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Der Geruch des Grolls

Naphtalin

Eigentlich freut ich es mich ja, wenn dich das mit Oma nicht so mitnimmt … so ähnlich wie ihr euch seid«, sagt Rocíos Mutter nach der Beerdigung ihrer Großmutter. Das bringt die Achtzehnjährige zu Beginn von Sole Oteros packender Familiengeschichte Naphtalin ins Grübeln: »Wir haben wirklich viel Zeit miteinander verbracht, da hätte ich gedacht, dass dein Tod mich viel trauriger macht. Ob das daran liegt, dass du kein guter Mensch warst? Warum wird man bloß so wie du? Was muss man erlebt haben?«

Zukunft ungewiss, Heldin in der Krise

Sole Oteros Graphic Novel beginnt in Argentinien im Jahr 2001, während einer schweren Wirtschaftskrise. Es sind unsichere Zeiten, Fabriken werden geschlossen und abgefackelt, Menschen verarmen, Viertel verkommen, die Zukunft ist ungewiss. Auch die junge Ro befindet sich einer Krise, als sie vorübergehend in das leerstehende Haus ihrer Großmutter Vilma zieht. Was möchte sie wirklich tun? Wie kann sie den Erwartungen ihrer Eltern gerecht werden? Wo will sie hin? Und wer sind ihre Freunde?
Nach und nach, beim Aufräumen erfährt die junge Frau mehr über Vilmas Leben. Allein in den verlassenen Zimmern setzt Ro Erzählungen, eigene Erinnerungen und Fotografien zusammen. Ro versucht zu verstehen, warum Vilma einsam und verbittert gestorben ist. Und was das mit ihr selbst zu tun hat.

Verflohte Katze

Die 1985 in Buenos Aires geborene Comickünstlerin erzählt in farbigen Panels, wie Vilma noch als Baby mit ihrem kleinen Bruder und ihren Eltern aus Italien nach Argentinien gekommen ist, wie sich die Familie ein neues Leben aufgebaut hat, wie Vilma geheiratet und zwei Söhne bekommen hat. Eingebettet ist ihre Geschichte in die Gegenwart, wo Ro mit sich, mit dem Haus und einer verflohten Katze hadert, die ihre Großmutter rätselhafterweise kurz vor ihrem Tod aufgenommen hat.

Großen Familienroman gezeichnet

Soleros Stil ist speziell und man braucht etwas, um mit den leicht unförmigen Figuren warm zu werden, die an Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero erinnern. Doch schon bald wird man in die spannende und vielschichtige Erzählung hineingezogen. Naphtalin ist eine Graphic Novel im wahrsten Sinne, ein großer, bewegender Roman, der eine Familiengeschichte über mehrere Generationen zeichnet.
Vilma hatte Träume. Sie wollte lernen, studieren und Lehrerin werden. Doch sie hat für ihren Bruder zurückgesteckt, im Vertrauen, dass er sie eines Tages unterstützen wird. Von ihrer Mutter, die selbst in Argentinien nie heimisch geworden ist, fühlt sie sich nicht geliebt.
Sie wird enttäuscht. Versprechen werden gebrochen. Vilma fühlt sich zeitlebens immer wieder im Stich gelassen. Deshalb verschließt sie sich auch denen gegenüber, die sie lieben und brauchen.

Durch Türen aus dem Leben verschwunden

Je mehr man dem spröden Charme der zwei Erzählungsstränge erliegt, desto deutlicher erkennt man raffinierte Strukturen in Oteros Darstellungsstil: Immer wenn jemand aus Vilmas Leben verschwindet, verlässt die Person sie durch eine Tür, den Rücken zugewandt, während direkt auf der äußeren Seite, ihre Konturen bereits verblassen und verschwimmen. Vilmas Haus, sein Grundriss, ist ein weiterer Protagonist, wiederholt sieht man Rocío im wandelnden Verhältnis dazu. Früher erschienen ihr die Räume viel größer, jetzt wirkt sie deplatziert. Irgendwann wird sie dem Haus im Guten entwachsen. Eine zärtliche Rolle spielt auch die schwarze Katze, wie ein verbliebener Schatten, laut maunzend fordernd, doch auch zutraulich und anschmiegsam.

