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Seele aufgefressen

Dass man mal was vergisst, kann passieren: den Herd auszustellen, die Klarsichtfolie von den Käsescheiben abzupulen, bevor man die Brote damit belegt oder Katzenfutter kauft, obwohl man nur noch einen Hund hat. Jeder vergisst mal was, auch der siebenjährige Foster vergisst, sein Handtuch aufzuhängen oder das Buch rechtzeitig zurückzuzbringen.

Aber dann fällt Foster bei seinem Vater etwas auf, was den wahren Schrecken der Krankheit Demenz ausmacht: sein Vater, der phantastische Geschichtenerfinder, verändert sich. Anfangs findet Foster es noch lustig, wenn sein Vater abends geschäftliche Telefonate mit seiner melodiösen Erzählerstimme führt. Und nicht wie sonst mit der seriösen, tieferen „Anzugstimme“, die „wie die Rüstung eines Ritters ist“. Aber obwohl er auch früher nicht den Sinn der Finanzberatungen verstanden hat, begreift er schnell, dass sein Vater beginnt, unverständlichen Quatsch zu reden, der die Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung irritiert. „Und er war einfach nicht darauf vorbereitet, wie sehr die Veränderung eines anderen Menschen all das, was er so sicher zu wissen und zu kennen glaubte, infrage stellen konnte.“

Die australische Autorin Dianne Touchell hat mit Forster vergessen eines der ehrlichsten und besten Bücher über die tückische Krankheit Demenz geschrieben, eine Krankheit, die mit zunehmender Lebenserwartung der Menschen und Überalterung der Gesellschaft zu einem gravierenden Problem wird. Und obwohl „vergessen“ im Titel steht und Vergesslichkeit als das Hauptsymptom gilt, beschreibt Touchell schonungslos, wie das anfangs „ein bisschen tüddelig sein“ den Kranken verändert und schließlich zerstört.

Man kann es Wesen, Persönlichkeit oder Seele nennen: Ein Mensch ist die Summe seiner Erlebnisse und Erinnerungen, seiner Taten und Gedanken, seiner Gefühle, Ängste und Wünsche. Und wenn das alles verschwindet, weil Nervenzellen und die Verknüpfungen zwischen ihnen zugrunde gehen, dann wird er ein anderer, in den seltensten Fällen besserer oder sympathischerer Mensch – im Gegenteil. Erwachsene wollen nicht wahr haben, dass dieser Mensch schließlich nichts mehr mit der Person zu tun hat, die man geliebt, der man vertraut hat. Foster aber erkennt diese Veränderungen. Noch ist dem Jungen aber nicht klar, dass diese Wesensmutationen unumkehrbar sind, der Beginn einer grausamen Reise ins Nichts, die totale Finsternis.

Seine Mutter kann damit überhaupt nicht umgehen, seit ihrem schweren Unfall vor einigen Jahren, Wochen im Koma und gezeichnet von einer halbseitigen Gesichtslähmung, verdrängt sie zunächst die nicht zu übersehenden ersten Anzeichen, dann die Schwere der Erkrankung ihres noch relativ jungen Mannes. Vor lauter eigenen Sorgen und Kummer lässt sie ihren Sohn allein mit seinen Sorgen, sagt, dass „er sich darüber nicht den Kopf zerbrechen soll“, was eher ein schlechter Witz, entsprungen aus schierer Hilflosigkeit, ist.

Foster ist ein sehr guter, sensibler Beobachter und Dianne Touchell beschreibt seine Empfindungen bildgewaltig und eindringlich: „Als Mum Foster nach der Schule abholte, wollte er sie fragen, ob das mit dem Verrücktwerden stimmte. Aber er ließ es dann doch lieber. Mum hatte einen ganz speziellen Ausdruck in ihrem Mienen-Repertoire, der ihr Gesicht zumachte wie eine Tür. Es war ihre Sprich-mich-nicht-an-Miene.“ Später lernt er, „auf leise Art traurig zu sein. Vorher war seine Traurigkeit etwas Lautes gewesen. Zu atmen, während gleichzeitig Schleim und und Tränen liefen, hatte Lärm gemacht. Aber in letzter Zeit konnte er weinen, ohne dass die Tränen überhaupt herausquollen.“

Der Siebenjährige erlebt, wie sein witziger, kluger, lebenszugewandter und patenter Papa zu einem Fremden wird, der den Familienhund auf die Straße scheucht, weil er ihn für einen Streuner hält; der im Eifersuchtswahn die Mutter schlägt und schließlich sein eigenes Spiegelbild angreift und zerschlägt, weil er sich selbst nicht erkennt.

