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Die Bürden der Bürokratie

Patwardhan

In Zeiten, in denen sich der Fokus zumeist auf lästige Viren und allgegenwärtiges Infektionsgeschehen richtet, war es für mich eine willkommene Abwechslung endlich wieder ein Kinderbuch zu lesen, das davon ablenkt und gleichzeitig ein immer noch wichtiges Thema ins Bewusstsein zurückholt. In dem zweiten Band der Forschungsgruppe Erbsensuppe schafft Rieke Patwardhan es erneut, das Leben Geflüchteter in den Mittelpunkt zu stellen.

Dieses Mal machen sich Nils und Evi Gedanken um Lina, die sich seit einiger Zeit seltsam benimmt: Sie kommt zu spät zum Unterricht, hat ständig etwas zu tun und kann sich nicht mehr mit ihnen treffen. Obwohl die Detektivbande gerade einen neuen Treffpunkt nutzen können, da Opa sich um das Haus eines alten Freundes kümmert, der auf Mallorca wohnt.

Lina macht sich verdächtig

Auch wenn es Nils nicht behagt, beobachten er und Evi die Freundin und besuchen sie in ihrer Flüchtlingsunterkunft. Dort finden sie Lina über seltsamen Papierbergen, während ihr Vater krank im Bett liegt. Lina ist das alles sehr unangenehm und möchte mit den Freunden nicht darüber reden.
Doch die lassen nicht locker. Und ein Foto, das ihre Konkurrenten, die zwei Fragezeichen, aus Linas Schultasche stibitzen und das einen unbekannten Jungen zeigt, heizt die Spekulationen noch an. Wer ist das? Was ist nur mit Lina los? Was ist bloß passiert?

Papierkram nervt

Im Grunde ist nichts vorgefallen, sondern es ist die Bürokratie, die Lina und ihren Vater fertigmacht. Denn sie müssen ganz rasch unzählige Formulare vom Deutschen Roten Kreuz ausfüllen, um Linas Bruder, den Jungen vom Foto, zur sich zu holen. Dieser ist auf der Flucht von ihnen getrennt worden und in Österreich gelandet.
Patwardhan gelingt es hier auf leichte und kindgerechte Art den jungen Leser:innen einen Einblick in das tägliche Leben von Geflüchteten in Deutschland zu geben. Denn mit der Ankunft in Deutschland ist es für diese Menschen ja noch lange nicht getan, ein ruhiges, erfülltes Leben mit all ihren Lieben führen zu können. Sie müssen gegen die Mühlen der Bürokratie kämpfen und fürchten abgeschoben zu werden. All das dauert und zerrt an den Nerven – weshalb es kein Wunder ist, dass Linas Vater krank wird. Genau diese Aspekte aus dem Leben von Geflüchteten geraten in unserem tagtäglichen Stress oftmals in Vergessenheit.

Parallele zur deutschen Nachkriegsgeschichte

Und wie schon im ersten Teil der Forschungsgruppe zieht die Autorin auch dieses Mal wieder eine Parallele zur Geschichte deutscher Kriegsflüchtlinge, deren Familien in den Wirren des zweiten Weltkriegs auseinandergerissen wurden.
Sie zeigt damit eindrucksvoll, dass die Belastungen, die eine Flucht mit sich bringt, und alles, was im neuen Land danach auf die Familien einstürzt, natürlich auch an den Kindern nicht spurlos vorübergeht. Oftmals müssen diese, weil sie die neue Sprache schneller lernen als ihre Eltern, diesen bei dem lästigen Papierkram helfen – der ja nicht einmal deutschen Muttersprachler:innen leicht fällt. Unterschwellig findet sich hier der Appell an die Behörden, endlich einmal eine einfache Sprache zu nutzen und Abläufe zu vereinfachen. Es würde sicherlich vielen Menschen eine Hilfe sein, ganz gleich, woher sie stammen.

Die Wichtigkeit der internationalen Suchdienste

Darüberhinaus ist diese Geschichte auch eine Würdigung der internationalen Suchdienste, die alles Menschenmögliche unternehmen, um Familien wieder zusammenzuführen. Auch hier steckt natürlich wieder ein Quäntchen Kritik an den herrschenden Zuständen, denn noch viel zu oft legen die Behörden den Familien unüberwindbare Hürden in den Weg und agieren überaus unsensibel, wenn es darum geht, Kinder wieder mit ihren Eltern zusammenzubringen.

Junge Leser:innen erfahren hier auf spannende und kurzweilige Art, dass das Leben für geflüchtete Kinder unzählige belastende Facetten bereithält, die im Grunde so schnell wie möglich und unbürokratisch verändert werden müssten.

