Das Ende des Buches

scanner rob m. Sonntag„Findest du das Buch gut?“ Mit dieser Frage hatte wohl keiner gerechnet. Gestellt hat sie ein etwa 10-jähriger Junge bei der Lesung von Robert M. Sonntag an diesem Donnerstagabend im März 2013 auf dem Campus Rütli in Berlin. Der Autor, der vor Schülerpublikum aus seinem Roman Die Scanner liest, zögert kurz, dann erzählt er offen, dass, ja, er das Buch jetzt wieder gut findet. Vor drei Jahren hat er im Indien-Urlaub angefangen an dieser brandaktuellen Dystopie zu schreiben. Zwischendrin, bei all dem Überarbeiten, hatte er auch mal keine Lust mehr auf das Buch, etwas, was wohl jedem Autor während des Schreibens passiert. Doch nun sei genug Zeit vergangen – und „Bücher brauchen Zeit“, so Sonntag – dass er wieder richtig Lust hat, daraus vorzulesen.

Robert M. Sonntag liest von einer fremden Welt in einer gar nicht so ferner Zukunft, dem Jahr 2035, und doch ist vieles dort so, wie man es nicht haben möchte. Das Leben findet fast ausschließlich im digitalen Ultranetz statt. Die Menschen kommunizieren über die so genannte Mobril, eine Datenbrille, die alles aufzeichnet und sofort an die angeschlossenen Freunde verschickt. Unbeobachtet ist man nur noch auf den Toiletten. Finanziert wird das Ultranetz und die Accounts der Nutzer über omnipräsente Werbung. Die Nutzer werden regelmäßig abgefragt und bei falschen Antworten verwarnt. Die Natur ist in einer großen Vergnügungshalle aus Plastik nachgebaut und das Essen besteht nur noch aus einer einförmiger Masse, die mit künstlichen Aromen angereichert wird. Dafür macht die Alltagsdroge Nador angeblich „satt und glücklich“, im Grunde jedoch willenlos und träge. Die Stadt ist in Zonen eingeteilt, A für die vermögenden Leistungsträger, C für Rentner, Kranke und Außenseiter.

In dieser Welt lebt der 25-jährige Ich-Erzähler Rob und verdient sein Geld mit Scannen. Er arbeitet für die Scan-AG und ist mit seinem Freund Jojo ständig auf der Jagd nach bedruckten Papier. Denn die Scan-AG scannt alle Bücher und stellt sie im Ultranetz zur Verfügung. Propagiert wird das Ganze mit dem Slogan „Alles Wissen für alle! Jederzeit! Kostenlos!“ Zu diesem Zweck kaufen die Scanner den Menschen ihre letzten Bücher für viel Geld ab. Rob denkt sich nichts dabei. Er kennt es nicht anders, er ist mit dem Ultranetz groß geworden.

Eines Tages jedoch trifft er auf Mitglieder der Büchergilde, ehemalige Buchhändler, Autoren, Buchagenten, Übersetzer, die ihre Leidenschaft für Bücher nicht kampflos aufgeben wollen. Auf den Chef der Büchergilde ist ein enormes Kopfgeld ausgesetzt, und Rob will sich das nicht entgehen lassen. Als ein E-Bombenanschlag die elektronischen Geräte zerstört, wird zunächst die Büchergilde verdächtigt. Ultranetz verspricht großzügigen Ersatz von Mobrils, mit deren neuer Generation man sogar per Augenbewegung bezahlen kann. Die Überwachung nimmt weiter zu. Die Gildenmitglieder überzeugen ihn schließlich, dass Ultranetz selbst sein eigenes System sabotiert, um im Endeffekt noch mehr Kontrolle und Macht auszuüben.
Dann sterben kurz hinter einander Robs Gruppenleiter Nomos bei der Scan AG und Jojo. Rob hat Nomos am Abend vorher zufällig auf der Toilette belauscht. Nomos wollte aus der Scan AG aussteigen, am nächsten Tag stirbt er bei einem Unfall. Jojo hingegen nimmt sich das Leben, weil seine Freundin Melli, mit der er über das Ultranetz eine Fernbeziehung führt, ihn angeblich betrogen hat und ein Film davon im Netz kursiert. In Rob steigen Zweifel an dem ganzen System auf. Während er zur Büchergilde zurückkehrt, wird Rob von Ultranetz zum Top-Terroristen erklärt und muss untertauchen. Da explodiert die nächste E-Bombe und zerstört die kompletten Datenspeicher …

Die jungen Zuhörer des Campus Rütli lassen sich von den komplizierten Zuständen und technischen Gimmicks der Zukunftswelt nicht schrecken und fragen nach – woher die Idee zu der Dystopie stammt, welche Vorbilder es für die C-Zone gab, warum die Menschen in dieser Welt Glatzen tragen. Der Autor antwortet ausführlich, über die Lust an einem eigenen Zukunftsentwurf, indische Slums und eine „glatzig-gute Welt“, in der aber gleichzeitig auch seine Beschäftigung mit dem Rechtsextremismus steckt. Er erzählt von dem Erschrecken, als die eigene Vision einer Datenbrille tatsächlich von Google umgesetzt wird, und dass er immer noch lieber reale Bücher liest und keine E-Books.  So weckt er die Neugierde auf ein Buch, dessen ganze kulturpolitische Dimension den jungen Zuhörern in diesem Moment wahrscheinlich nicht bewusst sein dürfte.

Denn Robert M. Sonntag, ein Pseudonym von Nahostexperte Martin Schäuble, legt hier eine überaus düstere und gleichzeitig faszinierende Zukunftsvision vor. Das Ende des Buches. Dabei spielt er ganz bewusst mit Anklängen und Verweisen auf Ray Bradburys Fahrenheit 451, wo sich Guy Montag vom Büchervernichter zum Dissidenten entwickelt. Bradburys Roman ist vor genau 60 Jahren erschienen – und hat mit Die Scanner einen würdigen Nachfolger gefunden, der den aktuellen Gegebenheiten Rechnung trägt. Sonntag denkt konsequent das zu Ende, was wir momentan immer wieder erleben: Die Umsonstkultur des Internets ist einer der Gründe für das Verschwinden von Printprodukten. Sicher sind die Zusammenhänge heute extrem komplex und lassen sich  nicht einfach in Gut und Böse kategorisieren. Doch wird immer deutlicher, dass ein Umdenken stattfinden muss, und zwar hin zu einer Wertschätzung von Urhebern und Machern von Gedrucktem. Diese Wertschätzung darf jedoch nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben, sondern muss sich in angemessenen Honoraren, Beteiligungen und so genanntem Payed Content spiegeln. Denn nur so können auch in Zukunft qualitativ hochwertige Geschichten, Reportagen, unabhängig investigative Texte entstehen.

Was passieren könnte, wenn wir heute, jetzt, in diesen Tagen die Kurve nicht mehr kriegen und den großen Internetkonzernen dieser Welt das Netz und die Schriftkultur überlassen, zeigt Sonntag eindrücklich und in Form eines Pageturners allererster Güte. Bleibt zu wünschen, dass diese Geschichte das Bewusstsein der Leser für gut gemachte Bücher und die Gefahren durch die Gratis-Unkultur weiter schärft.

Von all dem ahnen die Rütli-Schüler vermutlich noch nichts, aber dieser Abend zeigt ganz klar, dass sie das Buch gut finden. Bei der abschließenden Verlosung von drei Exemplaren reißen sie begeistert die Arme in die Höhe. Die Gewinner können sich über eine coole, spannende Geschichte freuen, die sie vielleicht zu treuen Bücherlesern macht und ihnen einen Hauch von Kritik gegenüber dem Internet vermittelt.

Robert M. Sonntag: Die Scanner, Fischer Verlag, 2013, 180 Seiten, 12,99 Euro

Der Verlust der Unschuld

militärdiktaturDieses Jahr ist es 30 Jahre her, dass in Argentinien die Militärdiktatur endete. Ich muss zugeben, dass ich von den Vorgängen dort nicht sehr viel weiß, aber ein Buch hat es geschafft, mein Interesse für dieses Thema zu wecken. Und das auf eine ganz behutsame und fast leise Art.

Der Jugendroman Wie ein unsichtbares Band von Inés Garland, hervorragend übersetzt von Ilse Layer, erzählt die Geschichte der jungen Alma in den 1970er Jahren. Das Mädchen wächst in Buenos Aires in einer behüteten Familie der Mittelschicht auf. An den Wochenenden fährt sie mit ihren Eltern zu einem kleinen Häuschen auf einer Insel im Delta des Rio de la Plata. Hier geht es entspannt und idyllisch zu, und Alma freundet sich mit den Nachbarskindern Carmen und Marito an, die bei ihrer Großmutter leben. Carmen wird zu ihrer Vertrauten, in Marito verliebt sie sich auf den ersten Blick. Doch es soll Jahre dauern, bis die beiden für kurze Zeit zusammenfinden. Denn Alma kommt immer nur am Wochenende und versucht, während der Woche Anschluss an ihre Mitschüler in der Stadt zu finden. Das gelingt ihr nicht. Und spätestens nach der ersten Party merkt sie, dass sie die Außenseiterin ist und mit den wirklich reichen Jugendlichen nicht mithalten kann.
Umso mehr zieht es sie zu Carmen und Marito. Aber der Junge, der ein paar Jahre älter ist als sie, bewegt sich in ganz anderen Kreisen, liest andere Literatur, hat andere Ansichten über die Gesellschaft. Sein Zimmer ist vollgestopft mit Büchern.Ohne dass er wirklich sagt, dass er zum linken Lager gehört, beeinflusst er immer mehr Almas Denken. Sie lehnt sich gegen die Vorstellungen ihrer Eltern und der katholischen Schule auf. Als Marito auf die Uni gehen will, verlässt er die Insel. Alma ist in Gedanken immer bei ihm. Während dieser Zeit kommt es nach einer Party, die Alma für ihre Mitschüler aus der Stadt auf der Insel gibt, zum Bruch mit Carmen. Denn Alma ist so zwischen den Welten hin und her gerissen, dass sie es nicht schafft, vor den anderen zu Carmen zu stehen.  Auch Carmen verlässt schließlich die Insel und heiratet ihren Freund Emil.

1976 putscht sich das Militär an die Macht, doch in Almas Alltag ändert sich zunächst nicht viel. Das Mädchen ist bis dahin völlig unpolitisch. Aber dann verschwindet die Sozialkundelehrerin, und der Vater rät Alma, vorsichtig zu sein und sich aus der Politik herauszuhalten. Mit der Zeit merkt sie immer mehr, wie sich die Gesellschaft verändert. Angst breitet sich aus. Nach einer Party wird sie mit einem Klassenkameraden auf dem Nachhauseweg von der Polizei angehalten. Der Polizist, der sie abtastet, belästigt sie sexuell und demütigt sie. Alma erzählt niemandem von diesem Erlebnis. Doch nun fallen ihr immer öfter seltsame Männer in großen Wagen auf, die scheinbar ziellos durch die Straßen fahren.
Marito kehrt auf die Insel zurück. Die beiden finden zusammen, treffen sich fortan auch in Buenos Aires, ohne das Wissen von Almas Eltern, die den Umgang mit dem Jungen nicht passend finden. Als die Eltern für ein paar Tage nach Miami fahren, lädt Alma Marito endlich zu sich nach Hause ein. Sie genießen die Zweisamkeit, schlafen zum ersten Mal miteinander. Dann geht Marito telefonieren – aus einer Telefonzelle, denn er will nicht von Almas Apparat anrufen. Warum sagt er ihr nicht. Marito kehrt nicht zurück. Alma schwankt zwischen Hoffnung, dumpfer Angst, dem Glauben, dass es eine logische Erklärung für sein Fortbleiben gibt. Doch Marito bleibt verschwunden. Auch als Alma zum ersten Mal zu Maritos Vater fährt, um sich dort nach dem Geliebten zu erkunden, erhält sie keine Antwort.
Stattdessen taucht Carmen bei ihr in Buenos Aires auf. Sie hat Angst und ist schwanger. Sie will ein paar Tage bei Alma untertauchen, verschweigt aber die Gründe. Kurz darauf wird ein Onkel von Carmen und Marito auf offener Straße erschossen. Carmen taucht unter, Alma wird sie nie wiedersehen. Auch Marito kehrt nicht zurück. Bei einem zweiten Besuch bei Maritos Vater erfährt Alma, dass Männer Marito geschnappt und noch im Haus vor den Augen des Vaters zusammengeschlagen und gefoltert haben. Und auf der Insel brennen Maritos Bücher.