Fosters Mutter verleugnet bis zur Selbstaufgabe. Wie so viele, die ihre dementen Angehörigen zu pflegen versuchen, kann sie sich nicht eingestehen, dass sie ihren einst geliebten Mann, ihren Beschützer, den optimistischen Fels in der Brandung und nicht zuletzt Hauptverdiener nicht mehr findet und immer wütender auf ihn wird, ihn vielleicht sogar schon hasst.

Demenz frisst die Seele des Menschen: Der rudimentäre Rest der vertrauten Person ist nur noch getrieben von Misstrauen, Wut, Gewalt, reduziert auf Instinkte, essen, schlafen, kacken, wobei Schlaf wegen der extremen inneren Unruhe immer seltener und schwieriger wird. Gegen diese Untoten hätte ich gern den Zombiefresser, der in meinem vorherigen Beitrag in den Koffer gepackt wurde. Demenz ist der pure Horror.

Unvermittelt bricht der ganze Zorn und die ganze Verzweiflung aus Fosters Mama in einem einzigen Laut heraus, einem lauten, kurzen Bellen. Nur ihre mit einem bodenständigen Galgenhumor ausgerüstete Schwägerin, Fosters Tante Linda, kann sie schließlich vor ihrem, man muss es so deutlich sagen, irrem Märtyrertum retten und professionelle Hilfe holen, geschulte Pfleger, die sich unvoreingenommen um den Kranken kümmern und sich selbst emotional schützen können. Helfer und Betreuer, die allen Beteiligten Pausen von der beklemmenden Familiensituation ermöglichen. Endlich erkennt auch jemand Fosters Elend und hört ihm zu.

Und Foster ist in der Lage, die winzigen, nur selten aufflackernden Lebenszeichen seines früheren, geliebten Papas zu erkennen und diese Momente festzuhalten: „Eine Gewohnheit ging nicht immer ihren gewohnten Gang.“ So gelingt es ihm, seinem Vater einen Rest Würde zu geben. Dad wird Foster vergessen, aber Foster wird sich noch lange an seinen geliebten, verlässlichen, phantastischen Vater erinnern.

Dianne Touchell: Foster vergessen, Übersetzung: Birgit Schmitz, Königskinder, 256 Seiten, ab 14, 16,99 Euro

[Gastrezension] Buchstaben des Vergessens

perryPerry, die Protagonistin aus Kate de Goldis Roman Die Anarchie der Buchstaben, hat nicht nur ein exzentrisches Rhythmusgefühl. Perry ist eine brillante Beobachterin, stellt mit den richtigen Fragen die Dinge auf den Prüfstand und malt Bilder, die mehr erzählen als tausend Worte. Allerdings möchte ihre Mutter, eine Psychologin, das einzige Kind, am liebsten permanent beschäftigt wissen, um Perrys unkonventionelle Art im Zaum zu halten. Bis eines Tages der eng gestrickte Stundenplan eine Lücke bekommt – und Perry beschließt, jeden Donnerstag ihre Großmutter Honora Lee im Seniorenheim zu besuchen.
Die hat schon ziemlich viel vergessen, erkennt ihren Sohn, Perrys Vater, nicht mehr, und auch ihrer Enkelin mit dem Jungennamen begegnet sie fast jedes Mal neu. Um Konventionen schert sich die alte, agile Dame auch nicht mehr, plündert die Süßigkeitenschubladen und Kleiderschränke ihrer Mitbewohner und stößt mit ihrer sehr direkten, unverblümten Art andere häufig vor den Kopf. Früher war sie Lehrerin mit erfrischenden Unterrichtsmethoden und Inhalten, wie Perry bald herausfindet. Und so beginnt Perry für ihre Oma bei ihren Donnerstagsbesuchen ein ganz individuelles Alphabet zu malen.

Ein Ritual war schon einmal die Initialzündung für eine Geschichte der neuseeländischen Autorin Kate de Goldi, in ihrem gefeierten, herzergreifenden Roman Abends um 10, im Original The ten o’clock question. Damals ging der sensible, sorgenvolle Frankie jeden Abend vor dem Schlafengehen zu seiner Mutter, um von ihr zuverlässig Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Und viel über seine ebenso schräge wie liebenswerte Familie zu erfahren.
Jetzt ist es Perry, die immer mehr über ihre Großmutter, die anderen Heimbewohner und die Betreuer, ihre Eltern, über Gedächtnis und Erinnerung herausfindet – über das Universum, das Leben und den ganzen Rest sozusagen. Dabei setzt die Neunjährige mit der orangen Brille Einiges in Bewegung: Sie kann ihren Vater mit seiner Mutter versöhnen, die er übrigens nie Mama, sondern immer nur Honora Lee genannt hat. Perrys Mutter wird gelassener und lernt ihre exzentrische Art zu schätzen.

