Wolf im Gegensatz zum Menschen nicht bewusst und ohne Kalkül handelt. Menschen verletzen einander, haben Vorurteile, grenzen aus, erwidern Liebe nicht, leben sich auseinander, entwickeln konträre Meinungen und inkompatible Pläne. Gemeinsames Glück ist selten von Dauer, dazu kommen noch Tod und Schmerz. „Zu viel Gefühl“, wie Annette Humpe mit der brillanten Band Ideal einst sang. Ziemlich normal, dass das Angst macht und verunsichert. Trotzdem haben sich fast alle damit arrangiert.

Manche halten diese Welt aber nicht aus. So wie der 16-jährige Solomon Reed, der in John Corey Whaleys drittem Roman Hochgradig unlogisches Verhalten das Haus nicht mehr verlässt. Vor drei Jahren, an seinem letzten Tag in der Schule, hat er sich während einer Panikattacke ausgezogen und in den Brunnen gesetzt. Auch zu Hause leidet er unter furchtbaren Anfällen, mit Herzrasen, Schwindel, Atemnot, aber seltener und nicht exponiert.

Solomon hat einen pragmatischen Blick auf seinen Zustand: „Nach dem Brunnen war ihm klar, was er zu tun hatte. Weg mit allem, was Panik auslöst. Er wunderte sich, warum die anderen das nicht verstanden. Er wollte einfach nur ohne Todesangst leben. Manche Menschen kriegen Krebs. Manche werden verrückt. Keiner käme auf den Gedanken, einem Krebskranken die Chemo auszureden.“ Ein Plädoyer dafür, psychische Krankheit gleichberechtigt mit körperlichen Gebrechen anzuerkennen. Laut aktuellen Studien haben beispielsweise Menschen mit Depression mit dem Vorurteil zu kämpfen, sie litten unter Charakterschwäche und müssten sich einfach mal zusammenreißen.

Solomons Agoraphobie, seine Angst, das Haus zu verlassen, macht ihn für Lisa Praytor interessant. Die 17-Jährige will sich um ein Stipendium für ein Psychologiestudium bewerben, an der zweitbesten Universität für diesen Studiengang, um dort dann die Beste werden zu können. Sie erinnert sich noch an ihren früheren Mitschüler im Brunnen, wie er nackt und nass vom Direktor, notdürftig mit einem Jackett bekleidet, weggeführt wurde und nicht mehr zurückkehrte. Über ihn will sie den für das vollbezahlte Studium notwendigen Aufsatz mit dem Thema „Meine persönliche Erfahrung mit psychischen Erkrankungen“ schreiben. Und nebenbei glaubt sie, Solomon aus dem Haus bringen und heilen zu können. Deshalb schreibt sie ihm einen rührseligen Brief, in dem sie ihre wahren Motive verschweigt, stattdessen Empathie und Sorge vortäuscht und ihm ihre Freundschaft anbietet.

Und Lisa Praytor, diese extrem ehrgeizige, zielstrebige, perfekte, immer 150 Prozent gebende, von sich selbst mehr als überzeugte und eingenommene Schülerin ist alles andere als wirklich sympathisch. Selbst wenn man erfährt, warum sie sich so verhält: „Lisa hatte von ihrer Mutter einige wichtige Dinge gelernt. Wie man sich beim Autofahren schminkt, wann man weiße Schuhe tragen kann und wann nicht – solchen Sachen. Aber vor allem hatte Lisa gelernt, sich im Leben nicht alles gefallen zu lassen. Sie hatte keine Lust, so zu enden wie ihre Mutter: überarbeitet, leicht depressiv und in dritter Ehe unglücklich.“ Und Lisa will unbedingt weg aus Upland, einer kleinen Stadt in Kalifornien. Erstaunlicherweise wird sie aber auch am meisten in dieser Geschichte lernen.

Genau das macht einen Reiz dieses aus wechselnder Perspektive erzählten Romans aus: Die vielschichtigen, plastischen und lebendigen Charaktere, die sich selten so verhalten wie man es erwarten würde. Da ist zum Beispiel der dritte im Bunde dieser Freundschafts- und Befreiungsgeschichte: Lisas Freund Clark, Modellathlet, Wasserballer, Posterboy der Highschool. Aber eben kein typisches Abziehbild, sondern ulkig, herzlich, auch rätselhaft.

Oder Solomons Eltern, seine Mutter Valerie, eine sportbegeisterte Zahnärztin, und sein Vater Jason, der seine Vorliebe für Filme und Konstruktionen zum Beruf gemacht hat und als Kulissenbauer arbeitet, allerdings die Hollywoodstars mangels Interesse kaum auseinander halten kann. Beide haben sich damit abgefunden, dass ihr Sohn das Haus nicht verlässt und Therapieversuche aufgegeben. Trotzdem sind sie nicht nur aufopferungsvolle Eltern, sondern Menschen mit Wünschen und Plänen, die sich nicht nur um ihr Kind drehen.

Zwischen allen diesen Figuren, die man gern kennenlernen möchte, entspinnen sich witzige, schlagfertige und kluge Dialoge. Ein bisschen Filmwissen und Star-Trek-Kenntnisse steigern den Genuss des hochgradig unlogischen Verhaltens. Grundlegende Wahrheiten über Freundschaft und Verlieben lassen sich hervorragend auf dem Holodeck darstellen. Beiläufig spielt auch das Thema Homosexualität eine Rolle, und es werden ein paar Vorurteile, gerade bei vermeintlich toleranten Leuten, aufgedeckt.

Das Ganze ist von Andreas Jandl spritzig und unprätentiös übersetzt, da ist dann jemand auch mal angefressen oder sauer. Vor allem in den teils Screwball Comedy reifen Dialogen merkt man, dass Jandl Theaterwissenschaften studiert hat und Bühnenstücke übersetzt.

Grandios und erfrischend ist auch Solomons pragmatische, lebenslustige Großmutter, eine erfolgreiche Immobilienmaklerin. Ihr gelingt es am besten, Solomon aus seiner selbstgewählten Isolation zu befreien, sie nimmt ihn ernst, lässt ihn aber auch nicht mit seiner Krankheit einfach so davonkommen.
Und sie hat auch genau die richtige Einstellung zu dieser Welt. Als Solomon von Lisas tatsächlichem Plan erfährt, wirft er sie und Clark, die er bis dahin für seine Freunde, seine ersten echten Freunde überhaupt, gehalten hat, aus dem Haus und zieht sich tief enttäuscht und in all seinen Vorurteilen bestätigt komplett zurück. „So was aber auch! Sie sind nicht perfekt. Trotzdem geht es dir mit ihnen besser als ohne sie.“

So ist es nämlich: Natürlich wäre das Leben einfacher, wenn wir alle Vulkanier wären – kontrolliert, ohne diese blöden, oft traurig oder wütend machenden, irrationalen Gefühle. Aber ohne hochgradig unlogisches Verhalten wäre das Leben auch so viel langweiliger und eigentlich sinnlos.

John Corey Whaley: Hochgradig unlogisches Verhalten, Übersetzung: Andreas Jandl, Hanser 2017, 240 Seiten,  ab 13, 16 Euro,

Von der Last des schlechten Gewissens

BlumaMit dem schlechten Gewissen ist das so eine Sache. Wenn man nicht völlig abgebrüht ist, lässt es einen nicht so schnell wieder los und frisst ganz schön viel Energie.

Das muss auch die neunjährige Bluma im Kinderroman von Silke Schlichtmann erleben. Darin schreibt sich die Protagonistin selbst ihren ganzen Kummer von der Seele, von einer Sache, die Erwachsene vielleicht erst mal als nicht so schlimm empfinden würden – denn wer hat nicht schon mal eine Süßigkeit stibitzt?

Bluma jedoch macht sich fürchterliche Sorgen, weil sie ihrer Nachbarsfreundin Alice, einer unkonventionellen älteren Künstlerin, eine ihrer seltenen, superleckeren, bitzelnden Gummischlangen geklaut hat. Und alles nur, weil Bluma zwei Sorgen auf einmal quälen: Sie hat eine Fünf in Mathe geschrieben und möchte den Hund Flocki der alten Thea Quast bei sich aufnehmen, die ins Altersheim soll. Doch den Eltern beides auf einmal zu sagen, das traut sich Bluma nicht, also wollte sie erst einmal Alice um Rat fragen. Doch die hat ausgerechnet an diesem Tag keine Zeit für Bluma. Allerdings gibt es bei Alice selbstgemachte magische Gummischlangen, die dafür bekannt sind, dass sie bei der Lösung von Problemen helfen.

Das dies jedoch nicht für heimlich geklaute Exemplare gilt, merkt Bluma ganz schnell – zum Glück noch bevor sie die Gummischlange ganz verspeist hat. Irgendwie muss sie jetzt versuchen, das nun allerdings kopflose Tier wieder an seinen Platz zu schaffen. Bei diesem Unterfangen verstrickt sich Bluma jedoch in immer mehr Ausreden, Notlügen und peinliche Situationen, sodass aus dem einst kleinen Fehltritt eine immer größere Last an schlechtem Gewissen wird. Denn alle Versuche, den Fehler unbemerkt wieder gutzumachen, gehen schief.

Silke Schlichtmanns Kinderroman, mit den atmosphärischen, rot-schwarzen Illustrationen von Ulrike Möltgen, ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie man Kinder an die Fragen der Moral heranführen kann. Hier wird nicht von oben herab doziert, was richtig und was falsch ist, sondern Ich-Erzählerin Bluma zeigt, wie sehr ein schlechtes Gewissen intrinsischer Antrieb sein kann, den richtigen Weg zu suchen. Das große Herz der Heldin dürfte jede_n Leser_in entzücken.
Gleichzeitig erlebt Bluma aber auch, dass nicht alles, was wir aus der Beobachtung und durch die Erzählungen anderer erfahren, der Wahrheit entsprechen muss. Viel wichtiger ist es, den Mut aufzubringen, sich anderen gegenüber zu öffnen und das Gespräch zu suchen – egal, wie sehr man sich davor fürchtet.