Inés Garland hat mit Wie ein unsichtbares Band einen eindrucksvollen und feinfühligen Roman über die Jugend und das Erwachsenwerden in einer Militärdiktatur vorgelegt. Von der idyllischen Kindheit auf der Insel im Delta, wo das Leben scheinbar genauso gemächlich dahinfließt wie der Fluss, entwickelt sich das Buch zu einer beklemmenden Coming-of-Age-Geschichte, in deren Verlauf die Protagonistin von dem unpolitischen Mädchen zu einer Beobachterin der gesellschaftlichen Veränderungen wird. Die historischen und politischen Fakten der Militärdiktatur in Argentinien spricht die Ich-Erzählerin Alma, die in einem Rückblick von ihrer Jugend erzählt, nur ein einziges Mal konkret an. Sie schildert in erster Linie die Stimmung und die Wahrnehmungen, die sie in den 70er Jahren als Tochter der Mittelschicht von ihrer direkten Umwelt hatte. Die Arbeiter- und Studentenwelt, in der sich Marito bewegt, bleibt ihr verschlossen. Marito erzählt ihr nicht, was er macht. Beim Leser entsteht so ein vages Unbehagen und die Vermutung, dass der Junge zu den verfolgten Oppositionellen gehört.

Das politische Erwachen Almas geht mit ihrem sexuellen einher und ist eng mit Marito verbunden. Doch zwischen den gesellschaftlichen Schichten, die hier aufeinandertreffen, herrscht im Grunde eine große Sprachlosigkeit. Das liegt zum einen daran, dass Marito Alma in Gefahr bringen würde, wenn er ihr von seinen Aktivitäten erzählen würden. Zum anderen können sie die Kluft zwischen ihren beiden Welten, symbolisiert durch den Kanal zwischen ihren Häusern auf der Insel, nicht überwinden.
Auch mit Carmen kann Alma nicht mehr sprechen, als diese unvermittelt bei ihr auftaucht. Sie haben keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Geschichte und auch keine Erfahrung darin, sich mitzuteilen. Die Autorin bleibt meisterhaft in der Perspektive von Alma, der viele Vorgänge in ihrer Umgebung einfach verborgen bleiben, weil sie sich in einer anderen Welt bewegt. Für den Leser bedeutet diese strenge Perspektive, dass viele, sehr viele Fragen auftauchen und offen bleiben. In einem Crescendo aus subtiler Verfolgung und gewalttätiger Todesschwadrone gewinnt die Geschichte auf den letzten dreißig Seiten so sehr an Dramatik, dass es kaum zu ertragen ist. Doch gerade die vielen offenen Fragen machen neugierig, sich auf die Suche nach Erklärungen für diese düsteren Ereignisse zu machen.

Inés Garland ist ein tiefgründiges und sehr poetisches Buch über eine Jugend in einem Terrorregime gelungen. Der Kontrast von Idylle und Schrecken könnte nicht größer sein. Und der regt ungemein an, sich mit diesem Kapitel der Argentinischen Geschichte zu befassen – denn die wirklich große Frage bleibt, wie man sich selbst an Alma Stelle verhalten hätte.

Um wenigsten noch ein bisschen mehr über Argentinien und seine Geschichte zu erfahren, habe ich Inés Garland zu ihrem Buch befragt und wie die Argentinier mit ihrer belastenden Vergangenheit umgehen. Sie hat sehr offen und ausführlich geantwortet.

Inés Garland, wie viel Autobiografisches steckt in Ihrem Roman?
In den meisten meiner Geschichten verwebe ich Autobiographisches und Fiktion zu einem verschlungenen Bild: Wenn ich mir überlege, mit einer fremden Erfahrung zu beginnen, machen meine eigenen Gefühle sie persönlicher; und wenn ich mit etwas Persönlichem beginne, verfremde ich im Schreibprozess meine Erfahrungen durch Elemente, die für meine Fiktion wichtig sind.
Die Geographie ist mir immer sehr vertraut, und Wie ein unsichtbares Band spielt in der Landschaft meiner Kindheit und Jugend. Als ich jung war, bin ich sehr oft auf die Inseln in der Nähe von Buenos Aires gefahren.
Der historische Hintergrund ist ebenfalls autobiographisch: Ich war sechzehn, als der Militärputsch stattfand und meine Eltern und mein soziales Umfeld auf die gleiche Art reagierten wie Almas Eltern. Ich bin die älteste von vier Schwestern, und wir hatten Nachbarn, die ihr ganzes Leben auf den Inseln verbracht haben, aber das waren alles Erwachsene und keine Kinder in meinem Alter, also hatte ich dort keine Freunde oder Freundinnen.
Die Figuren im Roman sind meiner Fantasie entsprungen, obwohl ich die meisten Gefühle, die ich beschreibe, sehr gut kenne. Ich könnte auf diese Frage sehr ausführlich antworten, wenn ich alles aufzeigen sollte, was autobiographisch ist. Generell kann man sagen, dass die Landschaft und die meisten Gefühle, die diese Geschichte beherrschen, autobiographisch sind, während die Charakter und das Meiste, was ihnen zustößt, Fiktion ist. 

Wie lange haben Sie an diesem Buch gearbeitet?
Das weiß ich nicht genau. Die ersten Ideen habe ich fünf Jahre vor dem Abschluss des Buches notiert, vielleicht sogar noch früher. Das reine Schreiben hat vier Jahre gedauert. Ich arbeite langsam.
Anfangs dachte ich, es würde eine Kurzgeschichte über die Freundschaft von Alma und Carmen werden, doch als Marito im zweiten Kapitel auftauchte, wuchs die Story zu einem Roman heran. Nach Abschluss des ersten Teils habe ich monatelang nichts geschrieben. Ich wollte mich mit meinem Geschriebenen nicht auseinandersetzen.

Wie haben Sie die Militärdiktatur (Proceso de Reorganización Nacional), die von 1976 bis 1983 dauerte, erlebt?
Zuerst muss ich darauf hinweisen, dass die Militärs den Begriff „Proceso de Reorganización Nacional“ („Prozess der Nationalen Reorganisation“) eingeführt haben. Das war kein „Prozess“, und es hat auch nichts „reorganisiert“. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Sprache in solchen Zeiten euphemistisch wird und die Wahrheit verschleiert.
Ich war, so wie Alma, ein Teenager der gehobenen Mittelklasse und ging auf eine katholische Schule. Meine Eltern glaubten, dass die Militärs das Land retten und in Ordnung bringen wollten. Sie bezeichneten die Mütter der Verschwundenen als „locas de Plaza de Mayo“ – als „die Verrückten von der Plaza de Mayo“. Ich habe sie oft gefragt, wie sie die Mütter „verrückt“ nennen konnten, wenn diese doch einzig und allein wissen wollten, wo ihre Söhne und Töchter waren. Sie hatten keine richtige Antwort darauf.
Es gibt eine Szene im Roman, in der die Polizei Alma auf dem Rückweg von einer Party anhält. Die Polizisten sind sexuell übergriffig. Das mussten Teenager in jener Zeit sehr oft ertragen. Jeder konnte Opfer des Machtmissbrauchs durch Polizisten und Beamte der Regierungsorganisationen werden. Mir war damals nicht bewusst, was da vor sich ging. Ich fand es erst heraus, als ich 1982 nach Europa reiste.

Wie beeinflusst die Vergangenheit heute noch Ihr Leben?
Ich glaube, das Schuldgefühl war einer der Gründe, dieses Buch zu schreiben. Ich habe lange gebraucht, um mich mit der Geschichte meines Landes auseinanderzusetzen und für das einzustehen, an das ich glaube.
Viele Leute sagen, wir sollten aufhören, über dieses dunkle Kapitel Geschichte zu reden. Ich finde nicht, dass das richtig ist. Diese schrecklichen Jahre sind eine Wunde, die nicht verheilt ist. Erinnerung ist unser Leitstern, der einzige Weg, mit dem wir verhindern können, dass so etwas wieder geschieht. Missbrauch gedeiht durch Verleugnen und Verschweigen.

War es schmerzhaft, sich zu erinnern? Wie sind Sie mit dem Schmerz umgegangen?
Während des Schreibens habe ich Bücher zum Thema gelesen, darunter auch „Nunca más“ („Nie wieder“), der Bericht der Argentinischen Nationalkommission über Verschwundene Menschen. Die Kommission hatte eine Untersuchung über das Schicksal von Tausenden von Argentiniern geleitet, die während der Militärdiktatur verschwunden waren. Ich wollte genau wissen, was mit Marito passiert war, auch wenn ich das am Ende nicht im Roman erzähle. Diese Lektüre war entsetzlich schmerzhaft. Ich habe den Schmerz durch das Schreiben vertrieben, so wie ich es in meinem Leben immer schon gemacht habe. Worte für den Schmerz finden und ihn dadurch mitzuteilen ist bereits ein Heilungsprozess.

Zwischen Alma und Marito, Alma und Carmen, Alma und ihren Eltern herrscht eine große Sprachlosigkeit – haben Sie so etwas in Ihrer Jugend auch erlebt?
Ja, sehr viel sogar. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum ich schreibe.

Wie sollte dieses Problem des Schweigens, das immer noch viele Bereiche unserer Gesellschaft und auch die Familien dominiert, gelöst werden?
Wir sollten reden. Lehrer sollten ihre Schüler zum Reden ermutigen, und Eltern sollten ihren Kindern zuhören. Wir sollten den Mut haben, schmerzvolle Erfahrungen anzusprechen und zu teilen. Gruppen können dabei eine große Unterstützung sein. Wir sollten lernen zuzuhören.
Natürlich ist auch das Lesen ein wunderbarer Weg, die Worte für das zu finden, was uns wehtut. Kinder haben eine natürliche Art, das mitzuteilen, was sie bewegt. Es sind die Erwachsenen, die sie zum Schweigen zwingen. Wir benutzen Euphemismen, wir verstecken die Wahrheit, wir verschließen unseren Augen und unsere Herzen. Die heutige Gesellschaft ist sehr gewalttätig, und wir sehen weg. Wir müssen uns engagieren und eine liebevolle Umgebung schaffen, in denen Kinder und Jugendliche sich trauen offen zu reden.

Wie wird in Argentinien die Vergangenheit aufgearbeitet?
Das ist ein sehr schwieriges Thema. Wie schon gesagt, meinen viele Leute, dass wir „das Thema fallen lassen“ sollten, und es gibt Leute, die immer noch das unterstützen, was die Militärs getan haben. Manche Leute glauben, dass die Regierung und die Terroristen die gleiche Verantwortung tragen, für das was geschehen ist. Sie halten den Machtmissbrauch durch den Staat für eine unvermeidbare Nebenwirkung.
Aber es wurde auch Vieles getan, um den Familien der Verschwundenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die vermissten Kinder zu finden, die heimlich an andere Familien weggeben wurden. Die verschwundenen Kinder zu finden und sie zu ihren Familien zurückzubringen ist eine der Hauptaufgaben.

Kann offen über die Militärdiktatur gesprochen werden?
Man kann offen über diese Zeit sprechen, aber es kann durchaus sein, dass dabei eine leidenschaftliche Diskussion entbrennt. Wir sind eine gespaltenen Gesellschaft, und der Graben scheint nicht kleiner zu werden.

Was lernen Kinder in der Schule über diese Zeit?
Das hängt sehr von der Bereitschaft des Lehrers ab, darüber zu diskutieren. Viele staatliche Schulen haben Wie ein unsichtbares Band in den Lehrplan der Abschlussklassen aufgenommen. Auf den Privatschulen entscheiden die Lehrer selbst darüber. Ich werde regelmäßig eingeladen, mit Schülern über mein Buch zu sprechen, und alle sind ausnahmslos an der historischen Epoche interessiert und wie ich sie erlebt habe. Die Geschichte stachelt ihre Neugierde an. Denn sie leiden mit Marito, Carmen und Alma mit, sie möchten dann mehr darüber wissen, was in diesen Jahren passiert ist. Literatur ist ein wundervoller Weg zum menschlichen Herzen.

Wie können sich deutsche Jugendliche dem Thema Militärdiktatur nähern?
Die Geschichte in meinem Roman ist ein Weg dahin. Ich hoffe, dass sich auch deutsche Jugendliche für die Figuren in dem Roman interessieren werden und durch sie erfahren, was geschehen ist. Alma, Marito und Carmen sind nicht sehr anders als junge Leute heute, egal, woher sie kommen. Der Roman handelt von universellen Gefühlen wie Liebe, Verlust und Schmerz. Wenn die Geschichte die Leser fesselt, dann findet auch dieses Thema den Weg in ihre Herzen.