Nebenbei wächst und gedeiht in verrückter Reihenfolge Honora Lees persönliches „ACB“. Zu lesen – und zu sehen auf den originellen Illustrationen Gregory O’Briens, die wie sehr dynamische Schaubilder wirken.
Die Anarchie der Buchstaben ist eines der charmantesten Bücher über Demenz und das Altern. Kongenial übersetzt von Ingo Herzke, der auch die zahlreichen Reime elegant ins Deutsche übertragen hat.

Der einzige Nachteil des ACB with Honora Lee (so der Originaltitel) ist, dass es so kurz ist, selbst für eine notorische Langsamleserin wie die Rezensentin. Aber das Alphabet hat nur mal nur 26 Buchstaben, egal wie anarchisch man diese durcheinander wirbelt. Trotzdem ist es immer wieder verblüffend, was man mit diesen wenigen kleinen Zeichen alles erzählen und erschaffen kann.

Elke von Berkholz

Kate de Goldi: Die Anarchie der Buchstaben, Illustrationen: Gregory O’Brien, Übersetzung: Ingo Herzke, Königskinder, 2014, 160 Seiten, ab 12, 13,90 Euro

Oma mischt alle auf

omaSo ein Familienleben kann ganz schön geruhsam sein, wenn man es nett ausdrücken will. Jedenfalls ist das bei der Familie des zehnjährigen Henrik Gruber so: Der Vater interessiert sich nur für seine Modelleisenbahn, der Mutter ist der Garten heilig, die große Schwester hat nur Ohren und Augen für einen Teeniesänger. Henrik selbst interessiert sich eigentlich für … nichts.

Hilfe! Ich will hier raus! – Salah Naouras neuester Roman, der gerade für den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis nominiert war – fängt ganz harmlos und unschuldig an, bis eines Tages Oma Cordula vor der Tür steht. Angeblich ist ihr Altenheim abgebrannt. Dort hatte Henriks Mutter sie untergebracht, weil sie nach dem Tod ihres Mannes so tüddelig geworden war. Doch nun steht sie vor der Familie und ist alles andere als tüddelig. Resolut macht sie sich im Haus breit und mischt das ruhige Leben der Grubers gehörig auf: Denn ihr Vater hatte vor dem Krieg drei Goldbarren im Garten vergraben. Mutters Heiligtum gleicht schon nach kurzer Zeit einem Schweizer Käse, da alle Familienmitglieder eifrig nach dem Schatz buddeln. Irgendwann wird der Garten zu klein, der angrenzende Kurpark wird von Oma zum möglichen Schatzgebiet erklärt … und damit breitet sich das Goldfieber in der ganzen Stadt aus.

Leicht und witzig erzählt Salah Naoura diese Familiengeschichte, in der sich mehr versteckt als eine einfache Schatzsuche. Oma Cordula ist der Weckruf, der frische Wind, der die Grubers aufrüttelt und sie aus ihren eingefahrenen Wegen holt. So eine Erinnerung, sein eigenes Leben mal wieder auf langweilige Routine zu überprüfen, kann man auch als Leser immer wieder gut vertragen. Denn nur so entwickelt man sich weiter, wird kreativ oder schafft etwas, das auch für andere Menschen von Bedeutung sein kann.
Gleichzeitig reißt Naoura das heikle Thema der Generationen und des Zusammenlebens an: Oma Cordula fühlte sich im Altenheim nicht wohl, weil sie dort einfach nur ruhig gestellt wurde. Das Leben bei ihrer Familie ist allerdings auch nicht einfach … Die Lösung, die Naoura findet, ist sicher nicht in jeder Familie machbar, literarisch jedoch ganz entzückend – und zeigt, dass es auch im Alter noch Glück und Herausforderungen geben kann.

Hilfe! Ich will hier raus! ist ein kurzweiliger Lesespaß, bei dem auch die erwachsenen Vorleser noch jede Menge Aha-Erlebnisse haben können.