Blumas Beispiel, wie sie den Weg zu dieser Offenheit und dem Vertrauen zu anderen Menschen findet, dürfte in jungen Leser_innen lange nachklingen und zusätzlich, wenn beide Seiten sich daran halten, zu einem gestärkten Eltern-Kind-Verhältnis führen.
Das hoffe ich zumindest.

Silke Schlichtmann: Bluma und das Gummischlangengeheimnis, Illustration: Ulrike Möltgen, Hanser, 2017, 176 Seiten, ab 8, 12 Euro

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Eine herzerwärmende wirbelverstürmte Weihnachtsgeschichte

steinhöfelNormalerweise steige ich in bestehende Serien, die sowieso schon zu den gefeierten Bestsellern gehören, nicht mehr ein. Doch nun konnte ich nicht anders und habe endlich mal eine Lücke in meinem Kinderbuchwissen geschlossen. Und das mit allergrößtem Vergnügen.

In seinem vierten Band der Rico-und-Oskar-Reihe lässt Andreas Steinhöfel nun seinen tiefbegabten Protagonisten Rico die Ereignisse eines Tages erzählen. Doch es ist – wie man sich durch Titel und Schneeflockencover fast denken kann – nicht irgendein Tag, sondern Heiligabend.
In Berlin braut sich an diesem Tag ein ausgewachsener Schneesturm zusammen, dennoch müssen Rico und Oskar trotzdem noch mal raus, um die letzten Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Dabei kommen die beiden Freunde an einem Haus in der Urbanstraße vorbei, das in Rico die Erinnerung an die Erlebnisse vom vergangenen Sommer weckt: In einem vergessenen Hinterhof hat er eine Clique neuer Kinder kennengelernt und festgestellt, dass es ihm immer leichter fällt, Freunde zu finden. Sogar Oskar hat sich mit den neuen Freunden wohlgefühlt. Bis eines Tages sein geliebtes Souvenir aus dem Sommerurlaub verschwand.

Bei diesen bittersüßen Erinnerungen stellt sich im Wintersturm dann erstmal nicht so richtig besinnliche Stimmung ein. Alles wirbelt um Rico herum, seine Bingokugeln im Kopf scheinen schier zu explodieren. Doch in all dem Chaos, das zudem noch in der Dieffe 93 ausbricht, zwischen Weihnachtsbaumgeschleppe, verschwundenen Lebensmitteln und seltsamen Einkäufen, die Oskar tätigt, setzt Rico dann schließlich die entscheidenden Puzzleteile richtig zusammen.

Selbst wenn man – wie ich – die ersten Bände von Steinhöfels Reihe nicht kennt, kann man auch mit dieser Weihnachtsgeschichte ganz wunderbar in Ricos Kosmos einsteigen. Die Bewohner der Dieffe 93 und Ricos sich verändernde Familienkonstellation lernt der Leser auch hier rasch und umfassend kennen, die Hinterhofclique als Neuzugang bringt freche Mädchen ins Spiel, die bei den Jungs zusätzliche vorhormonelle Verwirrung stiften. Die zwei gegensätzlichen Helden, die Intelligenzbestie Oskar und den empathisch hoch begabten Rico, schließt man schon nach den ersten Sätzen ins Herz.
Ganz nebenbei beweisen Rico und Oscar ganz weihnachtsadäquat, was Nächstenliebe heißt und wie wichtig Entschuldigungen und Versöhnungen unter Freunden sind.

Die Leichtigkeit und der überbordende Sprachwitz von Andreas Steinhöfel inklusive Ricos naiv-großartigen Umdeutungen von schwierigen Wortzusammenhängen dürfte den vielen Fans hinlänglich bekannt sein. Ich habe mich so wunderbar unterhalten und sprachlich inspiriert gefühlt, dass ich die Vorgängerbände nun auch noch lesen muss, um diesen Genuss noch zu verlängern.

Kleinen Leser_innen dürften Ricos und Oskars Abenteuer gerade in der Vorweihnachtszeit jede Menge Spaß am Lesen vermitteln. Und damit hat Andreas Steinhöfel unter dem Aspekt der Leseförderung, die neulich auf der Jahrestagung der Bücherfrauen als eine wichtige Komponente unserer Gesellschaft angemahnt wurde, mal wieder alles richtig gemacht.

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch, Carlsen, 2017, 272 Seiten, ab 10, 14,99 Euro

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Das Ich, die Bakterien und die Zwänge

Er ist wieder da: der großartige, liebenswerte John Green! Wie nun schon seit Monaten lange bekannt und sehnlichst erwartet, ist jetzt sein neuer Roman erschienen.
Ich gebe zu, ich habe mich gefreut, als ich davon hörte, war aber auch erst einmal skeptisch, ob Green die unglaublich Hypothek seines vorherigen Romans Das Schicksal ist ein mieser Verräter würde stemmen können.

Er kann. Und wieder einmal auf eine sehr anrührende Weise.
In Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken, in der wieder einmal vorzüglichen Übersetzung von Sophie Zeitz, schildert er die Geschichte der etwa 17-jährigen Aza. Das Mädchen leidet an psychischen Zwangsneurosen: Sie hat eine schier unbändige Angst vor körpereigenen Bakterien. Das Mikrobiom, also der Bakteriencocktail, den jeder Mensch im Darm trägt und der lebenswichtig ist, ist ihr unheimlich. Aza fürchtet beständig, sich mit dem – in seltenen Fällen gefährlichen – Bakterium Clostridium difficile zu infizieren. Der Druck, der sich durch diese Angst in ihr aufbaut, kündigt sich mit Gedankenspiralen an, die sie meist nicht mehr stoppen kann und die sich dann darin entladen, dass sie eine Wunde am Mittelfinger immer wieder aufknibbelt. Diese muss sie dann desinfizieren und mit einem neuen Pflaster versorgen, oft mehrmals am Tag. Alles in allem ein nervenaufreibendes Unterfangen.

Als sie ihren Kinderfreund Davis wiedertrifft und sich zwischen den beiden eine Beziehung anbahnt, überträgt sich ihre Bakterienphobie selbst auf den Akt des Küssens und den Austausch von Speichel. Und schon ist Aza wieder in der Spirale zwischen Bakterien, C. difficile, Horrorvorstellungen und Todesängsten. Das geht soweit, dass sie nicht davor zurückschreckt, sogar Desinfektionsmittel zu trinken.

Diese Zwangsstörung verpackt John Green in einen äußeren Plot, in dem Davis‘ milliardenschwerer Vater spurlos verschwindet. Anfangs versucht Aza zusammen mit ihrer quirligen Freundin Daisy, Hinweise auf den Verbleib des Milliardär zu finden. Sie könnten nämlich die ausgeschriebene Belohnung ganz gut gebrauchen. Über dieses erzählerische Vehikel, das als Plattform für Azas eigentliche Geschichte dient, braucht man kein Wort mehr verlieren.

Denn bei allem ist Aza der struppige Star. Als Ich-Erzählerin holt sie die Leser_innen tief in ihr Inneres, und genau da leidet man mit ihr mit, erkennt sich in manchen Momenten wieder. Denn jeder von uns kennt sicher die Momente, in denen wir das Gedankenkarussell nicht mehr stoppen können und uns immer tiefer in unrealistische Vorstellungen reinreiten. In einem gewissen Maß ist das auch „nicht ungewöhnlich“, wie Azas Therapeutin immer zu sagen pflegt.
Doch Aza zeigt, wie sehr die Gedanken ein Eigenleben annehmen können. Das gipfelt bei ihr dann nicht nur in Angst und Selbstverletzung, sondern nimmt wunderbar philosphische Züge an, wenn sie über das Ich nachgrübelt und durch was es gebildet wird: Ist es der eigene Körper? Sind es die Gedanken? Oder ist der Mensch doch beherrscht von den Milliarden Mikroorganismen, die in und auf ihm leben, ohne die er jedoch nicht überleben würde? Aza dreht und dreht sich, kreiselt um sich und riskiert dabei nicht nur sich selbst zu verlieren, sondern auch ihre beste Freundin Daisy.

John Green, der 2014 vom Times Magazin zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gewählt wurde, gelingt es mit seinem leichten Ton den Blick auf die Qualen von psychisch kranken Menschen zu lenken. Er zeigt eindeutig, dass sie nicht an ihrer Krankheit schuld sind, dass sie zwar manchmal anstrengende Freunde und Mitmenschen sein können, die sich vermeintlich immer nur um sich selbst drehen. Doch trotz allem sind diese Menschen liebenswert und sollten jede professionelle Hilfe bekommen, die es nur gibt. Dies ist grade in den USA, wo das Gesundheitssystem nicht so gut ausgebaut ist wie bei uns, schwieriger.
Umso mehr plädiert Green für Offenheit im Umgang mit psychischen Krankheiten – und er weiß, wovon er schreibt, leidet er doch selbst an einer Angststörung.

So wird Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken zu einem berührenden Aufruf, sich als Betroffene_r professionelle Hilfe zu suchen und sich nicht in sich zurückzuziehen. Der Aufruf, offen über immer noch tabuisierte psychische Krankheiten zu sprechen, ergeht jedoch an beide Seiten: Die Betroffenen werden ermutigt, von sich zu erzählen, die Familien, Freunde und die Umwelt wird ermahnt, diese Menschen nicht zu stigmatisieren, sie nicht zu gängeln, sie nicht in irgendwelche Schubladen zu stecken, sondern sich mit ihnen auf Augenhöhe auseinanderzusetzen.

