Umfallen lernen

umfall

Was ist das denn für ein schräger Superheld? Ein moppeliger Kerl mit schwarzem Pilzkopf  und Oberlippenflaum, im rotgestreiften Schlafanzug und Badeschlappen an den Füßen, der sich seinen Umhang festknotet – so steht er auf dem Titelbild von Mikael Ross‘ Comic Der Umfall. Und wieso Umfall?

Zack, ist man schon drin in der Geschichte: Jetzt ist der Held namens Noel in seiner Daunenjacke ein rotes Michelinmännchen mit Mütze – und er benimmt sich auch ziemlich schräg: Bestaunt Prinzessinenpuppen, weiß nicht, wie alt er ist, schmettert lauthals im Feierabendrummel umgetextete Weihnachtslieder. Nach ein paar idyllischen, liebevollen Szenen mit seiner Mutter, genannt Mumsie, Geburtstagsgeschenken und gegrillten Marshmallows auf dem Balkon passiert der titelgebende Umfall: »Mumsie schläft auf dem Boden. Schlafen tut man aber im Bett. Und da is auch Blut … gehört da nicht hin.«

Panik, zur Beruhigung stülpt Noel sich einen Blumentopf über den Kopf, schließlich schafft er es mit größter Anstrengung einen Rettungswagen zu rufen.

Mit dem Umfall fällt Noel aus seinem bisherigen behüteten Leben in Berlin. Mumsie liegt im Koma, allein kann Noel nicht in der Wohnung bleiben. »Daheim ist nicht mehr mein Daheim.« Also bringt ihn »der Mann mit Bart« (sein Vater? Eine Frage, die Noel nicht stellt) nach Niedersachsen in das Dorf Neuerkerode.

Neuerkerode – die besondere Dorfgemeinschaft

Wie sein fiktiver Held Noel kam der Comiczeichner Mikael Ross in eine ihm zuvor völlig unbekannte Welt: Neuerkerode gibt es wirklich. Es ist ein inklusives Dorf, in dem Menschen mit und ohne Behinderung, unterschiedlichster Vorgeschichte und Prägung, leben und arbeiten. Ross erzählt die Geschichte dieser besonderen Dorfgemeinschaft aus Noels Perspektive: vorsichtig beobachtend und absolut unvoreingenommen. Langsam lernt er die Bewohner, Bürger genannt, und ihre individuellen Besonderheiten kennen. Wir sind hautnah dabei. Natürlich läuft beim »normalen« Leser (in der taz nannte eine Autorin, Mutter eines Sohns mit Downsyndrom und Tochter mit ADHS, ihren Mann »mehrfach schwer normal«) immer der Meta-Text mit: Wir versuchen die Art der Behinderung und ihre Schwere zu benennen, erkennen natürlich einen epileptischen Anfall als solchen, fremdeln in diesem Kontext noch mehr als sonst beim Thema Sex, denken über vermeintlich politisch korrekte Begriffe wie »anders begabt« nach. Oder, wie Andreas Steinhöfels Rico sagen würde: »tiefbegabt«.

Recherche vor Ort

Es gelingt Mikael Ross grandios, die Menschen aus Noels Sicht zu zeigen und sie einfach, so wie sie sind, auf sich zu kommen zu lassen. Ihren eigenen Humor, ihre Sprache, teils verquere Sichtweise und skurrile Logik übersetzt er geistreich und witzig. Zweieinhalb Jahre hat Ross in Neuerkerode recherchiert und wiederholt mehrere Tage in einem Apartment im Dorf gewohnt. Nach einiger Zeit hat er gelernt, dass er viel mehr über die Menschen vor Ort erfährt, wenn er, anstatt einzelnen gezielt Fragen zu stellen, sie auf sich zukommen lässt. Sie haben ihn an ihrem Leben, ihrer individuellen, teils sehr speziellen Erlebniswelt teilhaben lassen.

Und sie haben ihm viel von sich erzählt, unter anderem von dem schrecklichen Kapitel der 150 Jahre alten Einrichtung während der NS-Zeit. Zahlreiche Bewohner wurden abgeholt und ermordet. Damals waren Jungen und Mädchen, Männer und Frauen streng durch einen hohen Zaun voneinander getrennt. Trotzdem konnte ein Junge seine Schwester noch warnen, bevor auch er deportiert wurde. Die mit 92 Jahren älteste Bewohnerin Neuerkerodes überlebte, weil sie sich im Wald versteckt hatte. Diese erschütternde Erzählung webt Ross geschickt als eine frühmorgendliche Begegnung Noels mit der reizenden, alten Irma an der Bushaltestelle ein.

