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Packende Geschichtsstunde in Mogelpackung

ostpreußenEin Pferdebuch auf LETTERATUREN? Das gab’s in sieben Jahren noch nie. Ja, genau, klassische Pferdegeschichten kommen hier eigentlich nicht vor, aber bei Anne C. Voorhoeves neuem Roman darf man sich auf gar keinen Fall von Titel und Cover täuschen lassen.

Gefährten für immer erzählt zwar auch von Pferden, von den Trakehnern Ostpreußens, doch es ist nicht die klassische Kombination von ein Mädchen plus ein Pferd gleich Freunde für immer. Denn hier geht es um die 14-jährige Lotte, die im Sommer 1943 von ihrem blinden Vater nach schweren Bombenangriffen auf Hannover auf den Pferdehof Waldeck in Ostpreußen geschickt wird. Zur Sicherheit. Denn eigentlich will Lotte nicht weg, da ihr Vater nicht allein zurecht kommt und sie gerade erst in den Trümmern fast verschüttet worden war und nun weiß, wie hilflos ein Mensch sich im Krieg und im Dunkel fühlen kann. Doch der Vater bekommt Hilfe von einer Nachbarin, die seit dem Tod von Lottes Mutter ein Auge auf den Vater geworfen hat.
An ihrem letzten Tag in der Stadt, an dem Lotte sich von ihren Freunden verabschiedet, begegnet sie Georg, einem Klassenkameraden, dessen Vater als Kommunist im KZ in Dachau sitzt. Innerhalb von wenigen Stunden, die die beiden in den Trümmern Hannovers zusammen verbringen, entwickelt sich eine Freundschaft, die auch über die Entfernung halten soll.

Mit all diesem psychischen Gepäck kommt Lotte wenig später in Waldeck bei Antonia, einer Freundin ihrer verstorbenen Mutter an, die der Familie die Hilfe angeboten hat. Lotte mag Antonia, doch das hilft ihr nur bedingt, sich an das Leben auf dem Hof zu gewöhnen. Im Pferdeland Ostpreußen dreht sich nämlich alles um die geschätzten Trakehner, und das Reiten ist eine unabdingbare Voraussetzung. Lottes Reitkünste sind jedoch ziemlich beschränkt. Und so blamiert sie sich beim ersten Ausritt. Emilia, Antonias Nichte, ebenfalls 14, verspottet das Stadtkind – und es sieht nicht so aus, als könnten die beiden Mädchen Freundinnen werden, wie Antonia es sich gewünscht hat.
Stattdessen soll zunächst Harro, 17, Sohn des ehemaligen Verwalters, Lotte den Umgang mit den Pferden inklusive Reiten und Springen beibringen. Die beiden verbringen Zeit bei Ausritten in den Weiten Masurens, baden in den Seen – und Lotte verknallt sich in den gut aussehenden Jungen. Doch auch Emilia ist in Harro verliebt.
In dieser Konstellation verbringt Lotte ein Jahr auf Waldeck. Anfangs ist der Krieg scheinbar weit weg, zu schön, zu idyllisch ist die Landschaft, zu wichtig die Arbeit mit den Pferden. Doch rasch begreift Lotte, dass hier jede Familie bereits Angehörige im Krieg verloren hat, dass die Zwangsarbeiter nicht ohne Grund auf dem Hof sind, und alle Männer und Jungen fürchten, jederzeit eingezogen werden zu können.

Die Idylle zerfällt. Antonia hört alliierte Radiosender, um über die wirkliche Lage im Krieg besser unterrichtet zu sein. Den Durchhalteparolen und Falschinformationen der Nazis schenken immer weniger Menschen Glauben. Doch Kritik darf man nicht äußern, zu groß ist die Gefahr, verraten und drakonisch bestraft zu werden. Das Leben auf dem Hof wird immer schwieriger. Antonia beschließt, einen Teil ihrer Pferde nach Pommern zu evakuieren – und die Jugendlichen als Begleitung mitzuschicken.
So verlassen Lotte, Emilia und Harro im Herbst 1944 Ostpreußen und landen auf dem Lindenhof bei Stettin, wo Harros Vater und Emilias Mutter, die vor Jahren für einen Skandal auf Gut Waldeck gesorgt haben, zusammen leben. Hier hoffen die drei, dass Antonia mit den Bewohnern Waldecks, darunter Harros Mutter, und den restlichen Pferden zu ihnen stoßen wird. Doch Ostpreußens Gauleiter Koch hat unter Strafe verboten, die Provinz zu verlassen.
Ein eiskalter Winter bricht an, und Anfang 1945 greifen die Russen ultimativ an.
Endlose Flüchtlingstrecks machen sich auf den Weg in den Westen. Als auch Gräfin von Dobschütz, eine gute Freundin Antonias, den Lindenhof auf ihrem Hengst erreicht, erfahren die Jugendlichen, dass Ostpreußen unwiederbringlich verloren ist.