Salah Naoura: HilfeIch will hier raus! Dressler, 2014, 160 Seiten, ab 8, 12,95 Euro 
   

Abschied auf Raten

AlzheimerHeute einmal ein Abstecher in eine erwachsene Eltern-Kind-Problematik, mit der sich immer mehr „Kinder“ wohl demnächst auseinandersetzen müssen. Denn glaubt man den neuesten Prognosen amerikanischer Forscher, wird sich in nicht allzu weiter Zukunft die Zahl der Demenz- und Alzheimerkranken verdreifachen. Das sind ziemlich düstere Aussichten, zumal es noch keine Heilung geht und auch die Auslöser noch nicht eindeutig geklärt sind. Was passiert, wenn ein Elternteil an Alzheimer erkrankt, kann man jetzt in der eindrucksvollen Graphic Novel Das große Durcheinander. Alzheimer, meine Mutter und ich von Sarah Leavitt nachlesen und anschauen.

Alles fängt mit kleinen Merkwürdigkeiten an: Mutter ist verwirrt, bekommt die Schiebetür nicht mehr auf, vergisst den Weg zum Fluss. Noch denkt sich niemand in der Familie etwas dabei. Die Schwestern Sarah und Hannah wundern sich nur. Es soll zwei Jahre dauern, bis die Mutter die Diagnose Alzheimer bekommt. Mutter ist am Boden zerstört, doch noch ist sie sich selbst bewusst und kommt einigermaßen zurecht.
Nach und nach jedoch gehen ihr immer mehr Fähigkeiten verloren. Sie hat kein Hungergefühl mehr, der Geruchssinn funktioniert nicht mehr. Gleichzeitig ist sie jähzornig und aufbrausend. Zunehmend wird der Alltag schwieriger. Sie kommt immer weniger ohne fremde Hilfe aus. Ihr Ehemann und die beiden Töchter versuchen, die Aufgaben so gut es geht aufzuteilen. Die Belastungen werden für alle Beteiligte immer größer.
Mutter vergisst immer mehr, sie wird inkontinent, verändert sich auch charakterlich. Langsam, aber stetig verschwindet sie immer weiter aus dem alltäglichen Leben. Nach anfänglicher Trauer bei der Kranken, gerät sie irgendwann in eine Phase kindlicher Fröhlichkeit und vergisst so auch den eigenen Zustand. Für die Angehörigen hingegen wird es immer belastender. Mutter kann nichts mehr allein machen. Jeder Gang zur Toilette, jede Mahlzeit, jede Nachtruhe – alles muss von den Angehörigen und dem schließlich engagierten Pflegepersonal begleitet werden.
Für die Familie ist es ein Abschied auf Raten. Mutter erkennt schließlich weder den Ehemann noch die Töchter, und auch das Enkelkind bleibt ihr unbekannt. Gleichzeitig gibt es fröhliche und poetische Momente, in denen Mutter und Tochter den Schnee betrachten oder durch den Platzregen laufen. Sechs Jahre dauert das große Durcheinander, bis Mutter schließlich nicht mehr laufen kann, in ein Heim kommt und dort verstirbt.

Mit zarten schwarz-weißen Panels gelingt es Sarah Leavitt, einfühlsam und gleichzeitig tabulos die Krankheit der Mutter zu beschreiben. Sie spart nichts aus, nicht die unangenehmen Folgen der Inkontinenz, nicht die blauen Flecken, wenn die Mutter aus dem Bett fällt, nicht die Hilflosigkeit, die sich bei den Angehörigen immer mehr ausbreitet. Das einst unabhängige Leben der erwachsenen Töchter dreht sich immer mehr um das Wohlbefinden der Mutter. Alzheimer trifft folglich nicht nur den Erkrankten, sondern immer auch die Familien. Das zeigt Leavitts autobiografische Graphic Novel ganz eindrücklich. Sie illustriert nicht nur das Einzelschicksal ihrer Mutter, sondern informiert dabei auch über alle Facetten der Krankheit und die Folgen für die Familien. Die Lektüre ist daher nicht unbedingt eine unterhaltsame Sache, doch hat diese Geschichte etwas sehr Tröstendes für alle Beteiligten. Sie erzählt von tiefen Gefühlen, von Liebe und Zusammenhalt. Und das ist einfach schön.

Sarah Leavitt: Das große Durcheinander. Alzheimer, meine Mutter und ich, Übersetzung: Andreas Nohl, Beltz,  2013, 128 Seiten, 19,95 Euro

Verdrängen, vergessen, verstehen

Amerika liegt im OstenEigentlich weiß ich ja, dass man Bücher nicht nach ihren Covern beurteilen soll. Dennoch komme auch ich nicht umhin, immer mal wieder in diese Falle zu tappen – im Guten, wie im Schlechten. Dieses Mal lag das Buch von Heike Schmidt schon ziemlich lange auf meinem Schreibtisch. Eins von diesen leichten Mädchenbüchern, dachte ich,  und schob es von einer Seite auf die andere, bis ich neulich anfing zu lesen – und eines Besseren belehrt wurde.

