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Rettung durch Schönheit

meurisseSo schwer es uns fällt, wir werden uns gewöhnen müssen. An den Terror, an unsinnige Anschläge. Nicht nur in anderen Ländern, weit weg von uns, sondern auch vor unserer Haustür, Ansbach und neulich Berlin haben es auf schreckliche Art gezeigt. In diesen Tagen jährt sich nun der Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo zum zweiten Mal. Die Zeichnerin arbeitet in ihrer Graphic Novel Die Leichtigkeit die schrecklichen Ereignisse auf.

Am 7. Januar 2015 stürmten zwei Brüder, die zu Al-Qaida gehörten, die Redaktionsräume von Charlie Hebdo und töteten zehn Menschen. Catherine Meurisse, die seit langem für das Blatt arbeitete, verschlief an diesem Tag, verpasste den Bus und entging durch diesen Zufall dem Massaker. Sie kam mit dem Leben davon, doch ihr Leben war nicht mehr ihres. Die geschätzten Kollegen waren tot. Trauer und Schock paarten sich mit der Unfähigkeit zu arbeiten. Meurisse bekam keinen Strich mehr hin, verlor das Gedächtnis und fand sich nicht mehr zurecht. Der Arzt diagnostizierte einen dissoziativen Schock, einen körperlichen Schutzmechanismus, der zwar das Überleben sichert, den Betroffenen jedoch völlig aus der Bahn wirft.
Catherine Meurisse sucht Hilfe in der Natur, bei Freunden und in der Therapie. Nichts scheint zu helfen. Überall sieht sie „Je suis Charlie“-Schilder. Alle sind Charlie, nur sie ist es nicht mehr.

Die Anschläge vom 13. November 2015 auf das Bataclan und andere Orte in Paris versetzen ihr dann einen erneuten Schlag, alles beginnt von vorn. Sie will fort aus der Stadt, will all das Schlimme nicht mehr sehen, sondern die Schönheit suchen und sich wie seinerzeit Stendhal von der Kunst bis zur Besinnungslosigkeit überfluten lassen.
Für einige Wochen kommt sie in der Villa Medici in Rom unter. Und dort taucht sie ein in die Schönheit antiker Ruinen, barocker Gemälde, marmorner Statuen. Im Atelier Ingres zeichnet sie schließlich wieder Comics.

In dieser Graphic Novel, übersetzt von Ulrich Pröfrock, verarbeitet Catherine Meurisse ihre Geschichte auf ganz persönliche Art. In einer Mischung aus Aquarellen und Federzeichnungen schildert sie, in was für ein tiefes, dunkles Loch sie als Überlebende bzw. Entgangene fällt. Sie gerät in ein Labyrinth aus Trauer, Wut, Zorn und Hilflosigkeit. Sie schildert, wie sehr ihre Sprache unter dem Anschlag leidet, wie sehr aber doch immer wieder in den scheinbar unmöglichsten Momenten der freche, oft auch selbstironische Charlie-Hebdo-Humor bei ihr durchschlägt. Ihre persönliche Suche nach Schönheit führt sie schließlich aus diesem Labyrinth heraus und gibt ihr die Leichtigkeit zurück.

Wir, die solche Anschläge zum größten, glücklicheren Teil nur über die Medien mitgekommen, können vielleicht zweierlei aus dieser extrem persönlichen Geschichte mitnehmen: Wir sind zwar schnell dabei zu sagen „Je suis Irgendwas“ und tun auf allen möglichen Kanälen unsere Betroffenheit kund – was zutiefst menschlich, nachvollziehbar und unbestreitbar wichtig ist – doch wir müssen uns auch klar sein, dass wir es nie wirklich nachvollziehen können, wie es sich für die direkt Betroffenen – und dazu gehört Catherine Meurisse, obwohl sie dem Anschlag auf Charlie Hebdo entgangen ist – anfühlt. Da kein ein zu rasch herausgehauenes „Je suis“ schon mal wie eine Anmaßung erscheinen. So vermittelt es jedenfalls Meurisse. Hier täte etwas Zurückhaltung unsererseits vielleicht gut.

Die zweite Ahnung mag sein, dass es für die Betroffenen vielleicht auch wieder einen Weg aus dem Trauer-und-Schock-Labyrinth gibt. Manche finden ihn schneller, andere brauchen länger. Manchen hilft die Natur, anderen, wie Meurisse, öffnet die Schönheit der Kunst wieder eine Tür zu einem leichteren Leben. Das ist tröstlich. Für alle.