Eigene Fehler machen

Das namensgebende Naphtalin ist der Geruch von Mottenkugeln. Der Geruchssinn ist unser entwicklungsgeschichtlich ältester Sinn. Gerüche sind assoziiert mit Erinnerungen, die mit ihnen aus dem Unterbewusstsein kommen. Haus, Geruch, Fundstücke, Fotos, Katze werden von Sole Otero subtil verwoben. Ro versteht schließlich, warum ihre Großmutter zeitlebens Groll gehegt hat und keine Zuneigung zeigen konnte. Und sie weiß, dass sie diese über Generationen weitergereichte Anleitung zum Unglücklichsein durchbrechen muss und ihre Geschichte ändern kann. Oder wie ihr Vater am Ende beschwichtigend zur Mutter sagt: »Lass sie ihre eigenen Fehler machen und daraus lernen.«

Sole Otero: Naphtalin, Übersetzung: Lea Hübner, Handlettering: Sole Otero, Reprodukt, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16

Sommer der Veränderungen

moon

Gustav schämt sich. Denn ihr wachsen zwei Erbsen auf der Brust.
Doch, doch, das Geschlecht im zweiten Satz stimmt schon, denn Gustav ist ein Mädchen, heißt eigentlich anders, aber daran scheint sich in Lara Schützsacks Roman Sonne Moon und Sterne niemand mehr zu erinnern.
Gustav wird bald zwölf, und sie merkt, dass ab diesem Sommer nichts mehr so sein wird wie zuvor. Nicht nur wegen der Erbsen.
Denn zwischen ihren Eltern Iris und Erik herrscht Krise – die Pubertät der Eltern wie Gustav das nennt. Weshalb der Urlaub in Dänemark ausfällt, denn die Erwachsenen brauchen Abstand voneinander und wollen nicht im engen Camper aufeinander hocken. Gustavs Schwestern Ramona und Sara sind da auch keine Hilfe. Sie ziehen Gustav wegen der Erbsen auf, hängen nur am Musiktropf des iPods und jammern über nicht sichtbare Pickel. Und schwärmen von Jungs. Was Gustav völlig unerträglich findet.

Geheimnisvolle Glitzerleggins

Doch kurz vor den Sommerferien taucht in ihrer Klasse Moon auf. Er trägt Glitzerleggins und lange Haare und ist irgendwie geheimnisvoll. Während Gustavs Familie also im Krisen-Chaos versinkt, geht sie mit ihrem altersschwachen Hund Sand Gassi – und trifft Moon beim Flaschensammeln wieder.
Und in dem brütend-heißen Berlin entspinnt sich eine der charmantesten und ans Herz gehendsten Freundschafts- und Erste-Liebe-Geschichten, die mir seit langem untergekommen ist.

Jenseits aller Klischees

Schützsack erzählt mit wunderbaren Bildern (»In der Küche macht sich eine beklemmende Stimmung breit wie ein Tiefdruckgebiet.«) von einer Umbruchzeit im Leben eines Kindes – ohne auch nur irgendwie klischeehaft zu werden. Sie thematisiert nicht, warum Gustav Gustav genannt wird oder Moon Glitzerleggins trägt, sie zeigt es einfach und lässt ihren Figuren alle Freiheiten, so zu sein, wie sie wollen. Das ist in Zeiten, wo sich gefühlt alle Welt auf Instagram als Supermodel darstellt, so erholsam und wohltuend, dass man Gustav und Moon nach dem Schluss der Geschichte eigentlich gar nicht gehen lassen möchte. Aber man ahnt zum Glück, dass die beiden noch eine ganze Weile den Weg des Lebens gemeinsam bestreiten und dabei ganz viel Knisterkaugummi futtern werden.

Hoffnungsfroh in die Zukunft

Das soll jetzt nicht heißen, dass in Sonne Moon und Sterne alles schön und positiv ausgeht. Der Tod gehört zu dieser Geschichte genauso wie das Ende einer Liebe und der Anfang einer neuen. Damit macht Lara Schützsack ihren Leser_innen, die am Ende ihrer Kindheit ankommen, klar, dass das Leben eben nicht nur Glitzer und Knister bereithält. Doch dies gelingt ihr auf ganz großartige und hoffnungsfrohe Art, sodass diese Geschichte noch lange nachhallt – und man sich auf den nächsten Sommer, die kommenden Umbrüche und vielleicht eine neue Liebe freut.