Mehr und mehr merkt Lotte zudem, dass sie – anders als auf Waldeck – nicht mehr zur Gemeinschaft von Lindenhof, der Familie von Harro und Emilia, dazugehört. Für sie wird es Zeit wieder nach Hannover zurückzukehren. Sie kann Gräfin von Dobschütz überzeugen, sie auf dem zweiten Pferd der Gräfin mit nach Westen reiten zu lassen. Entbehrungsreiche Wochen durch Schnee und Kälte beginnen.

Anne C. Voorhoeve, bekannt für die Romane Unterland und Nangking Road, führt auch hier wieder die jugendliche Leserschaft in die düsteren Kapitel deutscher Geschichte. In einem komplexem Plot verpackt sie die Schrecken von Bombenangriffen, Verlust der Heimat und die Verbrechen der Nationalsozialisten auf feinfühlige, aber dennoch eindrückliche Art. Sie erinnert an das alte Leben in Ostpreußen, an den Stolz der Trakehner-Züchter und räumt neben all der Trauer um Menschen und Orte auch den Tieren ihren Raum ein.
Da sie Lotte als Ich-Erzählerin agieren lässt, die sich entweder an Schreckliches erinnert (das Verschüttetsein) oder von anderen die Schrecknisse erzählt bekommt, mildert Voorhoeve das Grauen für die Leser_innen gekonnt ab. So bekommen sie zwar einen Eindruck, was vor allem im Winter 44/45 in Ostpreußen passiert ist, werden aber nicht durch die Gräueltaten traumatisiert. Diese erzählerische Gratwanderung ist hervorragend gelungen.

Die Figur der Gräfin Dobschütz ist zudem eine ganz wunderbare Hommage an Marion Gräfin von Dönhoff, deren eigene Flucht per Pferd nach Westdeutschland hier Pate stand. Realität und Fiktion verweben sich zu einer eindrucksvollen Erzählung, die die Geschichte lebendig werden lässt und die Erinnerung an Menschen und Orte bewahrt.

Das Einzige, was ich nicht gelungen finde, sind, wie schon angedeutet, der Titel und das Cover. Dass es dort nicht einen Hinweis auf den historischen Hintergrund der Geschichte gibt, grenzt für mich schon fast an Lesertäuschung und suggeriert, dass hier eine klassische Mädchen-Pferde-Geschichte erzählt wird. Ich möchte mir die Enttäuschung der Mädchen nicht ausmalen.
Wobei man sich dabei zudem fragen könnte, warum die Geschichte über diese Kombination so angelegt wurde, dass sie für Jungs nicht mehr interessant ist. Dabei besteht die Enkel- und Urenkelgeneration der aus Ostpreußen Geflüchteten ja nicht nur aus Mädchen. Umso mehr würde es mich freuen, wenn auch Jungs den Mut hätten, sich auf diese Geschichte einzulassen – denn das Erzählte geht sie genauso an.

Anne C. Voorhoeve: Gefährten für immer, Sauerländer, 2018, 480 Seiten, ab 13, 17 Euro

Deutsche Fluchttraumata

fluchtGeschichten aus Büchern triggern mich aus den unteschiedlichsten Gründen an, das können spannende Figuren sein, fremde Welten, ferne historische Ereignisse oder politische Aufarbeitung. Bei dem Buch Salz für die See von Ruta Septeys nun wird ein Teil meiner Familiengeschichte thematisiert, nämlich die Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen am Ende des zweiten Weltkrieges. Die literarische Umsetzung dieser traumatischen Erlebnisse ist somit für mich quasi ein Muss, da meine Mutter genau das durchgemacht hat. Anfang der 2000er-Jahre war es die Lektüre von Günter Grass‘ Im Krebsgang. Dieses Mal jedoch ist es ein Jugendbuch, das sich mit diesem düsteren Kapitel beschäftigt. Zunächst einmal habe ich recherchiert, ob es das erste ist, das über die Ereignisse im Januar 1945 für junge Leser berichtet. Ist es nicht. Bereits 1962 veröffentlichte Willi Fuhrmann seinen Roman Das Jahr der Wölfe, in dem er genau davon berichtet. So habe ich also beide Bücher gelesen.

