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Leben und leben lassen

Oar, Leute! Aber sonst geht’s euch gut, ja?!« Kaum im Waldkrankenhaus angekommen und die frische Schusswunde selbst (mit dekorativem Kreuzstich) vernäht, rettet durch verrückten Zufall ein Kaninchen dem Wolf das Leben. Und jetzt muss sich der coole Einzelgänger auf der Suche nach sichereren Jagdgründen um das kleine Beutetier kümmern. »Frag nicht, Wolfskodex«.

Furioses Road-Comic

Mit dem Kaninchen hat der Wolf gleich noch einen Infusionsständer, einen Koffer mit Medikamenten und einen langen Therapieplan im Schlepptau, das Kaninchen hat nämlich Krebs und fünf Monate Chemo vor sich. Und so macht sich das kuriose Duo auf einen Trip mit Tropf, wie Josephine Marks furioses Road-Comic heißt.

Stiernackige Motorradrocker und gutmütige Bärin

Stilecht bewegen sich die beiden erst im Pickup, zwischendurch auf Motorrad mit Beiwagen und schließlich zu Fuß auf Schleichwegen durch Wälder, an Flüssen entlang und über verschneite Bergketten. Sie begegnen üblen, stiernackigen Motorradrockern, gutmütigen Touristen, freundlichen Wolfkumpeln und einer gutmütigen Bärin – immer den fiesen Jäger und seinen ebenso unerfreulichen Hund im Nacken. Als wäre das nicht schon genug, verliert das kranke Kaninchen sein Fell, kotzt sich die Seele aus dem Leib und leidet unter Nasenbluten.

»Born to be wild«

Aber manchmal genießt das ungleiche Paar Verschnaufpausen in schäbigen Motels und einsamen Hütten. Sie futtern Chips und gucken Filme im Fernsehen. Oder singen laut und lustvoll die Hymne aller Abenteurer und Roadtrips »Born to be wild«. Josephine Marks Comic ist ein actionreiches, mitreißendes Feuerwerk an brenzligen Situationen, krassen Unfällen und wundersamen Wendungen. Es vibriert von Zitaten und Anspielungen.

Genervt, skeptisch, kaltschnäuzig

Am liebsten zeichnet Mark Wölfe – und das sieht man. Erstaunlich, wie dieses schmale, einfach konturierte, graue Wesen so viele Stimmungen, Launen und Gefühle zeigt. Also vor allem wirkt er genervt, ungeduldig, skeptisch, fassungslos, wütend, kaltschnäuzig. Auch mal wild und ausgelassen. Aber immer verbirgt sich dahinter unerschütterliches Verantwortungsgefühl und zupackende Hilfsbereitschaft für das Häuflein Elend, das der Wolf konsequent »Nager« nennt. Und ja: echte Zuneigung. Die Sache mit dem Wolfskodex hat wahrscheinlich eine sehr lange Geschichte, wie nicht nur die Bärin Beate vermutet.

Schönste und lebensbejahendste Antwort

Dazu passt auch die entzückende Schlussszene. Wolf und Kaninchen sitzen voll kitschig nebeneinander auf einem Findling auf einer Frühlingswiese und betrachten das gegenüberliegende Bergmassiv. Der Wolf macht einen vagen Vorschlag und stellt die Frage, die eigentlich in jeder Beziehung tabu ist und nur bei wirklicher Offenheit für jede Antwort gestellt werden sollte: »Was denkst du?«

Und das Kaninchen gibt die schönste, witzigste und absolut lebensbejahendste Antwort darauf, die man sich nur vorstellen kann. Aber die wird hier natürlich nicht verraten.

Josephine Mark: Trip mit Tropf, Kibitz, 192 Seiten, 20 Euro, ab 12

Coole Comics für Kids

Wenn Wünsche wahr werden … so träumen wir im Leben von möglichen und unmöglichen Dingen. Manchmal rühren wir keinen Finger, um bei der Wahrwerdung mitzuhelfen, manchmal setzen wir Himmel und Hölle in Bewegung – und genau das macht Toni in dem gleichnamigen Comic von Philip Wächter.

