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Jungvater in der Zwickmühle

thomas

Eigentlich hat Mav, 17 Jahre alt, sich sein Leben anders vorgestellt. Der Ich-Erzähler in Angie Thomas neuem Roman Concrete Rose ist als Mitglied der King Lords geachtetes Mitglied einer Gang in den Garden Heights. Er dealt und hat immer genug Kohle für coole Klamotten und angesagte Sneakers. So könnte es weitergehen.

Doch dann liefert ein Vaterschaftstest den unumstößlichen Beweis, dass er und nicht sein bester Freund King der Vater von Ieshas Baby ist. Und noch ehe Mav sich versieht, lässt die Kindsmutter das Kind bei ihm und taucht erste einmal unter, ohne sich weiter um ihren Sohn zu kümmern. So beginnt eine Zeit, die jungen Eltern nur allzu bekannt vorkommen wird: ein dauerschreiendes Baby, volle Windeln, gestörter Nachtschlaf – und die Kohle geht weg wie nix. Zumal Mav als guter Daddy das Dealen aufgegeben und einen miesbezahlten Job im Laden von Mr. Wyatt angenommen hat.

Das Leben als Teenage-Vater

Mavs Leistungen in der Schule gehen durch die Dreifach-Belastung von Lernen-Jobben-Baby den Bach runter und seine geliebte Lisa nichts mehr mit ihm zu tun haben, als sie von dem Baby erfährt. Und als ob das nicht schon genug ist, wird dann auch noch sein Cousin Dre auf offener Straße erschossen und stirbt in Mavericks Armen.
Harter Tobak und viel Stoff für einen Roman, doch Thomas gelingt es – wie in ihren Vorgängerromanen THUG und On The Come Up – die Spannung und die Sympathie für ihren Protagonisten zu halten.

Die Gesetze der Straße

Mav hat Hochs und Tiefs, hadert mit seinem Leben, liebt seinen Sohn aber abgöttisch. Er ist hin und hergerissen zwischen den Ansprüchen seiner Gang und den Aufgaben eines Familienvaters, wobei ihm die Vorbehalte der Gesellschaft gegenüber einem Teenager-Vater zusätzlich belasten und nerven. Doch er versucht sein Bestes, um auf dem rechten Weg zu bleiben, obwohl der Mord an Dre ihn auf eine extreme Probe stellt, denn die Gesetze der Straße sind eindeutig – und hart.

Slang liefert authentische Atmosphäre

Thomas liefert eine dynamische plotgetriebene Geschichte, voller Dialoge, Liebesverwirrungen und überraschenden Wendungen, alles von Henriette Zeltner gewohnt souverän übersetzt. Diese lässt dabei unzählige Slangausdrücke im Original stehen – ein Glossar liefert die Bedeutungen –, sodass eine überaus authentische Atmosphäre selbst im Deutschen entsteht.

Wer Thomas‘ Debüt kennt, wird sich hier über die Vorgeschichte von Starrs Familie freuen und vieles von dem wiederfinden, was auch in THUG prägend war. Gerade in Zeiten, in denen Black-Lives-Matter-Aktionen aus guten Gründen täglich in den Nachrichten gezeigt und geschildert werden, Zeiten, in denen mit einer traurigen Regelmäßigkeit schwarze Bürger:innen von weißen Polizist:innen grundlos getötet werden, bleibt Thomas ihrem Thema treu. Die Gewalt in Problemvierteln ist quasi allgegenwärtig und das eben nicht erst seit George Floyds Tod im vergangenen Jahr, sondern seit vielen, sehr vielen Jahrzehnten. Aus diesen Gewaltspiralen auszubrechen und ein friedliches Leben zu führen, ist eine schwierige Aufgabe, die Haltung und Durchhaltevermögen benötigt. Genau das zeigt Angie Thomas anschaulich aus Sicht der schwarzen Jugend, wobei sie selbst nicht über dealende Jugendliche oder Teenager-Eltern urteilt, sondern deren Nöte und Beweggründe für ihr Verhalten schildert. Thomas überlässt es den Leser:innen, sich eigene Gedanken dazu zu machen – und das ist die bestechende Stärke ihres Schreibens.