Die Lektüre solch trauriger Bücher mag auf den ersten Blick nicht besonders anregend  sein, und doch ist es hier und jetzt quasi ein Muss, sich mit diesem düsteren Kapitel deutscher Geschichte auseinanderzusetzen. Denn der Blick zurück erinnert uns dran, was unsere Eltern und Großeltern erfahren haben und was uns in den Genen steckt. Gleichzeitig mahnen diese Geschichten, dass wir gegenüber den Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren und Monaten zu uns gekommen sind und weiterhin kommen, noch mitfühlender sein sollten. Damit meine ich nicht die vielen tollen Helfer und Unterstützer, sondern diejenigen, die Obergrenzen diskutieren, den Familiennachzug begrenzen wollen und nur eingeschränkte Aufenthaltsgenehmigungen für Menschen aus Kriegsgebieten erteilen wollen.

fluchtSowohl Sepetys als auch Fährmann thematisieren nun also die Flucht der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen im bitterkalten Januar 1945, als die Rote Armee vorrückt. Viel zu spät ehaben die Menschen die Erlaubnis erhalten, die Heimat verlassen und sich in Sicherheit bringen zu dürfen.
Fährmann schildert die Erlebnisse der Familie Bienmann, detailliert und mit allem Vor und Zurück, das es im Laufe der Wochen und Monate gab: Ein Dorf nach dem anderen wird von den Russen eingenommen, rasch werden Fuhrwagen gepackt, das Nötigste mitgenommen, dann schließt sich die Familie dem Treck an, der sich durch Schnee und Matsch schließlich über das Haff auf die Frische Nehrung zubewegt. Die Kälte setzt den Menschen zu, ein Dach für die Nacht zu finden wird von Tag zu Tag schwieriger. Hinzu kommt, dass Mutter Bienmann schwanger ist und schließlich eine Tochter zur Welt bringt. In Gotenhafen weigert sich die Mutter, das Schiff „Wilhelm Gustolff“ zu besteigen, das die Flüchtenden nach Westdeutschland bringen soll. Ein Glück, wie sich für die Familie später herausstellen soll.
Die Begegnungen mit den Russen verlaufen für die Bienmanns relativ glimpflich, sie verlieren ihre Wertsachen und Pferde, aber nicht ihr Leben. Sie schlagen sich weiter nach Westen durch, erleben das Ende des Krieges, brauchen aber auch dann noch ein weiteres halbes Jahr, um endgültig in einer neuen Heimat anzukommen.

Im aktuellen Roman Salz für die See, souverän übersetzt von Henning Ahrens, treffen auf der Flucht aus Ostpreußen drei Jugendliche im Treck aufeinander: der Deutsche Florian, die Polin Emilia und die Litauerin Joana. Wider Willen werden sie zu einer Schicksalsgemeinschaft, die zusammen mit drei weiteren Menschen über das Haff zieht und es in Gotenhafen auf die „Gustloff“ schafft. Dort bringt Emilia, die von einem russischen Soldaten vergewaltigt wurde, eine Tochter zur Welt. Das Baby überlebt in den Armen von Florian den Untergang des Schiffes. Zusammen mit Joana, in die sich Florian im Laufe der Flucht verliebt, gründen die drei später eine Familie.