Denn Toni wünscht sich nichts sehnlicher als die coolen Blink-Funktion-Fußballtreter seines Idols Renato Flash, für schlappe 80 Euro. Die Diskussion mit Mama um neue Fußballschuhe läuft jedoch ins Leere, Opa ist mehr an seiner neuen Lesebrille interessiert und als Mama zu allem Überfluss auch noch beschließt, Weihnachten ohne Geschenke zu feiern, muss Toni aktiv werden. Und Geld verdienen. Voller Elan macht er sich ans Werk. Er verteilt Flyer, führt den Hund der Nachbarin aus, veranstaltet einen Flohmarkt und versucht es mit Straßenmusik.
Doch bei allem lauern die Tücken: Die Kumpels, die beim Flyerverteilen helfen, haben hinterher Hunger. So geht der Verdienst bei einer Runde Pommes drauf, das Strafgeld für den nicht-beseitigten Hundehaufen (weil Toni die Gassitüte zerplatzen ließ) reduziert den Stundenlohn, lustige Songs über Chinesen mit Kontrabässen bringen in der Weihnachtszeit auch nicht viel ein … Mit anderen Worten: Toni lernt eine Menge über Wünsche, Arbeiten und die Unvorhersehbarkeiten des Lebens – als er nämlich ein richtige nettes Mädchen kennenlernt.

Auch dass Betteln keine Alternative ist, um an Geld zu kommen, macht ihm Mama unmissverständlich klar. Stecken doch hinter jedem Menschen, der auf der Straße sitzt, dramatische und traurige Schicksale.

Charmant erzählt, luftig gezeichnet bringt Philip Wächter jungen Comic-Lesenden wichtige Lektionen des Lebens, des Konsums und des Miteinanders näher. Nicht alle Wünsche können einfach so erfüllt werden, schon gar nicht, wenn die Eltern es nicht so dicke habe, und selbst wenn – sobald man sich selbst für etwas ins Zeug legt, Hindernisse überwindet und sein Möglichstes tut, steigt die Wertschätzung für das Erlangte mächtig. Und das gilt dann nicht nur für neue Schuhe, sondern für alle Ziele, die man sich setzt, und auch für die Menschen, die sich für solche Ziele einsetzen.

Das darüberhinaus die menschlichen Begegnungen – das spontane Fußballspiel, die Suche nach der richtigen Mütze – der viel bereicherndere Aspekt im Leben ist, zeigt sehr eindrücklich, dass Geld allein eben doch nicht glücklich macht. Und für diese Botschaft ist kein Kind zu klein.

Um Geld geht es auch bei Akissi von Marguerite Abouet und Mathieu Sapin so gar nicht, um Wünsche hingegen schon.

Akissi lebt zusammen mit ihren Eltern und dem größeren Bruder Fofana in einem Dorf der Elfenbeinküste. Sie spielt gern Fußball und lässt sich dabei und ganz generell von den Jungs nicht einschüchtern. Zudem liebt sie Bonbons und Kino und hätte gern eine kleine Schwester oder wenigstens ein Haustier.

In neun Geschichten entfalten Abouet und Sapin ein alltägliches Kinderleben in Afrika – jenseits von Krieg, Gewalt und Hunger. Zwar gibt es durchaus Dinge, die natürlich anders sind als in Europa – die Lehrer züchtigen die Schüler, Mäuse huschen durchs Haus, fremde Erwachsene werden respektvoll Onkel und Tante genannt – aber die Kinder sind genauso frech, verspielt, lebhaft, übermütig und quirlig wie überall auf der Welt. Sie verehren Superhelden, glotzen heimlich Fernsehen, haben Läuse, ärgern sich gegenseitig und bringen die Erwachsenen manchmal zur Weißglut. Das ist liebenswert und lustig, und trotz aller Unterschiede auch sehr vertraut.