Beiläufig erfährt man andere Lebensgeschichten, vom autistisch-zahlenversessenen Valentin, von Alice, die bei großer Aufregung epileptische Anfälle erleidet, von der Frau, die sich früher selbst verletzt hatte, mit Medikamenten sediert und ans Bett fixiert wurde und dann Judo für sich als Therapie ohne schädliche Nebenwirkungen entdeckt hat und den übersetzt »sanften Weg« anderen Bewohnern beibringt.

Dabei beschönigt Ross nicht, er idealisiert und verharmlost Behinderungen nicht. Die meisten Neuerkeroder wären außerhalb, in der »normalen« Welt nicht lebensfähig. Schon am Anfang reißt Noels Mutter angesichts seiner Trödel- und Singerei irgendwann der Geduldsfaden und sie brüllt: »Es reicht. Du nervst.«

Sie alle sind mal niedlich, lustig, entzückend, sympathisch verschrobene, harmlose Spinner. Aber ebenso können sie extrem anstrengend sein, gewalttätig, nerven und einen in den Wahnsinn treiben.

Das Leben in allen Facetten

Während Noels Eingewöhnungszeit, seinen Begegnungen und Erfahrungen, wird uns klar, dass genau das unser Unbehagen gegenüber Behinderten ausmacht: Dass sie uns »Normalen« fremd und unberechenbar sind. Dass ihre Handlungen oft unlogisch erscheinen und wir uns nicht in sie hineindenken und –fühlen können; dass wir uns in ihrer Gegenwart deshalb selbst hilflos fühlen.

Ross zeigt auch, dass in Neuerkerode ebenso geliebt, gestritten, um Aufmerksamkeit geeifert, getrauert, vermisst und Freude empfunden wird. Leben in allen Facetten, nur halt ein bisschen anders.

Kluger Strich, kühne Konturen

Ross, der ursprünglich Herrenschneider gelernt und nie Illustration studiert hat und heute im Zweitjob als Kostümbildner arbeitet, fängt dieses eben nicht ganz normale Leben in Buntstiftzeichnungen ein. Die Technik hat er erst in Neuerkerode für sich entdeckt, wo viel und begeistert gezeichnet wird. Seine Figuren sind alle ausgereifte Charaktere mit markanten, nie genormten oder klassisch schönen Physiognomien. Manchmal bekommen die Zeichnungen etwas karikatureskes, doch ohne jemanden zu verspotten oder lächerlich zu machen. Außer bei der Gruppe Ärzte, die Noel über den Zustand seiner Mutter informieren wollen: Sie wirken absolut nachvollziehbar wie durcheinanderquakende Enten, angesichts unverständlicher und kaum empathisch hervorgestoßener Fachtermini. Flaschenbodendicke Brillengläser etwa lassen aus Sicht Noels die Augen seines Gegenübers wahlweise verschwinden oder untertassengroß erscheinen. Und Alices Eifersuchtsanfall zum Beispiel verwandelt sich zum Cartoon in Stop-Motion-Bildern. Ross braucht im Gegensatz zum Film keine aufwendigen Special Effects für seinen mitreißenden Comic. Kluger Strich, kühne Konturen und kräftige Colorationen machen seine Panels lebendig und dynamisch.

Erstaunlich ist die Entstehungsgeschichte dieses Comics: Es ist die offizielle Festschrift zum 150. Geburtstag Neuerkerodes am 13. September 2018, wie man erst im Nachwort  erfährt.  Zwar gab’s einen konkreten Abgabetermin, ansonsten hatte Ross aber hierfür sämtliche künstlerische Freiheiten. Das spricht auch für den ungewöhnlichen Geist dieses inklusiven Dorfs: Dass man eben nicht das macht, was man normalerweise macht.

Zum Schluss, ein Jahr ist mittlerweile rum, hat Noel sich mit seinem neuen Leben in Neuerkerode arrangiert. Er hat vieles gelernt. Auch, nicht zuletzt dank Judo, richtig umzufallen – und wieder aufzustehen.