Wie ist das politische Leben heute?
Die Gesellschaft ist ziemlich gespalten. Diese Regierung hat viele Schritte zur Wiedergutmachung unternommen. Sie hat Massenmörder inhaftiert, die noch frei herumliefen. Das hat diese dunklen Jahre wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht. Was dann vor allem die Leute verstimmt hat, die „das Thema fallenlassen“ und die Vergangenheit begraben wollen.
Auf der anderen Seite glaubt diese Regierung an die Gleichberechtigung aller Menschen in der Gesellschaft und hat sehr konkrete Schritte in diese Richtung unternommen. Dafür wurde ihr Populismus vorgeworfen. Politik ist sehr kompliziert, und die Welt ist so scharf auf Geld und Konsum, dass scheinbar alle Bemühungen, die in Richtung Gleichberechtigung gehen, verdammt werden. Meine persönliche Ansicht ist da vielleicht naiv.

Welche Ängste beherrschen die Argentinier heute?
Man kann schwer über die Argentinier als Ganzes reden. Die Ängste der Menschen hängen von ihren Lebensumständen ab. Viele fürchten sich vor Armut; sie haben Angst, dass ihnen Dinge genommen werden; sie fürchten, dass das Land verarmt; sie fürchten, dass die staatliche Arbeitslosenunterstützung die Leute dazu bringt, sich vor der Arbeit zu drücken; sie fürchten, dass das Kindergeld, dass die Regierung armen Familien für jedes Kind zahlt, die Familien unkontrollierbar anwachsen lässt. Ich fürchte, Ungerechtigkeit wird nie enden. Ich fürchte, wir werden die Menschen nie als gleichwertig ansehen. Ich fürchte die Entfremdung von anderen Menschen. Ich fürchte Gewalt in all ihren Formen. Angst ist das Gegenteil von Liebe.

Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band, Übersetzung: Ilse Layer, Fischer KJB, 2013, 256 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Stille Stärke

augustBei diesem Buch muss ich zugeben, dass ich eine Weile gegrübelt habe, ob ich es hier vorstellen soll. Normalerweise bin ich von den Büchern, über die ich schreibe immer restlos begeistert. Wunder, der Debütroman von Raquel Palacio ist zweifellos ein berührendes Buch, in dem sie die Geschichte von August erzählt, doch für mich hat die deutsche Fassung ein paar Stolpersteine.

August kommt mit dem Treacher-Collins-Syndrom zur Welt, das heißt, dass sein Gesicht durch einen genetischen Fehler deformiert ist. Seit zehn Jahren lebt August nun schon mit einem Gesicht, das in keinster Weise der Norm entspricht und das alle Menschen zutiefst irritiert. August erkennt diese Irritationen mittlerweile an dem kleinsten Zucken der anderen. Bislang hat  seine Mutter ihn zu Hause unterrichtet, doch nun soll er in die fünfte Klasse der Mittelschule gehen – auch den Umgang mit seiner Umwelt weiter zu erlernen. Für August ist es natürlich eine ziemliche Überwindung, sich den fremden Kindern zu stellen.
Mutig lässt er sich darauf ein und erlebt alle Phasen des Angestarrt, Gemobbt, Geschnitten und Ausgeschlossen werdens. Halt geben ihm seine Eltern und die Schwester Via sowie das Mädchen Summer, das sich von seinem ungewöhnlichen Gesicht nicht abschrecken lässt.

August selbst erzählt in einem lakonischen Ton von seinem ersten Jahr an einer öffentlichen Schule. Daneben berichten Via, ihr Freund Justin, ihre beste Freundin Miranda sowie Augusts Schulkameraden Summer und Jack über ihre Erlebnisse mit dem Protagonisten. Sie zeigen, dass nicht nur August selbst an seiner Andersartigkeit leidet, sondern in gewissem Maße auch sein Umfeld. So möchte Via beispielsweise nicht immer nur als die Schwester des missgestalteten Jungen wahrgenommen werden.

Im Laufe des Schuljahres wandelt sich die Ablehnung der Schulkameraden zu echter Freundschaft, da die Kinder merken, dass auch August ein liebenswerter, kluger und witziger Junge ist. Auf der Jahrgangsfahrt verteidigen sie ihn gegenüber älteren Schülern, und am Ende des Schuljahrs wird August vom Schulleiter als der Junge ausgezeichnet, dessen „stille Stärke die meisten Herzen bewegt hat“. Diese letzten Seiten im Buch sind überaus rührend und treiben einem tatsächlich die Tränen in die Augen. Was aber auch ein wenig an dem amerikanischen Hang für Kitsch und große Gefühle liegen mag. Doch das sei diesem Buch durchaus gegönnt. Ist doch die ganze Geschichte von der ersten Seite an eine permanente Aufforderung an den Leser, über die Oberflächlichkeiten und Andersartigkeiten von fremden Leuten hinauszusehen, hinter die Fassade zu schauen und den wahren Menschen zu erkennen. Daran können wir alle eigentlich nicht oft genug erinnert werden, und das ist das große Verdienst dieses Buches.

Was mich jedoch von hymnischer Begeisterung abhält, ist in diesem Fall die B-Note, sprich, die deutsche Fassung. Der Texte hätte durchaus noch eine Überarbeitung gebrauchen können. Zu sehr schimmert der englische Originaltext durch. Anglizismen wie „ich meine“, „ich bin/es ist okay“ oder „definitiv“ tauchen immer wieder auf, mir manchmal eine Spur zu häufig. Zudem sind manche Ausdrücke unfreiwillig amüsant, aber leider nicht sehr deutsch. So wird im Text Augusts Mutter der Blutdruck „abgenommen“ (schön wär’s ja, wenn wir den loswerden könnten, geht nur leider nicht…) und nicht gemessen,  eine der Figuren bekommt „schlechte Schwingungen“, anstatt schlechter Laune, und irgendjemand „gibt eine Umarmung“, anstatt einfach nur zu umarmen. Das mag sich jetzt pingelig anhören, aber mich haben diese sprachlichen Merkwürdigkeiten immer wieder aus der Geschichte gekickt. Und das finde ich schade, denn so musste ich immer wieder ganz bewusst über diese sprachliche Ebene hinwegsehen, um den Inhalt der wirklich reizenden Geschichte genießen zu können.

Wer sich an diesen sprachlichen Hindernissen nicht stört, trifft in Raquel Palacios Wunder aber auf jeden Fall einen bewunderungswürdigen Helden, von dem wir uns alle eine große Scheibe abschneiden können.

Raquel J. Palacio: Wunder, Übersetzung: André Mumot,  Hanser, 2013, 381 Seiten, ab 10, 16,90 Euro

Fragen des Lebens

bauchentscheidungEs gibt Momente im Leben, da könnte man meinen, es gäbe keinen Ausweg mehr. Für Teenage-Mädchen sind ungewollte Schwangerschaften sicherlich so ein Moment. Was macht man jetzt? Wie soll man sich entscheiden? Fragen über Fragen tun sich plötzlich vor den Mädchen auf.

All diese Fragen und die möglichen Antworten hat Lucy Hay in ihrem Roman Bauchentscheidung zu einem außergewöhnlichen Erzählkonzept zusammengestellt. Protagonistin Lizzie ist 17 und will demnächst auf die Uni gehen. Sie ist mit Mike zusammen und hat neulich nach einem Abend mit zuviel Alkohol mit ihm ungeschützten Sex gehabt. Dieses eine Mal reicht, und Lizzie ist schwanger. Die Bestätigung erhält sie durch einen Schwangerschaftstest, den sie auf einer versifften öffentlichen Toilette macht. Das Mädchen ist schockiert, weil sie nie dachte, dass gerade ihr so etwas passieren könnte. Sie will mit jemandem reden – da klingelt ihr Handy.

Dieses Handyklingeln katapultiert – wie das Bimmeln des Weckers beim Murmeltiertag im Film Und täglich grüßt das Murmeltier – Lizzie immer wieder in die gleiche Situation auf der Toilette. Doch jedes Mal ruft jemand anderes an – ihre Schwester Sal, die Mutter, Freund Mike, Lizzies beste Freundin Shona. Mit allen redet Lizzie über ihre Lage, und von allen bekommt sie andere Ratschläge. In der Folge trifft das Mädchen die unterschiedlichsten Entscheidungen, wie sie mit dieser ungewollten Schwangerschaft umgeht. Sie treibt ab; sie trägt das Kind aus und arrangiert sich mit dem Kindsvater; sie hat eine Eileiterschwangerschaft und verliert das Kind; sie denkt über Adoption nach; sie bekommt das Kind, trennt sich aber von Mike. Wie sie sich im Endeffekt wirklich entscheidet, bleibt zwar offen, doch Lizzie ist sich schließlich sicher, die richtige Entscheidung zu treffen.

Hays Konzept, verschiedene Wege aufzuzeigen, ist faszinierend und spannend zugleich. Die Ich-Erzählerin hadert, stellt sich Unmengen an Fragen, denkt nach und hört vor allem auch ihren Gesprächspartnern zu. So merkt sie, dass sie zum Teil die Mutter oder die beste Freundin falsch eingeschätzt hat. Die Diskussionen über Schwangerschaft und Kinderkriegen zeigen jedoch, dass sie in jeden Fall auf ihre Eltern zählen kann, auf den Freund jedoch nur bedingt.

Angesiedelt ist die Geschichte im heutigen Großbritannien. Lizzie kommt aus einer Großfamilie mit sechs Kindern und einer sozial eher niedrigeren Schicht. Den Schluss zu ziehen, dass es mit so einer Konstellation ja fast normal ist, schon als Teenager schwanger zu werden, wäre jedoch verfehlt. Lizzie hat überaus liebevolle und  verständnisvolle Eltern. Das zeigt vor allem die folgende Aussage des Vaters: „Wünsch dir nicht dein Leben weg. Dinge passieren. Manchmal ist es gut, manchmal schlecht, manchmal unerwartet. Wir müssen einfach tun, was wir können, und damit umgehen lernen.“
Genau diese Botschaft macht das Buch so wichtig. Es urteilt nicht. In keiner der Szenerien bewertet irgendjemand Lizzie und ihre Entscheidung. Dieses Fehlen von Bewertungen ist sehr befreiend, denn jeder Leser kann sich seine eigene Meinung bilden. Dieser Roman liefert viel mehr eine Hilfestellung und ermutigt auf jeder Seite, sich anderen Menschen anzuvertrauen, mit ihnen zu reden, ihren Rat und ihre Erfahrung einzuholen. Hier werden keine vorschnellen Entscheidungen allein getroffen, sondern das Leben in all seinen Facetten und Spielarten dargestellt. Denn das Leben lässt sich eben nur bedingt planen. Wendungen und Schicksalsschläge gehören bekanntermaßen dazu, doch die Haltung mit der wir sie annehmen, macht den Unterschied zwischen Katastrophe oder gelingendem Leben. Lucy Hay liefert ein hervorragendes Beispiel dafür.

Lucy Hay: Bauchentscheidung, Übersetzung: Christiane Steen, Rowohlt Verlag, 2013, 224 Seiten, ab 13, 8,99 Euro

Konventionen über Bord

vier beutel asche boris kochIch möchte ein neues literaturwissenschaftliches Thema zur Untersuchung vorschlagen: Welche Rolle spielt die Asche von Verstorbenen im zeitgenössischen Roman oder auch Film? Mir scheint, immer öfter taucht dieses Motiv in Geschichten auf … neuestes und sehr beeindruckendes Beispiel ist der Roman Vier Beutel Asche von Boris Koch.

Jans bester Freund, Christoph, ist kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag bei einem Verkehrsunfall getötet worden. Jan hadert und kann sich mit dem Verlust nicht abfinden. Er sucht nach Gründen für den Tod des Freundes und will ihn rächen. Doch Jan bringt es nicht fertig, dem Autofahrer, der Christoph angefahren hat, ernsthaften Schaden zuzufügen. An Christophs Geburtstag geht Jan nachts zum Grab des Freundes und trifft dort auf Maik, einen Kumpel, der sich gerade eine Kugel in den Kopf jagen will, weil er sich für Christophs Tod verantwortlich fühlt. Jan hält ihn auf. Plötzlich tauchen auch noch Selina, Christophs Freundin, und Lena auf, von der niemand weiß, in welchem Verhältnis sie zu Christoph stand.