Angie Thomas: Concrete Rose, Übersetzung: Henriette Zeltner-Shane, cbj, 2021, ab 14, 20 Euro

Eine Frage der Identität

Dieser Tage kann man Angie Thomas quasi im Doppelpack erleben. Im Kino läuft seit vergangener Woche die sehr gelungene Verfilmung ihres Debüt-Romans The Hate U Give, im Buchhandel ist ab heute ihr neues Werk mit dem Titel On The Come Up zu haben.
Auch Thomas‘ neuer Roman spielt im selben Viertel wie THUG, in Garden Heights, einer nicht genannten amerikanischen Großstadt. Ging es im Vorgängerroman um Polizeigewalt gegen die schwarze Bevölkerung und begann spektakulär mit den Tod eines Jungen, so ist die Gewalt in On The Come Up anders gelagert. Hier stirbt niemand, doch nett oder gar beschaulich geht es auch jetzt nicht zu. Thomas erzählt von der jungen Rapperin Bri, deren Familie kurz davor steht, obdachlos zu werden, da die Mutter ihren Job verliert und die laufenden Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können. Bris Bruder findet trotz guter Ausbildung nur eine mies bezahlte Anstellung in einem Pizza-Laden. Der Vater, der im Viertel ein angesehener Gangsta-Rapper war, ist schon vor Jahren, als Bri noch klein war, bei einer Schießerei (die hier eben nicht erzählt wird) umgekommen.

Zwischen Leidenschaft und Rollenspiel

Bri möchte ihrer Familie helfen, indem sie als Rapperin groß durchstartet. Und sie kann Talent vorweisen. In einem Battle schlägt sie den Sohn eines Rap-Managers und wird quasi über Nacht zu einer Berühmtheit. Allerdings mit einem Song, in dem sie sich selbst als bewaffnet und zur Gewalt bereit darstellt. Damit reagiert sie auf einen Vorfall in ihrer Schule, bei dem zwei Sicherheitsbeamte sie bei der Taschenkontrolle aus rassistischen Gründen überwältigt und zu Boden geworfen haben. Rasch wird sie als Drogendealerin verunglimpft, obwohl sie nur Süßigkeiten verkauft hat – doch als Tochter einer ehemaligen Drogenabhängigen ist so ein Urteil schnell gefällt.

Mit einem Mal muss Bri feststellen, dass sie zwar Rap-Talent und eine Botschaft hat, doch dass diese Botschaft nicht so verstanden wird, wie sie es sich gedacht hatte. Der Rap-Manager würde sie allerdings gern unter Vertrag nehmen und ködert Bri mit schicken Timberlands und einem Radio-Interview. Bri sieht sich dem Erfolg schon ganz nah – bis sie hinter die Kulissen schaut und eine Entscheidung trifft.

Die Stimme erheben

Angie Thomas ist hier erneut eine sehr komplexe und faszinierende Geschichte gelungen, in der sie zahlreiche Themen anspricht und zu einem wahren Pageturner verflechtet. Sie führt den Leser_innen vor Augen, wie schwierig es ist, sich aus alt eingesessenen Strukturen zu befreien – sei es von einer Drogenabhängigkeit, sei es von dem Vergleich mit dem Vater, sei es aus einem Problemviertel herauszukommen und die Armut zu überwinden. Überall stoßen Bri und ihre Familie auf Widerstände, Vorurteile, Missgunst oder Gier.
Bri als impulsive 16-Jährige, die durch die Vorfälle, die in THUG geschildert werden – auf den Vorläuferroman spielt Thomas immer wieder sehr geschickt an –, verstanden hat, dass sie ihre Stimme erheben muss, hält folglich nicht den Mund. Sie redet den anderen nicht nach dem Maul, sondern sagt unumwunden ihre Meinung. Und macht sich damit angreifbar.

Wer bin ich?