Psychisch erkrankte Leser_innen, egal, ob jung oder alt, werden sich hier wiedererkennen und vielleicht neuen Mut und neue Hoffnung schöpfen. Alle anderen werden sensibilisierter aus der Lektüre hinausgehen. Und damit schafft John Green dann etwas wirklich Großes: Er macht die Welt um ein gutes Stück besser!

John Green: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken, Übersetzung: Sophie Zeitz, Hanser, 2017, 288 Seiten, ab 13, 20 Euro

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Ganz und gar nicht wurst

So schlagfertig wäre ich auch gern mal: Was die 15-jährige Mireille Laplanche in Clèmentine Beauvais‘ Roman Die Königinnen der Würstchen an Sprüchen raushaut, ist große Klasse und fast schon Screwball Comedy. Viel besser, als nur ein morbider, mit sich und der ganzen Welt hadernder Teenager zu sein. Und selten ist jemand so geistreich pubertär-trotzig und frech: „Hör nicht auf sie, Astrid“, warnt sie das schon bald zur engen Freundin werdende Mädchen, das trostsuchend in der Küche hockt und soeben von Mireilles Mutter geraten bekommen hat, sich an ihre nette und starke Tochter zu halten. „Sonst beklagt sich immer in einer Tour, dass sie an dem unseligen Abend meiner Empfängnis keine heftige Migräne vorgeschützt hat!“ Oder im frustrierenden Streit ihrer Maman hinterher brüllt: „Weißt du, was das Hässlichste ist, das dir Klaus hinterlassen hat? Das bin nicht ich, sondern diese völlig bescheuerte Idee, dass du bloß eine Lehrerin bist!“

Mireilles Mutter war mir, selbst Mutter eines Teenagers, aber auch gleich auf den ersten Seiten sehr sympathisch: „ ,Du gehst mir auf die Nerven, Mireille.‘ Meine Mutter schaut an die Decke und sagt zu der Lampe von Habitat: ,Ich hasse pubertierende Jugendliche.‘ “ Wie wahr!

Ihre kluge Kodderschnauze schützt Mireille ganz gut. Die Gymnasiastin hat nämlich ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, einige üppige Rundungen mehr als das gängige Schönheitsideal erlaubt. Nicht, weil sie sich ein dickes Fell anfuttern musste, sondern weil sie gern und gut isst (ihre Großeltern haben ein Sterne-Restaurant). Sie kommt vom Aussehen her nicht nach ihrer schönen Mutter, sondern hat die weniger attraktiven Züge ihres deutsch-französischen Erzeugers geerbt, ein Philosoph und ehemaliger Doktorvater ihrer Mutter, der von der Existenz seiner Tochter nichts wissen will. Dumm ist der Mann, der mittlerweile der Ehemann der französichen Präsidentin (fiktional, nicht Marine Le Pen!) ist, anscheinend nicht, denn Mireille ist auf höchst attraktive Art doppelt intelligent. Und weil sie endlich den ihr bekannten Unschönen zur Rede stellen will, kommt Mireille auf die tollkühne Idee, per Fahrrad vom heimischen Bourg-en-Bresse in Ostfrankreich in die Hauptstadt zu fahren. Begleitet wird sie von ihren zwei Freundinnen Astrid und Hakima, mit denen zusammen sie in einem perfiden Wettbewerb als die „Würste des Jahres“ – die hässlichsten Mädchen der Schule – verspottet wurde. Denn auch ihre beiden Leidensgenossinnen haben im Élysée-Palast in Paris ein spezielles Hühnchen zu rupfen. Finanzieren wollen die drei ihre Mission impossible mit – logisch – Würstchenverkauf.

Beauvais’ Rad-Road-Roman hätte ein deprimierendes Buch über Mobbing und die ätzenden Auswüchse des Schönheits- und Optimierungswahns werden können. Das Thema spielt auch eine Rolle. Doch die zauberhafte Geschichte lässt sich genauso wenig wie Mireille davon unterkriegen und dominieren.

Und so ist diese furiose Tour de France eines tollen Trios ungewöhnlicher Mädchen und ihres ebenso besonderen Begleiters in seinem speziellen Streitwagen so viel mehr: grandioses Abenteuer, extreme Herausforderung, Suche nach Wahrheit und Klarheit, selbstbewusste Provokation und feministisches Plädoyer. Oder wie Mireille den schon bald auf die radelnden Würstchenverkäuferinnen anspringenden Reportern sagt: „Vielleicht macht Hässlichkeit uns reifer“. Nicht zuletzt auch solidarischer, empathischer und weniger Ich-bezogen.

Nebenbei wird französische Nachkriegsgeschichte und gesellschaftliche Gegenwart thematisiert, en passant, aber nie beliebig oder gewollt wirkend: So sind Franzosen mit Migrationshintergrund zwar in der Armee und beim Kampf für die Grande Nation willkommen, aber man begegnet den nicht typisch französisch aussehenden Landsleuten weiterhin misstrauisch – die alltägliche Fremdenfeindlichkeit.

Und natürlich ist es in Zeiten von Facebook und Twitter, wo jeder anonym unendlich Hass versprühen darf, und der tagtäglichen Bilderflut auf Instagram, Snapchat, der totalen Feier der absoluten Oberflächlichkeit, niemandem egal, wie er und insbesondere sie aussieht. Weder Mireille noch Astrid und Hakima, die von Mireilles einstigen besten Freund aus Kindertagen zu den unattraktivsten Schülerinnen in Gold, Silber und Bronze gekürt wurden. Aber sie drehen den Spieß um und touren selbstbewusst als die drei Würste.

Warum der deutsche Titel Die Königinnen der Würstchen lautet, von Annette von der Weppen ansonsten charmant und spritzig übersetzt, erschließt sich nur bedingt. Das Original heißt fast ebenso merkwürdig Die kleinen Königinnen. Königinnen im Sinne von Vorbild, von starken, lebenslustigen und gewitzten Frauen könnte aber funktionieren. Solche sollten wirklich viel mehr an die Macht kommen. Der Spruch „Die Klügere gibt nach“ ist sowieso blödsinnig. Warum sollen dummdreiste Schwachköpfe das Sagen haben?

Über missratene Titelbilder und Umschlaggestaltungen des ansonsten sehr geschätzten Carlsen Verlags, in diesem Fall ist es sogar leicht sexistisch, äußere ich mich nicht mehr. Nur die inneren Werte zählen.

Und die sind hochkarätig: Clementine Beauvais hat (mit gerade mal 25 Jahren, Respekt!) eine wahnsinnig witzige und kopf- und herzergreifende Geschichte geschrieben, mit einem überraschenden Ende. Oder auch nicht, denn eine weitere Erkenntnis ist eine Abwandlung des John-Lennon-Zitats: Leben ist das, was dir passiert, während du damit beschäftigt bist, Pläne zu machen.

Mireille hat nämlich die noch unveröffentlichte Streitschrift ihrer Mutter im Gepäck. Titel: „Das Sein und das Erstaunen. Für eine Philosophie des Unerwarteten.“ „Meine Mutter glaubt, das Wesen des Menschen bestehe darin, sich am Unvorhergesehenen, Neuen, Überraschenden zu erfreuen“, erkennt Mireille als Antithese zum Werk ihres biologischen Vaters, für den das menschliche Wesensmerkmal ist, zu planen und zu entwerfen. „Der Mensch ist vor allem deshalb Mensch, weil er das Neue, Unerwartete in all dieser Ordnung sucht. Die Kunst, die Gefühle, das Leben selbst – das alles ereignet sich immer dann, wenn Planungen, Prognosen und Prophezeiungen scheitern.“ Konkretes Beispiel: „Ein geplatztes Präservativ und das Unerwartete tritt ein: ein ungeplantes, kleines Würstchen – ich.“ Und das steht mal eben in einem Jugendbuch. Ganz großes Kino!

Elke von Berkholz

Clementine Beauvais: Die Königinnen der Würstchen, Übersetzung: Annette von der Weppen, Carlsen, 2017, 288 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

Kunstklau gegen Raubkunst

cat dealNur mit den Fingerspitzen hängt sie am Fenstersims einer Londoner Stadtvilla, zehn Meter über dem Asphalt, die Alarmanlage schrillt trommelfellzerfetzend, aus den unteren Stockwerken schlagen Flammen – schon mit der ersten actiongeladenen, Bond-dynamischen und schnodderig kommentierten Szene hat sich Catherine Burke alias Cat Deal, Fassadenkletterin und Meisterdiebin, in mein Leserherz gestohlen. Zwei Seiten später erfährt man in Kate Freys packendem Krimi nebenbei ganz undramatisch, dass Cat eine Waise ist und die Geschichte brandaktuell, bestiehlt die tollkühne 16-Jährige doch gerade einen „Typen, der seine Regierung um Milliarden betrog. Mit dem Geld kaufte er Immobilien in ganz London. Und seine verzweifelten Landsleute in Griechenland brachten ihre Kinder in SOS-Dörfern unter, weil sie sie nicht ernähren konnten. Und das in Europa!“

Cat Deal ist eigentlich die klassische Einzelkämpferin, die nur sich selbst vertraut und auf sich selbst verlässt. Mit Ausnahme ihres pelzigen Freunds Simon, einer Ratte (später gibt’s noch ein Lob für die unterschätzten Anpassungs- und Überlebenskünstler: „Diebe sind wie Ratten, dachte Lord Peter bei sich, und das war in keiner Weise abwertend gemeint. Ratten sind hochsensible, intelligente Tiere, die Gefahr förmlich riechen und sich dann schnellstens aus dem Staub machen.“ Kluge Einschätzung, Mylord). Aber diesmal, in der brenzligen Eröffnungsszene, ist trotz der wortwörtlich minutiös zu Musikstücken von Cat geplanten, choreographieren und geprobten Klaupläne etwas schief gelaufen: Auf dem Dach hat ihr jemand die Beute abgejagt. Und jetzt steht sie beim Auftraggeber in der Schuld. Immerhin ging ihr ein millionenschweres, juwelenbesetztes Platinarmband flöten. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit Peter Charles Michael William Haversham der Vierte, Baron von Leonwood Castle, dessen jungem pakistanischen Assistenten und Hackergenie Asim und Butler Vincent zu arbeiten. Mit Cats Hilfe will Lord Peter (ältere Leser wie ich erinnern sich bei dem Namen wohlig an den sympathisch exzentrischen Detektiv Lord Peter Wimsey der scharfsinnigen englischen Krimiautorin Dorothy L. Sayers) aus dem Archiv der Tate Modern ein Bild des Dadaisten Kurt Schwitters entwenden und es der von den Nazis enteigneten, rechtmäßigen Besitzerin zurückgeben.