Jeder der Jugendlichen ist auf seine Weise über den Tod des Freundes bestürzt und sucht einen Weg, damit weiterleben zu können. Einig sind sich die vier am Grab dann aber ganz schnell, dass Christoph hier in dem kleinen Dorf bei Augsburg nicht begraben sein sollte. Er wollte weg und hatte sich als letzten Willen eine Seebestattung gewünscht. Nach anfänglichem Zaudern kommen sie überein, dem toten Freund diesen letzten Willen zu erfüllen. Sie graben die Urne aus und füllen seine Asche in vier Plastikbeutel. Noch in der Nacht machen sie sich auf einem Motorrad und einem Roller nach Frankreich auf, in das Dorf, wo Christoph Ferien gemacht hatte.

Auf dem Weg ans Meer erlebt das Quartett all das, was zu einem klassischen Road Roman dazugehört: Das wenige Geld, das sie für Lebensmittel und Benzin dabei haben, wird ihnen geklaut, Essen und Sprit müssen also geschnorrt werden. Sie treffen auf feierwütige Franzosen, gehen der Polizei aus dem Weg, weil sie fürchten wegen Grabschändung und Leichenraub verhaftet zu werden – wobei sie nicht einmal wissen, ob bei der Asche von einer Leiche gesprochen werden kann. Und sie kommen sich näher. Sie erzählen, wie sie Christoph kennengelernt und was sie mit ihm erlebt haben. Draufgänger Maik ist mit ihm nackt einen Berg heruntergeskatet, Selina hat mit ihm auf der Müllhalde Frösche und Schrott fotografiert, für Jan war Christoph wie ein Bruder, mit dem er gekickt hat, und Lena hat miterlebt, wie Christoph sich schützend vor die Mutter stellte, als sein Vater mal wieder zugeschlagen hat. Peu à peu kommen die Geheimnisse der Jugendlichen heraus, und sie müssen feststellen, dass niemand von ihnen Christoph bis ins Kleinste gekannt hat.

Jan ist erleichtert, dass Lena, in die er sich im Laufe der Tour immer mehr verliebt, nichts mit Christoph hatte. Denn für ihn wäre die Freundin des besten Freundes tabu. So jedoch entwickelt sich zwischen den beiden eine zarte Liebe – die wiederum den Unwillen von Selina erregt.
Nach einem Abstecher nach Paris gelangen die vier schließlich nach Finistere und lassen Christophs Asche in den Atlantik gleiten. Verändert und gereift kehren sie nach Hause zurück.

Boris Koch rührt mit Vier Beutel Asche an einem Tabu: Darf man das? Darf man die Asche eines Toten wieder ausgraben, um einen letzten Willen zu erfüllen? Manchen Menschen wird das sicherlich zu weit gehen, gegen die Konvention und den guten Ton. Die sollten dann die Finger von diesem Buch lassen. Für alle anderen werden sich diese Fragen ganz schnell nicht mehr stellen. Denn ja, man darf das, wenn das Motiv so eine Herzensangelegenheit ist wie bei diesen vier Helden. Der Konventionsbruch wird zum fesselnden Startpunkt für eine Reise ins Erwachsenen-Dasein. Die Jugendlichen lernen sich nicht nur gegenseitig kennen, sondern auch die Facetten des Lebens – das Gefühlschaos der Jugend, die Gewalt der Erwachsenen, die Nähe des Todes und das Recht auf Geheimnisse, das jeder Mensch hat.

Koch erzählt schnörkellos, geradeheraus und bringt damit den großen Lebens-Themen den nötigen Respekt entgegen. Herausgekommen ist dabei ein Pageturner, den man nicht eher aus den Händen legt, bevor die letzte Seite erreicht ist und man als Leser endlich sicher ist, dass Christophs letzter Wunsch erfüllt ist und Jan und seine neuen Freunde auf dem richtigen Weg ins Leben sind.
Und Kochs Hommage an The Big Lebowski und die gegen den Wind verstreute Asche von Donny ist einfach überaus charmant …

Boris Koch: Vier Beutel Asche, Heyne fliegt, 2012,  384 Seiten,  ab 15, 17,99 Euro

Romeo und Julia 2.0

Okay, zugegeben, der Titel dieses Blogeintrags könnte etwas in die Irre führen. Im Roman Herbstattacke stirbt niemand, weder durch Mord noch durch Selbstmord, auch Gift kommt nicht vor. Dennoch geht es in diesem Debüt von Nataly Savina heftig zur Sache.

Leo, fast 16, ist mit seiner Mutter Rosa in eine neue Stadt gezogen. Die Eltern haben sich getrennt, Rosa leidet darunter und kratzt sich ihre Neurodermitis-geschundenen Beine immer wieder auf. Leo versucht, in der neuen Schule Anschluss zu finden, wird aber erst einmal von der Gang um der persischstämmigen Jungen Malik abgezogen und auf die Probe gestellt.

In diesen Tagen des Neuanfangs begegnet Leo der schönen Farsaneh – und verliebt sich auf den ersten Blick in das Mädchen. Sie ist jedoch meistens mit ihrem kleinen Bruder Babak unterwegs oder mit ihrer Freundin Leila. Leo kommt nicht so recht an sie heran. Dann muss er auch noch feststellen, dass sie die Schwester von Malik ist. Und der achtet streng darauf, dass Farsaneh nicht mit Jungs rummacht. So wie es in seiner Kultur eben üblich ist. Dennoch gelingt es Leo, ein paar Worte mit ihr zu wechseln und ihr Interesse zu entfachen. Sie tauschen Blicke und finden schließlich die Gelegenheit sich auch mal allein zu sehen, für kurze Minuten in einer fremden Wohnung, in der Farsaneh die Katzen füttert.

Im Laufe der Zeit verschafft sich Leo in Maliks Gang den nötigen Respekt. Er macht bei den „Wettbewerben“ mit, die die Jungs veranstalten, um sich selbst zu beweisen. Sie jagen Briefkästen mit Böllern in die Luft, brechen Autoantennen ab, klauen Liegestühle aus einem Café. Rüpeln durch die Gegend. Leo hofft dabei immer, Farsaneh zu treffen, doch die Regeln der persischen Familie sind streng und scheinen unüberwindbar für einen Deutschen.

Irgendwann will Farsaneh die heimlichen Treffen mit Leo nicht mehr und macht Schluss. Doch da ist die Leidenschaft bei beiden füreinander bereits entbrannt. Nach ein paar Tagen treffen sie sich noch einmal in der Katzenwohnung, und dort fallen sie quasi übereinander her. Als Farsaneh nach dem ersten Sex wieder zur Besinnung kommt, breitet sich die Panik in ihr aus, und sie schickt Leo weg. Dieses Mal endgültig. Leo ist darüber so frustriert, dass er seine Wut in einer Kurzschlussreaktion an einem Studenten auslässt, den die Gang wenig später foppt, und ihn brutal zusammenschlägt.

Savina schildert das Leben der Jugendlichen schonungslos, und alle haben irgendwie ihr Päckchen zu tragen: Ich-Erzähler Leo muss in dem Gefühlschaos der ersten Liebe auch noch mit der Nachricht klarkommen, dass sein Vater mit seiner neuen Freundin ein zweites Kind bekommt. In Farsanehs und Maliks Familie fehlt die Mutter, die bei der Geburt Babaks gestorben ist. Einer der Jungs aus der Gang muss für seinen drogenabhängigen Bruder klauen. Das ist zum Teil harter Tobak, aber so klar und ohne Wertung erzählt, dass es der Geschichte Tiefe und Glaubwürdigkeit verleiht. In Herbstattacke können sich Jungs und Mädchen gleichermaßen mit ihren Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten wiederfinden. Dass es kein Happy End gibt, Farsaneh die Stadt verlassen muss und Leo sein Glück nicht findet, unterstreicht den realistischen Anspruch dieser Geschichte. Das Leben ist eben kein Ponyhof und so manche große Liebe hat in dieser Welt einfach keine Chance. Das war schon bei Romeo und Julia so. Diese Buch liefert also keine eskapistische Unterhaltung, sondern den Trost des Wiedererkennens. Und das ist seine große Stärke.

Nataly Savina: Herbstattacke, Chicken House, 2012, 135 Seiten, ab 14, 9,95 Euro

Verdrängen, vergessen, verstehen

Amerika liegt im OstenEigentlich weiß ich ja, dass man Bücher nicht nach ihren Covern beurteilen soll. Dennoch komme auch ich nicht umhin, immer mal wieder in diese Falle zu tappen – im Guten, wie im Schlechten. Dieses Mal lag das Buch von Heike Schmidt schon ziemlich lange auf meinem Schreibtisch. Eins von diesen leichten Mädchenbüchern, dachte ich,  und schob es von einer Seite auf die andere, bis ich neulich anfing zu lesen – und eines Besseren belehrt wurde.

Der Roman Amerika liegt im Osten geht zur Sache und an Herz. Die 17-jährige Motte ist bis über beide Ohren in den coolen Lukas, genannt Laser, verliebt und würde alles tun, nur um mit ihm zusammen zu sein. Selbst als er auf einer Party eine Prügelei anfängt, die Schuld jedoch dem polnischen Schüler Pavel in die Schuhe schiebt, der daraufhin der Schule verwiesen werden soll, hält Motte zu ihrem Schwarm. Dabei hat sie die Schlägerei mit dem Handy gefilmt und könnte für Gerechtigkeit sorgen. Tut sie aber nicht. Stattdessen versucht sie, an Geld zu kommen, um in den Ferien Laser nach Amerika hinterher zu fliegen. Dafür ist sie sogar bereit mit ihrem ungeliebten Urgroßvater Hermann, den sie nur abfällig Ice H. nennt, in das Heimatdorf der Urgroßmutter in Tschechien zu fahren.

Urgroßmutter Liesel leidet an Demenz und versinkt mehr und mehr in das Vergessen. Ein Zustand den Ice H. nicht erträgt. Er hofft, den Verfall seiner Frau durch eine Reise in die Vergangenheit aufhalten zu können. Wenn Motte die beiden alten Herrschaften fährt, will er dem Mädchen tausend Euro geben. Motte lässt sich darauf ein – und in nur drei Tagen wandelt sich ihre Sicht, auf die Urgroßeltern, auf die deutsche Geschichte, auf ihr eigenes Verhalten in der Schule.

Von der anfänglichen Liebesgeschichte, die Heike Schmidt mit lockerer Sprache dicht an den Jugendlichen erzählt, verschiebt sich im Laufe des Buches der Fokus immer weiter zu einer eindrücklichen Schilderung von Demenz und Vergangenheitsbewältigung. Die 17-Jährige erlebt hautnah mit, wie schnell die Urgroßmutter in das Vergessen abdriftet, den eigenen Mann nicht mehr erkennt, sich aber hervorragend an Geschehnisse aus der Kindheit in Kriegszeiten erinnert. Für Motte ist das alles zunächst sehr verwirrend und irritierend, war die Vergangenheit in der Familie bis dahin nie ein Thema und wurde konsequent verdrängt. Doch die Konfrontation der alten Dame mit ihrem Geburtshaus reißt die Wunden von damals wieder auf, und Motte muss feststellen, dass selbst ihr Urgroßvater nicht alles über seine Frau weiß.

Heike Schmidt gelingt es die fernen Geschehnisse des Krieges in die Gegenwart zu holen, ohne pathetisch zu werden oder eine heroische Bewältigungsgeschichte daraus zu machen. Sie zeigt die Nöte der Überlebenden – die Urgroßmutter wurde von russischen Soldaten vergewaltigt, der Urgroßvater litt jahrelang in Kriegsgefangenschaft, beide wollten die Qualen vergessen und sprachen nicht darüber. Und sie zeigt das Unverständnis der Jugend, die davon zumeist kaum noch etwas weiß. Oder es nur abstrakt aus Geschichtsbüchern erfährt. Die Auseinandersetzung der Generationen mit dem Erlebten, die Erinnerung und die Erklärungsversuche sind schmerzlich für beide Seiten, und doch führt das alles sie näher zusammen. Mottes Groll auf den Urgroßvater verraucht, die Urgroßmutter wird zum Kind, das beschützt werden muss.