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Übersetzung: Ulrich Pröfrock, Carlsen, 2016, 144 Seiten, 19,99 Euro

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Der kalte Hauch des sozialen Untergangs

410wW6LIryL„Doch sein Herz war im Schmerz gestorben, weil er es nicht geschafft hatte, Essen nach Hause zu bringen – und weil er dachte, seine Familie würde glauben, er hätte sie im Stich gelassen. Das stimmte nicht! Er hatte alles versucht, mit aller Kraft und all seinem Mut! Aber das wusste niemand. Und so blieb das Herz des Mannes aus Eis auch nach seinem Begräbnis im Gletscher gefangen.“

Mythisch-poetisch beschreibt die 15-jährige Erzählerin in Carla Maia de Almeidas Bruder Wolf, wie ihr Vater sich durch Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftskrise in Portugal vom heiß geliebten und bewunderten Familienoberhaupt „Schwarzer Elch“ in einen unnahbaren, innerlich toten Mann verwandelt. Mit mittlerweile 15 Jahren beginnt Bolota zu verstehen, was vor einigen Jahren mit ihrer Familie passiert ist und warum sich ihr Leben damals verändert hat. Und sie erinnert sich an eine letzte gemeinsame Fahrt mit ihrem Vater im Sommer, als sie acht Jahre alt war und ihr Vater für immer verschwunden ist.

Die portugiesische Schriftstellerin Carla Maia de Almeida gibt Bolota eine außergewöhnlich bildhafte Sprache. Das klingt nach indianischen Sagen und Überlieferungen: „Es war der Sommer der Großen Überquerung der Todeswüste. Oder einfach der Sommer der Großen Durchquerung.“ Mit diesen Assoziationen und Umschreibungen kann Bolota die Erinnerung an ein Trauma, an den großen Schmerz, der ihr als Achtjährige widerfahren ist, heraufbeschwören und erträglich machen.

Andere Metaphern und Umschreibungen stammen aus der Geographie: Da ist von tektonischen Platten die Rede, die sich unterirdisch, anfangs von der Familie noch unbemerkt, verschieben und zu immer größeren Beben und Erschütterungen führen, die schließlich alle, Vater, Mutter, drei Kinder, also Bolota sowie ihre ältere Schwester Miss Kitty und den erstgeborenen Bruder, das Fossil genannt, auseinanderreißen und zu einem Archipel vereinzelter Inseln werden lassen.

Ganz neu und ungeheuer eindringlich wird hier erzählt und von Claudia Stein sehr nachfühlbar übersetzt, wie der soziale Abstieg Menschen zerstört, Familien den Boden unter den Füßen wegzieht und auseinandertreibt, und die Gesellschaft verändert. Immer wieder muss Bolotas Familie in immer kleinere Wohnungen, immer weiter weg vom Meer ziehen, jedes Mal ganz schnell, damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Ihr geliebter Husky ist eines Tages verschwunden, angeblich zu anderen Leuten mit Garten gebracht. Die Achtjährige schnappt auf, wie man über sie sagt, sie sei „zur falschen Zeit geboren“. Ihre älteren Geschwister erzählen von glücklichen Zeiten und gemeinsamen Restaurantbesuchen mit unbeschwerten und glücklichen Eltern.

Sie selbst hat kaum solche Erinnerung. Nur ein Foto zeigt, dass es schönere Zeiten gibt: Die ganze Familie an einem Tag am Strand, und alle haben mit Sonnencreme Streifen auf die Wangen gemalt, wie eine familieneigene Stammesbemalung. Diese fast traumhaften, auch albtraumhaften Erinnerungen sind auf blaues Papier gedruckt. Auf weißen Seiten steht die Erzählung von der „Großen Durchquerung“, jener weniger Tage mit Zwischenstopps bei Verwandten, als ihr Vater sich mit ihr zum familieneigenen Haus auf dem Land aufmacht, sie aber nur noch eine Ruine vorfinden und ihr Vater endgültig alle Hoffnung verliert und nie mehr zurückkommt.

Zu etwas Einzigartigem und Unvergleichlichem wird dieses Buch durch Jorge António Gonçavalves Illustrationen in Blau, Schwarz und Weiß. Sie wirken wie Bildausschnitte und Detailaufnahmen. Auch sie haben etwas Traumhaftes, so wie man sich manchmal beim Aufwachen wundert, warum man sich gerade an jene Szene so genau erinnert oder einem im Traum ausgerechnet dieser Moment so plastisch vor Augen gekommen ist. Und gleichzeitig seine Bedeutung versteht.

Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass Illustrationen in Jugendbüchern nichts verloren hätten, oder das Ganze gleich eine Graphic Novel sein soll. Dieses stimmige, ergreifende Gesamtkunstwerk aus bildhafter Sprache und vielsagenden Bildern beweist das Gegenteil. Als hätten der düstere Punkpoet Nick Cave und die explizit und gnadenlos ehrliche Künstlerin Tracey Emin gemeinsam ein Kinderbuch geschrieben.

Elke von Berkholz

Carla Maia de Almeida: Bruder Wolf, Übersetzung: Claudia Stein, Illustration: Jorge António Gonçalves, Sauerländer, 2016, 176 Seiten, ab 12, 14,99 Euro

Kaputtes Kind

nichollsDieses Buch – Wünsche sind für Versager von Sally Nicholls – ist kaum auszuhalten. Es ist verstörend, es macht traurig, wütend, hilflos. Es lässt einen zweifeln und verzweifeln. Es nährt leise Hoffnung, um sie gleich auf den nächsten Seiten dröhnend zu zertrümmern.

Es geht um die systematische Zerstörung einer Kinderseele. Die 11-jährige Olivia erzählt von ihrer Odyssee durch Pflegestellen, Fürsorgeeinrichtungen, Kinderheime und Ersatzfamilien. Mittlerweile ist sie bei „Zuhause Nummer 16“ angelangt, bei Jim und den Kindern Daniel und Harriet sowie der fast erwachsenen Grace mit ihrem Baby Maisy. Sie leben auf dem Land in der Nähe von Bristol.

Olivia wünscht sich nichts mehr, als anzukommen, eine Familie zu haben und geliebt zu werden. Das ganze Buch ist ein Schrei nach Liebe (obwohl man das nach dem Song von den Ärzten über Neonazis kaum noch neutral schreiben kann, ist das Bild trotzdem sehr treffend). Doch nach den vielen Traumata und Verletzungen von frühester Kindheit an fasst Olivia nicht nur schwer Vertrauen, sie ist auch der festen Überzeugung, dass man ihr selbst nicht trauen darf: Weil sie böse ist, ein Monster, eine Hexe, ein abgrundtief schlechter Mensch.

Warum Olivias versoffene, alleinerziehende Mutter sie von Anfang an auf das Perfideste misshandelt hat, wird nicht erörtert und ist nicht das Thema. Es heißt zwar, dass die Misshandelnden selbst als Kinder misshandelt wurden. Eine Elfjährige kann diese Frage aber nicht beantworten und es würde ihr auch nicht weiterhelfen, geschweige denn, den Kreislauf aus Gewalt durchbrechen und beenden.

Perverserweise liebt Olivia ihre Mutter, obwohl sie auch schreckliche Angst vor ihr hat. Seit mittlerweile fünf Jahren hat sie sie gar nicht mehr gesehen. Das ist, wie man aus Erzählungen und Fallberichten von misshandelten und vernachlässigten Kinder weiß, nicht ungewöhnlich, eher normal. Genau darum geht es: Olivia sehnt sich nur nach etwas, das selbstverständlich sein sollte. Ein Kind sollte geliebt werden. Das ist nur natürlich. Sonst wäre die Menschheit längst ausgestorben, zu Recht. Auch Tiere kümmern sich um ihren frischgeborenen Nachwuchs, beschützen und ernähren ihn. Das ist laut unserer Definition keine Liebe, sondern nur Instinkt. Aber eine Grundvoraussetzung für das Überleben. Und wenn Tiermütter in Gefangenschaft ihren Nachwuchs verstoßen, wird er, wie beispielsweise beim Eisbären Knut vor ein paar Jahren, von Millionen Menschen adoptiert und umsorgt.

Olivias Mutter hat als erste dieses Urvertrauen zerstört. Sie hat so getan, als wolle sie Olivia umarmen, stattdessen hat sie ihr Brandwunden mit Zigaretten zugefügt. Aber weil sie ganz selten wirklich nett war, ist Olivia immer wieder darauf reingefallen. „Ich wusste gleich, du bist der Teufel“, hat Olivia schon als Kleinkind gehört. Als Baby hat sie so lange verzweifelt vor Hunger, Durst, Einsamkeit geschrien, bis sie verstanden hat, dass sie beim nächsten Mucks nur Schlimmeres erleiden muss oder gleich tot geschlagen wird. Für Olivia ging es instinktiv fortan nur noch ums bloße Überleben. Oder wie sie später schreibt: „Wünsche sind für Versager.“

Später hat sie ihre jüngeren Geschwister vor der Raserei der Mutter beschützt. Vor allem hat sie dafür gesorgt, dass die Kleinen nicht schreien, hat als Vier-, Fünfjährige ihren Babybruder stundenlang rumgetragen, gefüttert, obwohl oft nichts Essbares im Haus war. Und auch keiner etwas von den schrecklichen Zuständen „zu Hause“ mitbekommen durfte, auch nicht, wenn ihre Mutter auf tagelange Sauftouren ging und die Kinder eingeschlossen hat.