Und so arbeitet die 16-Jährige erstmals in einem Team – im besten Sinne. Eine Handvoll Individualisten und Außenseiter, die kooperieren, weil sie jeweils die Besten ihres Fachs, ihrer Kunst sozusagen, sind und damit das Optimale, sogar das Unmögliche erreichen. Und weil sie, wenn nötig, flexibel reagieren und Alleingänge wagen, anstatt sich starr an Planungen und Absprachen zu klammern und gegenseitig auszubremsen.

Mit Cat erfahren wir einiges über Raubkunst und den mehr als halbseidenen Kunstmarkt. Der Fall des Kunstsammlers Gurlitt wird angedeutet; das Drama um Gustav Klimts berühmtes Bild „Die goldene Adele“ spielt eine Schlüsselrolle, vor ein paar Jahren packend mit Helen Mirren als um Gerechtigkeit kämpfende Erbin verfilmt.

Grandios sind auch die elegant geplanten Einbrüche, die in ihrer Raffinesse und bestechenden Intelligenz an cineastische Klassiker wie Rififi, Ocean’s Eleven oder den absolut sehens- und liebenswerten deutschen Film Schrotten! heranreichen.

Man erfährt Wissenswertes über Selbstverteidigung, insbesondere als Frau und wie sie die Schwäche in Stärke verwandeln, also vermeintliche Unterlegenheit zu ihrem Vorteil ausnutzen kann; und über das Explosionspotenzial von Haushaltsreinigern. Man lernt London kennen und seinen Untergrund. Man taucht ein ins Darknet. Oder exklusive Adelskreise und deren Gepflogenheiten. Auch aktuelle Politik kommt zur Sprache: „Lord Peter hatte gegen den Brexit gestimmt, musste aber nun mit dem Ergebnis leben. Wie alle anderen auch. Auch die, die nicht zur Wahl gegangen waren, weil sie dachten, es wäre nicht nötig. Diesmal hatten die gewonnen, die es verstanden Ängste zu schüren.“

Dazu kommen in diesem furiosen Husarenstück noch spritzige, schlagfertige Dialoge. Mit „rote Backsteine sind rote Backsteine sind rote Backsteine“ lässt Gertrude Stein ironisch grüßen. Außerdem ist es ein bisschen eine Coming-of-Age-Story, ein Hauch Liebesgeschichte und ein Schuss Familiendrama (was fast ein bisschen zu deutlich zum Schluss im Raum steht, ein subtilerer Cliffhanger hätte es auch getan).

Also, liebe Leser, lasst Euch von dieser modernen Robin Hood des Kunstmarkts etwas Zeit stehlen, Ihr bekommt es zigfach zurück und seid anschließend um viel mehr als nur das schiere Lesevergnügen reicher. Das Gute ist, weil ich das Buch erst jetzt vorstelle, müsst Ihr nur kurz warten, bevor Ihr Euch ab dem 18. August mit Cat & Co. Nach allen Regeln der Kunst (so der Titel des zweiten Bands) ins nächste Abenteuer stürzen könnt.

Elke von Berkholz

Kate Frey: Cat Deal – Die Kunst zu stehlen, Ueberreuter, 2017, 315 Seiten, ab 12, 14,95 Euro

Geschwister und andere Katastrophen

Da kann man sich tausendmal vernünftigerweise sagen, dass Blut nicht dicker als Wasser ist und nur weil man mit jemandem genetisch verwandt ist, man nicht automatisch mit ihm verbunden ist: Die Beziehung zwischen Geschwistern ist und bleibt speziell, zwischen Schwestern, die sich altersmäßig kaum unterscheiden, extrem.

Lauren Oliver hat mit Als ich dich suchte ein besonderes Buch über zwei Schwestern geschrieben. Ein Roman, der gleichzeitig auch Krimi, Psychothriller und zarte Liebesgeschichte ist. Ein Buch, das einen gleich packt und nicht mehr loslässt, weil es provokativ beginnt: „Das Komische daran, beinahe gestorben zu sein, ist, dass anschießend alle meinen, du müsstest ununterbrochen auf dem Glückstrip sein, Schmetterlingen im grünen Gras nachjagen oder in jeder Ölpfütze auf dem Highway einen Regenbogen entdecken. Das Leben ist ein Geschenk, um das du nie gebeten hast, das du dir nie gewünscht hast, nie haben wolltest.“

Wer jetzt glaubt oder auch fürchtet, dass nach diesem lakonisch-abgeklärtem Auftakt die große Glücksbärchi-Geschichte folgt und zum Schluss die Erzählerin Nick mit Schmetterlingen tanzt und das Leben begeistert umarmt, dass es nur so kracht, der wird zum Glück enttäuscht. Zur Zeit ist es bei Prominenten jeden Alters angesagt, permanent von „Demut“ zu sprechen, die sie angesichts ihres Lebens empfinden, von „Dankbarkeit“ für das, was sie haben.

Nick aber hat allen Grund, stinksauer auf ihr Leben zu sein: Ihre knapp ein Jahr jüngere Schwester Dara, die immer im Mittelpunkt steht, die alle lieben, die jeden haben könnte, hat ausgerechnet Nicks besten Freund seit Kindertagen geküsst. Ihr Vater hat die Familie für eine schönheitsoperierte, flachsinnige Witwe verlassen, die Mutter ist seitdem ein tablettengesteuerter Schatten ihrer selbst. Beide Schwestern hat es aus der Bahn einer glücklichen Kindheit geworfen. Dann erleiden die Mädchen einen schrecklichen Autounfall und fortan spricht Dara nicht mehr mit Nick. In Rückblenden und Zeitsprüngen wird aus der Sicht von Nick und Dara erzählt, wie es zu dieser Katastrophe gekommen ist. Parallel sorgt das rätselhafte Verschwinden eines neunjährigen Mädchens für zusätzliche Spannung. Und irgendwann ist auch Dara nicht mehr da. Vanishing Girls lautet der Originaltitel von Olivers neuem Jugendroman. Als ich dich suchte trifft es jedoch fast besser, weil Nick nicht nur ihre Schwester wiederzufinden versucht. Und nicht zuletzt ist da auch noch Nicks Freund, der Nachbarsjunge Parker …

Das alles verknüpft Lauren Oliver virtuos und erzählt mitreißend und unprätentiös, treffsicher übersetzt von Katharina Diestelmeier. Wiederholt finden sich so kluge, hellsichtige Sätze und Beobachtungen wie „das ist das Blöde an Therapeuten: Man bezahlt sie dafür, dass sie einem denselben Quatsch erzählen, den andere umsonst sagen.“ Oder: „Ist dir schon mal aufgefallen, dass wirklich glückliche Paare nicht das Bedürfnis haben, andauernd miteinander rumzuhängen?“

Neben dem echten Krimi, der mutmaßlichen Entführung einer Grundschülerin, spielt das wahre Drama zwischen den so unterschiedlichen Schwestern: Wie können sich zwei Menschen so nah und doch so fern sein? Nie ausgesprochene Eifersucht, Neid, Groll, Bewunderung und angeeignete Rollen führen zu grotesken Missverständnissen.

Die Lösung und gleichzeitig Katharsis der Geschichte kommt überraschend. Cineasten fühlen sich an einen Psychothriller vom Ende der 90er Jahre erinnert, aber der ist für die jugendliche Zielgruppe sicher entschieden zu lange her. Als ich dich suchte startet durch seine atmosphärisch dichte Erzählweise, plastische Charaktere und intensiv beschriebenen, widersprüchlichen Gefühle sofort ganz großes Kopfkino. Und sollte auch dieses Buch wie aktuell Lauren Olivers Debüt Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie (Carlsen 2010, Originaltitel Before I fall) verfilmt werden, wird es selbst für begnadete Schauspielerinnen schwer, die emotionale Vielfalt zu spielen.

Dieser mit schlagkräftiger Direktheit, lakonischem Witz und berührender Zartheit geschriebene Roman über Geschwisterhassliebe, Schuld und Sühne ist ein Plädoyer fürs Lesen. Und nicht zuletzt hervorragende Ferienlektüre.

Elke von Berkholz

Lauren Oliver: Als ich dich suchte, Übersetzung: Katharina Diestelmeier, Carlsen, 2017, 368 Seiten, ab 13, 19,99 Euro

Der Junge im schwarzen Anzug

„Aber das immer Gleiche war die Art, wie der Mensch, der dem Toten am nächsten stand, reagierte. Tag für Tag, Woche für Woche, Beerdigung für Beerdigung, suchte ich nach diesen Menschen und beobachtete, wie sie damit umgingen. Wie sie verzweifelt um Hilfe baten in einem Raum voller Menschen, die helfen wollten, aber nicht wussten wie. Weil sie nicht helfen konnten. Nichts hilft.“
Matt arbeitet in einem Beerdigungsinstitut und ist bei einer Menge Trauerfeiern dabei. Aber nicht ein perverses Vergnügen am Schmerz anderer treibt den Jungen in Jason Reynolds Roman Love oder meine schönsten Beerdigungen. Matthew Miller ist selbst voller Trauer und Schmerz, seit seine Mutter vor wenigen Monaten an Krebs gestorben ist.