Und Motte lernt aus dem Vergangenen, wie sie sich in ihrer Gegenwart gegenüber ihren Mitschülern verhalten sollte. So gestärkt findet sie zu einer erwachsenen Haltung gegenüber Laser und lässt das pubertierende Verliebtsein hinter sich. Besser hätte man das Konzept „Lernen aus der Vergangenheit“ wohl nicht umsetzen können.

(Und hätte das Cover des Buches davon auch nur einen Hauch angedeutet, hätte ich darüber vielleicht schon viel eher gebloggt …)

Heike Eva Schmidt: Amerika liegt im Osten, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, 2012, 213 Seiten, ab 15, 12,95 Euro.

Botschaft der Freiheit

gritt poppe abgehauenNeulich gab es im Fernsehen mal wieder eine dieser Umfragen, mit der das vermeintliche Unwissen der Bevölkerung dokumentiert werden sollte. Dieses Mal: Was wissen die Jugendlichen vom Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und den Geschehnissen in der DDR vor 23 Jahren? Nicht viel, wie die zusammengeschnittenen Film-Schnippsel propagieren sollten. Darüber kann man sich natürlich sofort aufregen und die scheinbar mangelnde Qualität des Geschichtsunterrichts in den Schulen anprangern – oder aber die perfiden Mittel der TV-Macher, die mit Zuspitzung und Auslassung arbeiten. Bleibt die Frage, wie man geschichtliche Ereignisse und vergangenen Lebensverhältnisse so vermittelt, dass sie auch bei denen im Bewusstsein bleiben, die sie nicht selbst miterlebt haben.

Im Fall der Wendezeit und dem zum Teil schwierigen Leben der Jugendlichen in der DDR bieten die Romane Weggesperrt und Abgehauen von Grit Poppe eine alternative Möglichkeit der Geschichtsvermittlung. Hatte die Autorin, die in der DDR geboren und aufgewachsen ist, bereits 2009 in Weggesperrt die Geschichte von Anja erzählt, die im Jugendwerkhof Torgau zu einer sozialistisch angepassten Genossin geformt werden sollte, so hat sie nun die Fortsetzung dazu geliefert.

In Abgehauen schildert sie das Schicksal der 16-jährigen Gonzo, der besten Freundin von Anja. Das Mädchen ist ebenfalls in Torgau inhaftiert. Sie wird von den Aufsehern schikaniert, psychisch und physisch gequält, in der Dunkelzelle tagelang mit Isolierhaft bestraft. Erst als Gonzo sich selbst so stark verletzt, dass sie ins Krankenhaus gebracht wird, gelingt ihr die Flucht. Orientierungslos irrt sie durch das Land – auch der Leser erfährt nie, wo sie sich genau aufhält – und trifft in einem Kleingarten schließlich René. Der Junge, der zu seinem Vater in der Bundesrepublik will, hat einen Plan und nutzt den Stimmungswandel im Land. Zusammen schlagen sich die Jugendlichen nach Prag durch, um in der westdeutschen Botschaft Zuflucht zu suchen.

Zunächst müssen sich die beiden in der tschechischen Hauptstadt durchfragen, bevor sie  schließlich auf der Kleinseite zum Palais Lobkowitz gelangen. Zusammen mit anderen Flüchtlingen klettern sie über den Zaun auf der Rückseite des Gebäudes und befinden sich nun offiziell auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Doch Gonzo, deren Seele durch die unfassbaren Erlebnisse im Jugendwerkhof Torgau Schaden genommen hat, traut dem Ganzen nicht. Immer wieder piesackt ihr innerer Punk sie mit Selbstzweifeln und der Skepsis gegenüber ihrer Umwelt. So traut sie weder den anderen Flüchtlingen noch René und auch den möglichen Veränderungen nicht.

Die Zustände in der Botschaft werden immer unerträglicher. Immer mehr Menschen flüchten auf das Gelände, die Schlafplätze werden knapp, der Botschafter selbst gräbt Zierbüsche aus, um Platz für die Flüchtenden zu schaffen, für Toilettengänge und Essensausgabe müssen die Menschen stundenlang anstehen. Gonzo bewegt sich in dieser Masse wie eine Außerirdische, vom ständigen Zweifel und dem Punk in ihrem Kopf gepeinigt. Als endlich am 30. September 1989 Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Botschaft tritt und den berühmtesten Halbsatz der Geschichte spricht, keimt die erste richtige Hoffnung bei Gonzo auf …

Über die Zustände in der deutschen Botschaft in Prag habe ich so bis jetzt noch nirgendwo gelesen (vielleicht ist mir da was entgangen, dann bitte ich um Aufklärung). Die Fernsehbilder von Herrn Genscher auf dem Balkon kenne ich natürlich und irgendwie treiben sie mir jedes Mal wieder Tränen in die Augen – und genau diesen Effekt hatte nun auch die entsprechende Szene im Buch auf mich. Man ist ganz nah dran am Geschehen, wird scheinbar Teil der deutschen Geschichte, leidet und freut sich mit der Heldin. Genau das ist die Art von Geschichtsdarstellung, die sich unvergesslich ins Hirn der Leser einbrennt, denn die Kombination von Fakten und Gefühlen macht es einem leicht, Geschehnisse nachzuempfinden und somit auch zu behalten. Das ist Grit Poppe hier ausgesprochen gut gelungen. Nach der Lektüre von Abgehauen wird wahrscheinlich kein Jugendlicher mehr sagen, dass er nichts über den Mauerfall und die Deutsche Einheit weiß.

Grit Poppe: Abgehauen, Dressler Verlag, 2012, 334 Seiten, ab 14, 9,95 Euro

Grit Poppe: Weggesperrt, Oetinger Taschenbuch Verlag, 2012,  Ausgezeichnet mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2010, 330 Seiten, ab 14, 6,95 Euro

Leben, Leiden, Lieben

gleitflug Wie viel Leid passt in einen Roman, ohne dass man sich als Leser völlig niedergeschmettert und deprimiert fühlt? Ziemlich viel, wie ich gerade nach der Lektüre von Anne-Gine Goemans Gleitflug feststellen konnte, den Andreas Ecke mit perfekter Leichtigkeit aus dem Niederländischen übersetzt hat.

Der 14-jährige Gieles leidet an der Abwesenheit seiner Mutter, die lieber in Afrika als Entwicklungshelferin unterwegs ist, als bei Mann und Sohn in Holland zu bleiben. Mehr und mehr bekommt der Junge über die lautstarken Telefonate von Vater und Mutter mit, dass es zwischen seinen Eltern nicht mehr so gut läuft. Daher ersinnt er das Geheimprojekt „Geniale Rettungsaktion 3032“. Die Nummer steht für den Flug mit dem die Mutter wieder nach Hause zurückkommen will. Gieles, der mit Vater und Onkel Fred gleich neben der Startbahn des Flughafens wohnt, will mit seinen zahmen Gänsen ein Manöver durchführen, mit dem er die Aufmerksamkeit der Mutter zurückerobert und schließlich als glänzender Held dasteht. Danach, so sein Wunschtraum, wird die Mutter ihn nie wieder verlassen.

Doch bis es soweit ist, muss der Junge die beiden Gänse noch ordentlich trainieren, damit sie auf der Piste genau seinen Anweisungen folgen und im rechten Augenblick vor dem landenden Flugzeug davonfliegen. Gieles schreibt daher einem französischen Gänseforscher, um dessen Expertenmeinung einzuholen. Nebenher surft er im Internet, chattet und verliebt sich dabei in ein gepierctes Mädchen, das sich im Netz „Gravitation“ nennt. Gieles ist dort als „Captain Sully“ unterwegs, nach seinem bewunderten Held, dem Piloten Sullenberger, der 2009 seine Maschine auf dem Hudson-River in New York notgelandet hatte.

Damit nicht genug, passt er auf die Kinder der griesgrämigen Nachbarin Dolly auf, bekommt zwei weitere Gänse, von der die größere verfressen und aggressiv, die kleinere jedoch ein Talent zum Tischtennisspielen hat, und lernt eines Tages den megadicken Lokalreporter Super Waling kennen. Der ist mit seinem Elektromobil in einem Feld steckengeblieben, und der Junge hilft ihm aus der Patsche. Zunächst ist es Gieles peinlich mit dem fetten Mann gesehen zu werden. Doch der ehemalige Geschichtslehrer kann zuhören, interessiert sich für Gieles‘ Gänse und versorgt den Jungen mit der spannenden Geschichte, der Trockenlegung des Polders auf dem sich jetzt der Flughafen erstreckt. Zwischen den beiden so ungleichen Menschen entsteht eine tiefe Freundschaft.

Eines Tages steht Gravitation, die eigentlich Meike heißt, vor der Tür. Sie ist von Zuhause abgehauen – und überhaupt nicht so alt, wie sie sich im Netz ausgegeben hat. Sie bleibt die Sommerferien über in dem Männerhaushalt. Gieles ist von der 14-Jährigen mit den Dreadlocks, der tätowierten Träne am Auge und ihrer Wut auf die Eltern total fasziniert. Egal, was Meike macht, sagt oder anhat, er kann kaum seine Erregung verbergen und träumt immer mehr davon, das Mädchen zu küssen und mit ihr zu schlafen. So gerät er mit seinem Geheimprojekt in Verzug. Und eines Tages verkündet seine Mutter auch noch, drei Wochen früher als geplant nach Hause zu kommen. Gieles Plan droht zu scheitern.

Eigentlich wäre die Geschichte um Gieles und seinen fast verzweifelten Versuch, die Familie wieder zu vereinen, schon Stoff genug für einen Coming-of-age-Roman, doch Anne-Gine Goemans versammelt hier eine ganze Reihe skurriler und liebenswerter Figuren, die alle ihr Päckchen zu tragen haben: Onkel Fred leidet an Kinderlähmung und kümmert sich rührend um den Haushalt; Dolly ist Witwe und mit ihren drei Kindern und dem Friseursalon völlig überfordert; Gieles Freund Toon spielt sich grad als Sexmacker auf, während dessen Mutter eine Brustkrebsbehandlung über sich ergehen lassen muss; Ellen, Gieles Mutter, berichtet ihm in Mails und am Telefon ständig vom Leid in Afrika; und Super Waling ist mit seinem extremen Übergewicht eine Figur zwischen Lächerlichkeit und Mitleid, die jedoch eine ungemeine Faszination ausübt. Diese Anhäufung von Leid auf engstem Raum, das zudem vom Fluglärm quasi übertönt wird, versprüht einen ganz speziellen Reiz. „Unter jedem Dach ein Ach“, könnte man sagen und es in diesem Fall alles als völlig übertrieben und zu dick aufgetragen empfinden. Doch dem ist nicht so. Mit ihren Sorgen und Wünschen spiegeln diese Figuren das pralle Leben in all seinen Facetten. Darin als pubertierender Jugendlicher seinen eigenen Weg zu finden, ist alles anderes als leicht, wie man an Gieles und auch an Meike ganz wunderbar miterleben kann. So entwickelt der Roman trotz – oder vielleicht gerade wegen – all diesem Leid eine Leichtigkeit, die den Leser quasi im Gleitflug durch diese liebenswerte Geschichte segeln lässt.

Anne-Gine Goemans: Gleitflug, Übersetzung: Andreas Ecke, Insel Verlag, 2012, 448 Seiten, 21,95 Euro

Wehret den Anfängen!

Daniel Höra Roman braune Erde ArtamanenManchmal begegnen mir Bücher, die mich von der ersten Seite an in einen ganz besonderen Bann ziehen. Dies ist mir gerade mit dem neuen Roman von Daniel Höra passiert: Braune Erde.

Darin schildert Höra die Geschichte des 15-jährigen Ben, der als Waise bei Onkel und Tante auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern wohnt. Dort liegt bekanntlich der Hund begraben, und gerade für Jugendliche gibt es nicht viel, was die Langeweile vertreibt. Umso spannender sind da die neuen Bewohner des Gutshauses. Die Zwillinge Konrad und Gunter sind zwei Jahre älter als Ben und ganz scharf darauf, die Umgebung zu erkunden und auf dem alten Truppenübungsplatz der Russen nach Munition zu suchen. Auch das Mädchen Freya, das mit zu den Neuankömmlingen gehört, scheint ganz nett zu sein, auch wenn Ben ihren Musikgeschmack total übel findet.

