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So ’n Hals

Giraffe Roberta hat ein Problem: »Mein Hals macht mich fertig. Ehrlich.« Ihr Hals ist zu lang, zu dünn, zu auffällig … »Zu … halsig.« Anders gesagt: Roberta hat so ´nen Hals auf ihren Hals. Und sie ist der festen Überzeugung, dass alle ihren Hals anstarren,

Eine klassische Projektion wie aus Freuds Psychologiebuch: Weil sie immer nur an ihr prominentestes Körperteil denkt, glaubt sie, das geht allen anderen, von ihr beneideten Tieren auch so. Dabei ist allen anderen Robertas Hals egal, nur ihr Genöle geht den Savannenbewohnern auf die Nerven.

Bei ihren lächerlichen Versuchen, den Hals zu verstecken, stolpert die Giraffe über eine kleine Schildkröte namens Henry. Und der hat ein ganz anderes Problem: Sein Hals ist zu kurz. Und überhaupt ist er viel zu klein, um an die schön reife Banane oben am Baum zu gelangen. Entzückend lamentiert Henry auf den Hinterbeinen stehend, mit empört vorgeschobenem Panzerbäuchlein über seine wortwörtlich körperlichen Unzulänglichkeiten.

Von Projektionen & Freundschaft

Da zeigt sich, dass so ein langer Hals ganz schön praktisch ist. Und wir sehen den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Roberta & Henry ist ein hinreißendes Buch über verquere Selbstwahrnehmung und Zuneigung, die entsteht, weil jeder im anderen etwas Besonderes sieht und beide sich ideal ergänzen. Manchmal braucht man genau so jemanden zur Selbstreflexion, der das eigene verzerrte Spiegelbild heilsam korrigiert.

Nebenbei wird sehr treffend bemerkt, dass Mütter für diesen Job nicht taugen: Die finden ihre Kinder fast immer wunderschön. Nicht nur Pubertierende mit florierenden Pickeln auf der Stirn, verunglücktem Haarschnitt und Speckröllchen können ein Lied davon singen. »Meine Mama meinte immer, ich sollte stolz auf meinen Hals sein. Sie sagte, andere Tiere würden sonst was für meinen Hals geben. Klar, sicher doch«, übersetzt Andreas Steinhöfel. »Nimms mir nicht übel, Mama. Aber keiner will so einen Hals. So einen Hals kann nur einen Mutter lieben.« »Übersetzt von Andreas Steinhöfel« steht wie ein Qualitätssiegel auf dem Einband. Ganz abgesehen davon, dass eigentlich immer auch die Übersetzungsarbeit gewürdigt werden sollte, ist Steinhöfel wirklich kongenial: »Einfach bekloppt«, so famos lässt Steinhöfel Roberta über ihren Hals schimpfen. »… während ich wartete und wartete … dass entgegen aller Hoffnung diese Banane vor mir herabfallen würde, um mir gleichermaßen Nahrung und einen Begriff von ihrer Süße zu verschaffen«, schwadroniert Henry kurios kompliziert.

Sprachlicher & optischer Genuss

Nicht nur sprachlich, auch optisch ist das Buch ein Genuss: Lane Smith hat brillante Bilder in raffinierter Mischtechnik dazu geschaffen. Überwiegend in erdigem Gelb, Braun und Grün gehalten, bekommen die Tiere durch dynamisch-breiten Pinselstrich und Druckvariationen geradezu Textur. Kleine Knopfaugen blinzeln lebendig und erstaunlich ausdrucksstark aus den collagierten Farbkörpern hervor. Roberta & Henry hat das Zeug zum Klassiker in einer Reihe mit Werken von Eric Carle oder Leo Leonni!

Das zweite Bilderbuch Fredy flunkert passt wegen des Untertitels »Lügen haben lange Hälse« anscheinend perfekt in diese etwas halslastige Auswahl. Jaqueline und Daniel Kauer haben ihre Geschichte von den Freunden Fredy, dem Lama, und Fauli, dem Faultier, aber irreführend betitelt. Weil es weniger um Unwahrheiten und ihre Folgen im allgemeinen geht, sondern darum, was eine Freundschaft ausmacht und warum man mit jemandem befreundet ist. Auch hier spielt ein schwaches Selbstbild eine Rolle. Fredy ist nämlich ein enormer Angeber: Sein von Fauli wegen eines klitzekleinen Nickerchens verpasster Bandauftritt war natürlich »komplett ausverkauft«, bald würden sie ganze Hallen rocken und ein Plattenvertrag winke auch. Fredys Laden brummt, Kunden stünden Schlange, alles sei komplett ausverkauft. Und wenn Fauli ein Date hat, dann geht Fredy natürlich gleich mit drei heißen Lamadamen schick essen …

Von Angebern & Faultieren

Anfangs wundert sich Fauli noch, dass im Internet nichts von einem furiosen Konzert zu lesen ist. Dann quellen aus der Kammer Unmengen von Schuhen hervor. Übernachtet hat Fredy einsam und allein in seinem Auto, von Begleiterinnen keine Spur. Und als Fredy schließlich noch behauptet, ein Ufo gesehen zu haben, reicht es dem Faultier und es zieht wütend aus.