Eigentlich hätte der 17-Jährige mit Schule, Pubertät, Zukunftspläneschmieden, Mädchen und altersentsprechendem Herzgebreche genug Probleme. Doch jetzt ist seine Mutter, zu der das Einzelkind eine liebevolle Beziehung hatte, tot. Und sein Vater ertränkt seinen Kummer (und die Sorgen wegen der Krankenhausrechnungen) in Alkohol und erleidet bald einen schweren Unfall. Allein in seinem Leid, hilft Matt „das bloße Wissen, dass wir alle mit derselben Sache zu kämpfen haben, und dass mein Leben nicht das einzige war, dem etwas fehlte, was es nie mehr zurückbekommen würde“.

Deshalb jobbt Matt anstatt in seinem Lieblingsimbiss beim benachbarten Bestatter. Und da er sich jetzt in der Schule sowieso wie ein Freak fühlt, weil bis auf seinen besten Freund es niemand schafft, normal mit ihm umzugehen, und weil es zum Job passt, beginnt er tagein tagaus seinen schwarzen Anzug zu tragen – wie eine Mischung aus Uniform des Schmerzes und schützender, weil abgrenzender Hülle. The Boy in the Black Suit heißt das Buch des US-amerikanischen Schriftstellers Reynolds im Original. Ein sehr viel passenderer Titel, wesentlich individueller und assoziationsreicher, als die gewollte Eindeutschung, eine Mischung im Stil von Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand und Die wunderbare Welt der Amelie. Über verkorkste Buch- und Filmtitel könnte man ein eigenes Stück schreiben.

Jason Reynolds hat eine furiose, tragikomische und berührende Geschichte über Trauer und den Verlust geliebter Menschen geschrieben, über den Schmerz und wie man damit umgehen und weiterleben kann. Matt erfährt, dass Leute, von denen er es nicht gedacht hat, harte Schicksalsschläge erlitten haben. Manche wirft es aus der Bahn, manche können ihren Kummer auf einen symbolischen Ort konzentrieren. Beerdigungen geraten auch mal mehr zur Komödie als zum Trauerspiel, bei anderen bricht Chaos aus.

Nach etwa der Hälfte taucht erst die so prominent gesetzte Love auf, ein charismatisches Mädchen mit diesem selbst für US-Verhältnisse ungewöhnlichen Vornamen. Die 17-Jährige hat selbst vor sieben Jahren ihre Mutter und jetzt auch ihre Großmutter verloren, geht aber ganz anders damit um als Matt. Die beiden nähern sich auf ungewöhnliche Weise an, eine reizvolle Liebesgeschichte beginnt.

Nicht zuletzt spielt New York, und Brooklyn im Speziellen, eine Rolle in diesem Roman. Dazu gehören auch schöne Betrachtung von Flora und Fauna, Straßenbäumen und Typen in der Stadt.

Klaus Fritz hat als Übersetzer einen guten Job gemacht: Die Sprache ist jugendlich, aber kein aufgesetzter Jargon, frisch und lebendig. Den verunglückten Titel hat wahrscheinlich der Verlag gedichtet. Loben möchte man Fritz für ein mittlerweile nicht selbstverständlich richtig übertragendes „Hat aber keinen Sinn“, anstatt des inflationär und dumpf benutzten „das macht Sinn“. Doch schon auf der nächsten Seite stolpert man über „Blumenbuketts“. Die sind zwar laut Duden richtig, lesen sich aber wie eimerweise („bucket“) Blumen. Was wurde aus dem französischem Lehnwort „Bouquet“?

Blumen, ihre morbide vergängliche Schönheit, und die Entdeckung einer besonders robusten Pflanze illlustrieren auch Matts Weg aus der vereinsamenden, totalen Trauer. Reynolds zweiter Jugendroman ist ein todkomisches, kluges und liebenswertes Buch.

Elke von Berkholz

Jason Reynolds: Love oder meine schönsten Beerdigungen, Übersetzung: Klaus Fritz, dtv Reihe Hanser 2017, 288 Seiten, ab 14, 14,95 Euro

Kinder brauchen Tiere

schomburgKinder und Tiere gehen in den (sozialen) Medien ja bekanntlich immer. In Kombination sind sie eigentlich unschlagbar.

Drei wunderbare Kinder-Tier-Geschichten haben mich in den vergangenen Wochen bezaubert. Etwas länger harrt hier schon Chamäleon Ottilie. Es scheint fast, als habe sich das Bilderbuch von Andrea Schomburg so unsichtbar gemacht, wie deren Hauptdarstellerin … Nein, im Ernst: Andrea Schomburg erzählt von Paul und Anna Sausebier aus Bonn. Die beiden Geschwister wünschen sich sehnlichst ein Tier, aber es ist wie so oft, die Eltern sagen Nein: Tiere machen Dreck und alles kaputt, sind zu groß oder zu gefährlich. Kennt man ja, diese Bedenken.

Dabei hat sich bei Familie Sausebier schon seit einiger Zeit ganz unbemerkt das Chamäleon Ottilie eingenistet. Durch seine Mimikri-Funktion verschmilzt es mal mit dem Sofakissen, mal mit dem Teddybären, der Tapete oder dem Mantel der Tante. Bis es eines Tages zur Katastrophe kommt und das Karo-Muster von der Bettwäsche nicht mehr weggeht. Anna und Paul entdecken Ottilie sofort… Na, wenn das mal gutgeht!

Nicht nur die Wahl des Chamäleons als Haupt- und Haustier ist außergewöhnlich und eine Herausforderung für die kleinen Leser, denn sie müssen das Tierchen auf jeder Seite erst einmal ausfindig machen, auch die Reime von Andrea Schomburg sind ein weiteres Mal so famos und leicht fließend, dass es eine Freude ist, sie laut vorzulesen. Fast möchte man nach Ende der Lektüre ein Chamäleon als Haustier anschaffen!

Ein ganz anderes Haustier wird hingegen in Jan Bircks Buch Zarah & Zottel zur Rettung für die junge Heldin.
Zarah ist mit ihrer Mutter in eine neue Wohnung gezogen. Unten im Hof, wo die Kinder spielen, kennt sie noch niemanden – und niemand will mit ihr spielen.
Zarah wünscht sich dringend einen Freund, doch der ist hier erst mal nicht zu finden. Sie träumt von einem Pferd, denn sie steht auf Indianer, doch ein Pferd passt leider nicht in eine Etagenwohnung – aber vielleicht ein Pony, wenn es klein genug ist.

Am nächsten Tag macht sich Zarah zum „Laden für alles“ auf, und der patente Verkäufer weiß Rat bzw. hat ein zotteliges vierbeiniges Tier für sie. Zarah steigt auf und reitet auf Zottel nach Hause. Dass Zottel Pfoten statt Hufe hat, an der Ampel das Bein zum Pinkeln hebt und die Kinder im Hof über Zottel lachen, stört sie nicht. Zottel passt in den Aufzug und in die Wohnung. Nur leider hat Mama kein Geld, um Zottel zu bezahlen. Doch auch dieses Problem lässt sich lösen …

Mit dem Zottelponyhund zeigt Jan Birck jungen Lesenden, dass es in einer Freundschaft ganz und gar unwichtig ist, was man ist oder wo man herkommt. Zusammenhalt über die Grenzen von Anatomie oder Gattung ist wichtiger, als die genauen Definitionen von Herkunft und Abstammung. So kann ein Hund durchaus auch als Pony durchgehen, und was die Hautfarben von Menschen angeht, so sind die nicht der Rede wert, wie es Jan Birck hier ganz selbstverständlich macht. Dass ich das hier extra erwähnen muss, zeigt allerdings, dass es immer noch nicht normal und eben nicht selbstverständlich ist, dass eine Bilderbuchheldin eine dunklere Hautfarbe hat als ihre Mama und die Kinder im Hof. Von solchen Heldinnen sollte es viel mehr geben, so dass die Diversität unserer Gesellschaft in den Büchern tatsächlich ein Abbild findet.

So schön das Zusammenleben mit Tieren auch sein kann, irgendwann kommt unweigerlich der Tag, an dem die Hausgenossen sterben. Dann wird aus Freude plötzlich Trauer und man stolpert in die Trauerpfützen.

So erklärt es der Kinderarzt der kleinen Leni, deren Hund Frieda neulich gestorben ist, im Bilderbuch von Hannah-Marie Heine. Zuhause erinnert Leni vieles an Frieda, und schwupps laufen ihr schon wieder die Tränen aus den Augen und der Bauch zieht sich zusammen. Aber ganz schnell hopst Leni auch wieder aus der Trauerpfütze heraus, genießt ein Stück Zuckerkuchen von Oma und schaut in die Sterne. Von dort oben kuckt Frieda ihr vielleicht zu …

Einfühlsam zeigt Hannah-Marie Heine kleinen Tierfreundinnen, dass es ganz normal ist, dass man seinem vierbeinigen oder geflügelten Freund nachtrauert. Gefühlsschwankungen gehören zum Abschied dazu, aber nach der Trauer kommt auch die Freude wieder. Wenn man dann noch die Erinnerungen an das geliebte Tier in einen würdigen Rahmen kleidet, kann man sicher sein, dass es auch weiterhin bei einem ist.