Die Gutshausbewohner zeichnen sich durch einen extremen Gemeinschaftssinn aus, kümmern sich um die Nachbarn im Dorf und bringen das Platzhaus wieder auf Vordermann. Uta, Freyas Mutter, zieht eine Volkstanzgruppe auf und bringt den anderen Frauen im Dorf alte Handarbeitstechniken bei. Reinhold, Utas Mann, organisiert eine Bürgerwehr, um sich gegen Diebesbanden aus Osteuropa zu schützen. Bei allem ist Ben ein gern gesehener Gast und wird quasi mit in die Wohngemeinschaft aufgenommen. Über Politik wird eigentlich nicht geredet, nur dass Reinhold ständig auf deutsche Werte und Tugenden beharrt, und die Zwillinge vom Ende des Staates faseln und eine nicht näher definierte Revolution planen.

Ben ist zunächst fasziniert von der neuen Gemeinschaft, den scheinbar so offensichtlich vernünftigen Ansichten gegenüber Kriminellen, Ausländern und korrupten Politikern und der Action, die auf einmal in das verschlafene Dorf einzieht. Ein Ausflug nach Berlin zu einer Demonstration der Rechten ist für ihn eine willkommene Gelegenheit, die Hauptstadt kennenzulernen. Der Junge steckt so in der „Bewegung“ mit drin, dass er gar nicht begreift, in was für einen Zirkel er da geraten ist. Onkel und Tante zu Hause sind ihm bei der Einordnung all der neuen Eindrücke und Einflüsse auch keine Hilfe, da das Ehepaar selbst nie wirklich Stellung bezieht, zum Jammern neigt und über den frischen Wind im Dorf eigentlich auch ganz glücklich ist. Die Bedrohung wird zunächst nicht erkannt. Nur der Künstler Georg erkennt die Bedrohung durch die völkischen Siedler. Doch seine Warnungen verhallen im Dorf ungehört.

Derweil organisieren Uta und Reinhold eine Wintersonnenwendfeier, zu der die Zwillinge auch ihre Neo-Nazi-Kumpels einladen. Die Dorfbewohner wundern sich zwar ein wenig, bleiben jedoch untätig, als die rechten Jugendlichen anfangen, Bücher zu verbrennen. Da platzt Georg der Kragen, und er veröffentlicht bittere Kommentare in der örtlichen Presse, in denen er die rechten Umtriebe der so genannten Artamanen und die Passivität und Gleichgültigkeit seiner Nachbarn anprangert. Die Situation gerät außer Kontrolle, denn Reinhold lässt diese verbalen Angriffe nicht auf sich sitzen.

Daniel Höras Roman fesselt einen vom ersten Satz an. Konsequent aus der Sicht von Ben erzählt, gerät der Leser in einen Sog, der sich aus dem Gegensatz zwischen ostdeutscher Einöde und dem hereinbrechenden Aktionismus der Neuankömmlinge speist. Gleichzeitig ergreift einen sofort eine tiefe Beklemmung, die durch die präzise Schilderung des rechten Gedankenguts aufkommt. Man möchte Ben auf jeder Seite schütteln, warnen, ihn aufklären und ihm seinen Irrtum vor Augen führen. Aber er ist eben ein alleingelassener 15-Jähriger, der natürlich lieber mit Gleichaltrigen rumhängt, anstatt mit seiner abweisenden Tante zu diskutieren oder die Ansichten der neuen Freunde zu hinterfragen. Höra versteht es hervorragend, die Ahnungslosigkeit und Orientierungslosigkeit eines Jugendlichen darzustellen, seine Verführbarkeit, seinen Wunsch, irgendwo dazuzugehören. Gepaart mit der perfiden Art rechtsgesinnter Erwachsener, die „frisches Blut“ für ihre Bewegung brauchen, sinnvolle Lebensansätze wie Bio-Anbau mit ihrer Blut-und-Boden-Ideologie durchtränken, und hemmungslos Jung und Alt manipulieren, wird diese Geschichte zu einem Lehrstück deutscher Geschichte und deutscher Gegenwart. Bens langsames Begreifen, dass er falschen Freunden und gefährlichem Gedankengut aufgesessen ist, sein Wandel vom Anhänger rechter Ideen zum Zweifler und schließlich Gegner, tragen dazu bei, dass die Gratwanderung  der Darstellung rechter nationaler Ideologien gelingt. Höra schafft es zudem, die Vielschichtigkeit der verschiedenen Strömungen der rechten Szene zu umreißen. Er skizziert nicht nur  die medienwirksame Neo-Nazi-Szene, sondern zeigt, dass die so scheinbar netten völkischen Siedler, die Neo-Artamanen, nicht unterschätzt werden sollten. Zurück bleibt beim Leser eine Art von Entsetzen, dass es dieses faschistische und rassistische Gedankengut höchstwahrscheinlich genauso wie in diesem Roman geschildert noch viel zu oft in Deutschland zu finden ist. Dagegen von Anfang an vorzugehen, gehört zu den wichtigsten Bürgerpflichten – und Daniel Höras Roman trägt eindrucksvoll dazu bei.

Dieses Buch hat mich so fasziniert und neugierig gemacht, dass ich Daniel Höra ein paar Fragen gestellt habe.

Gab es einen konkreten Auslöser, diese Geschichte um Ben und die völkischen Siedler zu schreiben?
Ich bin vor einiger Zeit auf das Thema Völkische Siedler gestoßen und fand und finde es spannend und bedenklich. Vor allem, dass die Nazis sich jetzt nett geben, macht mir Sorge. Das erhöht natürlich die Gefahr, dass Menschen auf deren Ideologie reinfallen.
Die Mordtaten des rechtsextremen Zwickauer Terrortrios haben mich zusätzlich bestärkt, über dieses Thema zu schreiben.
Wie kann es möglich sein, dass Nazis jahrelang und unerkannt morden?
Aber ich wollte kein Buch schreiben, in dem der erhobene Zeigefinger durchscheint und auf jeder Seite das Wort „Achtung!“ aufleuchtet.
Mich interessiert vor allem: Wie kommt ein Mensch dazu aus rassistischen Gründen zu morden? Warum überschreitet jemand bewusst diese Grenze, hinter der es kein zurück gibt? Und vor allem: Warum sind so viele Menschen vom Nationalsozialismus fasziniert?
Ich kenne aus meiner eigenen Vergangenheit Leute, die in die rechte Szene abgetaucht sind. Von heute auf morgen war da ein tiefer Riss in der Beziehung, und der Kontakt brach ab. Durch das Schreiben hatte ich gehofft, die Anziehungskraft des Nationalsozialismus ein wenig verstehen zu können. Aber: Ich habe es damals nicht verstanden und ich verstehe es auch heute nicht.

Wie haben Sie die Details der rechten Szene recherchiert?
Ich habe viel zu dem Thema gelesen und mich mit Experten ausgetauscht. Ich hatte versucht, an Aussteiger, insbesondere aus der völkischen Siedlerszene, zu kommen, das hat aber leider nicht geklappt.
Besonders hilfreich war das Buch Mädelsache von Andrea Röpke. Sie beschreibt eindringlich die Strukturen und Strategien der Rechten und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Rechtsextremismus. Hilfreich waren auch Heile Welten von Astrid Geisler und Moderne Nazis von Toralf Staud.
Ansonsten habe ich Blogs und Foren gelesen. Ich habe mich auf sehr widerlichen, hasserfüllten Seiten umgesehen. Das Internet ist ein wahres Füllhorn an Scheußlichkeiten, was das angeht, oder vielmehr eine Büchse der Pandora.

Wie viel Musik der Szene haben Sie gehört, wie viele Bücher von denen gelesen?
Ich habe mir Lieder des braunen Barden Frank Rennicke auf youtube angehört und auch Interviews mit ihm.
Da ich zu dem Thema Einiges gelesen habe, stieß ich auch immer wieder auf Bands aus der Szene und habe mir die angehört (gruselig!)
Da ich viel Musik höre, kenne ich auch ein wenig die Anfänge des Nazi-Rocks. Etwa die rassistische Punkband „Screwdriver“ aus den 70ern, deren Sänger das rechtsextreme Netzwerk Blood and Honour mitbegründet hatte. Von da aus lassen sich Parallelen ziehen zu deutschen Nazi-Bands wie „Landser“ oder natürlich auch zu den frühen „Bösen Onkelz“.
Die heutigen völkischen Siedler beziehen ihre Ideologie ja vor allem aus dem traditionellen Nationalsozialismus. Zwar betreiben sie unter anderem Bio-Landwirtschaft und geben sich modern, aber allein anhand der Kleidung erkennt man ihre nostalgische Sehnsucht nach dem 3. Reich; nach Geschlechtertrennung und klaren Hierarchien. Deswegen habe ich vor allem völkische Romane aus dieser Zeit gelesen, z.B. Jörn Uhl von Gustav Frenssen. Und noch ein paar andere Blut-und-Boden-Literaten, die berechtigterweise weitgehend vergessen sind.
Die Nationalen Autonomen, die ja im Buch auch vorkommen, haben diesbezüglich (noch) keinen, der ihre „Heldentaten“ beschreibt.

Wie erträgt man auf die Dauer die Arbeit an so einem Thema?
Manches war wirklich unerträglich. Vor allem rassistische Blogs. Mir ist nach wie vor unbegreiflich, warum man eine so offensichtlich menschenfeindliche und hasserfüllte Ideologie anbetet.
Letztlich war es aber wie mit den meisten Arbeiten: Man lässt sie nach Feierabend zurück und lebt sein normales Leben. Wobei man natürlich hin und wieder einen bitteren Geschmack mitnimmt.

Wie sollte man Jugendliche vor solchen Einflüssen schützen? Kann man das überhaupt?
Schwierig. Ich bin natürlich nur ein Schriftsteller und kein Pädagoge. Und ich maße mir nicht an, durch die Arbeit an einem Buch Experte geworden zu sein.
Ich glaube, wichtig ist es, sich dem Thema zu stellen. Als Eltern, als Lehrer, als Erzieher, überhaupt als Erwachsener. Nicht wegsehen, gerade wenn es um das eigenes Kind geht. Mit den Jugendlichen reden, sie und ihre Nöte ernst nehmen.

Was sollten Jugendliche tun, wenn sie merken, dass sie so manipuliert werden? Was, wenn selbst die Lehrer keine Hilfe mehr darstellen?
Die unmittelbaren Bezugspersonen sollten natürlich immer die Eltern sein. Oder Verwandte, denen man vertraut. Freunde, insofern sie nicht der rechten Szene angehören. Und es gibt glücklicherweise Gruppen die Hilfe anbieten: Anti-Rassismus-Vereine, Aussteiger-Initiativen und so weiter. Im Internet finden sich viele Adressen dazu.
Wichtig ist es, so etwas nicht heimlich im stillen Kämmerlein mit sich auszumachen oder den Kopf in den Sand zu stecken. Die Nazis fürchten am meisten die Gegen-Öffentlichkeit und dass ihre trübe Ideologie von der Gesellschaft durchleuchtet wird.

Was sollte Ihrer Meinung nach die Politik gegen die Rechten unternehmen?
Sie sollte genügend Gelder bereitstellen für eben diese Anti-Nazi-Initiativen. Sie sollte Jugendarbeit leisten, vor allem in strukturschwachen Gebieten, wo sich die Rechten niederlassen und ihr Gift versprühen. Mehr Fortbildungen zum Thema für Lehrer und Pädagogen organisieren.
Manchmal helfen natürlich auch Verbote von rechtsextremen Parteien oder Vereinen. Und ich vermisse oftmals eine stärkere Positionierung von Politikern gegen rechts. Gerade der Umgang mit den Morden der rechtsextremen Terrorzelle lässt auf mangelnde Sensibilisierung schließen. Dazu die unsäglichen gegenseitigen Schuldzuweisungen und Vertuschungen der Geheimdienste. Da ist noch eine Menge Aufklärungsarbeit nötig.

Haben Sie weitere Roman-Projekte in dieser Richtung? Womit werden Sie sich als nächstes befassen?
Das Thema Völkische Siedler/Neo-Artamanen ist für mich vorerst abgeschlossen. Was aber nicht heißt, dass ich mich nicht irgendwann wieder damit beschäftigen werde.
Ich bin aber momentan an einer anderen Geschichte dran. Was genau, möchte ich noch nicht verraten. Dafür ist es einfach zu früh. Aber eins kann ich versprechen: Es wird spannend.