Als dann Jugendamt und Polizei endlich eingriffen, wurde Olivia nach einigen Interimslösungen und Trennung von ihren Geschwistern auch noch das Opfer einer sadistischen Pflegemutter, die sie im Keller einsperrte, und dem vernichtenden Gefühl aussetzte, dort vergessen zu werden und zu sterben. Manchmal stellte sie Olivia aus „disziplinarischen Gründen“ unter die eiskalte Dusche. Olivias Rettung hierbei war ihre Fähigkeit, ihren Körper zu verlassen und so den Schmerz nicht fühlen zu müssen. Dissoziation nennt man das in Psychologie und so nennt es auch ihre spätere Therapeutin.

Es gibt aber auch Menschen, die nett zu ihr sind, die sich um sie kümmern und ihr helfen wollen. Sie sind sogar in Mehrzahl, dieses Buch ist kein Buch gegen staatliche Fürsorge und Pflegeeltern. Aber Olivia hat solche Angst, erneut verletzt und enttäuscht zu werden, dass sie niemandem mehr traut und alle von sich stößt, mit wildem Geschrei, gemeinsten Beleidigungen, Kratzen, Beißen, Treten, Zerstörungsorgien und sogar Messern. Nur einer einzigen Betreuerin gelingt es, an sie ranzukommen. Aber diese ist nur für den Übergang da, das ist ihr Job. Und als sie Olivia einer neuen Familie anvertrauen will, schlägt Olivias zarte Zuneigung, Vertrauen und erster Respekt für einen Erwachsenen, vielleicht sogar Liebe, in Hass um.

Die englische Autorin Sally Nicholls beschreibt Olivias Gefühle so eindringlich, so furios und schmerzhaft, dass es kaum zu ertragen ist. Schon bei ihrem Debüt Wie man unsterblich wird von 2008 ist sie in die Seele eines Elfjährigen eingetaucht, eines krebskranken Jungen, der einerseits noch ganz Kind ist, mit seinem Sterben und dem baldigen Tod aber wesentlich reifer und reflektierter umgeht als manche Erwachsenen. Doch dieser Junge wurde geliebt. Und obwohl er zum Schluss stirbt, war dieses Buch auch lustig, lebendig, hoffnungsvoll und versöhnlich mit der totalen Ungerechtigkeit, dass Kinder sterben müssen. Es war sogar besser, als John Greens vier Jahre später erschienener Bestseller zum selben Thema Das Schicksal ist ein mieser Verräter. Wünsche sind für Versager erzählt von einem seelisch fast toten Kind und endet mit einem vernichtend winzigen Hoffnungsschimmer auf Errettung. Ein einzigartiges Horrorbuch, eine nachhallende Zombiegeschichte. Trotzdem oder gerade deshalb muss man sie unbedingt lesen!

Elke von Berkholz

Sally Nicholls: Wünsche sind für Versager, Übersetzung: Beate Schäfer, Hanser Verlag 2016, 224 Seiten, ab 13, 15,90 Euro

[Jugendrezension] Der Tunnel lässt uns nicht fort

klammrothIn dem Roman Klammroth von Isa Grimm sterben durch ein tragisches Unglück viele Kinder. Busse sind in einem Tunnel ineinander gefahren, ein Feuer lodert auf. Die Überlebenden tragen schwere Brandnarben davon, die nie wirklich aufhören zu schmerzen.
Anais ist eine der Überlebenden, und zwar diejenige, die am wenigsten abbekommen hat. Deswegen schauen sie viele Leute, die schwer verletzt wurden, argwöhnisch an. Sofort nach dem Unfall verlässt sie den Ort Klammroth, wo das Unglück passiert ist, und geht in ein Internat.
17 Jahre später kommt sie nach Klammroth zurück, weil ihre Stiefmutter Theodora bei einem Brand ums Leben kam.
Theodora hatte nach dem Unfall eine Klinik für die Brandopfer eingerichtet. Fast alle wurden dort behandelt, doch irgendetwas stimmt mit der Klinik nicht.
Genauso auch mit dem Tunnel, der nach dem Unglück verbarrikadiert wurde. Anais‘ Vater, der pflegebedürftig in einem Heim lebt, ruft Anais nachts an und erzählt ihr von schwarzen Gestalten vor seinem Fenster, die bei Licht wieder verschwinden. Merkwürdig ist nur, dass er nie spricht, wenn Anais ihn besucht. In der kurzen Zeit, in der Anais in Klammroth ist, geschehen viele seltsame Sachen. Nach und nach kommt sie hinter die Geheimnisse der Klinik.