Dass Verlust und Tod Teil unseres Lebens sind, erfahren Kinder hier durch ganz alltägliche Szenen – wunderbar lässig von Katharina Vöhringer gezeichnet –, und genau die können helfen, so schwierige Momente zu bewältigen, wenn die geliebten Tiere plötzlich nicht mehr da sind.

 

Andrea Schomburg: Neu in der Familie: Chamäleon Ottilie, Illustration: Barbara Scholz, Sauerländer, 2016, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro

Jan Birck: Zarah & Zottel – Ein Pony auf vier Pfoten, Sauerländer, 2017, 64 Seiten, ab 5, 9,99 Euro

Hannah-Marie Heine: Leni und die Trauerpfützen, Illustration: Katharina Vöhringer, Kids in Balance, 2017, 40 Seiten, ab 4, 14,95 Euro

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Grandiose Geschichten aus kleinen Klumpen

„Ich kann euch ganz in Ruhe meine Geschichte erzählen. Davon, wie eines Tages eine drangsalöse Misere über mich hereinbrach, die mein ganzes Leben durcheinanderbringen sollte. Hätte ich damals geahnt, was für Kalamitäten auf mich zukommen würden, ich wäre an jenem Morgen unter der Bettdecke geblieben …“

Mit diesen hübsch altmodischen Wörten beginnt der Erzähler seine Geschichte. Und während sich der eine oder andere Leser angesichts gelegentlich komplett verkorkster Tage denkt, dass es manchmal sicher die bessere Idee ist, morgens einfach liegen zu bleiben, schlägt einen Kirsten Reinhardts neuer Roman Der Kaugummigraf schon in seinen Bann: Es ist ein in vielfacher Hinsicht verblüffendes Buch. Nicht nur weil der Erzähler und Titelgeber ein alter Knorz ist, genauer der 81-jährige Eberhart von Eberharthausen. Es ist eine erstaunlich komplexe und vielschichtige Erzählung, wie man hinter dem für Reinhardts Standards sehr schlichten Titel nicht vermuten würde (frühere Titel waren Fennymores Reise oder wie man Dackel im Salzmantel macht und Die haarige Geschichte von Olga, Henrike und dem Austauschfranzosen).

Die Kalamitäten verursachende Misere tritt in Gestalt der struppigen, frechen und enorm hungrigen Ausreißerin Eli in das Leben des komischen Kauzes. Sie bringt ihn nach einigen Anlaufschwierigkeiten zum Erzählen. Und vielleicht zum ersten Mal am Ende seines langen Lebens öffnet sich Eberhart, stellt sich seinen Verletzungen, alter Schuld und lebenslanger Reue, Gedanken und Gefühlen, die er seit 20 Jahren mithilfe eines selbst auferlegten, strengen Zeitplans verdrängt und eingesperrt hat. Und natürlich sind das keine uralten Geschichten, „solche Dinge wie damals gibt es bestimmt nicht mehr“; da hofft Eberhart leider vergebens.

Aber warum nennt Eli ihn Kaugummigraf? Das hängt mit der höchst kuriosen Sammlung des betagten Helden zusammen, ein jahrelang verschlossener Raum in dem alten, vom Abriss bedrohten Bahnhof, in dem der Graf wohnt – und auch in seinem Herzen. Hier verwahrt er hunderte Kaugummis auf, die er seit seiner Kindheit gesammelt hat – gekaute, versteht sich. Denn „ein Kaugummi ist besser als ein Fingerabdruck“, wie der Graf sagt. Ein Fingerabdruck verrät nichts über seinen „Besitzer“. Ein ausgespuckter Kaugummiklumpen dagegen gibt erstaunlich viel preis: durch seine Form, die Zahnabdrücke, den Auffindeort, den Geruch, die Geschmacksrichtung, die Farbe. Und natürlich durch die präzise Erinnerung an all die kauenden Menschen, denen der Sammler begegnet ist und die sein Leben geprägt haben.

Es sind spannende, fantastische, erschütternde und rührende Geschichten, zeitlos gut und ewig wahr, Geschichten von abgeschobenen, missverstandenen Kindern, von Grausamkeit und Feigheit, von Wut und Mut. Davon, dass man stärker ist als man denkt und es nie zu spät ist, sein Leben in die Hand zu nehmen. Von der Suche nach Freundschaft, Liebe, Glück. Wahrheiten, gelassen ausgesprochen: Seine Verwandschaft kann man sich nicht aussuchen. Und es ist gar nicht so einfach, nichts zu tun. Die Freiheit, alles (oder nichts) tun zu können ist beängstigend, das muss man erst mal aushalten. Trotzdem ist sie das Beste am Leben, weil sie grenzenlose Möglichkeiten birgt.

Hat sich schon mal jemand beim Anblick der Flecken auf dem Pflaster überlegt, dass hier gelebte Geschichten kleben? Das entschuldigt natürlich nicht die Unsitte, Kaugummis in die Gegend zu spucken! Inzwischen haben Künstler die Sprengsel als winzige Leinwände entdeckt, um darauf grandiose Miniaturmeisterwerke zu schaffen, zu sehen unter anderem auf der Millenium Bridge in London.

Der Kaugummigraf ist ein Buch, so wie man sich das weltbeste Kaugummi wünscht, das es aber nie geben wird: Eine Wundertüte, ein Feuerwerk an unterschiedlichsten Geschmackerlebnissen, schönste, raumgreifende Blasen bildend, ein Genuss, sich damit zu beschäftigen und ganz lang anhaltend.

Elke von Berkholz

Kirsten Reinhardt: Der Kaugummigraf, mit Vignetten von Marie Geißler, Carlsen, 2017, 224 Seiten, ab 10, 12,99 Euro

 

P.S. Es gab schon mal ein besonderes Buch mit Kaumasse im Titel: Der quergestreifte Kaugummi von Ephraim Kishon, von 1977, eine unvergessene Erzählungssammlung.

Die 17-Jährige in uns

schomburgVor ein paar Tagen stellte Jan Schomburg in Hamburg seinen ersten Roman vor und ließ dabei den Satz fallen, dass in uns allen doch ein 17-Jähriges Mädchen stecke. Der Mann ist 40.

Und trotzdem hat er mit dieser Behauptung nicht ganz Unrecht, wie ich in den Diskussionen nach der Lesung feststellen konnte. Irgendwie fühlen wir uns alle, egal wie alt wir eigentlich sind, drin doch immer noch jung. Mit allem, was dazu gehört.
Genau dieses Gefühl hat Schomburg in seiner Geschichte eingefangen. Darin lässt er die 17-jährige Johanna erzählen, die mit Boris befreundet ist, gut befreundet, aber nicht seine Freundin ist. Boris‘ Freundin heißt Ana-Clara und kommt aus Portugal.

Johanna und Boris machen ziemlich alltägliche Dinge zusammen, eine Radtour an die Nordsee, eine Studienreise nach Barcelona, sie gehen tanzen und Döner essen, in einem See schwimmen. Doch sie küssen sich nie. Johanna konstatiert das mit einem gewissen Befremden. Sie beobachtet die Dinge um sich herum sehr genau, hat Mitleid mit gewissen kläglichen Figuren, kann aber auch nicht alles durchblicken.

Warum hält der eine Mitschüler auf der Studienfahrt einen anderen wie einen Sklaven? Warum wird Boris in der Disco verprügelt und später stellt sich der Schläger im Döner-Laden als der größte Spießer heraus? Warum schaut Ana-Clara so stumpf vor sich hin?
Manchmal begibt sich Johanna ganz angstfrei und neugierig in neue Situationen, später wundert sie sich wieder über sich selbst. Ein Ahnung von Unheil liegt über allem. Dann verschwindet Boris.

Schomburg erzählt in vielen Szenen von vielen Dingen, die nicht passieren. Und liefert damit einen rätselhaften und gleichzeitig faszinierenden Coming-of-Age-Roman, in dem sich vieles um die Machtspielchen in unserem Alltag dreht, in der Familie zwischen dem eiskalten Vater und dem Sohn, in der Klasse zwischen den Mitschülern, auf den Tanzflächen von angesagten Clubs.
Johanna, die ja alles aus ihrer Sicht erzählt, erkennt vieles davon, doch sie urteilt nicht. Sie probiert aus. Sie ist noch nicht wie wir erwachsen und festgelegt, sondern offen für die Möglichkeiten des Lebens – und landet irgendwann mit Ana-Clara im Bett.

Vieles an der Geschichte von Johanna, Boris und Ana-Clara ist konstruiert. Manches kann ich gar nicht richtig einschätzen, beispielsweise die gewollt-verwirrende Anordnung der Szenen, die nicht chronologisch ist, sondern bunt durcheinander. Sicher, chronologisches kann langweilig wirken, durch dieses Hin und Her in den Zeiten und Abläufen baut Schomburg natürlich eine gehörige Portion Suspense auf. Trotzdem frage ich mich, ob  mehr dahinter stecken kann.
Schomburg ist Filmemacher und Drehbuchautor, und genau das merkt man auch seinem Text an: Mit relativ schnellen Schnitten erzählt er sehr bildlich von seinen drei Helden. Als Leser schaut man fast mehr, als das man liest. Das erzeugt einen Sog, der einen durch die Geschichte trägt, die dann aber auch viele Fragen offen lässt. Und das ist schon gut – und schreit schon förmlich nach einer Arthaus-Verfilmung.

Denn das Leben liefert uns nicht immer klare Antworten, sondern fordert uns immer wieder auf, uns selbst in Frage zu stellen, so wie Johanna es beständig macht. Sie erinnert uns, dass wir alle mal 17 waren und mit Neugierde und Hoffnung in diese Welt geschaut haben. Schomburg weckt diese 17-Jährige in uns tatsächlich wieder auf.