Daniel Höra: Braune Erde, Bloomsbury Verlag, 2012, 300 Seiten, ab 14, 8,99 Euro

Ausgezeichnet!

patrick Ness sieben minuten nach MitternachtZurück von der Buchmesse 2012 – ich bin noch ganz berauscht von den Buch- und Menschenmassen. Viele Termine, viele Gespräche, viele Ideen und Anregungen haben die vergangenen Tage bestimmt, und die muss ich jetzt erst einmal verarbeiten. Außerdem muss ich unbedingt noch ein paar Bücher lesen: Denn gestern Abend wurden der Deutsche Jugendliteraturpreis 2012 verliehen – und ich habe von den Gewinnern erst zwei gelesen (auch das passiert, wenn man vor lauter fesselnder Neuerscheinungen überhaupt nicht hinterher kommt mit der Lektüre …).

Die Verleihung im Saal Harmonie des Frankfurter Congress Centrums war mit 1200 Gästen proppenvoll, und die Spannung war förmlich zu spüren. Zurecht bezeichnete Nils Mohl die Veranstaltung als „Folter“. Für seinen Jugendbuchroman Es war einmal Indianerland und vier weitere Titel ging das etwa ein einhalbstündige Martyrium dann aber mit einem Preis, der Momo, aus. Ganz besonders hat mich die Wahl der Jugendjury gefreut, die sich für Sieben Minuten nach Mitternacht von Patrick Ness entschieden hat.

Diesen berührenden Roman habe ich vor genau einem Jahr nach der Buchmesse 2011 gelesen. Und daraufhin diesen Blog eingerichtet, um meine Begeisterung darüber unmittelbar teilen zu können. So hat sich gestern für mich nach einem Jahr Bloggen ein Kreis geschlossen. Was ich nun als gutes Omen für dieses Unternehmen hier deute und das mich anspornt, weiter über wundervolle Bücher zu schreiben. So stapeln sich auf meinem Schreibtisch auch schon die nächsten Romane und Bilderbücher, die ich demnächst in diesem Rahmen vorstellen werde. Zudem haben sich in den vergangenen Tagen schon die nächsten spannenden und vielversprechenden Titel angekündigt. Schöner kann eine Buchmesse eigentlich nicht laufen!

Die Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2012 möchte ich, auch wenn ich nicht alle bis jetzt gelesen habe, hier dennoch nennen:

deutscher jugendliteraturpreis 2012

In der Sparte Bilderbuch: Pija Lindenbaum: Mia schläft woanders, Übersetzung: Kerstin Behnken, Oetinger Verlag, 2011, 40 Seiten, ab 4, 12,95 Euro.

Die Jury meint: „Eine ganz alltägliche Kindererfahrung wird […] gegen den Strich gebürstet und in beeindruckende Bilder un einen klugen Text gefasst.“

 

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Kinderbuch: Finn-OleHeinrich/Ran Flygenring,: Frerk, du Zwerg! Bloomsbury Verlag, 2011, 96 Seiten,  ab 7, 16 Euro.

„Der sprachgewandte, fabulierlustige und semantisch kreative Text Heinrichs mit den frech-versponnenen Krakelbildern Flygenrings ist Quatsch in seinem allerbesten und feinsten Sinne“,  sagt die Kritikerjury.

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Sachbuch: Oscar Brenifier: Was, wenn es nur so aussieht, als wäre ich da? Illustrationen: Jacques Després, Übersetzung: Norbert Bolz, Gabriel Verlag, 2011, 96 Seiten, ab 10, 14,95 Euro

Dieses ungewöhnliche Philosophie-Buch „plädiert für eine Denkkultur, die in einer an Informationen und Fakten überreichen Welt auf eine Tiefe setzt, die nur aus der ‚Langsamkeit‘ analogen Denkens heraus entstehen kann“ – so die Jury.

deutscher jugendliteraturpreis 2012In der Sparte Jugendbuch: Nils Mohl: Es war einmal Indianerland, Rowohlt Verlag, 2011, 345 Seiten, 12,99 Euro.

Die Jury hält diesen Roman für kunstvoll gebaut, „der mit seinen zahlreichen Neologismen auch sprachlich innovativ und überzeugend ist. Er bietet dem Leser eine neue und aufregende Variante aus Bildungsroman und Liebesgeschichte.“

Und schließlich der Preis der Jugendjury: Patrick Ness/Siobhan Dowd: Sieben Minuten nach Mitternacht, Übersetzung: Bettina Abarbanell, cbj Verlag, 2011,   213 Seiten,  ab 12,  16,99 Euro.

Die Jugendlichen meinen, dass „die mächtigen sprachlichen Bilder und die Illustrationen eine perfekte Atmosphäre für die diese traurige, berührende, teilweise aber auch unterhaltsame Geschichte liefern.“

Der Sonderpreis für das Gesamtwerk ging dieses Jahr an den Illustrator Norman Junge, der spätestens seit Fünfter sein von Ernst Jandl in fast allen Haushalten präsent sein dürfte…

Herzlichen Glückwunsch allen Autoren, Übersetzern, Illustratoren und Verlagen!

Der Ernstfall

über uns stilleIm Oktober 1962 erreichte der Kalte Krieg seinen vermutlich bedrohlichsten Höhepunkt: die Kuba-Krise. 13 Tage lang schien ein Atomkrieg ganz nah. Der amerikanische Schriftsteller Morton Rhue war damals zwölf Jahre alt, und sein Vater hatte einen Bunker in den heimischen Garten bauen lassen. Welche Angst dahinter gesteckt haben muss, ist für uns heute kaum noch vorstellbar. Das Gefühl, wie es in so einem Bunker zugehen kann, eigentlich auch nicht – außer man bucht in Städten wie Hamburg oder Berlin so genannte Unterwelttouren, bei denen man solche baulichen Monster von innen besichtigen kann.

Wem diese Möglichkeit nicht zur Verfügung steht, kann jetzt im neuesten Roman von Morton Rhue in diese Welt aus Angst und Beklemmung eintauchen. In Über uns Stille spinnt er die Kuba-Krise weiter. Die Bomben sind abgeschossen und auf dem Weg in die USA. Scott wird des Nachts von seinem Vater aus dem Bett gerissen und in aller Hektik in den Bunker im Garten gejagt. Panik breitet sich aus. Nachbarn bedrängen die Familie, sie mit den Bunker zu nehmen. Doch der ist nur für vier Personen gebaut und ausgestattet. Beim Einsteigen rutscht Scotts Mutter von der Leiter und verletzt sich schwer am Kopf. Immer mehr Nachbarn drängen hinzu, Scotts Vater muss sich zur  Wehr setzten. Doch als er endlich die Luke schließen kann, sind sie zu zehnt im unterirdischen Sicherheitsraum. Und keiner weiß, wie lange sie dort unten ausharren müssen. Die Vorräte werden nicht lange reichen, als Toilette gibt es nur einen Eimer, die Belüftung muss mit Hand betrieben werden und auch die Wasserversorgung scheint nicht zu funktionieren. Die Stimmung ist angespannt, zumal Scotts Mutter immer noch bewusstlos ist.

Gegen diese Schilderung im Bunker setzt Rhue Kapitel, die von der Zeit vor dem Krieg erzählen. Vom Hass auf die Russen, von der anschwellenden Bedrohung, der unterschwelligen Angst, die sich auch auf die Kinder überträgt.

Rhue, der bekannt dafür ist, schonungslos über die Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen in einer von Erwachsenen dominierten Welt zu berichten, wie in Die Welle oder in Asphalt Tribe (was Stefani Kampmann in einer ganz hervorragenden Graphic Novel adapiert hat), macht sich auch mit Über uns Stille wieder zum Anwalt der Kinder. Mit ihren Augen betrachtet er die Machtspiele der Politik, die Ressentiments der Erwachsenen und wirft dabei die fundamentale Frage auf, wie viel Solidarität und Hilfsbereitschaft ein Mensch aufbringen kann, wenn die eigene Existenz bedroht ist. Also, wie viele Menschen nimmt man in einem Bunker auf? Wo setzt man Grenzen? Wie viel Egoismus ist im Fall der Apokalypse überhaupt sinnvoll, wenn draußen alles verseucht ist?

Dies ist sicher kein unterhaltsamer Roman, aber dafür ein umso hellsichtiger und philosophischer, der den Leser zu einer Stellungnahmen zwingt. Und wenn man das Kräftemessen zwischen Israel und Iran momentan beobachtet, beschleicht einen das ungute Gefühl, dass Rhue trotz des 50 Jahre alten Themas den Nerv der Zeit getroffen und einen hochaktuellen Roman abgeliefert hat.

Morton Rhue: Über uns Stille, Übersetzung: Katarina Ganslandt, Ravensburger Buchverlag, 2012, 239 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Stefani Kampmann: Asphalt Tribe, Graphic Novel nach dem Roman von Morton Rhue, Ravensburger Buchverlag, 2011, 155 Seiten, ab 13, 16,95 Euro

Zwischen den Welten

Berlin-Neukölln, Campus Rütli, ein lauer Spätsommerabend. Die verkehrsberuhigte Rütlistraße präsentiert sich schon fast als Idyll. Kinder spielen im Jugendtreff, auf dem Sportplatz läuft eine Partie Basketball. In der Kleingartensiedlung „Hand in Hand“ ist gerade gar nichts los, an einer Brandmauer steht „Kotz Kölln“. Die Gewalt, die hier noch vor einigen Jahren herrschte, ist an diesem Abend nicht mehr zu spüren. Der Campus Rütli, der unter der Schirmherrschaft von Christina Rau, Witwe von Bundespräsident Johannes Rau, weiter ausgebaut wird, wandelt sich: Die Schüler schrauben an alten Porsche-Traktoren oder musizieren im Schulorchester. Die S. Fischer Stiftung unterstützt die Kids mit Aktionen wie „Fußball trifft Kultur“ – erst kicken, dann lesen. Und nun gab es eine Premiere: Im Rahmen der „Woche der Sprache und des Lesens in Berlin“ las Deniz Selek in der Mensa der Schule aus ihrem druckfrischen Roman Zimtküsse. Und richtig viele Schüler waren gekommen.

Man hätte vermuten können, dass das junge Publikum, vor allem die Jungs, bei der Lesung eines ausgesprochenen Mädchenbuches, herumalbern oder stören würden. Doch Fehlanzeige: Gebannt lauschen die etwa 80 Zuschauer der deutsch-türkischen Autorin, für die dieser Abend eine doppelte Premiere ist. Es ist ihre erste Lesung aus ihrem Debütroman – und Deniz Selek meistert das Ganze mit Bravour. Sie liest engagiert und mit Herzblut. Kein Wunder, dass die Jugendlichen ihr an den Lippen hängen und sie hinterher mit Autogrammwünschen bestürmen und den kleinen Büchertisch fast leerkaufen. Zu diesem Erfolg trägt natürlich auch Seleks unterhaltsam leichter Roman bei.

Darin erzählt sie die Geschichte der 14-jährigen Sahra. Ihr Vater ist Türke, Maschinenbauingenieur und der beste Papa der Welt, ihre Mutter ist Deutsche – und hat sich gerade in eine andere Frau verliebt. Sahras Welt steht Kopf. Hinzu kommt, dass ihre beste Freundin Katta nur noch Augen für Henry hat. Sahra hält das alles nicht mehr aus und flüchtet zu ihrer Großmutter nach Istanbul. Dort taucht sie zusammen mit ihren Cousinen Daria und Sema in das Getümmel der Großstadt ein, dort, wo internationale Kaffee-, Parfum- und Bekleidungsketten auf kleine Läden aus 1001 Nacht treffen, wo die Mädchen Liebesschlösser und bunte Perlenbänder für Gelübdebäume kaufen.  Sahra staunt, genießt und kämpft mit den beiden Welten, in denen sie lebt. Dort, wo sie gerade ist, fehlt ihr die andere Welt. Ist so etwas schon für Erwachsene eine Herausforderung, wird das für ein pubertierendes Mädchen zu einer existenziellen Erfahrung: Wer bin ich? Wo und wie will ich leben? Was prägt mich? Sahra erlebt die Sehnsucht und die Erfahrung, sich ständig entscheiden zu müssen, obwohl sie das eigentlich gar nicht will. Und sie erfährt die Liebe und Zuneigung von ihren Eltern, ihrer Großmutter, ihren Cousinen und ihren Freunden. Und Tjiago aus dem dritten Stock, Zuhause in Deutschland, scheint doch gar nicht so übel zu sein, wie anfangs gedacht …

Deniz Selek erzählt diese wichtigen Alltagsgeschichten, die zur Identitätsfindung Jugendlicher gehören, mit souveräner Leichtigkeit. Ihre lockere Sprache trifft genau den Ton der Teenager, die eingewebten türkischen Begriffe zeugen von der Verquickung der beiden Welten, in denen die Protagonistin lebt – und eben auch viele der zukünftigen Leserinnen. Seleks Liebe zu Istanbul, wo sie selbst viele Jahre gewohnt hat, ist in jeder Szene zu spüren. Ihre eigene Erfahrung als Halbtürkin in Deutschland spiegelt sich im Roman und verleiht ihm die nötige Authentizität. Die Autorin zeigt, dass im Einwanderland Deutschland das Leben in zwei Kulturen zur Normalität gehört. Und gerade diese Normalität, zu der auch der raue, gewalttätige Umgangston in der Schule gehört, macht die Stärke dieses Buches aus.