Über allem steht für mich fast nicht so sehr die Frage, wie man in der Gesellschaft aufsteigt (eng. the come up), sondern wer man/frau selbst sein will. Was prägt die eigene Identität? Die Herkunftsfamilie? Der eigene Kiez? Die Leidenschaft, für die man alles tun würde? Bri stellt sich diese Fragen zwar nie konkret, doch sie schwingen immer mit, bei ihr, bei ihrem schwulen Freund, bei Mutter und Tante. Für Bri ist die Verlockung groß, für ihre Leidenschaft – das Rappen – alles zu geben und, wie von ihrem gierigen Fast-Manager empfohlen, eine Rolle zu spielen. Angie Thomas beschreibt dies so unmittelbar aus Bris Perspektive, dass man ihr den Erfolg und den (finanziellen) Durchbruch eine Zeit lang durchaus wünscht. Doch schnell wird auch klar, dass darin nicht das Glück liegt.
Denn das Offensichtliche ist nicht immer das, was einen Menschen glücklich macht. Das entdeckt Bri neben all den Karriere-Aufregungen dann fast noch wie nebenbei, als sie merkt, dass ihr alter liebenswerter Kumpel Malik nicht so ein Herzklopfen und Britzeln bei ihr auslöst, wie der coole Curtis.

Das Rapper-Vokabular

Sprachlich zeichnet sich On The Come Up, wie schon THUG, durch sehr viel Slang, Ghettosprache sowie amerikanische Jugend- bzw. Hiphop-Sprache aus. Hier muss man der Übersetzerin Henriette Zeltner erneut höchsten Respekt zollen, da sie dieses spezielle Vokabular so im Text belässt, dass es sich authentisch anhört, man aber durch ihre sprachlichen Hinleitungen immer genau weiß, was die einzelnen Ausdrücke und die Rap-Texte, die komplett auf englisch belassen wurden, bedeuten. Ich glaube jedoch, dass für die Jugend, die eh schon viel intensiver mit der englischen Sprache groß wird, als meine Generation, mit all diesen Texten und Worten keine Schwierigkeiten haben wird.
Für gewisse Zweifelsfälle kann man hinten im Glossar nachschlagen und sich schlau machen.

Auch ohne den Vorgänger THUG zu kennen kann man On The Come Up sehr gut lesen. Die Anspielungen an THUG, die Thomas in die neue Geschichte einwebt, bringen den Kennern ihres Debüts die Erinnerungen daran zurück, die Thomas-Neulinge werden auf jeden Fall neugierig gemacht, diese Lektüre nachzuholen.
Und wer es schneller haben möchte, kann dieser Tage The Hate U Give im Kino anschauen – und wird von Amandla Sternberg als Starr Carter hoffentlich genauso begeistert sein wie ich.

Angie Thomas: On The Come Up, Übersetzung: Henriette Zeltner, cbj, 2019, 512 Seiten, ab 14, 18 Euro

Die Sieger des Deutschen Jugendliteraturpreises 2018

Und wieder ist eine Buchmesse vorbei. Doch was für eine! Ich habe den Überblick verloren, wie oft ich schon in Frankfurt auf der Buchmesse war – doch so wie diese war noch keine.
Denn zum ersten Mal im Leben habe ich einen Preis gewonnen: Den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Sachbuch für meine Übersetzung Der Dominoeffekt von Gianumberto Accinelli und Serena Viola, die die wunderschönen Illustrationen beigetragen hat. Über den Inhalt des Buches habe ich schon einmal hier berichtet.

Als Übersetzerin war ich dieses Jahr zum zweiten Mal nominiert – nach 2016 für das Bilderbuch Der goldene Käfig von Anna Castagnoli und Carll Cneut – und konnte die Verleihung etwas gelassener angehen als beim ersten Mal. Schon allein die Nominierung ist ein großer Erfolg, kommen doch jedes Jahr etwa 9000 neue Kinder- und Jugendbücher auf den Markt. Und wie eine Jury entscheidet – das kann man nie, nie, nie vorhersehen. So ein Preis ist im Grunde die Sahnehaube auf der Nominierungstorte.