Seine Geschichte, die im Erwachsenenprogramm von dtv erscheint, ist trotz seiner jugendlichen Helden kein Jugendbuch in dem Sinne, wie wir sie hier auf dieser Plattform sonst immer vorstellen. Es ist für mich aber ein Roman, der Jugendlichen, die genug von reinen Jugendbüchern haben, den Weg in die deutsche Gegenwartsliteratur eben kann. Schomburgs Sprache ist jugendlich und rotzig genug, um zu fesseln, die Geschichte selbst so geheimnisvoll und vielschichtig, dass sie lange nachhallt und man über viele Aspekte diskutieren und nachdenken kann. Und das finde ich ja ganz fein.

Jan Schomburg: Das Licht und die Geräusche, dtv, 2017, 256 Seiten, 20 Euro

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Junges Gemüse schließt Freundschaft

erbseDie Schottin Morag Hood ist eine wunderbare Neuentdeckung! 2015 hat sie an der Cambridge School of Art ihren Master in Illustration gemacht, seitdem lebt sie wieder in ihrer Heimatstadt Edinburgh. Lilli und Lotte – Erbse und Karotte (Original: Colin and Lee) heißt ihr Debüt, das 2014 gleich für den britischen Macmillan Prize für Illustration nominiert wurde.

Quietschgrün ist Lilli, die Erbse. Warmorange Lotte, die Karotte. Eigentlich haben die beiden nichts gemein. Lilli ist immer mittendrin, umgeben von ungezählten grünen Freunden. Lotte ist, so scheint es, allein unterwegs. Lilli, klein und rund und doch nicht gleich, sprüht vor Verschmitztheit. Lotte ist lang aufgeschossen und so akkurat rechteckig geschnibbelt, dass sie wie ein Musterbeispiel an Zurückhaltung wirkt. Lilli grinst unternehmungslustig über beide Ohren. Lotte guckt abwartend und ein bisschen traurig in die Gegend.

Eines Tages treffen die beiden aufeinander, zufällig. Lilli, die Erbse, erkennt schnell: Die sieht aber anders aus. Und nicht nur das. Die orange Fremde kann nicht mal rollen, geschweige denn hüpfen. Und inmitten der Erbsentruppe fällt sie so sehr auf, dass sie zum Versteckspielen gleich gar nicht geeignet ist. Hmm, was also tun? Aneinander vorbeigehen? Oder lieber rauskriegen, was die andere so draufhat?

Nun, Lilli ist nicht nur verschmitzt, sondern auch neugierig und sehr mutig. Fix hat sie raus, dass mit Lotte andere Spiele möglich sind. Denn Lotte kann so vieles sein: Ein riesenhoher Turm. Eine Brücke, die über einen tiefen Graben führt. Und eine superschräge Rutsche, die am liebsten alle Erbsenkinder gleichzeitig ausprobieren würden. Hui, da kommt Leben auf!

Erbse und Karotte, das ist wahrlich nicht dasselbe. Aber Lilli und Lotte stört das nicht, denn sie haben eines entdeckt: Freundschaft!

Ganz schön pfiffig, dieses Bilderbuch von Morad Hood rund um zwei Gemüsesorten, die auf der Hitliste von Kindern (und Erwachsenen) nicht gerade an erster Stelle stehen. Doch schnell entdecken Klein und Groß, dass Erbsen und Karotten nicht nur gesund sind. Im Gegenteil: Putzmunter erkunden sie die Welt, lässt man sie erst mal von der Leine. Und das tut die Illustratorin, die gekonnt mit reduzierten Farben und Formen spielt. Und grandios mit dem Minenspiel ihrer Helden: Punktaugen und Strichmünder spiegeln alle denkbaren Emotionen zwischen Ängstlichkeit und Mut, Alleinsein und Gemeinschaft, Anderssein und Toleranz.

Ein kluges Debüt, fein und nuanciert. Da capo!

Heike Brillmann-Ede

Morag Hood: Lilli und Lotte — Erbse und Karotte, Übersetzung: Anke Katz, Thienemann, 2017, 32 Seiten, ab 4 (und jedes Alter!), 11,99 Euro

 

Gefühl Nummer Drei

zangeIn Plüschgewittern ließen sich nicht mehr ganz junge Menschen Anfang der 90er Jahre noch treiben. So nannte Wolfgang Herrndorff sein Romandebüt, das gleichzeitig diese freudig entspannte Stimmung im Berlin wenige Jahre nach dem Mauerfall beschrieb, mit Parties in halb zerfallenen Häusern, Leben in billigen Altbauwohnungen, alles wunderbar unhip und weit entfernt von Gentrifizierung, Start-ups und Selbstverwirklichungswahn.

25 Jahre später bewegt man sich in wesentlich widrigeren Elementen: Realitätsgewitter machen die Endzwanziger in Julia Zanges Roman zu Getriebenen. Diese Realitäten sind überwiegend virtuelle, die aber für die Protagonisten der Gegenwart die einzig realen und der tatsächliche Lebensraum zu sein scheinen. Mit dem Smartphone verwachsen fühlen sie sich nur unter dem Dauerbombardement von Nachrichten und Tweets lebendig. Ohne zig Friends und Followern auf Facebook und Twitter existiert man nicht, ein permanenter Zwang mehr zu scheinen als zu sein. Julia Zanges Heldin aber kann sich nicht länger erfolgreich mit permanenten Parties, pseudophilosophischem Geplauder, oberflächlichen Beziehungen und tristem Sex betäuben und über das Gefühl der hohlen Sinnlosigkeit hinwegtäuschen. „In den letzten Monaten ist etwas passiert. Etwas ist verschwunden und etwas anderes ist aufgetaucht“, stellt Marla auf den ersten Seiten fest. „Das ganz große Versprechen, das immer in mir schlummerte, etwas, das auf Erlösung hoffte, ein Wunder, ein unsinniger und irrsinniger Antrieb, eine naive Hoffnung, eine Frage – das gibt es nicht mehr. Es wurde ersetzt durch eine blanke, tiefe Traurigkeit, ein seltsames Wohlgefühl und eine Art Langeweile.“

So auf den Punkt beschreibt Julia Zange das Gefühl der Ernüchterung und Enttäuschung, das viele auf dem Weg zum Erwachsenwerden empfinden. „Denn auch wenn bei Gefühl 1 der Boden immerzu schwankte, gab es eine Intensität der Dinge, einen Zauber. Gefühl 2 brachte die Gewissheit, dass sich das Versprechen niemals einlösen wird, dass es keine andere Welt gibt als diese eine.“

Vermeintlich verliebt in einen neurotisch unverbindlichen Amerikaner und Kokskopf mit Hygienefimmel, angeödet vom Praktikum bei einem hippen Modemagazin, von Papa aus emotionaler Erpressung der Geldhahn zugedreht und komplett ideenlos versucht Marla der Leere ihres Lebens zu entkommen. Dazu reist sie zurück ins wohlstandsverwahrloste Elternhaus in die nordrhein-westfälischen Provinz und nach Sylt, um schließlich doch wieder nach Berlin und schließlich auch zu sich selbst zurückzufinden.

Mit sehr viel, gänzlich unkitschigem Lokalkolorit und schlaglichtartig aufblitzenden, politischen Ereignissen des Jahres 2015 (Flüchtlinge, Merkels „wir schaffen das“, Attentat in Nizza) haut die knapp 30-jährige Julia Zange eine höchst moderne Coming-of-Age-Geschichte raus. Weil das alles sehr klug beobachtet ist, darf es gelegentlich etwas altklug klingen, Marla nennt es „kitschigen Facebook-Eintrag“, Altklugheit ist schließlich ein Privileg der Jugend. „Wir haben eine Entscheidungsfreiheit, jede Sekunde. Aber das Seltsamste, was jetzt passiert, ist, dass auf einmal Gefühl 3 auftaucht“, erkennt Marla. „Und das hat etwas mit den anderen Menschen zu tun. Vielleicht kann man erst mit jemandem befreundet sein, wenn man den Falter von seinem Herzen entfernt hat.“

Junge Frauen auf der Suche nach sich und dem Sinn des Lebens in Berlin – das ist als Thema nicht neu. Noch nie hat man es aber so gegenwärtig und nicht zuletzt so elegant formuliert gelesen wie in Realitätsgewitter.

Elke von Berkholz

Julia Zange: Realitätsgewitter, Aufbau Verlag 2016, 157 Seiten, junge Erwachsene, 17,95 Euro

Tierische Bilderbücher

tierSeit Ende Januar feiern die Chinesen das Jahr des Hahns. Es soll Glück bringen für kommende Projekte. Eigentlich ein gutes Omen.

Ein Projekt hat auch Die kleine rote Henne von Pilar Martinez. Sie lebt mit ihren Küken auf dem Bauernhof und will ein Brot backen. Beim Bestellen des Feldes, beim Aussäen des Weizens, bei der Ernte, dem Mahlen der Körner und beim Backen könnte sie eigentlich ziemlich gut Hilfe gebrauchen. Doch ihre Mitbewohner Hund, Katze und Ente sind zu faul, schläfrig und lärmend und lehnen die wiederkehrende Frage, wer hilft, mit einem „Ich nicht!“ ab.
Da es bekanntermaßen so aus dem Wald herausschallt, wie man hineinruft, reagiert die kleine rote Henne am Ende dementsprechend, was hier mal nicht verraten wird.

Dieses freche spanische Volksmärchen ist eine entzückende Lektion in Sachen Hilfsbereitschaft, die kleinen Lesern durchaus zu denken geben wird. Und nicht nur denen.

Was mich bei diesem Buch noch ganz besonders freut, ist, dass die wunderbare Übersetzerin Ilse Layer auf dem Cover neben der Autorin und dem Illustrator genannt wird (wenn auch unverständlicherweise kleiner gedruckt). Das kommt in der deutschen Verlagslandschaft noch viel zu selten vor und sollte doch eigentlich selbstverständlich sein. Diesem Vorbild dürften andere Verlage bitte folgen.