Lara Schützsack: Sonne Moon und Sterne, Säuerländer, 2019, 240 Seiten, ab 10, 14 Euro

Fantasie trifft Genie – oder die wahren Werte im Leben

Beim Fußball schießt Anton öfter mal ein Eigentor, Mathe ist seine Sache nicht, obwohl sein Vater darauf besteht, dass man damit auf jeden Fall etwas wird. Dafür aber berichtigt der Junge mit Leidenschaft die Enden von Märchen. Als seine Eltern eines Tages beschließen, ein zweites Kind zu adoptieren, setzt Anton sich durch, dass dieses Kind genauso alt ist wie er, nämlich neun. Mama will ein Mädchen, doch im Kinderheim verliebt sich die ehemalige Apothekerin auf den ersten Blick in den indischstämmigen Dilip. Und ab jetzt ist nichts mehr wie vorher.

Dilip lächelt rätselhaft, verehrt den Elefantengott Ganesha und sagt erstmal lange Zeit kein Wort. Nach und nach kommt heraus, dass Dilip sich für Astrophysik, das Weltall, den Urknall und die Planeten interessiert. Aus der Bibliothek leiht er sich keine Kinderbücher, sondern englischsprachige Fachliteratur aus. Als ob das alles noch nicht genug Veränderungen im Leben von Anton sind, bekommt sein Vater einen neuen, besser bezahlten Job in einer Bank. Die Familie bezieht ein viel zu großes Haus, der Vater erfüllt sich seinen Wunsch nach dem butterweich bremsenden Mercedes und der samtweichen Wildlederjacke, Mama mutiert zu einer eleganten Vorstadttussi und bekommt nicht mit, dass Dilip wieder in seinen Schweigemodus gefallen ist.

Alle sind irgendwie mit sich beschäftigt. Nur Anton beobachtet mit seinem Reporterauge die Wandlungen in seiner Familie. Opa Gert, Vaters Papa, scheint der Einzige, der noch einen klaren Blick auf die Geschehnisse hat. Mama kommt erst wieder zu sich,  als eine Lehrerin sie darauf aufmerksam macht, dass Dilip hochbegabt ist. Nur mit Papa geht es weiter bergab, er kommt spät nach Hause, liegt am Wochenende nur noch im Bett und verzweifelt am fallenden Dax-Kurs. Als die beiden Brüder ihn eines Nachmittags in einem Cafe im Einkaufszentrum treffen, denken sie sich nichts Böses …

Salah Naouras Roman Dilip und der Urknall und was danach bei uns geschah ist eine entzückend leichte Familiegeschichte. Dabei wird aus dem Thema Adoption kein traumatisierendes Drama gemacht. Es ist viel mehr die natürlichste Sache der Welt. Ebenso die indische Herkunft von Dilip. Und auch der Junge hadert nicht im Geringsten damit, dass er seinen leiblichen Vater nicht kennt und nicht genau weiß, woher er kommt. Denn „… das wäre eigentlich nichts Besonderes, weil die Welt nämlich proppevoll mit Dingen ist, von denen kein Mensch weiß, wo sie herkommen und wozu sie da sind.“ Schon allein für diesen Satz liebe ich dieses Buch!

Mit vergnüglicher Leichtigkeit verknüpft der Autor die Alltagswelt von fast Zehnjährigen mit Konsum- und Statusdenken der Erwachsenen, Bankenkrise und wahrer Lebensfreude. Antons Fantasie trifft auf Dilips Wissenschaftsgenie, durch das man so ganz nebenbei eine Menge über das Universum erfährt, und den beiden Jungs, aber auch dem Leser wird klar, dass das eine nicht besser oder schlechter ist als das andere. Beide Talente sind in dieser Welt wichtig. Und dass Job, Haus und Auto nicht alles im Leben sind, muss schließlich auch der Vater feststellen, als er im neuen Job nicht besteht und sich von all dem Luxus wieder trennen muss.  So lustig und kurzweilig sind die wahren Werte im Leben wie Liebe, Freundschaft, unvoreingenommener Zusammenhalt und Leidenschaften jenseits von monetärem Erfolg schon lange nicht mehr verpackt worden!

Salah Naoura: Dilip und der Urknall und was danach bei uns geschah, Dressler, 2012, 176 Seiten, ab 8, 12,95 Euro