Der Einstieg in das Buch ist fantastisch. Danach passiert erst nicht so viel, doch auf einmal steigt die Spannung immer mehr an und hält sich bis zum Schluss. Isa Grimm schreibt sehr detailliert, so dass alles noch viel gruseliger und spannender wirkt.

Das Buch hat viele Wendungen, und es gibt Sachen, die man sich nicht vorstellen kann. Auch das Ende des Buches ist seltsam, doch wenn  man darüber nachdenkt, eigentlich passend. Insgesamt finde ich das Buch sehr gut und würde es auf jeden Fall weiterempfehlen.

Laura (14)

Isa Grimm: Klammroth, Lübbe, 2014, 335 Seiten, 14,99 Euro

 

Vom Traum zum Trauma

kriegKann man die Kriegsbegeisterung, die vor 100 Jahren dieses Land durchzog den heutigen Jugendlichen noch irgendwie begreiflich machen? Elisabeth Zöller kann. Nachdem ich bereits ihre Bücher über den Nationalsozialismus, die Edelweißpiraten und ihre Faschismus-Parabel vorgestellt habe, reiht sich nun Zöllers Jugendbuch Der Krieg ist ein Menschenfresser über den ersten Weltkrieg hier ein.

Darin schildert sie die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 auf zweigeteilte Art. Im ersten Teil erlebt der Leser die Begeisterung der Jungen Ferdinand und August aus Leipzig für den Krieg mit. Die Jungs melden sich freiwillig zum Militär, trotz der Ablehnung der Eltern. Zu groß ist die Lust auf „Abenteuer“. Ferdinand nimmt einen Fotoapparat an die Front mit und macht Bilder – was seinen Vorgesetzten gar nicht gefällt …

Im zweiten Teil erlebt Max 1917 die Schrecken an der belgischen Front und wird von einem wohlmeinenden Vorgesetzten zum Scharfschützen ausgebildet. Doch bei einer Aktion muss er einen Menschen töten, der kein Feind war. Traumatisiert kehrt er noch vor Kriegsende nach Berlin zurück und weigert sich, jemals wieder eine Uniform anzuziehen, sehr zum Unwillen seines Vaters. Seine Freundin Sophie steht ihm in dieser Zeit gegen den Vater und die Vorgesetzten bei, die ihn zur Herausgabe wichtiger Dokumente zwingen wollen …

Mehr möchte ich über den ziemlich spannenden Inhalt nicht verraten. Elisabeth Zöller schafft es nämlich, beide Seiten einzufangen: den Kriegstaumel zu Beginn der Auseinandersetzungen, aber auch die Traumata, die der sinnlose Stellungskrieg und vor allem die absurden Auswüchse von kriegerischen Konflikten verursachen. Geschickt macht sie klar, dass die Darstellung von Krieg in den Medien zumeist nichts mit der Wahrheit vor Ort zu tun hat, sondern dass immer Mächte dahinter stehen, die Einfluss darauf nehmen, wie die Sachverhalte Dritten präsentiert werden. So erklärt sie nicht nur die historische Kriegsführung und die entsprechende Propaganda, sondern verweist auch auf die heutige Medienmacht, der wir nur allzu gern vertrauen.

Wie schon bei dem Edelweißpiraten-Roman Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife flechtet Zöller auch hier wieder sehr viele historische Fakten und Begrifflichkeit in den Text ein, die in einem Glossar kurz, manchmal fast zu kurz, erklärt werden. Die Gewalt des Krieges ist zwar präsent, aber anders als beispielsweise bei Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues nicht zu schockierend und zu grausam dargestellt, so dass die Lektüre für Leser ab 14 erträglich bleibt. Das liegt zudem an Zöller schon fast trocken-nüchterner Sprache, die diesem schrecklichen Thema jedoch sehr gut tut, da so der nötige Respekt vor den Toten gewahrt bleibt.

Das Einzige, was mich an dem Buch stört, ist dieses Mal das Cover. Es führt ein wenig in die Irre, da die eigentlichen Protagonisten die Jungen Ferdinand und Max sind, die dem Schrecken des Krieges ins Auge sehen. So bleibt nur zu hoffen, dass sich die Jungs, an die sich dieses Buch durchaus auch richtet, nicht von dem fast verträumten Mädchen abschrecken lassen. Das wäre sehr schade und hätte dieses Buch wirklich nicht verdient.