Muss ich hier darauf eingehen, dass bei Akissi natürlich alle Figuren dunkelhäutig sind? Die Geschichten spielen an der Elfenbeinküste, also ist das nur logisch. Hiesigen Kindern wird es hoffentlich egal sein – zumal mit diesem Buch endlich einmal die Kinder mit afrikanischen Wurzeln richtige Identifikationsmöglichkeiten bekommen, etwas, was in den rein weißen Produktionen für diese Zielgruppe immer noch viel zu selten vorkommt. Werden diese und Kinder aus anderen Regionen der Welt eigentlich als Zielgruppe mitgedacht? Es scheint nicht so … und sollte sich schleunigst ändern!

Denn neben der Erinnerung, dass Kinder überall auf der Welt ähnlich ticken, ist Akissi eine quietschbunte Aufforderung an alle Büchermachende noch mal genauer über kommende Leser_innen nachzudenken. Wir sind schon lange keine homogene Gesellschaft mehr – waren es vermutlich nie – und das sollte sich in den Büchern, die wir lesen noch sehr viel mehr spiegeln. Und im Bilder- und Kinderbuchbereich nicht immer über die Aushilfslösung unterschiedlichster Tierfiguren. Was im Genre der Tierbücher geht, sollte doch für die Produktion von Büchern mit menschlichen Heldinnen eigentlich selbstverständlich sein.

Philip Waechter: Toni und alles nur wegen Renato Flash, Beltz & Gelberg, 2018, 64 Seiten, ab 6, 14,95 Euro

Marguerite Abouet/Mathieu Sapin: Akissi – Auf die Katzen, fertig, los!, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Reprodukt, 2018, 96 Seiten, ab 8, 18 Euro

Bitterer Honig

Erster Teil: Lill-Miriam versteckt sich auf dem Dachboden ihrer Schule. Der Alarm heult, Sirenen schrillen, bohren sich wie Granatsplitter in ihren Kopf: „Die Geräusche zerquetschen mein Gehirn.“ Sie beobachtet durch die Dachluke, wie ihre Mitschüler von Menschen in weißen Schutzanzügen in Busse gescheucht und weggefahren werden. Sie versteht nicht, was vor sich geht. Sie ist nicht wie die anderen, lässt sich nicht wie Schlachtvieh abtransportieren. Sie identifiziert sich mit einer Biene. Ihr Versteck ist ihre sichere Wabe. Sie kennt sich gut aus mit Insekten, insbesondere Bienen, deren soziale Ordnung und Fähigkeiten sie bewundert. Und deren Honig sie liebt. Süßes gegen die Bitterkeit. Sie denkt nach, assoziiert, erinnert sich, auch an das, was ihre Mitschülerinnen ihr angetan haben, und an den Jungen, der sie gerettet hat.

Zweiter Teil: Auch Susan erinnert sich an das, was sie den „Vorfall“ nennt. Sie war eine der Peinigerinnen. Sie ahnt, dass Lill-Miriam sich jetzt in großer Gefahr befindet. Es hat einen Giftgasunfall in der Fabrik gegeben, die Schule und alle umliegenden Gebäude wurden evakuiert. Sie hat gesehen, dass Lill-Miriam nicht wie die anderen nach draußen gerannt, sondern gegen den Strom gelaufen ist, hat die angsterfüllten Augen des Mädchens gesehen. Augen, die sie an ihre Schuld erinnern. Kann und soll sie jetzt versuchen, Lill-Miriam zu helfen?

Dritter Teil: Auch Ruben sorgt sich um Lill-Miriam. Er denkt an ihre erste dramatische Begegnung, dem noch einige ganz besondere Momente folgten. Lill-Miriam ist anders. Eine Außenseiterin, wie auch er, der erst vor einigen Jahren von Kuba nach Norwegen gezogen ist, in die Heimat seines Vaters. Er versucht, das Mädchen zu verstehen, sich in sie hineinzuversetzen, um sie zu finden.

Drei Charaktere, drei Perspektiven, drei verschiedene Gedankenwelten, die alle miteinander verbunden sind.