Als Bundesfamilienministerin Franziska Giffey dann jedoch den Umschlag öffnete – diese Veranstaltung hat schon ein bisschen etwas von einem Hollywood-Oscar-Anstrich – haben Serena Viola und ich uns an den Händen gepackt und gebangt. Eigentlich hatte ich immer gedacht, dass man völlig erleichtert ist, wenn dann der Name des eigenen Buches genannt wird – doch es war eher das Gegenteil: Schlagartig war ich so aufgeregt, dass ich total weiche Knie und hektische rote Flecken im Dekolleté bekam. OMG!!!
Serena Viola schien es ähnlich zu ergehen. Wir sind quasi Arm in Arm auf die Bühne, während Gianumberto Accinelli voller Energie vorstürmte. Wir haben dann dort oben ein paar Fragen beantwortet – und ich bewundere seitdem jeden, der in so einer Situation auf einer hell erleuchteten Bühne auch nur einen klaren Satz herausbringt. Ich jedenfalls stand eher ein bisschen neben mir und hielt mich quasi an der schweren Momo-Statue fest, die jede_r Gewinner_in bekam.
Der Rest des Abends war ein wunderbarer Reigen von Gratulationen, Umarmungen, Anstoßen, Durchatmen, Es-nicht-glauben-Können und einem herrlichen Essen mit dem Fischer Verlag. Mit anderen Worten: großartig und unvergesslich!

BruderDoch nicht nur Der Dominoeffekt ist ausgezeichnet worden, sondern auch vier weitere Bücher.
In der Sparte Bilderbuch ging der Preis an Oyvind Torseter und seine Übersetzerin Maike Dörries für Der siebente Bruder oder Das Herz im Marmeladenglas. Darüber habe ich hier berichtet.
In der Sparte Kinderbuch sind Megumi Iwasa (Text), Jörg Mühle (Illustrationen) und Ursula Gräfe (Übersetzung) für Viele Grüße, deine Giraffe ausgezeichnet worden. Dieses Buch habe ich noch nicht gelesen und muss es unbedingt nachholen.

 

Das Buch Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß von Manja Präkels hat in der Sparte Jugendbuch gewonnen und stellt gerade meine Frühstückslektüre dar.
Präkels erzählt darin von der Umbruchzeit 1989/1990 in der ostdeutschen Provinz, als in einem kleinen Havelstädtchen sich die ehemaligen Spielkameraden von Mimi zu Nazis wandeln und der westliche Kapitalismus die zuvor leeren Schaufenster überquellen lässt.
Präkels erinnert so daran, wie es vor fast dreißig Jahren in der zerfallenden DDR zuging, mit welchen Unsicherheiten und Veränderungen die Menschen dort zu kämpfen hatten, wie sie überrumpelt wurden und wie auf einmal Überzeugungen zu Tage traten, die man nicht für möglich gehalten hätte – und die leider auch heute wieder hochkochen. Das, was die Ostdeutschen damals erleben mussten, können wir heute nicht mehr rückgängig machen, doch Präkels Roman hilft dabei, deren Frust zu verstehen. Das ist zwar noch lange keine Lösung unserer jetzigen Probleme, doch Verständnis und das Miteinander-Reden ist ein Anfang, um die unsichtbare Mauer, die zwischen Ost und West immer noch besteht, endgültig niederzureißen. Es wird Zeit.

Die Jugendjury schließlich hat sich für den Roman The Hate U Give von Angie Thomas in der Übersetzung von Henriette Zeltner entschieden. Eine wunderbare Wahl, wie ich finde. Das Buch habe ich hier vorgestellt.

Zudem gab es zwei Sonderpreise, in diesem Jahr waren die Übersetzer_innen an der Reihe – im Drei-Jahres-Turnus werden Autor_innen, Illustrator_innen und Übersetzer_innen ausgezeichnet.
Der Preis für die Newcomerin ging an Gesa Kunter und ihre Übersetzung des Buches Schreib! Schreib! Schreib! der Schwedinnen Katarina Kuick und Ylva Karlsson.

Der Preis für das Gesamtwerk Übersetzung erhielt Uwe-Michael Gutzschhahn, dessen Werke ich auch hier schon das eine oder andere Mal vorgestellt habe – so sei hier an das umwerfende Buch Zorgamazoo von Robert P. Weston erinnert. Schon allein für dieses sprachliche Leistung hätte Gutzschhahn jeden möglichen Preis verdient.