So wie die Lesung auf dem Campus Rütli, bei der übrigens auch Christina Rau anwesend war, ein tolles Beispiel war, wie man die Kids zum Lesen animiert, so ist Zimtküsse ein total liebenswertes Romandebüt, perfekt gelungene Unterhaltung und allerbestes Lesefutter.

Deniz Selek: Zimtküsse, Fischer Schatzinsel, 2012, 288 Seiten, ab 12, 13,99 Euro

Der Widerstand der Jugend

Manchmal gibt es merkwürdige Häufungen von fast zeitgleichen Veröffentlichungen zu einem Thema. In diesen Monaten werden die Edelweißpiraten von Köln, die sich in den 1940er Jahren gegen die Nazis auflehnten, in gleich zwei Büchern für Jugendliche gewürdigt.

Sie heißen Bastian, Ralle, Billie, Franzi und Zack – und sie haben keinen Bock auf die HJ. Köln, 1943, die Nazis herrschen mit harter Hand, die Alliierten bombardieren fast täglich die Domstadt, und die Jugendlichen wollen lieber wandern, singen und am Lagerfeuer sitzen, anstatt sich in die gleichgeschalteten Jugendorganisationen der Nationalsozialisten einzureihen. Oftmals prügeln sie sich mit den HJlern. Und sie überfallen nachts Lebensmitteltransporte, um Zwangsarbeiter und die eigenen Familien zu unterstützen. Polizei und Gestapo sind diese „wehrzersetzenden“ Umtriebe ein Dorn im Auge, und so gehen sie immer schärfer gegen die Jugendlichen vor.

Bei einem der nächsten Bahnüberfälle schlagen sie zu. Zack wird erschossen. Die Edelweißpiraten sind erschüttert. Bastian wittert Verrat, zumal erst kurz zuvor Paul zu ihrer Gruppe gestoßen ist und ihm quasi im Handstreich Franzi ausgespannt hat. Doch Paul selbst ist auch nicht gut auf die Nazis zu sprechen. Sein jüdischer Vater wurde deportiert und stirbt beim Arbeitsdienst. Der Junge muss untertauchen. So kommt es ihm gelegen, dass die Edelweißpiraten Kontakte zu Fälschern haben. Aus Paul wird mit gestohlenen Papieren auf einmal Peter, Sohn eines hohen Nazibonzen, dessen Familie bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Franzi, die sich auf den ersten Blick in den Jungen verliebt hat, verschafft ihm Arbeit in einer Gärtnerei.

Trotz der Bombenangriffen schmieden die Edelweißpiraten beständig neue Pläne, wie sie die Nazis ärgern und beschäftigen können: Sie schreiben Flugblätter und lassen sie durch den Kölner Bahnhof flattern, sie sabotieren, wo sie nur können. Und sie diskutieren, wo Widerstand anfängt und wie weit er gehen kann: Bringen die kleinen Aktionen überhaupt etwas? Ist Gewalt zulässig? Darf man für den Zweck töten? Mit anderen Worten: Wo fängt Widerstand überhaupt an? Sie machen weiter – fliegen auf, werden verhaften und sollen ohne Prozess hingerichtet werden. Schließlich greift Paul zur Waffe.

Genau recherchiert und packend erzählt schildert Elisabeth Zöller die Wege der beiden Jungen Bastian und Paul. Der Leser ist dicht am Geschehen, spürt den Hunger, die Kälte und vor allem die Angst, die die Jugendlichen in den Kriegsjahren auszuhalten hatten. Doch auch der Zusammenhalt der Edelweißpiraten und die zärtliche Liebe zwischen Paul und Franzi lässt Hoffnung keimen, zeigt, dass anders Denken im Dritten Reich möglich, wenn auch schwierig war.

Jenseits vom bekannten, intellektuellen Widerstand um die Weiße Rose, dem moralischen eines Dietrich Bonhoeffers oder des politisch-visionären Attentats vom 20. Juli 1944 erfährt der Leser hier, dass auch Teile der Arbeiterjugend sich auflehnten und etwas gegen das Unrechtsregime taten. Wie selbstverständlich ziehen sich philosophische Grundfragen um Moral, Menschenwürde und Authentizität durch den Roman und bieten jede Menge Diskussionsstoff. Ein Glossar am Ende erklärt die wichtigsten Begriffe, Institutionen, Organisationen und Personen der Nazizeit.

Auf eine etwas andere, aber nicht minder packende Herangehensweise befasst sich Dirk Reinhardt ebenfalls mit dem Thema des jugendlichen Widerstands der Edelweißpiraten. In Tagebuchform lässt er den Jungen Josef Gerlach von den 1940er Jahren erzählen. Hier sind es Flint, Kralle, Gerle, Tilly, Flocke und Tom, die in einer losen Clique immer öfter gegen HJ und staatlich verordnete Regeln aufbegehren. Lange Haare und schräge Klamotten sind da nur die äußeren Zeichen des Freiheitsdranges.

Auch hier werden die Aktionen der Jugendlichen immer kühner. Sprüchen an den Wänden folgen Flugblätter, die Piraten helfen Ostarbeitern und plündern Züge, zersetzen die Wehrkraft. Und Gerle verliebt sich in Tilly.

Erzählt Elisabeth Zöller sowohl aus der Perspektive der widerständlerischen Jugendlichen, als auch aus der Sicht der nationalsozialistischen Herrscher, beschränkt sich Dirk Reinhardt durch das Genre Tagebuch ausschließlich auf die Ich-Erzählung durch den 16-jährigen Gerle. Authentisch schildert er, wie der Junge die Entwicklung des Kriegs, die Veränderungen in seiner Umgebung und in seinem Alltag erlebt. Die Schrecken und Untaten der Nazis greifen unmittelbar in sein Leben ein. Auch hier leidet der Leser mit dem Helden und spürt aus erster Hand die Seelenqualen, die er erleiden muss.

Gerles Geschichte hat Reinhardt in eine Rahmenhandlung gebetet, in der das Tagebuch in der Gegenwart vom sterbenden Josef Gerlach an den 16-Jährigen Daniel weitergegeben wird. Der Junge liest die Aufzeichnungen mit wachsender Neugier und Respekt – und entdeckt schließlich die Verbindung, die zwischen ihm und dem alten Mann besteht.

Mit diesem erzählerischen Kniff macht Reinhardt deutlich, wie wichtig es ist, auch heute noch – fast 70 Jahre nach Flugblattaktionen und Auflehnung – an diese mutigen Jugendlichen zu erinnern, die einfach nur ihre Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben wollten. Die Edelweißpiraten können immer noch als Vorbild dienen, darüber nachzudenken, welchen Weg man im Leben einschlagen will und wie viel man bereit ist, dafür zu riskieren.

Elisabeth Zöller: Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife, Hanser Verlag, 2012, 352 Seiten, ab 12, 16,90 Euro

Dirk Reinhardt: Edelweißpiraten, Aufbau Verlag, 2012, 254 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

John Green in Berlin

Eigentlich habe ich es ja nicht mit Autogrammen und dem Promi-Hinterherrennen, doch dieses Mal konnte ich einfach nicht anders. Und jetzt ist meine Presseausgabe von John Greens Roman Das Schicksal ist ein mieser Verräter mit der Unterschrift des Autors versehen. Irgendwie schön. Das Ganze passierte heute Abend auf dem 12. Internationalen Literaturfestival in Berlin, wo John Green seine Deutschland-Lesereise begann.

Ich war etwas zu früh im Haus der Berliner Festspiele, der Abend war noch lau und trocken. Als ich in den Garten schlenderte, saß er dort. In hellem Hemd, Jeans und Adidas-Turnschuhen. John Green himself. Ganz entspannt gab er ein Interview. Und anstatt die ersten Autogrammjäger fortzujagen, fing er an zu signieren und meinte: „Lieber jetzt schon, als später, wenn alle kommen.“ Ich nahm allen Mut zusammen, zumal ich mich für die Beantwortung meiner Fragen vor ein paar Wochen persönlich bedanken wollte. Er war so nett und erfreut, dass es mir regelrecht die Sprache verschlug, und ich irgendwas von „confused“ stotterte. Tzz. Er nahm es mit Humor und erzählte, dass er so jelaged sei und auch ganz confused … Nun, man sah es ihm nicht an. Auch nicht das Mammutprogramm, dass er einen Tag nach seiner Ankunft in Deutschland schon hinter sich hatte: Zwei Lesungen, Interview-Marathon, Aufnahmen mit einem Fernsehteam im Plänterwald. Das quietschende Riesenrad, das sich dort langsam gedreht hätte, würde so wunderbar zu der Vergänglichkeit in seinem Roman passen, wurde mir zugetragen.

Wenig später füllte sich der große Saal im Festspielhaus langsam. Etwa 250 Menschen drängten hinein, hauptsächlich junge Mädchen. Und als um 19.38 Uhr John Green auf die Bühne trat, brandete Jubel auf, als würde ein Popstar erscheinen. Doch er gebärdete sich ganz und gar nicht so, sondern setzte sich fast bescheiden auf seinen Stuhl. Einer launigen Vorstellung folgte die erste Lesung, zunächst John Green selbst auf Englisch, dann rezitierte Regina Gisbertz so mitreißend die deutsche Übersetzung von Sophie Zeitz, dass der Autor ganz fasziniert an ihren Lippen hing und bekannte, dass er sich durch ihren Vortrag wieder genauso fühlte, wie in dem Moment als er das Buch geschrieben hatte.

Im Anschluss erzählte er von Empathie, die beim Schreiben wichtiger ist, als den richtigen Slang der Jugend zu treffen. Den hätte er selbst in jungen Jahren überhaupt nicht gesprochen und nie gewusst, worüber sich seine Altersgenossen so unterhielten. Doch das Mitgefühl für die Menschen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden, für die sie nichts können, war ihm während des Schreibens wichtiger. Für ihn müssen die Emotionen der Figuren aus dem Bauch herauskommen, dann gelänge es auch, die Leser zu fesseln. So findet er es denn auch heroisch, wenn sich die Helden von der Stärke zur hin Schwäche entwickeln und nicht anders herum. In einer Welt, in der Stärke oder zumindest der Anschein von Stärke extrem weit oben rangiert, ist das eine ganz wunderbare Haltung, die er in seinem sechsten Roman perfekt umgesetzt hat.

Ansonsten hält er es mit dem ur-amerikanischen Konzept der Reise: Wenn etwas nicht richtig läuft, verreise. Die Reise als Problemlöser ist ihm wichtig. Nicht nur, weil er selbst gern verreist, sondern weil jede physische Reise auch immer eine emotionale Veränderung nach sich zieht, und so zumeist eine Reise zu sich selbst wird. Auch das spiegelt sich in Das Schicksal ist ein mieser Verräter ganz eindrücklich.

Die einzige Frage aus dem Publikum, die er mit einem kategorischen Nein beantwortete, war die, ob er je unter dem Pseudonym Peter Van Houten den Roman Ein herrschaftliches Leiden schreiben wird. Für diese große, intellektuelle Herausforderung sei er nicht gut genug, denn die Vorstellung von diesem Buch sei einfach unerreichbar. Das glaube ich ihm zwar nicht, aber auch er hat natürlich ein Recht, Fragen unbeantwortet zu lassen. Was ihn auf jeden Fall noch interessanter macht.

Fast ging es ein bisschen unter, dass es in seinem Buch auch um die Beziehung zwischen Autoren und Lesern geht. Und um die Dankbarkeit der Autoren gegenüber ihren Lesern. Diese Dankbarkeit könnten die Autoren nur sehr schwer äußern, behauptete er – doch John Green ist dies an diesem kurzweiligen Abend auf seine reizende, unaufgeregte, fast bescheidene Art perfekt gelungen!

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Übersetzung: Sophie Zeitz, Hanser Verlag, 2012, 287 Seiten, 16,90 Euro