Elisabeth Zöller: Der Krieg ist ein Menschenfresser, Hanser, 2014, 288 Seiten, ab 14, 15,90 Euro

Nachtrag vom 17.03.2014: Über Facebook wies mich Elisabeth Zöller darauf hin, dass es zu ihrem Buch begleitendes Material von Christine Hagemann gibt, das mögliche Fragen zu den Begriffen ausführlicher erklärt: http://www.elisabeth-zoeller.de/data/content/00000052/_media.00000465.pdf
Herzlichen Dank für den Hinweis!

 

 

Familiengeheimnisse

familieDie Sache mit der Familie ist schon ein Kreuz. Die Familie zieht einen groß, bringt einen ins Leben – und nervt oftmals so sehr, dass man nur noch davonlaufen möchte. Dabei sind es nicht immer nur die Eltern, die eine prägen und verletzen können, sondern auch die Geschwister. Wie tief die Familienbande das eigene Leben bestimmen, beschreibt Mirjam Pressler in ihrem neuesten Roman Wer morgens lacht.

Die 22-jährige Studentin Anne ist von ihrer Schwester Marie wie besessen, seit diese vor sieben Jahren mit fast 18 von Zuhause weggelaufen ist. Anne versucht, sich von der Schwester zu lösen, indem sie ihre Geschichte aufschreibt und später ihrer Mitbewohnerin Ricki erzählt. Heraus kommt dabei das Portrait einer deutschen Familie in einem Münchner Vorort, die von der Vertreibung der Großmutter aus dem Sudetenland geprägt ist. Die Enkelin Anne liebt ihre Omi, die in einer seltsamen Sprache redet und von der alten Heimat wie von einem Märchenland erzählt. Doch die Oma hat die jegliche Lebensfreude verloren und definiert das Leben von Frauen nur über Schmerzen. So kann sie den beiden Enkelinnen nur alte, düstere Moralsprüche wie „Wer morgens lacht und mittags singt, abends in die Hölle springt“ mit auf den Weg geben.
Anne ist fasziniert und abgestoßen zugleich. Doch lässt sie auf ihre Oma nichts kommen. Stattdessen sieht sie sich in ständiger Konkurrenz zur großen Schwester Marie, der die Eltern immer alle Wünsche erfüllen. Marie darf alles, bekommt alles, ist der Liebling des Vaters, während Anne die alten Kleider auftragen muss und nicht beachtet wird. Anne ist das Musterkind, das gute Noten bringt und keinen Ärger macht. Innerlich jedoch brodelt es in ihr.
Dann verschwindet Marie eines Tages, und die Familie schweigt. Der arbeitslose Vater sucht zwar seine Tochter in der Stadt, doch kommt es zu keiner Diskussion am heimischen Tisch, warum Marie diesen Schritt gegangen ist. Scheinbar wird nicht einmal getrauert. Anne flüchtet drei Jahre später nach Frankfurt, in ein Studium der Biologie, mit Schwerpunkt Pilze.

Mirjam Presslers Roman ist keine leichte Kost. Psychologisch fundiert und hintergründig lässt sie Anne aus der Ich-Perspektive die Familiengeschichte erzählen. Die intelligente Studentin thematisiert dabei immer wieder auch die Wahrnehmungsfilter, mit der sie als Betroffene den Verlust der Schwester Marie erlebt und erinnert. Die Erinnerung an reale Fakten verschmilzt dabei zum Teil mit den Geschichten, die sich die junge Anne ausgedacht hat, als die Schwester verschwunden war. Das Schweigen der Eltern bot ihrer Phantasie einen Nährboden, auf dem Horror- und Schundgeschichten gleichermaßen gedeihen konnten. Was Wahrheit, was Lüge, was Wunschdenken oder gar Schuld ist, verschwimmt für Anne immer mehr. Die Familie und ihre Geschichte ist wie ein Pilzgeflecht, das unterirdisch miteinander verbunden ist, selbst wenn an der Oberfläche nur Einzelpersonen wahrzunehmen sind.
Schließlich bringen das Gespräch mit ihrer Mitbewohnerin Ricki und ein Besuch bei den Eltern nach fast drei Jahren neue Erkenntnisse und die Einsicht, dass auch sie nicht alles von ihrer Schwester, ihren Eltern und ihrer Oma gewusst hat.