Die Frage ist, warum stellt Fredy sich seinem Freund gegenüber immer viel cooler und erfolgreicher dar, als er es ist? Warum traut er sich nicht, ehrlich er selbst zu sein, mit allen Schwächen und Fehlern? Was ist das Wesen ihrer Freundschaft?
Diese interessanten Fragen reißt das Buch an und lässt den Betrachtern Raum für eigene Überlegungen.

Eine Frage der Ehrlichkeit

Mit den Illustrationen verhält es sich ähnlich: Auf den ersten Blick sind die beiden Hauptfiguren Lama und Faultier (zu den beiden Tierarten gibt es übrigens viel Wissenswertes auf dem Vorsatzpapier zu lesen) etwas plump und bunt und vermenschlicht geraten. Umso mehr erfreuen die munteren Kleinstnebendarsteller sowie witzige Details und Anspielungen: So heißt Fredys Band »The Dalai Lamas«, das Faultier ist ein echter Meister im Aufwandvermeiden (»Kochen für Faule«, Fertigessen aus der Mikrowelle).

Man versteht sehr gut, warum das Faultier zwischenzeitlich einen ziemlichen Hals auf seinen Freund hat. Fredy ist auch wirklich sehr zerknirscht und lernt seine Lektion: Ehrlich zu sein gegenüber seinem Freund – und sich selbst zu akzeptieren wie man ist.

Hals

Grete, das Kamel (genauer gesagt ein Dromedar) hat auch einen außergewöhnlichen  Hals, einen besonders schön gebogenen. Aber der beschäftigt die Trampeltierdame ebenso wenig wie Selbstdarstellungszwänge. Tiefenentspannt schreitet sie im Passgang durch die Wüste. Der Leser begleitet sie in 14 knappen Kapiteln über sieben Tage, in denen so gut wie nichts passiert. »Stinklangweilig« sind die Geschichten natürlich nicht, gerade weil »Manchmal in der Wüste gar nichts los ist. (Pause) Haaalt, Eine richtige Pause, bitte. Wer will, probiert es aus: Dem anderen zuhören, wie er gar nichts sagt.«

Vom Nichtstun & Zuhören

Die in Wien lebende Autorin Veronika Trubel schaltet ein paar Gänge zurück und übt das Nichtstun, ein Luxus heute, wenn Tage möglichst effizient durchgetaktet sind und zeitliche Lücken als Verschwendung gelten. Sind sie aber nicht, sondern notwendig, um dem Hirn Ruhe zu gönnen.

Und gerade wenn man sich auf den hypnotischen Rhythmus und die Wiederentdeckung der Langsamkeit eingelassen hat, und zu entspannen beginnt, dann lässt Trubel geschickt einen klugen Gedanken vorbeischweifen. Zum Beispiel: »Was ist eigentlich eine gute Nacht? Für ein Kamel? Für eine Eule? Für eine Maus? Für ein Beduinenkind? Für dich?« Im nächsten Kapitel lernt man den sehr nützlichen A… der Welt kennen, kann über den Geruch von Eulenrülpsern nachdenken. Oder es begegnet einem ein einzelgängerischer Termit (männliche Termite), der auf die harte Tour zur Erkenntnis gelangt, dass es »ungeheuer praktisch ist, wenn man ein paar Kumpels hat.« Und deshalb »hat er einen riesigen Termitenstaat gegründet: eine Volksdemokratie, mit sich selbst als Kaiserkönigpräsident und Chefdiktator.«

Entspannt runterkommen

Zu diesen nicht pseudophilosophisch verschwurbelten, dafür klugen und witzigen Texten hat Isabel Pin wunderschöne Aquarellszenarien und zart hingetupfte Tiere gemalt, in flirrendem Wüstensandgelb, Sonnenuntergangsorange, Mitternachts- oder Sternenhellblau. Entspannter und schöner Runterkommen geht kaum.

Jury John, Lane Smith (Illustrationen): Roberta & Henry, Übersetzung: Andreas Steinhöfel, Carlsen 2019, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Jaqueline und Daniel Kauer: Fredy flunkert, Kalea Book 2018,  36 Seiten, ab 4, 18,90 Euro

Veronika Trubel, Isabel Pin (Illustrationen): Grete, das Kamel – Stinklangweilige Gute-Nacht-Geschichten, Karl Rauch Verlag 2019, 56 Seiten, ab 2, 15 Euro

Nur mit Verstand sieht man gut

PrinzMeine erste Begegnung mit Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz war nicht in Buchform, sondern auf der Bühne, genauer gesagt als Marionettentheater. Den Fuchs, der gezähmt werden will, und den Biss der Schlange zum Schluss erinnere ich vage. Am lebhaftesten ist mir die kürzeste Textpassage in der Puppen- Darstellung in Erinnerung geblieben: Die des Säufers, dem der kleine Prinz auf seiner Rundreise über seine Nachbarplaneten begegnet. Wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass er in der Inszenierung gesagt hat, er trinke, weil er traurig sei, und sei traurig, weil er trinke, der Originaltext „vergessen, dass ich mich schäme“ war mir nicht präsent. Das fand ich einleuchtend und die traurigen Gestalten dazu, sogenannte „Penner“, kannte ich vom Sehen aus der Altstadt und später nicht nur dort.