Allen Siegern gratuliere ich ganz herzlich und freue mich sehr, in dieser wunderbaren Runde vertreten sein zu dürfen!

 

Preiswürdige Bücher!

Vergangene Woche wurden auf der Leipziger Buchmesse die Nominierungen für den diesjährigen Jugendliteraturpreis bekanntgegeben. Für mich ist es nach 2016 nun zum zweiten Mal eine Freude mit einer Übersetzung aus dem Italienischen nominiert zu sein. Der Dominoeffekt von Gianumberto Accinelli, mit den wunderschönen Illustrationen von Serena Viola, hat es auf die Shortlist der Sparte Sachbuch geschafft.

accinelliDa ich den Dominoeffekt im vergangenen Jahr hier gar nicht vorgestellt habe, hole ich das nun kurz nach. In 18 Kapiteln erzählt der italienische Insektenforscher kuriose und eindrucksvolle Geschichten über das Zusammenspiel von Mensch und Natur. Anschaulich beschreibt Accinelli die umfassenden und nachhaltigen Auswirkungen, die entstehen, wenn der Mensch in die Natur eingreift.

Dabei geht es nicht nur um heutige Eingriffe, sondern vor allem auch um solche, die zum Teil hunderte von Jahren zurückliegen, und deren Auswirkungen die Bewohner Australiens beispielsweise heute noch spüren.
Faktenreich erzählt Accinelli von unterschiedlichsten Spezies: da gibt es die giftigen Frösche in Panama, die unkontrollierbaren Kaninchen in Australien, die Malariamücken auf Borneo, die überfischten Kabeljaubestände im Nordatlantik, schlaue Tauben und falsche Perserkatzen.

Viel kann man hier lernen, vor allem jedoch bekommen große und kleine Leser_innen ein Gespür dafür, wie sehr auf unserer Erde alles miteinander verknüpft ist. Genau dies besagt auch der Untertitel, der die wörtliche Übersetzung des italienischen Originaltitels ist: Die unsichtbaren Fäden der Natur. In diesem Sinne ist das Buch von Accinelli ein Augenöffner, das zeigt, dass Globalisierung nicht nur im Bereich der Wirtschaft (nicht) funktioniert, sondern auch die Ökosysteme so heikel austariert sind, dass der unwissende Mensch mit seinen oftmals merkwürdigen, weil egozentrischen Ideen unglaublich viel Schaden anrichten kann. Im Grunde wünscht man sich, dass dieses Buch die kommenden Generationen zu mehr Achtsamkeit, Zurückhaltung und Respekt im Umgang mit Tieren, Pflanzen und ihrem und unserem Lebensraum anleitet. Es wäre ein Buch, dass im besten Fall die Welt tatsächlich verändern könnte.

Für mich als Übersetzerin war die Arbeit an diesen Geschichten eine große Bereicherung, denn auch ich war mir über viele Zusammenhänge und Auswirkungen so nicht im Klaren. Rein arbeitstechnisch bedeutete das Übersetzen hier aber auch jede Menge Recherche. Zum einen, um die Fakten noch mal genau zu checken und auch um die richtigen Ausdrücke, Namen und Zusammenhänge zu finden. Und sie dann in eine gut lesbare Sprache zu bringen.
Umso mehr freue ich mich jetzt natürlich, dass all diese Arbeit von Gianumberto Accinelli, Serena Viola, die ganz wunderbar leichte, künstlerische Illustrationen und durchlaufende Fäden beigesteuert hat, und mir nun mit der Nominierung für den Jugendliteraturpreis gewürdigt wird.

Neben dem Dominoeffekt sind noch 28 weitere Bücher nominiert, die ihr hier nachschauen könnt. Ich möchte in diesem Rahmen nur noch kurz darauf hinweisen, dass Elke von Berkholz und ich so einige von den Nominierten im Laufe des vergangenen Jahres hier vorgestellt haben. Nämlich aus der Sparte Bilderbuch:

Grododo von Michael Escoffier und Kris di Giacomo, übersetzt von Anna Taube.