Eine ebenso entzückende Federviehgeschichte ist die von Fledereule Eulenmaus der irischen Illustratorin und Schriftstellerin Marie-Louise Fitzpatrick. Ganz ohne Worte schildert sie die liebenswerte Begegnung zweier nachtaktiver Spezies des Tierreichs.

Da sitzt zunächst eine vierköpfige Eulenfamilie selig schlafend nebeneinander auf einem Ast, als sich eine Fledermausfamilie unter ihnen an den selben Ast hängt. Zunächst beäugt man sich misstrauisch, rückt auseinander und verbietet seinen Kindern den Kontakt während der Schlafenszeit.
Als ein Windstoß den Baum schüttelt, fällt das Getier vom Baum, und nun sammeln die besorgten Mütter ihren Nachwuchs wieder ein, allerdings nicht nur den eigenen, sondern auch den der Astnachbarin. Mittlerweile ist der Vollmond rund hinter dem Baum aufgegangen, die Lütten sind hellwach und alle rücken dichter zusammen.

Solidarität, Hilfsbereitschaft und Freundschaft brauchen hier keine Worte. Mutterliebe ist universell, und gemeinsam mit seinen Freunden macht die Erkundung der Nacht gleich doppelten Spaß. Braucht man mehr, um Kindern Offenheit und Toleranz zu zeigen? Ich glaube nicht.

bilderbücherDicke Freunde sind auch die beiden Wollschweinferkel Krümel & Fussel von Judith Allert. Sie führen ein schweinotastisches und wunderborstiges Leben voller Gegrunze, Geknurpse, Gemampfe und Gebuddel auf dem Bauernhof. Es fehlt ihnen an nichts. Nachts kuschelt die Großfamilienwollschweinsippe sich zusammen und veranstaltet ein Schnarchkonzert.
Doch eines Abends entdeckt Krümel ein faszinierendes Funkellicht. Er will ihm folgen, wird jedoch vom Zaun gestoppt. Was aber so ein abenteuerlustiges Wollschwein ist, das lässt sich natürlich nicht von einem einfachen Lattenzaun aufhalten. Am nächsten Morgen ziehen die Freunde los, finden ein Loch im Zaun und weiter geht es, immer dem Rüssel nach. Der dunkle Wald bei Nacht, die unheimlichen Geräusche und die fremden Waldbewohner halten die beiden nicht auf, um näher zum Funkellicht zu kommen.

Dass manchmal ein Perspektivwechsel des Rätsels Lösung bringen kann, erkennen die Freunde schon bald. Dass so eine Erkenntnis auch noch weitere Folgen hat und man manchmal einfach seinem Rüssel folgen muss, auch. Die beiden knuffigen Wollschweine machen einfach Lust darauf, dem eigenen Forscherdrang nachzugeben und den eigenen Weg unbeirrt weiterzugehen.

bilderbücherSo könnte das Leben eigentlich ganz wunderbar sein, wenn da nicht der nervige Schluckauf wäre. Vor allem, wenn er im ungelegensten Moment auftaucht und dann nicht mehr verschwindet, wie in Christian Gutendorfs Bilderbuch Hicks!
Krokodil Egbert kann ein Lied so einem Schluckauf singen. Als er eines Tages nach der Fütterung selig schlummert, schlägt der Aushilfsunterpfleger Tim die Tür mit so einem Ka-Bumm zu, dass es Egbert von seiner Mama runterschmeißt. „Eine Weile nix. Dann … Hicks“, so heißt es fort an. Es schüttelt und rüttelt und schmeißt Egbert hin und her, es ist herzerweichend.

Was macht man bei Schluckauf? Klar, man fragt andere um Rat. Egbert konsultiert Walross Wally, Mick, die Maus, Giraffe Ruth und noch so einige andere Zoobewohner. Doch nichts hilft, Luftanhalten nicht, Käse essen nicht, trocken schlucken erst recht nicht. Es ist zum … Hicks!

Und wenn schließlich alles nichts mehr geht, dann, ja dann sucht man auch endlich mal den Arzt auf. Egbert ist da nicht anders und traut sich endlich zum Tierarzt …

Liebevoll gereimt und humorvoll gezeichnet widmet sich Christian Gutendorf einem alltäglichen Phänomen, das zwar lästig, aber nicht lebensbedrohlich ist – und für das jeder sein eigenes Rezept entwickeln muss. Bis dahin ist diese Lektüre so wunderbar unterhaltsam, dass jede_r Schluckauf habende Leser_in vermutlich vor Lachen das nervige Gehickse wieder los wird …

 

Pilar Martinez: Die kleine rote Henne, Übersetzung: Ilse Layer, Illustration: Maro Somà, Aracari, 2017, 36 Seiten, ab 4, 13,90 Euro
Marie-Louise Fitzpatrick: Fledereule Eulenmaus, Sauerländer, 2017, 32 Seiten, ab 4, 14,99 Euro
Judith Allert: Krümel & Fussel immer dem Rüssel nach, Illustration: Joelle Tourlonias, Ravensburger, 2017, 32 Seiten, ab 4, 13 Euro
Christian Gutendorf: Hicks! Ein Krokodil hat Schluckauf, Lappan, 2017, 44 Seiten, ab 4, 12,99 Euro

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Die Höhen und Tiefen des Lebens

Bekanntermaßen ist das Leben kein ununterbrochener  Kindergeburtstag. Vor allem, wenn psychische Krankheiten das Leben dauerhaft prägen. Diese Leiden Kindern zu erklären und ein Verständnis in ihnen zu wecken, ist ein schwieriges, wenn nicht gar heikles Unterfangen. Ulrich Fasshauer hat es gewagt und mit Das U-Boot auf dem Berg einen liebevoll rasanten Kinderoman zum Thema vorgelegt.

Mauritius ist zwölf und erst vor kurzem mit den Eltern aufs Land gezogen, irgendwo nach Norddeutschland, wo er von dem Hügel, auf dem ihr Haus steht, das Meer sehen kann (warum auf dem Buchcover im Hintergrund die Berge zu sehen sind, ist mir ein Rätsel…). Das Meer ist Mauritius große Leidenschaft, je tiefer und dunkler desto besser. Sein Zimmer ist dementsprechend eingerichtet und über die Bewohner der Tiefsee weiß er Bescheid. Nur redet Mauritius nicht besonders viel. Die Welt scheint ihn zu überfordern. Wenn alles extrem zu viel wird, wendet er sich an seinen imaginären Freund Herrn Glimm, einen Laternenfisch. Ihn füttert er mit allem, was ihn ärgert. Das sind momentan vor allem die neuen Klassenkameraden, die mit seinem Schweigen nicht viel anfangen können.

So bleibt es natürlich nicht. Eines Tage taucht Mauritius Onkel Christoph auf, ein gescheiterter Rockmusiker, der manisch-depressiv ist. Von dieser tückischen Krankheit bekommt Mauritius zunächst noch nicht viel mit, denn Christoph ist gerade in seiner manischen Phase und stellt das ruhige Leben der Familie gehörig auf den Kopf. Das nervt Mauritius anfangs ziemlich, so dass er den Onkel am liebsten an Herrn Glimm verfüttern würde. Wäre da nicht die anregende, mutmachende, lebensbejaende Seite von Onkel Christoph, an der sich Mauritius so gern anstecken würde. Denn Onkel Christoph ist auch ziemlich cool und erfüllt Mauritius seinen größten Wunsch zum Geburtstag, mit der Folge, dass der Kindergeburtstag völlig aus dem Ruder läuft. Onkel Christoph wird in die Psychiatrie eingeliefert, und da merkt Mauritius, wie anders der Onkel wirklich ist.

Fasshauer schreibt konsequent aus der Perspektive seines Ich-Erzählers, so dass das ungewöhnliche Verhalten des Onkels zunächst nicht unter den Beurteilungswahn der Erwachsenenwelt fällt. Erst nach und nach wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Überdrehtheit handelt, sondern um wirklich krankhaftes Verhalten.
Wenn schon Erwachsene diese komplexe und unberechenbare Krankheit nicht so richtig einschätzen und angemessen damit umgehen können, ist dieses für Kinder natürlich noch um Längen schwieriger. An was soll man sich halten, wenn das Gegenüber von einer Sekunde auf die andere alles Gewohnte über den Haufen wirft, Regeln missachtet und seine eigenen Wahrheiten propagiert? Mauritius hält sich tapfer, versucht, Onkel Christoph nicht zu verurteilen, und entdeckt schließlich die liebenswerten Seiten des Onkels, die natürlich einen Einfluss auf ihn selbst haben.

In all dem Chaos, das Onkel Christoph anrichtet, erlebt Mauritius und mit ihm die jungen Lesenden, was für eine Belastung eine psychische Krankheit eines Angehörigen sein kann, aber auch, dass der Betroffenen dennoch ein liebenswerter und wichtiger Teil im Leben der Familie ist. Fasshauer schafft es so, dass Verständnis und Toleranz für psychisch Erkrankte steigt und man nicht verzweifelt. Denn es gibt immer einen Weg, wie man mit diesen Menschen und ihren Phasen umgehen kann.

Mauritius macht – mit anderen Worten – den Kindern Mut. Mut, sich einzulassen auf Ungewohntes, Mut, über den eigenen Schatten zu springen, Mut, Neues zu wagen. So wird das eigene Leben selbst durch eine Krankheit eines anderen bunter und lebenswerter.

Ulrich Fasshauer: Das U-Boot auf dem Berg, Tulipan, 2017, 188 Seiten, ab 10, 13 Euro

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