Das Originalbuch habe ich tatsächlich nie gelesen. Es wird leider immer auf das Zitat „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ reduziert. Und dieser furchtbar Paulo-Coelho-hafte Sinnspruch, tausendfach verewigt auf Kaffeetassen, Radiergummis und Postkarten, wirkte auf mich bisher abschreckend.

Jetzt hat Isabel Pin für den Karl Rauch Verlag, der die deutschen Rechte am Original hat, unter dem Titel Kinder, wenn Euch ein Kleiner Prinz begegnet … die Geschichte für Kinder im Vorschulalter neu erzählt. Die Illustrationen sind die originalen des Autors, der Text wurde auf etwa ein gutes Viertel reduziert. Nur auf dem roten Vorsatzpapier sind sehr hübsche, von Pin gezeichnete, Wüstenfuchsköpfe zu sehen. Jetzt kann man natürlich fragen, warum so junge Kinder unbedingt diesen Text vorgelesen bekommen müssen, aber das ist eine Frage, die sich für viele Leute, denen de Saint-Exupérys Büchlein heilig ist, offensichtlich nicht stellt. Man merkt, ich stehe dem Projekt insgesamt etwas skeptisch gegenüber, wie auch der zwanghaften Modernisierung von Klassikern sowie einem vermeintlichen Kanon, was Kinder lesen und kennen sollten, im allgemeinen.

Deshalb gleich gerade heraus: Die kindgerechte Aufbereitung ist teils gut, teils schlecht. Insgesamt sind die Kürzungen gelungen, besonders auf das letzte Fünftel des Originals, die doch sehr rührselig und unvermutet leicht schwadronierende Todesszene und abschließende Gedanken, kann man sehr gut verzichten. Einige Passagen lesen sich fokussierter und gewinnen dadurch. Man merkt, dass die Kinderbuchautorin und preisgekrönte Illustratorin Isabel Pin als Tochter einer Deutschen und eines Franzosen in beiden Sprachen zu Hause ist.

In ihrer Version macht sich ein Problem aber schon mit dem neuen Buchtitel bemerkbar: „Kinder, wenn Euch …“. Störend wird diese direkte Ansprache, auf der ersten Seite im Vorwort: „Passt bitte gut auf, Kinder, es fängt an …“ Dieses etwas plumpe Abholen zieht sich vom Tonfall durch Pins gesamten Text. Ein guter Freund  von mir reagiert zu Recht aggressiv, wenn man im Gespräch sagt: „Jetzt pass auf!“, impliziert es doch, dass er seinem Gegenüber bis dahin nicht wirklich zugehört hat.

Verloren hat eine Schlüsselszene, als der Fuchs dem Prinzen erklärt, was es heißt, ihn zu zähmen: „Zähmen“, sagte der Fuchs, „bedeutet jemanden kennenzulernen und sich an ihn zu gewöhnen.“ Im Original kommt ein sehr essenzielles Wort vor für das, was Zähmen, also Freundschaft, bedeutet: „Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“, sagte der Fuchs. „Es bedeutet, sich vertraut machen.“ Vertrauen ist ein soviel stärkerer Begriff als kennenlernen.

Verloren gegangen ist auch Antoine de Saint-Exupérys lakonische Sprache, sein trockener Humor und seine Illusionslosigkeit ob der „großen Leute“. Dass Erwachsene alles nur in monetären Werten bemessen und Vorurteile ihre Wahrnehmung bestimmen (und die Entdeckung des Heimatplaneten des kleinen Prinzen ungehört bleibt, weil der türkische Astronom keinen westlichen Anzug trägt), geht in Pins Neuerzählung ebenfalls unter. Gestrichen ist auch eine starke Szene zum Schluss des Originals, in der es um die missglückte Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen geht: Wenn für Kinder wichtige Fragen unbeantwortet bleiben, weil die Großen sich mit vermeintlich relevanteren Problemen rumschlagen und gedanklich woanders sind; wenn, wie so oft, die großen Fragen vom schnöden Alltag gefressen werden.

Der Kleine Prinz handelt von Freundschaft. Und davon zu verstehen, wie Erwachsene ticken, sich mit ihrer Welt zu arrangieren und trotzdem Phantasie und ideelle Werte zu bewahren. Gewonnen hat auf jeden Fall das Original von 1946, beziehungsweise in meinem Fall die zeitlos moderne Übersetzung von Grete und Josef Leitgeb für den Karl Rauch Verlag 1956. Ich habe entdeckt: Der kleine Prinz ist viel mehr als ein billiger Kalenderspruch.

Isabel Pin: Kinder, wenn Euch ein Kleiner Prinz begegnet …, Antoine de Saint-Exupérys Der Kleine Prinz erzählt für Kindern, mit Originalillustrationen des Autors, Karl Rauch Verlag, 2018, 64 Seiten, 3 bis 6, 12 Euro