Der Roman Amerika liegt im Osten geht zur Sache und an Herz. Die 17-jährige Motte ist bis über beide Ohren in den coolen Lukas, genannt Laser, verliebt und würde alles tun, nur um mit ihm zusammen zu sein. Selbst als er auf einer Party eine Prügelei anfängt, die Schuld jedoch dem polnischen Schüler Pavel in die Schuhe schiebt, der daraufhin der Schule verwiesen werden soll, hält Motte zu ihrem Schwarm. Dabei hat sie die Schlägerei mit dem Handy gefilmt und könnte für Gerechtigkeit sorgen. Tut sie aber nicht. Stattdessen versucht sie, an Geld zu kommen, um in den Ferien Laser nach Amerika hinterher zu fliegen. Dafür ist sie sogar bereit mit ihrem ungeliebten Urgroßvater Hermann, den sie nur abfällig Ice H. nennt, in das Heimatdorf der Urgroßmutter in Tschechien zu fahren.

Urgroßmutter Liesel leidet an Demenz und versinkt mehr und mehr in das Vergessen. Ein Zustand den Ice H. nicht erträgt. Er hofft, den Verfall seiner Frau durch eine Reise in die Vergangenheit aufhalten zu können. Wenn Motte die beiden alten Herrschaften fährt, will er dem Mädchen tausend Euro geben. Motte lässt sich darauf ein – und in nur drei Tagen wandelt sich ihre Sicht, auf die Urgroßeltern, auf die deutsche Geschichte, auf ihr eigenes Verhalten in der Schule.

Von der anfänglichen Liebesgeschichte, die Heike Schmidt mit lockerer Sprache dicht an den Jugendlichen erzählt, verschiebt sich im Laufe des Buches der Fokus immer weiter zu einer eindrücklichen Schilderung von Demenz und Vergangenheitsbewältigung. Die 17-Jährige erlebt hautnah mit, wie schnell die Urgroßmutter in das Vergessen abdriftet, den eigenen Mann nicht mehr erkennt, sich aber hervorragend an Geschehnisse aus der Kindheit in Kriegszeiten erinnert. Für Motte ist das alles zunächst sehr verwirrend und irritierend, war die Vergangenheit in der Familie bis dahin nie ein Thema und wurde konsequent verdrängt. Doch die Konfrontation der alten Dame mit ihrem Geburtshaus reißt die Wunden von damals wieder auf, und Motte muss feststellen, dass selbst ihr Urgroßvater nicht alles über seine Frau weiß.

Heike Schmidt gelingt es die fernen Geschehnisse des Krieges in die Gegenwart zu holen, ohne pathetisch zu werden oder eine heroische Bewältigungsgeschichte daraus zu machen. Sie zeigt die Nöte der Überlebenden – die Urgroßmutter wurde von russischen Soldaten vergewaltigt, der Urgroßvater litt jahrelang in Kriegsgefangenschaft, beide wollten die Qualen vergessen und sprachen nicht darüber. Und sie zeigt das Unverständnis der Jugend, die davon zumeist kaum noch etwas weiß. Oder es nur abstrakt aus Geschichtsbüchern erfährt. Die Auseinandersetzung der Generationen mit dem Erlebten, die Erinnerung und die Erklärungsversuche sind schmerzlich für beide Seiten, und doch führt das alles sie näher zusammen. Mottes Groll auf den Urgroßvater verraucht, die Urgroßmutter wird zum Kind, das beschützt werden muss.

Und Motte lernt aus dem Vergangenen, wie sie sich in ihrer Gegenwart gegenüber ihren Mitschülern verhalten sollte. So gestärkt findet sie zu einer erwachsenen Haltung gegenüber Laser und lässt das pubertierende Verliebtsein hinter sich. Besser hätte man das Konzept „Lernen aus der Vergangenheit“ wohl nicht umsetzen können.

(Und hätte das Cover des Buches davon auch nur einen Hauch angedeutet, hätte ich darüber vielleicht schon viel eher gebloggt …)

Heike Eva Schmidt: Amerika liegt im Osten, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, 2012, 213 Seiten, ab 15, 12,95 Euro.