Sebastian Meschenmosers Die verflixten sieben Geißlein.

BruderØyvind Torseter: Der siebente Bruder, übersetzt von Maike Dörries.

Bluma

Aus der Sparte Kinderbuch haben wir Bluma und das Gummischlangengeheimnis von Silke Schlichtmann und Ulrike Möltgen vorgestellt.

Aus der Sparte Jugendbuch fand sich auf LETTERATUREN Angie Thomas mit The Hate U Give, in der Übersetzung von Henriette Zeltner, das dieses Mal auch von der Jugendjury nominiert wurde.

Sachbuchtechnisch haben wir zudem das Werk von Katharina von der Gathen und Anke Kuhl, Das Liebesleben der Tiere, empfohlen.

Was mich dann immer besonders freut, sind die Nominierungen der Jugendjury. Hier gab es allein drei Bücher, die auch wir hier präsentiert haben. Wie gesagt, Angie Thomas, dazu Der Junge auf dem Berg von John Boyne.

Und schließlich noch Johannes Herwigs Bis die Sterne zittern – auch wenn ich da einige Kritik anzubringen hatte.

Die übrigen Nominierten werden wir hier im Laufe des Sommers, bis zur Verleihung der Preise auf der Frankfurter Buchmesse vielleicht noch vorstellen.

Allen Nominierten ganz herzliche Glückwünsche! Es wird ein Fest im Oktober!

Gianumberto Accinelli: Der Dominoeffekt oder Die unsichtbaren Fäden der Natur, Illustrationen: Serena Viola, Übersetzung: Ulrike Schimming, Sauerländer, 2017, 128 Seiten, ab 10, 19,99 Euro

Gegen den Hass

Wie soll man mit Polizeigewalt umgehen? Diese Frage stellte sich Hamburg nach den Ausschreitungen beim G20 Anfang Juli. Eine Antwort ist noch nicht gefunden und langsam geraten die Geschehnisse, die zum Glück relativ glimpflich ausgegangen sind, wieder in Vergessenheit.

Anders sieht es in den USA aus, wo die Gewalt von vornehmlich weißen Polizisten viel zu oft schwarze Mitbürger trifft, oftmals ohne jeglichen Anlass. Genau so einen Fall schildert die Autorin Angie Thomas in ihrem eindrucksvollen Debüt The Hate U Give, kurz THUG.

Die 16-jährige Ich-Erzählerin Starr lebt mit ihrer Patchwork-Familie in einem sozialen Brennpunkt, einem Schwarzen-Ghetto, in einer amerikanischen Großstadt. Seit sie mit zehn erlebt hat, wie ihre beste Freundin aus einem Auto heraus erschossen wurde, geht sie jedoch auf eine private High School in einem Viertel von wohlhabenden Weißen. So führt sie quasi zwei Leben, ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Hood mit ihrem Slang und ihrem coolen Auftreten als einzige Schwarze an der Reichen-Schule, wo sie sich zurücknimmt, um nicht als Bitch angesehen zu werden.

Auf einer Party in ihrem Wohnviertel trifft sie ihren Kindheitsfreund Khalil wieder. Als es zu einer Schießerei kommt, hauen die beiden im Auto ab. Weil ein Rücklicht nicht funktioniert, werden sie von einem Streifenwagen angehalten und kontrolliert. Die beiden verhalten sich ruhig und kooperativ, dennoch es kommt zur Katastrophe. Der Polizist erschießt Khalil von hinten.

So weit, so schrecklich. Doch was Starr nach diesem Erlebnis durchmachen muss, ist nicht weniger empörend. Die Polizei, bei der Starr eine Aussage macht, verdreht ihr quasi die Worte im Mund, macht die Jugendlichen zu Tätern und den Beamten zum Opfer. Khalil wird in der Öffentlichkeit als Drogenhändler und Gangmitglied hingestellt, so dass der Tenor aufkommt, es wäre quasi okay, dass er erschossen wurde. Denn er war ja also selbst schuld daran.
Bis schließlich eine Staatsanwältin Starr anhört und ein Geschworenengericht über eine Anklage des Polizisten entscheiden soll, vergehen Wochen, die mit Ausschreitungen im Ghetto enden.