Ebenso wie Fährmann, der als Vertreter des engagierten Realismus gilt, hat die US-Amerikanerin Sepetys, die litauische Vorfahren hat, für ihren Roman ziemlich akkurat recherchiert und eine aktuelle Variante dieses Flucht- und Vertreibungsthemas geliefert. Die Komponenten wie Kälte, russische Tiefflieger und Panzer, ins Eis einbrechende Fuhrwerke, die Verzweiflung der Menschen finden sich in beiden Romanen. Ohne sie wäre ein Flucht-aus-Ostpreußen-Roman auch nicht denkbar. Interessant bei Sepetys ist, dass auch Litauer und Polen im Treck nach Westen flüchteten. Den jungen Lesern wird somit gleich klar gemacht, dass die Vertreibung also mehr war, als ein rein deutsches Schicksal.
Bleibt Fährmann, der seinen Roman vor über 50 Jahren verfasst hat, bei einer klassisch auktorialen Erzählweise, so hat sich Sepetys für wechselnde Ich-Perspektiven entschieden. Neben den drei Flüchtenden Figuren erzählt zudem noch der junge Nazi Alfred von seinen Erlebnissen als Matrose auf der „Gustloff“. Alle vier Erzähler tragen zusätzlich zu den entsetzlichen Kriegserlebnissen ihr ganz persönliches Päckchen, von denen sie dem Leser zwar erzählen, ihren Gefährten jedoch erst nach und nach. Die Figur des verbohrten Alfred ist von allen vieren dabei am schwersten zu ertragen, da hier ein uneinsichtiger Jungnazi gezeigt wird, der wegen seiner Überheblichkeit gepaart mit Trotteligkeit nicht ganz überzeugend wirkt.
Joana, Florian und Emilia jedoch wachsen einem ans Herz. Man wünscht ihnen, dass die Geschichte gut für sie ausgeht – was bei diesem tragischen Thema natürlich nur bedingt der Fall sein kann. Sepetys Romankonstruktion aus Perspektivwechseln und Cliffhangern hat mich dann doch ziemlich in den Bann gezogen. Der einzige Wermutstropfen an der Erzählart ist, dass durch den Perspektivwechsel manches redundant wird.
Doch obwohl man als Erwachsener das Ende der „Gustloff“ kennt – deren Untergang hier etwas zu sehr der Titanic-Verfilmung von James Cameron erinnert (hier scheint die Recherche versagt zu haben…) –, will man wissen, wie es mit den Figuren weitergeht. Für junge Lesende ist Salz für die See somit auf jeden Fall eine spannende Aufbereitung dieses wichtigen Themas.

Die Beschäftigung mit Willi Fährmann in diesem Zusammenhang war für mich zudem noch eine echte Entdeckung. Irgendwie ist dieser stille Autor, der seit über 50 Jahren Kinder- und Jugendbücher schreibt, völlig an mir vorbeigegangen. Eine unverzeihliche Lücke, die ich schleunigst schließen muss. Mag Das Jahr der Wölfe mittlerweile durch Erzählart und Sprache etwas altmodisch und betulich wirken, so ist es für mich doch eine vertraute Stimme, die dort spricht. Denn Ähnliches höre ich von meiner nun über 80-jährigen Mutter immer wieder, die als Neunjährige aus Königsberg fliehen musste und sich selbst heute noch als „Flüchtling“ bezeichnet. So schrecklich das alles damals war, und so glücklich ich mich schätzen kann, es nicht erlebt zu haben, umso mehr begreife ich nun, dass ich ein Kind von Geflüchteten bin. Hätte meine Oma mit ihren vier Kindern es nicht bis nach Schleswig-Holstein geschafft und hier keine Aufnahme gefunden, es wäre alles anders gekommen.

Womit wir zurück in die Gegenwart gelangen, in der immer noch viele Menschen in diesem Land Geflüchteten mit Abneigung und Hass begegnen. Zur Erinnerung: Fast zwölf Millionen Menschen flüchteten nach dem zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat in ein zerstörtes Deutschland (über die komplexen Ursachen und Gründe von Flucht und Vertreibung kann ich hier nicht ausführlich diskutieren), wo die Menschen noch weniger hatten als wir jetzt. Und heute regen sich manche über nicht mal eine Millionen Menschen auf, die aus Not ihre Heimat verlassen und zu uns kommen, um zu überleben. Hier sind Mitgefühl und Herz gefragt, nicht Missgunst und Hass.

Sepetys und Fährmann jedenfalls halten die Erinnerung an unsere eigene Geschichte wach und mahnen uns damit auch, ganz nach dem Kategorischen Imperativ Kants, uns anderen gegenüber so zu verhalten, wie wir selbst behandelt werden wollen: Niemand von uns will je flüchten müssen, und niemand von uns möchte mit solcher Missachtung behandelt werden, wie es momentan noch viel zu oft vorkommt.
Wer kann, befrage zu den Fluchterfahrungen der Deutschen seine Großeltern.
Ansonsten lest diese Bücher.

Ruta Sepetys: Salz für die See, Übersetzung: Henning Ahrens, Königskinder, 2016, 406 Seiten, 19,99 Euro

Willi Fährmann: Das Jahr der Wölfe, Arena, 1962 (31. Auflage 2015), 219 Seiten, 5,99 Euro

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