Mikael Ross: Der Umfall, Avant Verlag 2018, 128 Seiten, ab 14, 28 Euro

Blind für die anderen

gehörlosDa es diesen Blog erst seit gut eineinhalb Jahren gibt, sind die Hardcover, die vor Herbst 2011 erschienen sind, an mir vorbeigegangen. Gut, dass manche Bücher später noch einmal als Taschenbuch erscheinen. Daher bin ich jetzt wirklich froh, dass ich so doch noch auf Freak City von Kathrin Schrocke gestoßen bin.

Der 15-jährige Ich-Erzähler Mika hat Liebeskummer. Sandra hat ihm nach gerade einmal einem Jahr den Laufpass gegeben, im Schwimmbad. Mitten im Wasser und eigentlich ohne richtige Begründung. Mika hadert fürchterlich und möchte Sandra zurück haben. In diesem Drama läuft ihm Lea über den Weg. Mit ihren wilden Locken, dem Tattoo am Hals und dem Minirock macht sie ihn auf den ersten Blick schon ganz wuschig. So wuschig, dass er überhaupt nicht mitbekommt, dass Lea gehörlos ist. Erst, als er sie im Jugendtreff Freak City wiedersieht, realisiert er ihre Einschränkung. Mika, der nicht gerade zu der Kategorie der Blitzmerker gehört und sich eigentlich für gar nichts richtig interessiert – außer für Sandra – rutscht eher ungewollt und ziemlich spontan in einen Gebärdensprachkurs.

Mehr und mehr lernt er die Welt der Gehörlosen kennen und entwickelt ein Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen. Die oberflächliche, rotzige Art seines Kumpels Calimero geht ihm dabei mehr und mehr auf den Keks. Statt mit ihm abzuhängen oder mit dem Vater in die Kletterhalle zu gehen, verabredet Mika sich lieber mit Lea und erkundet die und das Unbekannte, zu dem auch ein Konzert eines gehörlosen Rappers gehört. Als er Lea eines Tages Zuhause überrascht, erlebt er allerdings auch, dass ihre Familie das Mädchen ganz anders wahrnimmt als er.

Als Sandra mitbekommt, dass Mika sich für eine andere interessiert, startet sie einen Wiederversöhnungsversuch …

Mit lockerer, aber nicht anbiedernder Sprache führt Kathrin Schrocke junge Leser in die Welt von Gehörlosen. In Zeiten, in den um Inklusionsschulen gestritten wird, Behinderte aber in einer „normalen“ Gesellschaft kaum sichtbar sind, weil sie auf die eine oder andere Art doch irgendwie „wegorganisiert“ sind, ist die Geschichte von Mika und Lea ein wichtiger Beitrag für Verständnis und Miteinander von Menschen jeglicher Art. Schrocke hat genau recherchiert und bietet einen Einblick in die Welt ohne Geräusche. Und die ist vielfältiger, aber auch tückischer, als ein Hörender oftmals denkt. Auch die verschiedenen Ansätze, wie einzelne Familien mit gehörlosen Kindern umgehen, zeigt die Autorin, ohne zu urteilen: In Leas Familie kann niemand Gebärdensprache, weil Lea nicht „verwöhnt“ werden und sich in der „normalen“ Welt zurechtfinden soll. Bei Leas Freundin Franzi hingegen kommunizieren alle Familienmitglieder mit Gesten und kommen dem gehörlosen Mädchen ganz selbstverständlich entgegen. Welcher Ansatz der sinnvollere ist, muss jeder Leser für sich entscheiden. Schrocke illustriert zudem eindringlich, dass Nicht-Behinderte Menschen mit Einschränkungen – welcher Art auch immer – oftmals für intellektuell zurückgeblieben halten. Gegen dieses Vorurteil kämpft sie mit ihrem Roman auf leichte und mitfühlende Art an.

Freak City ist eine wunderbar herzergreifende Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern und ein wichtiges Plädoyer für eine Gesellschaft, in der auch die Menschen, die nicht der vermeintlichen Norm und der vermeintlichen Normalität entsprechen, gesehen, gehört, angenommen und vorbehaltlos akzeptiert werden. Das würde sicherlich eine Bereicherung für alle sein.

Kathrin Schrocke: Freak City, Carlsen Taschenbücher, 2013, 240 Seiten, ab 12, 6,99 Euro