Starr ist in dieser Zeit völlig verunsichert. Sie fürchtet um ihr Leben, kann mit ihren Freunden nicht über ihr Erlebnis reden, weil niemand wissen soll, dass sie die Zeugin ist. Doch entsprechen ihrer Erziehung – ganz im Sinne der Black Panthers – ist sie auch bereit, die Stimme zu erheben, um für Khalil und die schwarze Community zu kämpfen. Schließlich nimmt sie allen Mut zusammen.

Angie Thomas gelingt es, auch dank der großartigen Übersetzung von Henriette Zeltner, den hiesigen Lesern einen tiefgründigen Einblick in das Leben der Schwarzen in den USA zu vermitteln. Sie verarbeitet darin vor allem die Umdeutung des Begriffes „thug life“ („Gangsterleben“) durch den 1996 verstorbenen Rapper Tupac.
Dabei steht das titelgebende Akronym für: „The Hate U Give Little Infants Fucks Everyone“, was so viel bedeutet wie: „Der Hass, den man seinen Kindern mit auf den Weg gibt, schadet allen“. Ganz im Sinne Tupacs zeigt Thomas, wie die Kinder in einem Schwarzen-Ghetto durch gesellschaftliche Intoleranz und Rassismus zu Kriminellen werden, was diese eigentlich gar nicht wollen. Doch oftmals haben sie einfach keine andere Chance, um zu überleben.

Thomas entschuldigt jedoch nichts. Sie zeigt Missverhältnisse auf, weist auf Machtstrukturen und Ungerechtigkeiten hin. Und in all der schier ausweglosen Tristesse keimt doch Hoffnung auf, wenn die Menschen zusammenstehen, über die Grenzen der Hautfarbe hinweg, wenn sie die Gelegenheit zum Ausstieg aus kriminellen Strukturen nutzten und Rückhalt bei Freunden, Familie und Nachbarn finden.
Und daran können wir uns ein Beispiel nehmen. Deutschland ist zwar von diesen speziellen amerikanischen Verhältnissen noch ein gutes Stück entfernt, doch Parallelwelten von Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen gibt es auch hier. Da sind viele schnell mit Vorurteilen und Ablehnung zur Stelle, und der Schritt zur Gewalt ist dann manchmal nicht weit. Hier ist es unsere Aufgabe, innezuhalten und darüber nachzudenken, was jeder von uns dazu beitragen kann, damit wir unseren Kindern nicht diesen zerstörerischen Hass mitgeben.

Was The Hate U Give zusätzlich faszinierend macht, ist der sprachliche Umgang mit dem Slang der Black Community. Da werden gewisse Ausdrücke nicht übersetzt und fügen sich doch ganz selbstverständlich in den Text ein. Übersetzerin Henriette Zeltner ist hier ein cooler Spagat zwischen diesen Originalbegriffen und lockerer deutscher Umgangssprache gelungen, die die Eigenheiten von Starrs Familie und ihrer Hood zeigen. Ein Glossar am Ende des Romans listet dann noch einmal alle speziellen Begriffe auf und bringt einem das Leben im Ghetto mit seinen Facetten aus Politik, Rap, Gangs, Basketball und Südstaatenküche näher.

Junge Leser bekommen mit diesem Roman einen eindrucksvollen Eindruck davon, dass hinter einer coolen Fassade (junger amerikanischer Schwarzer) mehr steckt als harte Rappmusik, die neuesten Sneakers (Starr steht voll auf Basketballtreter) und sexy Dancemoves. Die Angst ums eigene Leben, die Angst um die Familie, die Unsicherheit, wenn man einem Polizisten begegnet, sind für Starr allgegenwärtig. Und dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen. Starke Starr!

Angie Thomas: The Hate U Give, Übersetzung: Henriette Zeltner, cbt, 2017, 512 Seiten, ab 14, 17,99 Euro

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