In Wer morgens lacht illustriert Mirjam Pressler geschickt die psychologischen Mechanismen von Familie, die sich über die Generationengrenzen hinaus auswirken.  In der Wissenschaft befasst sich die Epigenetik mit diesen Phänomen, also dass das Kriegsleid der Großeltern noch Auswirkungen auf das Leben der Enkel hat. Mirjam Pressler vermittelt genau das, ohne mit gentechnischem Fachwissen oder psychologischem Spezialvokabular zu verschrecken. Sie zeichnet ein Bild einer Familie in Deutschland, wie es viele gibt. Und sie zeigt ihnen, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, dass offene Gespräche – auch Jahre später – reinigende Wirkung für alle Beteiligten haben können.

Das Einzige, was mich an diesem Text gestört hat, ist eine typographische Eigenart, die bei E-Literaten sehr beliebt ist. Die wörtliche Rede der Dialoge ist nicht durch Anführungszeichen markiert. Das mag jetzt pingelig erscheinen, doch stellt diese Art der Textgestaltung für mich ein Lesehindernis dar. Die inhaltlich schon schwierige und bedrückende Geschichte wird durch diese fehlenden Signale zu einem sperrigen Texterlebnis. Entsprechend lange habe ich für die Lektüre gebraucht.
Es mag ja sein, dass bei so einem gewichtigen Inhalt auch der Zugang gewichtig und schwierig sein sollte. Doch das hätte es meiner Ansicht nach gar nicht gebraucht. Warum ein zusätzliches Hindernis einbauen für ein so wichtiges Anliegen, das an sich doch vielen Menschen näher gebracht werden sollte? Das ist mir ein bisschen unverständlich. Und nur weil man das heute mal so macht, weil es – möglicherweise – intellektueller oder psychologischer rüberkommt, ist das für mich noch lange kein Grund, den Zugang zu einer Geschichte künstlich zu erschweren. Ich hoffe nur, dass das nicht allzu viele Leser verschreckt, denn sie würden eine ergreifende und nachdenklich machende Geschichte verpassen, die viel über den Menschen an sich, seine Ängste und seine Eigenarten erzählt.

Mirjam Pressler: Wer morgens lacht, Beltz, 2013, 264 Seiten, ab 14, 17,95 Euro

Die Wunden der Vergangenheit

familieVor vielen Jahren war eine italienische Freundin von mir mit einem Israeli zusammen. Nichts Ungewöhnliches. Nur immer wenn ich die beiden in Italien traf, überkam mich eine seltsame Befangenheit. Der junge Mann war immer nett zu mir, aber auch merkwürdig distanziert. Es war offensichtlich, dass die deutsche Schuld an der Shoah unser Verhältnis trübte. Wir haben es bei unseren Treffen nicht geschafft, über die Geschehnisse von damals, den Wandel der jungen deutschen Generationen, diese Distanz und diese Beklemmung im gegenseitigen Umgang miteinander zu reden. Die Schatten der Vergangenheit reichten bis zu uns, ohne dass wir sie wirklich fassen konnten.

Von einer ähnlichen Sprachlosigkeit, allerdings in wesentlich dramatischer und zugespitzterer Art, erzählt der israelische Autor Avram Kantor in seiner ergreifenden Familiengeschichte Schalom.
Die greise Nechama trauert ihrem vor Jahren verstorbenen Mann Menachem nach und führt ein ziemlich einsames Leben in Haifa, denn ihre beiden Söhne wohnen nicht in der Stadt. Avri, der Älteste, ist mit seiner Frau nach Eilat gezogen, Jaki ist vor über zwanzig Jahren einer Deutschen nach München gefolgt. Seitdem hat Nechama keinen richtigen Kontakt mehr zu ihrem Jüngsten. Ihr Mann hatte einst das Gebot ausgegeben, dass kein Deutscher je ihr Haus betreten dürfe. Und daran hält sich Nechama auch nach seinem Tod. Die Schwiegertochter nennt sie nur „die da“, ohne sie überhaupt zu kennen. Der Hass auf die Deutschen hat sich tief in ihre Seele gebrannt, nachdem sie die Shoah überlebt und Menachem sie damals gerettet hat.

Doch nun kündigt sich ihr deutscher Enkel Gil an. Er will seinen Zivildienst in Israel in einem Altersheim ableisten – und auch bei der Großmutter vorbeischauen, die er nicht kennt. Nechama ist hin- und hergerissen, ob sie den jungen Mann einlassen soll oder nicht. Noch während sie hadert, steht Gil plötzlich vor der Tür – und Nechama trifft fast der Schlag, als sie meint, ihren Menachem wieder vor sich zu haben. Sie „verliebt“ sich stante pede in den Jungen, der seinem Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Nechama hofft, dass Gil sie nun öfter besuchen kommt. Ihre sicher geglaubte Überzeugung wird auf eine harte Probe gestellt.