Rieke Patwardhan: Forschungsgruppe Erbsensuppe oder wie wir ein Haus kaperten und Linas Geheimnis auf die Spur kamen, Knesebeck, 2021, ab 8, 13 Euro

Von alten Wunden

erbsensuppe

Ich liebe dieses Buch. Das muss ich dieses Mal wirklich als erstes raushauen. Vielleicht bin ich befangen, weil hier ein Thema behandelt wird, dass ich aus meiner Familie sehr gut kenne.
Denn Rieke Patwardhan erzählt auf eine wunderbar entspannte Art von den (Spät-)Folgen einer Flucht. Etwas, an das man zunächst nicht unbedingt denkt, wenn Nils, Evi und Lina eine Detektivbande gründen und einen spannenden Fall lösen wollen.
Eigentlich passen die drei kaum zusammen: Nils ist ruhig und ausgleichend, Evi impulsiv und spontan, und Lina kommt als Neue in die Klasse. Sie ist mit ihrem Vater aus Syrien geflohen und soll nun „integriert“ werden. Doch das gerät ganz schnell in den Hintergrund, denn Lina kann bereits ziemlich gut Deutsch, ist nicht auf den Kopf gefallen und war schon in ihrer Heimat in einer Detektivbande.

Ein Fall muss her

Umso spannender wird es für die drei, als sie merken, dass bei Nils Großeltern, wo die Bande regelmäßig mittags essen kann, etwas nicht stimmt. Immer öfter gibt es angebrannte Bratkartoffeln, weil Opa kochen muss. Oma hat dafür nämlich keine Zeit mehr, denn sie sitzt die meiste Zeit vor dem Fernseher und schaut deprimierende Nachrichten. Wenn sie das nicht tut, geht sie mit Opa einkaufen – allerdings nicht die üblichen Sachen, sondern Erbsensuppe in der Dose, und zwar in solchen Massen, dass irgendwann die ganze Wohnung mit den Dosen vollgestellt ist.
Als Oma auch noch einen großen Koffer mit Winterkleidung, Decken und Kochgeschirr packt, beschließen Nils, Evi und Lina ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Von der Gegenwart in die Vergangenheit

Patwardhan schafft es mit einem Generationsbogen von Großeltern zu Enkel, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verbinden. Lina als Geflüchtete der Gegenwart erinnert die Großeltern an die eigene Kindheit kurz nach dem zweiten Weltkrieg, als Flüchtlinge aus Ostpreußen bei Familien im Westen einquartiert wurden. Da die Großeltern nicht viel von den schrecklichen Zeiten erzählen, und die Kinder erst einmal auch keinen Grund sehen, intensiver nachzufragen, bleiben wichtige Informationen zunächst ungesagt.
Als erwachsene_r Leser_in ahnt man natürlich rasch, was den Großeltern zugestoßen ist, doch junge Leser_innen können hier auf fast spielerische Art dem Trauma der Großeltern-Generation auf die Spur kommen – ohne selbst traumatisiert zu werden.

Von alten und neuen Traumata

Die Autorin baut eine Brücke zwischen den Ängsten der aktuell Geflüchteten – wenn Lina fürchtet, etwas Illegales zu tun und dann womöglich abgeschoben zu werden – und den tiefsitzenden Traumata der Kriegskinder von damals, die bekanntermaßen auch ein knappes Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende wieder hervorbrechen können – wie bei Nils‘ Großmutter.
Und so entsteht plötzlich ein Verständnis für die anderen, die Alten und die Menschen aus aktuellen Krisengebieten, bei den Figuren im Buch – und hoffentlich auch bei den Lesenden.

Generationskommunikation

Das Schöne an Forschungsgruppe Erbsensuppe ist aber auch, dass Linas Status als Geflüchtete im Laufe der Geschichte schon fast in den Hintergrund rückt. Sie ist selbstverständliches Mitglied der Bande, hier wird nicht auf irgendeine Tränendrüse gedrückt, weil die Zustände im Flüchtlingsheim möglicherweise ganz klischeemäßig fürchterlich sind. Das alles jedoch, ohne den unsäglichen Zustand von Duldung herunterzuspielen. So eine Darstellung ist immer eine Gratwanderung, hängen doch menschliche Schicksale daran, aber Patwardhan gelingt dieser Spagat.
Und so liefert sie eine Geschichte Anregungen in vielen Richtungen: Die Kommunikation unter den Generationen weiter fördert. Denn vermutlich werden nach der Lektüre die Kinder erst einmal ihre Großeltern über deren Kindheit befragen. Was beiden Seiten nur guttun kann, wenn die Jungen begreifen, was die Großeltern als Kinder durchgemacht haben, welche Schicksalsschläge sie geprägt haben.
Die Kinder, die von diesen Erfahrungen wissen, können dann vielleicht in der Gegenwart geflüchtete Mitschüler viel selbstverständlicher in ihre Cliquen aufnehmen und ihnen das Leben in einer neuen Heimat etwas leichter machen.

Rieke Patwardhan: Forschungsgruppe Erbsensuppe oder wie wir Omas großem Geheimnis auf die Spur kamen, Illustration: Regina Kehn, Knesebeck Verlag, 2019, 144 Seiten, ab 8, 13 Euro