Die norwegische Autorin Marit Kaldhol hat in ihrem nur rund 200 Seiten langen Roman Zweet grandios sehr unterschiedliche Themen und Genres verknüpft. Da ist zum einen das außergewöhnliche Mädchen, traumatisiert durch eine fast tödliche Mobbingattacke, das sich in die Welt der Bienen hineindenkt und hineinflüchtet, und die lebenswichtigen Bestäuberinnen vor dem Aussterben retten will.

Ihre assoziativen Gedankenketten lesen sich wie ein expressionistisches Gedicht, der Text ist entsprechend gesetzt, Kapitelüberschriften gleichen Gedichttiteln, dazu kommen zahlreiche wissenschaftliche Fußnoten zu in diesem Kontext vieldeutigen Begriffen wie „Imago“, „Biodiversität“, „solitär“ oder „CCD – Collapse Disorder“.

Lill-Miriams Sorge um die Bienen erinnert an Kaldhol vorherigen Roman Allein unter Schildkröten, wo ein Junge an seiner Verzweiflung über fortschreitende Umweltzerstörung und das Sterben der Meeresschildkröten zerbricht.

Besondere Ironie dieser neuen Geschichte ist, dass die Insekten wahrscheinlich infolge von versprühten Insektiziden die Orientierung verlieren und aussterben könnten. Und Lill-Miriam in der Schule an ausströmenden Giftgas zu sterben droht.

Susan ist es bisher gelungen, sich in der Gruppe zu verstecken, und konnte so das Gefühl der Verantwortung für ihr Handeln verdrängen. Mit ihrer Figur zeigt Kaldhol die gruppendynamischen Prozesse, die zum Mobbing führen, manche zu Tätern und andere zu Opfern machen: „Sie war anders als wir. Wir konnten es nicht leiden, dieses Anderssein. Dass sie war, wie sie war. So verdammt sie selbst.Es hat uns tierisch gestört, ihr Anderssein.
Wir waren ihr egal, sie bestimmte selber. Und sie war allein.
Was hat uns eigentlich daran gestört?“

Anderssein als Provokation. Es provoziert diejenigen, die fühlen und wissen, dass auch sie anders sind, andere Bedürfnisse und Träume haben, sich aber nicht trauen, auszubrechen und diese auszuleben. Weil es viel einfacher ist, mit dem Strom zu schwimmen, sich in der Masse zu verstecken. Alleinsein halten viele nicht aus, fühlen sich gleich einsam, isoliert, schwach. Sie sind neidisch auf das, was sie vorgeblich so verachten. Susan ist aber einfach nicht dumm und abgestumpft genug, um weiterzumachen wie bisher. Schon bei der Beschreibung ihrer Eltern zeigt sich, wie empfindsam sie ist und wie klug sie sich und andere Menschen einschätzt, wofür Kaldhol ihr starke Bilder zuschreibt: „Sie reden nie mit mir, immer nur zu mir. Mama könnte genauso gut ganz woanders sein. Sie sieht mich nicht an. Ihre bittersüße Nörgelstimme stinkt.“ Und ihr Verantwortung leugnender Vater kocht „hirnlosen Fraß“. „Was bitte schön ist der Sinn dieser Familie?“

Und dann ist da Ruben. Poetisch, mit viel Wärme erzählt er von seiner früheren Heimat Kuba, seiner Großmutter, und wie sehr ihn die Insel geprägt hat. Er denkt an das besondere Mädchen, das er schlicht Miriam nennt, was weicher klingt. Obwohl es kaum einmal zu einer Berührung zwischen ihnen gekommen ist, waren sie sich bereits sehr nah. Sie haben zusammen Honig geschleckt, sich Geheimnisse anvertraut, ihr Inneres geöffnet. Ruben bündelt seine Liebe zu Miriam in einem Wort, das niemandem im Zusammenhang mit ihr als erstes einfallen würde: süß. Anders gesagt: Du bist zweet. Es könnte der Beginn einer besonderen Liebe werden …

Elke von Berkholz

Marit Kaldhol: Zweet, Übersetzung: Maike Dörries, mixtvision, 2017, 196 Seiten, ab 14, 12,90 Euro