Dann macht Gil mit einem deutschen Freund einen Ausflug, sagt aber niemandem, wohin er fährt. Als ein Bus verunglückt und ein toter Tourist nicht identifiziert werden kann, breitet sich Sorge in Nechamas Familie aus. Avri telefoniert seinem Neffen hinterher, redet mit dem Altersheim und der Polizei, Jaki reist mit seiner Frau aus Deutschland an, um der Polizei Genmaterial von Gil zu bringen. Nechama, die in ihrem greisen Alter nicht alle Zusammenhänge versteht, stürzt sie in die nächste Unsicherheit, denn „die da“ ist dabei, und Nechama wird sie treffen. Die Sorge um Gil führt die Familie in Eilat zusammen.

Avram Kantor erzählt diese Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven (von Nechama, Avri, Jaki und einem alten Nachbarn Nechamas). Er bleibt dabei sehr eng bei der jeweiligen Figur, so dass man als Leser immer nur das Wissen und die Gefühlslage der gerade erzählenden Person erfährt. Großartig schildert er Nechamas Denken als greise Frau, die in ihrer eigenen Welt lebt, wo Fantasie und Realität schon mal verschwimmen, mit Menachem Gespräche führt und der modernen Welt nicht mehr ganz folgen kann (dass beispielsweise die Telefonverbindung zwischen Israel und Deutschland glasklar ist, verwundert sie sehr).
Kantor fügt die verschiedenen Stimmen nach und nach zu einem Plot zusammen, der nicht alles verrät und durchaus Leerstellen zulässt. Das Trauma, das Nechama und Menachem während der Shoah erlebt haben, wird nur angedeutet und nicht auserzählt. Denn die beiden hatten beschlossen, nie über ihre Erlebnisse zu sprechen. Und ihre Söhne hatten nie das Bedürfnis, danach zu fragen – wie das eben so ist zwischen den Generationen, wo sich die Jungen nicht zwangsläufig für das Schicksal der Eltern interessieren. So erfährt der Leser nicht, was sich damals konkret zugetragen hat.
Zu drängend sind aber auch die aktuellen Probleme in Israel, die durch Avris Sorgen um den eigenen Sohn Guy thematisiert werden. Guy dient in der israelischen Armee und ist in den besetzten Palestinänser-Gebieten ständiger Gefahr ausgesetzt. So trägt jede Generation der Familie ihr Paket an Angst mit sich und ist nicht in der Lage, offen darüber zu sprechen. Die Beklemmung, die sich über Nechamas Familie legt, erzählt Kantor meisterhaft. In Kombination mit der feinfühligen Übersetzung der Grand Dame der Hebräisch-Übersetzungen, Mirjam Pressler, überträgt sich diese unmittelbar auf den Leser, der mit Gils Großmutter, Eltern und Verwandten mitleidet. Die Sorgen um Kind, Enkel, Neffe werden real.

Neben diesem Familiendrama wird zudem deutlich, wie die deutsche Geschichte und die Shoah immer noch nachwirken und sich wie ein Riss durch die Familie ziehen. Der Schrecken von damals war so immens, dass es keine Wort dafür zu geben und der Hass unüberwindlich scheint. Dennoch fordert Kantor zum Dialog auf. Vor allem zum Dialog zwischen den Generationen: Die Opfer sollen erzählen, denn diese Generation stirbt nun immer schneller aus; die Kinder sollen fragen, was passiert ist, damit sie auch ihren Kindern bzw. den Enkeln berichten können. Denn so ein Dialog erklärt mit unter Familienkonstellationen und -konflikte, bewahrt die Erinnerung und trägt zum Verständnis bei, nicht nur der Generationen, sondern auch der Nationen. Womit einer Wiederholung der Geschichte ein Riegel vorgeschoben werden könnte.

Avram Kantors Schalom erzählt den jungen Lesern nicht, was in der Shoah passiert ist, er zeigt jedoch eindringlich, wie sich die Schrecken von vor über 70 Jahren bis in die heutige Zeit fortsetzen. Gerade auch durch diesen Bezug zur Gegenwart lässt sich über dieses herausragende Buch intensiv diskutieren und den nachkommenden Generationen die aktuelle deutsch-israelische Beziehung erklären.

Avram Kantor: Schalom, Übersetzung: Mirjam Pressler, Hanser, 2012, 237 Seiten, ab 12, 15,90 Euro